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Sozialpsychologie in der Bundeswehr | APuZ 44/1972 | bpb.de

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APuZ 44/1972 Zum Verhältnis von Militär und Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland *) Gibt es eine Militärsoziologie in der Bundesrepublik? Sozialpsychologie in der Bundeswehr

Sozialpsychologie in der Bundeswehr

Herbert Feser

/ 11 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz gibt zunächst eine kurze Einführung in Struktur und Aufgabenbereich des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr, sodann einen Überblick über mehrere wehrpsychologische Studien mit sozialpsychologischen Fragestellungen hinsichtlich ihrer Methoden und Ergebnisse. Vor zehn Jahren studierten Psychologen der Bundeswehr zunächst Fragen der sekundären Sozialisation und soldatischen Erziehung an einer Offizierschule. Gegenstand weiterer Untersuchungen war die Berufszufriedenheit von technischem und Schicht-dienstpersonal, in Kampftruppen sowie bei Unteroffizieren aller Teilstreitkräfte. Einige Erhebungen zielten auf soziale Einstellungen gegenüber der allgemeinen Wehrpflicht, der Bundeswehr als Institution und auf die Motivation zum freiwilligen Dienst in der Marine. Andere Studien befaßten sich mit Rollenwahrnehmungen und -erwartungen bei Unteroffizieren sowie Offizieren. Die psychologische Beschreibung abweichenden Verhaltens in der modernen Armee, insbesondere der eigenmächtigen Abwesenheit von Wehrpflichtigen, wurde in letzter Zeit zu einem der aktuellsten Themen. Die kritische Betrachtung der referierten Studien zeigt, daß die noch junge Sozial-psychologie in der Bundeswehr bereits vielfältige soziale Probleme der militärischen Organisation beschreiben konnte. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Methodenseite — mit Nachdruck ist jedoch die Gleichbeachtung und Einheit von Theorie, Methode und Befund zu fordern. Im Falle der Vernachlässigung der Theorie kann angewandte Sozial-Psychologie allzuleicht als bloßes Instrument im Dienste einer bestimmten Organisation mißbraucht werden.

Im Jahre 1956 wurde der Psychologische Dienst in der Bundeswehr eingerichtet. Damit begann jedoch nicht die Geschichte der Wehr-psychologie. Vielmehr gab es bereits vorher die Reichswehr-und Wehrmachtspsychologie, die seinerzeit zu den bedeutendsten Anwendungsbereichen der Psychologie gehörten. Zahlreiche Anregungen gingen von hier aus, insbesondere in Richtung auf die Entwicklung psychodiagnostischer Verfahren und ihre Anwendungen bei solchen Aufgaben wie Personalselektion, -klassifikation und -plazierung.

Unter der Leitung eines Fachreferates im Bundesministerium der Verteidigung sind heute über hundert Psychologen in fünf Bereichen tätig. 72 Prozent des Gesamtpersonals wahr Rahmen nimmt Aufgaben im der Psychodiagnostik. Diese beinhaltet im einzelnen die Durchführung von Eignungs-und Verwendungsprüfungen a nach § 20 Wehrpflichtgesetz bei tauglich gemusterten Wehrpflichtigen an Kreiswehrersatzämtem; dazu kommen psychologische Eignungsuntersuchungen an den Freiwilligen-Annahmestellen und der Freiwilligenannahme-Zentrale der Marine, an der Offiziersbewerber-Prüfzentrale sowie fliegerpsychologische Untersuchungen an der Fachhochschule der Luftwaffe und an der Heeresflieger-Waffenschule. Ein vergleichsweise kleiner Personalkörper ist tätig im Bereich der Wehrtechnischen Psychologie an bundeswehreigenen Instituten, Erprobungsstellen und im Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung. Die Psychologie der militärischen Erziehung und Ausbildung stellt ein weiteres Betätigungsfeld für Psychologen der Bundeswehr dar. Innerhalb der Klinischen Psychologie sind kürzlich mehrere Dienstposten geschaffen worden. Klinische Psychologen nehmen an großen Krankenhäusern der Bundeswehr insbesondere psychodiagnostische und psychagogische Aufgaben wahr. Neben den genannten Stellen eröffnete sich im Jahre 1968 mit der Einrichtung von zwei Dienstposten im Bundeswehramt ein neues Arbeitsgebiet für Psychologen im Bereich der Sozialpsychologie.

Die Errichtung einer zentralen wissenschaftlichen Arbeitsgruppe erfolgte mit der Maßgabe, mit Hilfe von modernen psychologischen Methoden zu praxisnahen Ergebnissen zu gelangen. Diese Zielvorstellung fand anderweitig eine nähere Spezifizierung. So markierte Gotthilf Flik, der frühere Referent für Wehrpsychologie im BMV drei Aufträge für eine Sozialpsychologie des Militärs: Studium des Verhältnisses von Vorgesetzten und Untergebenen, Erkundung des Zusammenhalts einer Kampfeinheit und Erforschung der Moral der Truppe Prägnanter forderte F. A. Geldard, ein amerikanischer Militärpsychologe, von einer Sozialpsychologie der militärischen Organisation, insbesondere die human relations and moral zu beschreiben und zu erklären Peter R. Hofstätter, selbst ehemaliger Wehrmachtspsychologe faßte die oben umschriebenen Fragestellungen zusammen. Für ihn ist die Vertrauensproblematik von zentraler Bedeutung: der Soldat muß vierfach Vertrauen haben, nämlich zu seinen Waffen und Geräten, zu Kameraden, zu Vorgesetzten und vor allem Selbstvertrauen

Die im folgenden zu referierenden Untersuchungen werden danach zu untersuchen sein, inwieweit sie auf die von Flik, Geldard und Hofstätter formulierten Fragestellungen Antwort geben. Es sollen sozialpsychologische Arbeiten vorgestellt werden, die von Mitgliedern des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr stammen und einige Studien, zu denen Soldaten als Versuchspersonen herangezogen wurden. Unter diesem Suchvektor zeigt sich, daß inzwischen Erhebungen und Untersuchungen in allen Teilstreitkräften durchgeführt wurden. Die hauptsächlichsten Problemstellungen waren dabei: Sozialisation und soldatische Erziehung, Arbeits-und Berufszufriedenheit, Einstellung zum Dienen, Berufsrolle des Soldaten und abweichendes Verhalten.

I.

Wie in anderen Armeen richtete sich das wehrpsychologische Interesse auch in der Bundeswehr zunächst auf Probleme der militärischen Ausbildung. So führten Gotthilf Flik und Mitarbeiter bei Offiziersanwärtern an der Offiziersschule der Luftwaffe längsschnittlich angelegte Meinungsbefragungen durch Im Mittelpunkt standen Fragen des militärischen Lebens und der Ausbildung sowie das Kontaktverhalten der Offiziersschüler. Als Methoden dienten strukturierte Fragebogen und offene Interviews. Von den Ergebnissen der Befragung können einige auch heute noch größte Aktualität für sich beanspruchen. So ließ sich zum Beispiel schon damals ein echter und breiter Bildungsdrang der Offiziersanwärter erkennen; im Unterrichtsfach Innere Führung richteten sich die Wünsche der Befragungspersonen nach Stoffvermehrung besonders auf die allgemeinen pädagogischen und psychologischen Inhalte. Aus diesen und den anderen Befunden konnten praktische Empfehlungen abgeleitet werden, beispielsweise zur Lehrplangestaltung, Auswahl von Fachlehrern, Unterbringung, Freizeitbemessung und zum Beurteilungswesen der Offizierschule.

II.

Bei einer Untersuchung zur Berufszufriedenheit von Diether Cartellieri handelte es sich um betriebliche Probleme mit sozialpsychologischem Bezug 231 Mannschaften und Unter-offiziere des technischen Personals der Luftwaffe antworteten auf 50 Fragen eines strukturierten Fragebogens und bekundeten in offenen Interviews sowie in Gruppendiskussionen Meinungen zum Problem des Ausscheidens vieler technischer Spezialisten aus der Luftwaffe. Die Auswertung der Ergebnisse zeigte, daß das genannte Personalproblem in engem Zusammenhang stand mit Fragen von Besoldung, Aufstieg, Fortbildung, Betriebsklima, Lehrgangsgestaltung, Selbständigkeit und persönlicher Betreuung durch Vorgesetzte. Hans-Peter Görres untersuchte 1968 Probleme des Schichteinsatzes im Luftraumüberwachungsdienst Er zeigte mögliche Verbesserungen des üblichen Schichtturnus auf zwecks Reduktion aufgetretener Überforderungen. Görres nannte als negative Auswirkungen der Überforderung die niedrigen Weiterverpflichtungsquoten und psychosomatische Störungen, diskutierte vor allem Fragen der besseren Kasernierung, der Schichtdienst-

Zulage und der Erhöhung der Effektivität bestehender Ausbildungsmethoden.

Aus dem Vergleich zweier, etwa gleich großer Arbeitsgruppen, die von Vorgesetzten als „intakt und integriert" auf der einen Seite und auf der anderen Seite als „schlecht arbeitend“ beurteilt worden waren, konnte Dieter Wiegand Verbesserungsvorschläge ableiten Seine Empfehlungen bezogen sich auf die untere Führung. Er ging ein auf Fragen der Arbeitsorganisation, des Gebrauchs von Erziehungsmitteln und die wöchentliche Arbeitsbesprechung. Weiterhin bezogen sich seine Vorschläge auf die Soldaten selbst und zwar auf die Funktion des Vertrauensmannes, die Gestaltung des Aufenthaltsraumes, die Weiterbildung und auf psychohygienische Maßnahmen. Ebenfalls in den Problemkreis des Betriebsklimas bzw.der Arbeits-und Berufszufriedenheit fallen die Studien von Gerd Schmückle und Walter Deinzer Sie führten in einer fränkischen Division Meinungsbefragungen durch, deren Ergebnisse sie mit Hilfe von deskriptiven statistischen Methoden verrechneten. Inhaltlich erwies sich in dieser Studie das Schlagwort vom „Gammeldienst" als ein wesentlicher Schlüsselbegriff. Gammeln wird nämlich nicht allein mit Unterforderung gleichgesetzt, sondern dieser Ausdruck konnte sich wegen seiner Unbestimmtheit in letzter Zeit zu einem negativen Kennwort für die Bundeswehr entwickeln. Die Analyse zeige jedoch, so Schmückle und Deinzer, daß hinter dieser Unzufriedenheitschiffre eine Reihe von isolierbaren Tatbeständen zu ergründen seien, wie etwa mitunter schlechtes Betriebsklima oder verminderte Kampf-kraft der Truppe.

Speziell mit dem Problem der Unteroffiziere befaßten sich Klaus Puzicha und der Verfasser Gemäß dem Weißbuch 1971 der Bundesregierung beträgt das Personalfehl an Unteroffizieren 18 Prozent. Als Hauptgründe dafür wurden bisher immer die geringe Attraktivität dieser Laufbahn und das niedrige Sozialprestige des Unteroffiziers genannt. Demgegenüber konnten wir feststellen, daß Unzufriedenheit an klar abhebbare Bereiche des beruflichen Lebens der Unteroffiziere gebunden ist. Die in einer repräsentativen Fernerhebung befragten Personen ließen in den meisten Berufsbereichen eine Tendenz zur Zufriedenheit erkennen. Unzufriedenheit in einzelnen Bereichen artikuliert sich aber lauter und verfälscht oft die Gesamteinschätzung. Unsere Konsequenzen haben daher auch jene beruflichen bzw. militärischen Bereiche zum Gegenstand, die wesentlich zur Unzufriedenheit der Unteroffiziere beitragen. So sollten Tätigkeitszulagen unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt überprüft werden (Arbeitsplatzbeschreibungen, -analysen und -bewertungen). Die Inhalte der Personalwerbung wären zu modifizieren, weil zum Teil zu hohe Erwartungen geweckt werden. Überstunden sollten möglichst vermieden werden; sind sie dienstlich unumgänglich, dann dürfen sie nach Wunsch der Unteroffiziere nicht mehr als zehn Stunden pro Woche betragen. Jeder Unteroffizier möchte möglichst umfassend über Sinn und Notwendigkeit seiner dienstlichen Tätigkeit informiert sein. Aufgaben und Kompetenzen der dienstlichen Verwendung müssen genau umschrieben sein und sollten der Wirklichkeit entsprechen. An den Schulen und Akademien der Streitkräfte schließlich sollten unter Einsatz von Sozialwissenschaftlern Informations-und Trainingsprogramme entwickelt werden, die den künftigen militärischen Vorgesetzten in die Lage versetzen, in seiner späteren Verwendung zeitgemäße Menschenführung zu praktizieren.

III.

Vergleichsweise spärlich ist die wehrpsychologische Literatur zu sozialen Einstellungen. In der Befragung von Klaus Puzicha und Ulrich Mees wurden Einstellungen von tauglich gemusterten Wehrpflichtigen gegenüber der Bundeswehr untersucht Absichern ließ sich nur, daß wehrtaugliche Abiturienten sowohl der allgemeinen Wehrpflicht als auch der Bundeswehr insgesamt ablehnender gegenüberstehen als Wehrpflichtige mit Volksschulabschluß oder mit mittlerer Reife.

Eine weitere Studie über die Einstellung zur allgemeinen Wehrpflicht führte Friedrich Steege anläßlich der psychologischen Eignungs-und Verwendungsprüfungen bei Kreiswehrersatzämtern durch Auch hier zeigte sich, daß zeitlich längere Beschulung einen wesentlichen Faktor für eine negativere Einstellung zur Bundeswehr darstellt.

Die Ergebnisse einer von Herbert Feser, Melitta Nonn und Manfred Schreiner durchgeführten Motivbefragung bei Freiwilligenbewerbern der Marine weisen darauf hin, daß manche junge Männer eindeutig die Chancen wahrnehmen wollen, die ihnen insbesondere durch den Berufsförderungsdienst der Bundeswehr und die Bundeswehr-Fach-schulen geboten werden, über den Weg der Erlangung einer beruflichen Ausbildung, der Umschulung in einen attraktiveren Beruf, der beruflichen Fortbildung durch Gewinnung neuer Kenntnisse und praktischer Fertigkeiten erwartet der Freiwillige letztlich soziale Anerkennung und sozialen Aufstieg. Zweitens strebt der Freiwillige noch größere Selbständigkeit im Sinne der Loslösung von Abhängigkeiten verschiedener Art an: er möchte sich ökonomisch von den Eltern lösen, weltoffener und in seinem sozialen Verhalten sicherer sowie insgesamt mehr Persönlichkeit werden. Drittens schätzt der Marinebewerber die besonderen Anforderungen, die ein Leben an Bord mit sich bringt. Erst an vierter Stelle steht die Verpflichtung für einen angemessenen Beitrag an Staat und Gesellschaft.

IV.

Zur Berufsrolle des Soldaten führte das Psychologische Institut der Universität Würzburg vor fünf Jahren mehrere empirische Untersuchungen durch: So untersuchte Fred Christiansen das Berufsbild des Unteroffiziers der Bundeswehr mit Hilfe von Polaritätsprofilen Autostereotyp (aktive Unteroffiziere) und Heterostereotyp (gediente Unteroffiziere) zeigten wesentliche Gemeinsamkeiten: sowohl Soldaten als auch Reservisten legten größten Wert auf „Persönlichkeit" und „Draufgängertum" (Initiative). In einer weiterführenden Studie von Willi Seitz wies dieser nach, daß Personen, die sich selbst für selbstsicher und kontaktfähig halten, dazu neigen, ihrem Berufs-Stereotyp generell positive und sozial erwünschte Rollenattribute zuzuschreiben.

Durch den Vergleich der Stereotype „Offizier" (Berufsbild) und „Ich selbst" (Selbstbild) fand Herbert Feser sichere Hinweise auf die Wirksamkeit des Identifikationsmechanismus bei Freiwilligenbewerbern der Bundeswehr. Zum Zeitpunkt der Bewerbung bei einer Freiwilligen-Annahmestelle hegt der Jugendliehe mehr oder weniger bewußt den Wunsch nach Identifizierung mit einem im wesentlichen als selbstbewußt, aktiv und kooperativ vorgestellten Offizier. Man möchte sich später als Soldat so verhalten, so sein wie jenes Idealbild. Aufgrund der emotional-dynamischen Basis des geschilderten Prozesses sind jedoch im Falle der Nichterfüllung solcher Rollenerwartungen Erziehungs-und Führungsmöglichkeiten rasch vertan. Es folgt dann die Verkehrung ins Gegenteil — ein anderer Mechanismus, um sich mit der sozialen Realität auseinanderzusetzen. Ähnliche Rollenerwartungen von Wehrpflichtigen gegenüber den militärischen Vorgesetzten konnte Josef Leifert finden zeitgemäße Menschenführung, Sorge für gutes Betriebsklima und Gewährleistung einer effektiven Ausbildung. Die Erfassung der Einstellungen zu den genannten Merkmalen erbrachte deutlich negative Befunde. Leifert bezeichnete daher auf Grund dieser und anderer Befunde zusammenfassend die Innere Führung als „Fiktion einer Reform", weil das Gros der militärischen Führer der Verwirklichung der Reform-bestrebungen permanent Widerstand entgegengebracht und durch Verwässerung des ursprünglichen Konzeptes dessen Realisierung verhindert habe.

Faktoren für abweichendes Verhalten in der militärischen Organisation konnte Horst Klüver durch die Untersuchung vorzeitig ent-lassener Marinesoldaten finden Diffus-triebhaft motivierte Bewerber streben gern in einen Bereich der Bundeswehr, in dem eine Befriedigung des Erlebnisdrangs vermutet wird. Da der Dienst in der Marine jedoch hart und oft unbequem sei, könnten diese naiven Wünsche nicht voll realisiert werden. Die Folge sei Enttäuschung, die allzuoft mit Alkohol betäubt werde und häufig in Aggressionsverhalten gegenüber Kameraden und Vorgesetzten umschlage. Unklare Vorstellungen über den freiwilligen Dienst in der Marine scheinen demnach die schlechteste, am wenigsten tragfähige Motivation für einen längeren Dienst als Soldat auf Zeit oder als Berufssoldat darzustellen.

Die ständig steigende Zahl von Fällen der Verletzung der Pflicht zur militärischen Dienstleistung veranlaßte den Bundesminister der Verteidigung im Frühjahr 1968, die Gruppe Wehr-psychologie im Bundeswehramt mit einer sozialpsychologischen Untersuchung zu beauftragen. Im Gefolge einer pilot study konnte ein umfangreiches Erhebungsinventar erstellt werden, das in einer Hauptuntersuchung je einer repräsentativen Stichprobe aus deliktbelasteten und unauffälligen Wehrpflichtigen vorgelegt wurde. Das wichtigste Ergebnis dieser Studie dürfte sein, daß eigenmächtige Abwesenheit und Fahnenflucht bei Wehrpflichtigen weniger durch spezifische Gegebenheiten des soldatischen Lebens als vielmehr sozio-biografisch determiniert sind. Eine ideologische Begründung für ihr abweichendes Verhalten konnten nur einige Prozent der Befragungspersonen geben. Die Untersuchung brachte einigen Aufschluß über Auslösung und Zeitpunkt des Deliktes sowie die Rückfälligkeit. Es wurden Einstellungen der belasteten Soldaten und ihrer Umwelt zu den vorliegenden Straftatbeständen registriert. Der Vergleich der Delinquentengruppe mit einer unbelasteten ergab deutliche Unterschiede in solchen soziobiografischen Indikatoren wie: Stellenwechsel, Verlauf der Lehre, Frühkriminalität, sowie ungünstigen Entwicklungsbedingungen. Daneben zeigten belastete Wehrpflichtige undifferenziertere Einstellungen gegenüber der Bundeswehr, hatten geringere verbale Befähigung und bekundeten stärkere neurotische Tendenzen als unauffällige Soldaten. Wir konnten auf der Grundlage dieser ersten Befunde einige Konsequenzen für die ärztlich-psychologischen Einstellungs-/Eignungsuntersuchungen herleiten. Weitere Schlußfolgerun-gen betrafen die Unteroffiziers-und Offiziers-ausbildung sowie die Information und Führung gefährdeter Soldaten Derzeit beschäftigen wir uns mit einer Sekundäranalyse des Datenmaterials, wovon differenzierende Aussagen abhängig gemacht werden sollen.

Vergleicht man abschließend die vorgestellten empirischen sozialpsychologischen Untersuchungen mit den Aufgabenstellungen, wie sie von den eingangs zitierten Theoretikern Flik, Geldard und Hofstätter formuliert worden sind, dann kommt man zu dem Schluß, daß bereits wesentliche Aspekte gesehen wurden. Zur Problematik, des Führerverhaltens und zur Frage der Kohäsion von Kampfeinheiten liegen aus dem Bereich der Wehr-psychologie bislang noch keine Studien vor Naturgemäß fehlen auch Untersuchungen zum Verhalten von Soldaten in Extrem-situationen; modellhaft könnte man freilich solches Verhalten bei Waffengattungen oder Einheiten studieren, die ihren militärischen Auftrag unter besonders starkem Stress wahrnehmen müssen.

Die Würdigung derzeit laufender bzw. in Vorbereitung befindlicher Untersuchungen macht deutlich, daß bis heute eigentlich immer nur klassische Fragestellungen wiederholt oder aktuelle Konflikte innerhalb der militärischen Organisation beschrieben und analysiert worden sind. Damit wird die Sozialpsychologie in der Bundeswehr eindeutig angewandte Psychologie, was sie auch immer und überall sein sollte. Darüber hinaus kann aber solche Forschung in gewissen Maße eine „AlibiFunktion" für die militärische Führung annehmen. Denn so sehr zu wünschen ist, daß zwischen Sozialforschern und Militärs Sprach-barrieren abgebaut werden und damit eine fruchtbare Zusammenarbeit möglich wird, so wichtig bleibt stets die theoretische und methodische Rückbesinnung des Wissenschaftlers und damit die Distanz zu dem Gegenstand. Gemeint ist damit die Einordnung der einzelnen empirischen Arbeiten in ein umfassenderes wissenschaftstheoretisches Bezugssystem: Sozialpsychologie in der Bundeswehr muß sich entwickeln zur Sozial-psychologie des Militärs.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gotthilf Flik, Die Wehrpsychologie in der Bundeswehr, in: Wehrkunde, -1969, 1, S. 29— 34.

  2. F. A. Geldard (Ed.), Defense psychology, New York 1962.

  3. P. R. Hofstätter, in: Psychologie. Das Fische Lexikon. Frankfurt 19605 (Kap. „Wehrpsychologie

  4. Vgl. R. H. Walther, Sozialpsychologie in der Bundeswehr. Referat anläßl.der III. Wehrpsychol. Arbeitstagung vom 3. -6. 5. 1966.

  5. D. Cartellieri, Eine Meinungsbefragung bei den technischen Einheiten der Luftwaffe, in: F. Seifert Ed.), Western-European Association for Aviation «ydiology, Bad Godesberg 1963.

  6. H. P. Görres, Uber Probleme des Schichteinsatzes in Anlagen der militärischen Luftraumüberwachung, in: Wehrpsychol. Untersuch. 1968, 3, S. 1— 44.

  7. D. Wiegand, Sozialpsychologische Analyse zweier Sekundärgruppen der Bundeswehr hinsicht-lieh ihrer Gruppenatmosphäre. Trier 1970 (Manuskript).

  8. G. Schmückle und W. Deinzer, Kommiß a. D. — Kritische Gänge durch die Kasernen, Stuttgart 19722.

  9. K. Puzicha und H. Feser, Zur Zufriedenheit der Unteroffiziere — eine sozialpsychologische Untersuchung.

  10. K. Puzicha und U. Mees, Untersuchungen zur Einstellung der Wehrpflichtigen gegenüber der Bundeswehr mit Hilfe des Polaritätsprofils, in:

  11. F. Steege, Eine Untersuchung der Einstellung zur Wehrpflicht, in: Wehrpsychologische Untersuchungen, 1968, 7, S. 1— 39.

  12. H. Feser, M. Nonn und M. Schreiner, Bericht über eine Motivbefragung bei Freiwilligenbewerbern der Marine, Nr. S 101 IX 1970 der Untersuch, der Gruppe Wehrpsychologie, (1970).

  13. F. Christiansen, Uber das Bild des Unteroffiziers der Bundeswehr. Unveröff. Zulassungsarbeit, Universität Würzburg, 1966.

  14. W. Seitz, Uber den Zusammenhang zwischen individuellen Differenzen in der Stereotypen-Beureilung und individuellen Persönlichkeitsdifferenzen(untersucht am Auto-Stereotyp des Unteroffiaers), in: Psychol. Praxis, 1968, XII (2), S. 74— 88.

  15. H Feser, über das Bild des Berufsoffiziers der undeswehr. Unveröff. Zulassungsarbeit, Universitat Würzburg, 1966.

  16. J. Leifert, Zur Frage der Wirksamkeit der Inne1909ührung in der Bundeswehr. Diss. Freiburg

  17. H. Klüver, Eine Untersuchung über vorzeitig entlassene Marinesoldaten, in: Wehrpsychol. Untersuch. 1967, 7, S. 1— 19.

  18. H. Feser und K. Puzicha, Eigenmächtige Abwesenheit und Fahnenflucht von Wehrpflichtigen — eine sozialpolitische Untersuchung, in: Wehrpsy-chol. Untersuch. 1971, 4, S. 1— 113.

  19. Vgl. W. Mitze, Wehrpsychologie, in: W. Arnold et al., Lexikon der Psychologie, 3 Bde. Freiburg 1970 ff.

Weitere Inhalte

Herbert Feser, Dr. phil., Dipl. -Psych., Lehrbeauftragter an der Universität Würzburg, geboren am 12. November 1939 in Wernfeld (Main). Nach Diplom-Hauptprüfung für Psychologen zweijährige praktische Tätigkeit in der Psychodiagnostik, dann zweieinhalb Jahre empirische Sozialforschung in der Bundeswehr und derzeit Referent in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln. Veröffentlichungen in den Bereichen: psychologische Methoden; berufsbezogene, soziale und politische Einstellungen; abweichendes Verhalten; Militär und Gesellschaft.