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Zum Problem einer Kommunikation von Kunst und Gesellschaft | APuZ 18/1972 | bpb.de

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APuZ 18/1972 Zum Problem einer Kommunikation von Kunst und Gesellschaft Bemerkungen zu einer neuen didaktischen Situation im Kunstunterricht der allgemeinbildenden Schulen

Zum Problem einer Kommunikation von Kunst und Gesellschaft

Karin Thomas

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Zusammenfassung

Der Aufsatz beabsichtigt einen historischen Abriß über die Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts im Hinblick auf eine Annäherung der künstlerischen Praxis an die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu geben. Dabei wird für die heutige Situation festgestellt, daß die Einschätzung der künstlerischen Intentionen durch die Gesellschaft im Gegensatz steht zu den eigentlichen problemorientierten Zielen der bildenden Kunst. Es erhebt sich daher die Forderung nach der Erarbeitung effektiver Formen der Information über die gesellschaftspolitischen Absichten der Kunst. Die Annäherung der Kunst an die gesellschaftlichen Probleme läßt sich in der kunsthistorischen Entwicklung erstmalig in den Tendenzen der nachrevolutionären russischen Avantgarde-Kunst und in der westeuropäischen Dada-Bewegung (zwischen 1910 und 1915) feststellen. Es wird versucht, die neu künstlerische Methodik zu bennennen, die sich aus diesen Anfängen in den künstlerischen Formen der Aktionskunst (Happening), des Medienverbundes, der Provokation und Irritation in Richtung auf eine ideologiekritische Kunst herausgebildet hat. Beispiele illustrieren praktische Möglichkeiten einer gesellschaftlich orientierten, didaktisch aufbereiteten Kunst, verweisen aber zugleich auch auf die Schwierigkeit, die in der Divergenz von Kunstproduktion und Kunstrezeption auftreten. Als die beiden zentralen Ziele heutiger Kunst-Praxis mit der Intention einer Bewußtseinsaktivierung werden die folgenden Prinzipien herausgestellt: 1) Der Versuch einer objektiven Aneignung von Realität durch die Methode, einen Realitätsausschnitt präzise anschaubar zu machen. 2) Die Entwicklung praktischer Formen einer Zukunftsstrategie, um durch die Kunst gesellschaftlichen Mangelsituationen abzuhelfen.

Die gesellschaftliche Relevanz der bildenden Kunst innerhalb der kulturellen Kommunikationsträger ist — trotz der intensiven Bestrebungen nach einer Annäherung von Kunst und Umwelt seit Kubismus, Expressionismus und Futurismus — bisher kaum einsichtig geworden. Immer noch gilt das künstlerische Objekt, die künstlerische Idee in der Vorstellung breiter Schichten als zweckunabhängiges, kulinarisches Freizeitvergnügen privilegierter Bildungsbürger, denen die Beschäftigung und der Handel mit den Produkten der Kunst aufgrund ihres größeren Wissens möglich ist. Diese verbreitete Einschätzung der Kunst als Statussymbol einer elitären Bildungsschicht steht im Gegensatz zu dem Selbstverständnis des Künstlers im 20. Jahrhundert, der seine soziale Rolle gerade in der Vermittlung von gesellschaftskritischem Bewußtsein unabhängig von einer besonderen Wissens-und Bildungsvoraussetzung versteht.

Leider hat jedoch die Kommerzialisierung der Kunst die soziale Verbreitung dieses eigentlichen künstlerischen Anliegens verhindert, da letztlich nur finanziell privilegierten Schichten der direkte Kontakt mit dem künstlerischen Objekt Vorbehalten blieb. Diese kauf-potente Konsumentenschicht hat ihrerseits den Kunstbetrieb in seinem Informationsgehalt beeinflußt, indem sie den Marktwert und damit die öffentliche Resonanz der Künstler nach ihren eigenen Wertvorstellungen taxiert. Dieser Mechanismus, Marktwerte von Kunstobjekten zu setzen, den die demokratisch geordnete Gesellschaft der Moderne aus den feudalistisch-kapitalistischen Kulturverhältnissen früherer Jahrhunderte übernommen hat, beginnt sich erst in jüngster Zeit durch die Ausdrucksformen der Concept Art abzubauen, die ihre künstlerische Information nicht mehr in einem Objekt materialisiert, sondern die Idee selbst in Form von veranschaulichten Denkprozessen zur Geltung bringt und damit Gert Selle:

Bemerkungen zu einer neuen didaktischen Situation im Kunstunterricht der allgemeinbildenden Schulen . . . S. 23 den Kaufmechanismus ad absurdum führt. (Zu den einzelnen Kunstkonzeptionen siehe das Glossarium im Anhang.)

Die verstärkte Breitenwirkung der Kunst wird zudem durch die allmähliche Modernisierung der Museen gefördert, die sich von der Aura sakraler, nur Eingeweihten vorbehaltener Ausstellungshallen befreien und den direkten Kontakt mit der Bevölkerung suchen, indem sie den urbanen Raum selbst zum Kommunikationsträger zwischen Kunst und Publikum auswählen und sich als gesellschaftliches Informationsorgan neu definieren.

I. Die Wandlung der Kunst vom Kulinarismus zur Problemvisualisierung

Erste theoretische und praktische Bestrebungen in Richtung auf eine Annäherung von Kunst und Umwelt sind in der Zeit zwischen 1910 und 1920 wirksam geworden; sie resultieren aus den gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich durch die forcierte Industrialisierung, den Ersten Weltkrieg und die russische Oktoberrevolution vollzogen haben. Der kritisch denkende Bürger emanzipiert sich nach dem Zusammenbruch feudaler Herrschafts-Strukturen von den herkömmlichen Ordnungsschemata und sucht neue Denkmodelle einer gesellschaftlich gerechten Koexistenz der Individuen. Für jede geistige Aktivität wird die Forderung nach wissenschaftlicher Begründung oberste Maxime, so daß sich, auch für die Kunst die Notwendigkeit der Methodik des präzisen Protokollierens von Realität ergibt, wenn sie eine relevante Aussage über menschliche Existenz vermitteln will.

Verstand sich der Künstler des 19. Jahrhunderts als der geniale Gestalter einer hinter der erscheinenden Wirklichkeit liegenden objektivierbaren Wahrheit des Geistes, so besinnt sich der Künstler nach dem Zusammenbruch des metaphysischen Denkprinzips auf seine relativierte Aussagemöglichkeit, die ihm moderne wissenschaftliche Erkenntnis abnötigt. Der Künstler der Moderne sieht sich veranlaßt, im Kunstwerk die Frage nach den Bedingungszusammenhängen von Realitätserscheinung und von subjektiven Denkvorgängen zu thematisieren. Das ganzheitliche Weltbild als universale Deutung von weltlicher Existenz ist nicht mehr möglich, es lebt lediglich in einer illusionären, sentimentalen Trivialkunst weiter, die idyllische Landschaften und Stilleben als dekorativen Heim-schmuck produziert, dabei aber die Realität verschweigt und keine geistige Herausforderung beinhaltet.

Die Emanzipation von alten Normen vollzieht sich nicht in kontinuierlichen Wandlungsprozessen, sie bricht vielmehr in agitatorischen Manifesten und provokativen Demonstrationen hervor und geschieht gleichzeitig in Ost-und Westeuropa mit den revolutionären Stil-richtungen der russischen Avantgarde und der Dada-Bewegung. Beide Kunstströmungen sprengen die von der Antike begründeten, durch Jahrhunderte sanktionierten gattungsmäßigen Disziplinargrenzen der Kunst und ihre tradierten Formen künstlerischer Visualisierung (Tafelbild, Skulptur). Sie erobern die technischen Errungenschaften ihrer Zeit, die industriellen Werkstoffe, die Fotografie, den Film, die Zeitung, das Plakat, das Flugblatt, die Werbung für ihre künstlerischen Aussagen, um dem zeitkritischen Inhalt ihrer Kunst ein breites Forum der Öffentlichkeit zu erschließen. Zum ersten Mal vergißt die Kunst ihren althergebrachten Ewigkeitsanspruch und stellt sich bewußt in den Strom der zeitbedingten Veränderungsprozesse; sie wagt das politische Engagement, indem sie die soziale Realität in der kritischen Befragung reflektiert und gleichzeitig erstmals das Problem der Rezeption von Kunst in den Mittelpunkt der Diskussion rückt.

Im nachrevolutionären Rußland experimentieren die großen Dramaturgen und Regisseure Eisenstein, Stanislawskij und Wachtangow mit der politisch-didaktischen Proletkultbühne und mit dem agitatorischen Monumentalfilmdrama, um die Kunst im Konzept der sozialistischen Massenbildung der revolutionären Idee dienstbar zu machen. Die gleiche Zielsetzung bestimmt die Maschinenkunst Tatlins. Ihrer konstruktivistischen Erforschung formaler Gestaltungsmöglichkeiten mit bautechnischen Materialien gelingt es, das massive Volumen der Baustoffe allein durch die Konstruktionsstruktur im Sinne einer Entmaterialisierung der Schwere zu beherrschen. Hier wird der Versuch unternommen, die Kräfte des rational planenden Geistes im künstlerischen Werk für die noch denkungeübte Bevölkerung praktisch zu veranschaulichen.

Diese Verbindung von politisch-sozialem Engagement mit der Expansion in neue Form-und Materialexperimente zeigt sich auf der westeuropäischen Kunstszene in Gestalt der Dada-Bewegung, die mit den progressiven Ideen der nachrevolutionären Kunstavantgarde Rußlands engen geistigen Austausch pflegt. Während das frühe Dada-Programm im Züricher Cabaret Voltaire die Formprobleme der bildenden Kunst im Wagnis zur totalen Improvisation reorganisiert und die neue Kunst aus der Zerstörung herkömmlicher Kunstformen ableitet, verfolgt die Berliner Dada-Gruppe gezielt gesellschaftspolitische Intentionen im Zeichen des Klassenkampfes. Das in Zürich entwickelte Modell des künstlerischen Medienverbundes von Tonkunst, Literatur, theatralischer Darstellung, Tanz, Film und material-expansiver Bildgestaltung findet in der Berliner Dada-Aktivität agitatorisch-politische Anwendung. Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann erobern der Kunst mit der Collage aus Zeitungsfragmenten und der plakativen Fotomontage provokative Sprachformen, die den Materialwert der herkömmlichen Kunst-produktion zerstören und sich statt dessen um eine effektive Sichtbarmachung (Visualisierung) ihrer gesellschaftskritischen Manifeste bemühen.

Die Neubenennung der gesellschaftlichen Funktion von künstlerischer Visualisierung durch den sozialkritischen Anspruch findet im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahre durch den Personenkult der Stalin-Diktatur und den Nationalsozialismus ihr vorläufiges Ende auf europäischem Boden. Das progressive Engagement der russischen Avantgarde und des Dada erzielt dadurch zunächst keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen, sieht man von dem Einfluß der neuen Form-vorstellungen wie der freien Typografie und der Fotomontagetechnik auf Plakatwerbung, Film-und Buchgestaltung ab; jedoch hatdie methodische Neuorientierung der bildenden Kunst im Anschluß an die Wissenschaften (vornehmlich Soziologie, Psychologie) sowie die Anlehnung an die technische und gesellschaftskritische Umweltforschung ihre Rollenfunktion innerhalb der Gesellschaft in fundamentaler Weise verändert. Die Tradition einer kulinarisch konzipierten Ästhetik ist endgültig zu Grabe getragen, die Kunst hat sich in der Kommunikation mit der realen Zeitsituation ein neues Wirkungsfeld erobert, sie wird zum experimentellen Modellentwurf, zur visuellen Demonstration von Zuständlichkeit und Veränderung, sie wandelt sich vom kulinarischen Vergnügen zur experimentellen Problemerforschung der Umwelt.

Alle nachfolgenden Tendenzen der bildenden Kunst bauen auf diesem methodischen Fundament auf und veranschaulichen die von der modernen Wissenschaft artikulierten Problem-horizonte des Daseins. So transformieren die Surrealisten ebenso wie die Vertreter des Tachismus und des Action Painting die spontane Ausdrucksgebärde des Unterbewußten in Anschauungsbilder, die den Kreativitätsprozeß der sich frei entäußernden Imagination experimentell verdinglichen. Die von der wissenschaftlichen Psychoanalyse gewonnenen Erkenntnise psychischen Verhaltens erleben hier in der Erforschung des imaginativen Unterbewußten ihre anschaubare Darstellung. Damit wird die erweiternde Umsetzung der Theorie in konkrete Exemplifizierung geleistet, wobei das praktische Experiment der künstlerischen Handlung seinerseits wieder Erkenntnisse bereitstellt, die nur durch die schöpferische Aktivität möglich werden. So hat die künstlerische Methodik der Wissen-schaft wesentliche Einsichten über die psychi-schen Abläufe des kreativen Prozesses erschlossen und eine pädagogische Therapeutik für psychisch kranke Menschen durch Aktivierung ihrer gestalterischen Artikulationsfähigkeiten entscheidend mitgefördert

Audi die abstrakt konstruktive Kunst, deren ästhetischer Reiz noch den vordergründigen Anschein einer für sich stehenden kulinarischen Sensibilität erwecken kann, gewinnt ihre eigentliche Bedeutung aus dem methodischen Kontext zu wissenschaftlichen Problembezügen. Die modellhafte Visualisierung mathematischer Denkschemata und physikalischer Realitätserforschung wird vornehmlich von den konstruktiven Stilrichtungen der modernen Kunst, z. B. von der Op Art, von der M. inimal Art und der konstruktiven Materiulplastik geleistet. Die Schaubilder der Öp Art von Victor Vasarely bis zu Richard Paul Lohse demonstrieren mit Hilfe der rhythmischen Modulation von Licht und Farbe die optische Reizwirkung bestimmter Linienverhältnisse und Rechnüngs-schemata (Algorithmen) sowie den Kausalzusammenhang von Raum, Licht und Bewegung. Die formstrenge Minimal Art verzichtet ganz auf dekorative Reize und lenkt die Aufmerksamkeit durch eine spezifische Organisation ihrer Anschauungsprojekte in exemplarischen Konstellationen auf die Grunddeterminanten der optischen Wirklichkeit — Licht und Raum — und transformiert auf diese Weise Wissenschaftsformeln in Demonstrationsmodelle (et-wa seriell geordnete einfache Würfel in einem leeren Raum).

Im kreativen Experiment mit den Errungen-shaften moderner Wissenschaft wird der Künstler zum avantgardistischen Modellpro-duzenten und Strategen technologisch-humaner Zukunftsstrukturen im urbanen Raum. Die Auswirkungen der Bauhaus-und De Stijl-Aktivitäten, die zwischen den beiden Weltkriegen eine Synthese von Kunst und , industrial design'erstrebt haben, bieten sich als eindrucksvolles Beispiel dieser Wechselbeziehung von künstlerischer Kreativität und technologischer Urbanistik an. Die prinzipielle Neuartigkeit dieser Bemühungen wird deutlich, wenn man die avantgardistische Baukunst der Architikten Gropius, Rietveld, van Oud und Mies van der Rohe mit der konventionellen Architektur ihrer Zeitgenossen vergleicht. Was die Avantgarde von gestern geschaffen hat, erscheint uns noch heute als im hohen Maße modern.

Leider sind jedoch die Möglichkeiten einer künstlerisch kreativen Zukunftsprognostik noch zu selten effektiv geworden. Eine wirksame Kooperation von Kunst und technologischer Zukunftsforschung hat sich bis heute ansatzweise allein in den USA und dort auch nur dann realisieren lassen, wenn große industrielle Unternehmen die Zusammenarbeit von Künstlern mit technischen und wissenschaftlichen Institutionen durch konkrete Auftragsprojekte finanziell gefördert haben.

An den Plastiken des amerikanischen Künstlers Kenneth Snelson, die anläßlich der Aktion „Straßenkunst Hannover 1'im Sommer 1970 auch in Deutschland als architektonische Wundergebilde bestaunt worden sind, verdeutlicht sich in prägnanter Weise die Notwendigkeit des kreativen künstlerischen Experimentierens für den technischen Fortschritt: Die scheinbar streng mathematischen Plastiken aus Metallröhren, an deren Enden sich Drahtseile durch Perforierungen spannen, ge-hen nicht aus technischen Könstruktionsentwürfen hervor, sondern sind vielmehr Resultate praktischen Gestaltens, in dem das ausgleichende Wechselspiel von Druck-und Zugkräften der Metallröhren erforscht worden ist

Die gleiche Haltung läßt sich anhand der künstlerischen Arbeit von Adolf Luther aufzeigen, dem es mit Hilfe von lichtbrechenden Lichtschleusen gelingt, die Existenz von Licht als energetische Dimension im freien Raum zu veranschaulichen — ein optischer Vorgang, der von der physikalischen Lichtforschung bis-her praktisch noch niemals bewerkstelligt worden ist. Schon vor der künstlerischen Realisation seiner „transoptischen Vorbilder", die vermittels einer seriellen, durchsichtigen Hohlspiegelwand erzeugt werden, hatte Luther die zwingende Vorstellung, daß „die ganze Natur 2 wie ein einziges Gerät zum Empfang des Lichtes" erscheint und daß es eine von materiellen Stoffen unabhängige „transoptische Realität"

gibt Dem Künstler gelangen die realen Lichtbilder ausschließlich über den Weg des praktischen Experimentierens, indem er seine Lichtschleusen vom zerschlagenen Bruchglas bis zu den „transluzenten Hohlspiegelmedien" perfektionierte. Diese Visualisierung von rein energetischer Lichtexistenz könnte für die progressive Bautechnik wichtige Konsequenzen beinhalten, da die zugleich durchsichtigen und lichtbrechenden Lichtschleusen neue Dimensionen der Ausnutzung von Lichtkapazität erschließen. Auf dem Münchener Olympiagelände wird die bisher größte transluzente Hohlspiegelwand von Luther aufgebaut werden.

Diese Ergebnisse einer kreativen Praxis mit dem Licht konnten von der Optik als wissenschaftlicher Disziplin nicht gewonnen werden, da die wissenschaftliche Forschung den Weg von der Hypothese bzw. Theorie zur verifizierenden Praxis beschreitet. Die künstlerische Arbeit von Adolf Luther bietet außerdem auch hervorragende didaktische Möglichkeiten einer praktischen Anschauung theoretischer Lehrformeln, so daß sie den Erkenntnis-vorgang über optische Realitäten etwa im Schulunterricht durch das konkrete Anschauungsmedium unterstützen könnte. „Das Anderssein der Wirklichkeit" als Realität hinter dem vordergründigen Anschein, kann niemals besser als durch die bewußte Anschauung verstehbar und einsichtig gemacht werden. Dieses Begreifen vom Anderssein der Wirklichkeit artikuliert sich als die alle Kunstrichtungen der Moderne verbindende Aufgabe der bildenden Kunst, indem sie mit der Expansion in neue methodische Formen und materiale Produktionsweisen noch unverbrauchte Aussagegesten und Kommunikationsformen zwischen dem Kunstproduzenten und dem Kunst-konsumenten erprobt. Die große Leistung der Dada-Bewegung und der russischen Avantgarde nach 1915 besteht in der Suche nach neuen, unkonventionellen Ausdrucksformen, die sich ganz auf die Aktivierung eines bewußten Selbsttätigwerdens bei den Kunstkonsumenten ausrichtet. In diesem Sinne wird das Prinzip der provokativen künstlerischen Aussage nicht primär als destruktives Verhalten begriffen, sondern als eine Herausforderung an das kritische Denkvermögen des Menschen, der in der bewußten Infragestellung seiner Umwelt den Bedingungszusammenhang des alltäglichen Geschehens durchschauen soll. In ihren kabarettistischen Vorstellungen und Aktionen versuchen die Züricher Dada-Künstler, aus der Mehrschichtigkeit ihrer künstlerischen Interessen und Denkansätze die Gestaltungsvielfalt der Wirklichkeit zu erforschen. Arp erklärt dieses Anliegen einer Kunst-Regeneration durch die Zerstörung aller ästhetischen Traditionen folgendermaßen: „Dada ist ohne Sinn wie die Natur. Dada ist für die Natur und gegen die Kunst. Dada ist unmittelbar wie die Natur und versucht jedem Ding seinen wesentlichen Platz zu geben, Dada ist moralisch wie die Natur. Dada ist für den unbegrenzten Sinn und die begrenzten Mittel. Das Leben ist für den Dadaisten der Sinn der Kunst. Die Kunst kann die Mittel mißverstehen und statt begrenzter Mittel unendliche Mittel anwenden. Dann wird nur Leben, nur Natur vorgetäuscht, statt Leben erschaffen. Die akademische Malerei beschreibt, gibt Illusionen statt Leben und Natur. Die akademische Malerei täuscht die Natur und das Leben vor."

Das alte künstlerische Prinzip einer geordneten Bildwelt wird von den Dadaisten bewußt aufgegeben, da eine Vereinigung von Kunst und Leben nur dann realisiert werden kann, wenn man die Gesetzmäßigkeit natürlicher Veränderungsprozesse akzeptiert im Sinne einer Anerkennung des Zufalls als „Ordnung außerhalb der Kausalität" (C. G. Jung). So wird die Collagetechnik des Dada und Neo-Dada, die entwertete Materialien des alltäglichen Gebrauchs als Medien ihrer Ausdrucks-spräche verwenden, zum sichtbaren Zeichen dieser methodischen Integration der Kunst in den natürlichen Veränderungsprozeß der Umwelt. Duchamp formuliert mit seinen berühmten Ready-mades von 1915 die exemplarische Gleichung von Kunst und Leben, indem er demonstrativ ein simples Urinoir und einen Flaschentrockner der Massenproduktion zu Kunstwerken deklariert und auf jede künstlerische Gestaltung verzichtet. Damit wird die Identität von Kunst und menschlicher Natur postuliert.

II. Irritation und Provokation als künstlerische Formen zur Mobilisierung von kritischem Bewußtsein

Die vielfältigen Erscheinungsweisen des Neo-Dada bauen auf dieser Identitätsgleichung von Duchamp auf, die eine freie Erforschung der Realität, unbelastet von jeglicher vorgegebenen Wertordnung ermöglicht. Aus dieser Identitätsgleichung zwischen einem industriellen Warenprodukt und einem Kunstprodukt ergibt sich die gesellschaftspolitische Funktion der nachdadaistischen Kunst.

Der Künstler versteht sich nicht mehr als Schöpfer, sondern als „Macher" (Bazon Brock), der eine Idee in ein anschaubares System überträgt, wobei sich dieses Anschauungssystem nicht mehr unbedingt in der Objekt-oder Tafelbildproduktion manifestieren muß, sondern in exemplarischen Demonstrationen formuliert werden kann. „Die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins selbst ist ein plastischer Vorgang" (Beuys).

Das kreative Moment bei der Konzeption der Aktionskunst liegt in der bewußten Ausnutzung des Reizmechanismus, der sich durch geschickte Verwendung des Uberraschungseffektes bei unerwarteten Begebenheiten einstellt. Die Aktionskünstler versuchen in der Form des Happenings diese situationsgebundene Konzentration der Aufmerksamkeit durch einen besonders ausgewählten Erlebnisablauf mit dem Prozeß des kritischen Erkennens der Situationsdeterminanten zu koppeln. Vorgefundene Situationen unserer täglichen Umwelt liefern das Ausgangsmaterial des Happenings, das als totale Spielform den Unterschied zwischen Künstler und Publikum aufheben möchte: „Es gibt kein Publikum mehr, keine Zuschauer, jeder kann sein Verhalten nach Belieben wechseln. Jedem einzelnen sind seine Grenzen und seine Verwandlungen überantwortet."

Die Möglichkeit einer bewußtseinskritischen Sensibilisierung der Mitspieler für die Bedingungszusammenhänge von Geschehen wird durch die künstlerische Auswahl der Situation in eine günstige Konstellation gebracht. Die Partiturskizze des Happening-Künstlers, der sich nur als Initiator, nicht aber als Inszenator versteht, dient daher nicht einer fixierenden Planung eines Ereignisablaufs, sondern einer Steigerung der Erlebnisfähigkeit. Dabei bedient sich das Happening der Möglichkeiten einer unmittelbaren Reizung (Affizierung) des Bewußtseins durch das vitale Erleben, das den Beteiligten in der Sicherheit seiner konventionellen Erfahrungsgewohnheit irritiert. Diese Irritation setzt dann den zweiten, den eigentlich wesentlichen Vorgang der Rezeption frei, nämlich den Willen zur kritischen selbständigen Reflexion, die nach den Gründen dieser Irritation fragt und dadurch auf die Divergenz von Realität an sich und ihrer eindimensionalen Verfälschung durch konventionelle Denkformeln aufmerksam wird. „Das Happening verlangt eine völlige Erneuerung der Sensibilität, eine anarchistische Haltung des Geistes. Zuerst muß vor allem ein intensiver Kontakt mit der Welt, die uns umgibt, geschaffen werden, denn es gilt, öffentlich in aller Wirklichkeit das Recht des Menschen auf sein psychisches Leben über alles andere zu stellen." Allan Kaprow, der das Happening in den fünfziger Jahren mit seinen berühmten New Yorker Veranstaltungen begründete, bestimmt in seinen theoretischen Schriften Begriff und Wesen des Happenings: „Die Grenze zwischen Happening und täglichem Leben sollte so flüssig wie unbestimmt gehalten bleiben. Die Wechselwirkung zwischen der menschlichen Aktion und dem Vorgefundenen wird dadurch zu ihrer höchsten Wechselwirkung gesteigert ... Themen, Materialien, Aktionen und deren Wirkungen sollten von überallher entnommen werden, nur nicht aus der Kunst und ähnlichem Milieu .. . Die Komposition aller Materialien, Aktionen, Bilder und ihrer Raumzeitbezüge sollte in einer so kunstlosen wie praktischen Weise erfolgen ... Happenings sollten nicht geprobt werden und nur einmalig von Nicht-Professionellen aufgeführt werden. Eine Menschenmenge frißt sich durch einen Raum voll Essen. Ein Haus brennt ab, Liebesbriefe werden über ein Feld verstreut und beim nächsten Regen zu Brei zermanscht. Zwanzig Mietautos werden so lange in verschiedene Richtungen gefahren, bis das Benzin alle ist ... Die beabsichtigten Aktionen des Happenings rufen Affinitäten zu Veranstaltungen am Rande der Kunst hervor, wie z. B. Paraden, Karnevalszüge, Spiele, Militärspiele, Gesellschaftsreisen, Orgien, religiöse Zeremonien und weltliche Riten. Zu letzteren gehören beispielsweise die Aktionen der Mafia, Bürgerrechtsdemonstrationen, nationale Wahlveranstaltungen, der Abendbetrieb in den amerikanischen Einkaufszentren, die , hot-rod‘-, , dragster’-und Motorradszene und, nicht zuletzt, die ganze phantastische Ex-plosion der Werbe-und Kommunikationsindustrie. All das ist ein Spiel mit den greifbaren Dingen der Umwelt und Ergebnis sind Tag für Tag erneut stattfindende unbewußte Rituale."

Als Entlarvung konventioneller Rituale des Religiösen und Erotischen sind die umstrittenen Happenings der Wiener Aktionisten Herman Nitsch und Otto Muehl zu verstehen, die im brutal anmutenden „Orgien-MysterienTheater" (Nitsch) durch die Kunst den anarchischen Trieb des Lebens bloßlegen und den Zuschauer in den Zustand der totalen Befreiung von unterbewußten Impulsen der Aggressivität versetzen wollen. Während diese Aktivitäten in ihrer Übersteigerung animalischer Triebhaftigkeit auf das instinkthaft sich entäußernde kollektive Unterbewußtsein verweisen wollen, beabsichtigt das Decollage-Happening von Wolf Vostell eine gezielte bewußtseinskritische Aufschlüsselung absurder Umweltbedingungen, die den Menschen bedrängen, ohne daß er sich dieser Einengung seiner Freiheit bewußt wird. So veranstaltete Vostell anläßlich des Kölner Kunstmarktes 1969 seine decollagierende Aktion der Einbetonierung und Entschalung des eigenen Autos unter dem Titel „Ruhender Verkehr". Die Absurdität der modernen Großstadtverkehrslage wird hier als groteske Widersprüchlichkeit manifestiert, das Auto — an sich ein Mittel zur schnellen Fortbewegung — kann im Zeichen des totalen Verkehrschaos seiner eigentlichen Funktion nicht mehr gerecht werden.

Vostell versteht seine Decollage-Happenings als Provokation der Urteilskraft, indem das Publikum zu einer subjektiven Verhaltensweise in Form einer „Ja-Nein-Entscheidung" gegenüber dem unerwarteten Ereignis veranlaßt wird. Die Decollage als Verwischung des Normalen durch Zerstörung, Verdeckung, Demontage bis zur Unbrauchbarkeit der Materialien soll die Reaktionsarmut des abgestumpften, von Konsummechanismen determinierten Menschen aktivieren und auf die Gleichzeitigkeit von Logik und Alogik im alltäglichen Geschehen verweisen. In diesem Sinne demonstrieren Vostells zerrissene Plakate die fragmentarische und manipulative Informationsweise der modernen Massenmedien, und das einbetonierte Auto verdinglicht die Verkettung von Brauchbarkeit und Verbrauchtsein im provokativen Anschauungsgegenstand. Vostell: „Daraus folgernd sehe ich im Auto nicht nur das schöne Fortbewegungsmittel; sondern ich sehe im Auto den Unfall mit vorbeifahren. In meinen Verwischungen und meinen Happenings ist dieser Bestandteil wichtig. Erst so kann sich der Mensch von der Idee Auto einen Begriff machen; im Gegensatz zur Schönmalerei oder zum schöngeistigen Theater, das beides dem Publikum die wahren und die realistischen Seiten eines Objektes vorenthält. Im Happening ist alles originales Geschehen, es gibt nichts, was dem Publikum vorenthalten würde, es sei denn, der am Happening Beteiligte verschweige sich selbst etwas."

Indem das Happening Publikum und Ding-welt in eine unmittelbare Begegnung bringt, die mit der Stimulation durch das Situationsgeschehen zugleich auch die Denkentscheidung provoziert, beinhaltet es eine neue Methodik des prozessualen, erlebnisbezogenen Erlernens, die sich ganz auf die praktischen Bedürfnisse einer bewußtseinskritischen Analyse des modernen Konsummechanismus einstellt. Das Happening kann als didaktisches Prinzip der kritischen Bewußtseinsemanzipation für alle Bevölkerungsschichten — unabhängig von Bildung und Wissensstand — wirksam werden, wobei der Erfolg allein von der geschickten und lebensnahen Ausnutzung des psychologischen Provokationseffektes und von der positiven Einstellung des Publikums abhängt. Das Happening liefert als erste künstlerische Ausdrucksform mit der künstlerischen Idee auch die Methodik ihrer Rezeption; das Individuum erlangt mit der bewußtseinskritischen Erfahrung seiner umweltbedingten Determination die notwendige Anregung, nach Möglichkeiten einer emanzipierten Lebensform innerhalb der industriell-technischen Produktionsgesellschaft zu suchen. Dieser Akt der Befreiung ist nur möglich über den Prozeß der destruktiven Veränderung des Konventionellen, denn die Zerstörung impliziert zugleich die Konstruktion neuer Gegenstandsbenennungen außerhalb der Kausalbedingungen von Gebrauchen und Verbrauchen. Ähnliche Ziele einer gesteigerten Affizierung des Zuschauers durch eine vielseitige Inanspruchnahme seiner Sinnestätigkeit verfolgt die Kunstform des Environments, die den Rezipienten im Unterschied zum Tafelbild und zur Skulptur räumlich umschließt und so eine Aktivierung des Gehörs, Tastgefühls und Sehvermögens erfordert. In diesem Sinne ist das Relikt von Vostells Einbetonierung eines Autos, der Betonklotz „Ruhender Verkehr" auf dem Kölner Neumarkt, ein Environment im urbanen Raum das — als denaturiertes Ele-ment, als ruhendes Fahrzeug dem Verkehrs-zentrum der City kontradiktorisch eingefügt — die ständige Vergegenwärtigung möglicher Deformationen bewußt werden läßt.

Im Anschluß an die dadaistische Material-expansion wird von dem amerikanischen Neo-Dadaisten Edward Kienholz eine provokative Form des Environments konzipiert, die man mit der Kennzeichnung „Horrorkunst" (Funk Art) belegt hat. Kienholz konkretisiert in seinen Räumen die Abbildung der Zeit, indem er mit Hilfe der Abfallprodukte moderner Zivilisation auf die Tragödie des verkümmerten sozialen Verhaltens verweist. Die Environments kombinieren „im Detail zerschundene und verschmutzte Objekte zu pointiert formulierten Anekdoten" zerstörte, kontrastierende Gegenstände formieren die banalen Räumlichkeiten einer zerbröckelnden Kommunikation, die sich auf leere Gestik reduziert hat. Mit der Schäbigkeit der trivialen Gegenstände und mit den abgelegten Kostümen der puppenhaften Figuren in den Räumen artikuliert sich in satirischer Ironisierung der psychische Verfall des Konsummenschen zur agierenden Marionette. Kienholz will mit dieser schockierenden Allegorisierung normierter Verhaltensweisen in der Gesellschaft keine moralisierende Wertung geben, sondern lediglich die Welt der Wahrnehmung in Zweifel stellen und die kritische Frage provozieren, wie weit das Individuum sich dieser erstarrten Existenz entziehen kann. Die Irritation der normalen Selbstsicherheit durch die künstlerische Vergegenwärtigung des verhärteten sozialen Verhaltens verbindet mit dem Erlebnis des Erschreckens vor der Realität den Anstoß zur problemlösenden Reflexion in Richtung auf eine veränderte Zukunft.

Im Gegensatz zum provokativen Schock-Environment von Kienholz sind die Environments von George Segal eingefrorene Momente des gewöhnlich unbemerkten und unreflektierten Verhaltens. Zusammengefügt aus Alltagsgegenständen und Gipsfiguren, die vom lebenden Modell in der jeweiligen Handlungssituation abgeformt worden sind, suchen sie die intime Wiedergabe des Augenblickes. Das fremde Weiß der Gipsfiguren versetzt die präsentierten Gestalten in eine isolierte Distanz, die alles Unwesentliche zugunsten der reinen psychischen Aussage bannt. Diese gestische Verinnerlichung, die im kalkigen Weiß nur das Wesentliche, nämlich das spezifische Verhalten in der Zeit spiegelt, gelingt durch die weitgehende Eliminierung des Akzidentiellen. Segal sieht seine Aufgabe darin, Ge10 sten und Handlungen als die Bestimmungszeichen menschlichen Seins in ihrer Vielzahl wertungsfrei zu sammeln und dadurch die menschliche Würde aus der vergegenständlichten Subjekt-Objekt-Beziehung neu zu erschließen. Die bewußtseinskritische Didaktik der Neo-Dada-Ausdrucksgesten in Form von Happenings, Decollageaktionen und Environments, die sich als Restprodukte von Aktionen darstellen, ist jedoch bis heute niemals in systematischer Förderung breitenwirksam geworden, obwohl sie die methodischen Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Bewußtseinsaktivierung bereitstellt. Der Grund für diese fehlende Breitenresonanz ist weniger in den Aktionen selbst zu suchen als vielmehr in der unzulänglichen Form ihrer Inszenierung durch Museen und Galerien, die als Informationsorgane in den fünfziger und sechziger Jahren keine intensive Öffentlichkeitsarbeit praktiziert haben, sondern nur diejenige Schicht von Bildungsbürgern ansprachen, die auch das Käuferpotential des kommerziellen Kunstbetriebs darstellen. Der in den Happenings und environmentalen Räumen gezeigte, von Konsummechanismen in seiner Freiheit eingeschränkte „Normalverbraucher" konnte von den spektakulären Neo-Dada-Veranstaltungen nicht angesprochen werden, weil die öffentlichen Bildungsinstitutionen diese Form der Bewußtwerdung durch visuelle Kommunikation von Kunstdemonstration und Leben nicht in die allgemeinverbindliche Bildungsmethodik integriert haben.

Wie fruchtbar eine solche Kooperation von öffenlicher Bildungsarbeit mit der kreativen aktioneilen Bewußtseinsaktivierung sein kann, ist auf der documenta IV (Kassel 1968) bewiesen worden, wo Bazon Brock, der Theoretiker dieser neuen ästhetischen Praxis, mit der Einrichtung seiner Besucherschule die notwendige Einheit von ästhetischer Produktion und ästhetischer Rezeption erstmalig praktizieren konnte. Die documenta IV machte das zahlreiche Besucherpublikum mit der Kunst-avantgarde der sechziger Jahre bekannt, vorwiegend aber mit den Werken der Pop Art und des Neuen Realismus.

Die amerikanische und englische Pop Art hat sich ebenso wie der in Frankreich begründete Neue Realismus aus den dadaistischen materialexpansiven Ausdrucksformen der Montage, Collage und Akkumulation (Anhäufung von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs) entwickelt, verfolgt aber keine unmittelbar didaktischen Ziele sondern betreibt experimentelle Problemforschung im Hinblick auf eine Annäherung von Kunst und Leben, die der Kunstkritiker Lawrence Alloway in dem programmatischen Fragesatz beschreibt: „Wie nah kann ein Kunstwerk seiner Quelle sein und dabei seine Identität bewahren?"

Bei Claes Oldenburg wird die geistige Verbindung zwischen Pop Art und Dada-Happening besonders deutlich. Oldenburg transformiert die Spontaneität der Materialaussage, die im Happening in Form von unmittelbarer Improvisation experimentiert worden ist, auf die artifiziellen Objekte seiner Pop Art-Produktion. Seine überdimensionalen Tortenstücke und Wurstbrötchen, seine Waschbecken, Schreibmaschinen und Lichtschalter, aus Leinenstoff handgenäht, sind zwar exakte Abbilder der konsumtechnischen Warenhauskultur, aber das alltägliche Fluidum wird durch die Überpointierung gestört. Die Objekte gewinnen ein denaturiertes Aussehen, das dem Betrachter mit der spontanen Assoziation an die Gebrauchsmaterialien des alltäglichen Lebens den verzerrten Stellenwert dieser Waren im modernen gesellschaftlichen Lebensschematismus bewußt machen kann.

Gleiche Absichten verfolgt Roy Lichtenstein in den überdimensionalen Comic-Strip-Rasterbil-dern so wie Andy Warhol in den berühmten „Superstars“ in denen sich die totale kühle Entindividualisierung der industriebestimmten Gesellschaftsstruktur mit ihren narkotisierenden Kommunikationsmethoden, ihrer Reklame und Trivialliteratur widerspiegelt. Die über-naturalistische Annäherung des künstlerischen Abbildes an die Wirklichkeit soll dem Betrachter ein kritisches Bewußtsein gegenüber der ambivalenten Zweideutigkeit moderner Industriekultur vermitteln: Der von Reklametechniken übernommene, optisch gesteigerte Sinnenreiz der artifiziell abgemalten Waren-objekte kontrastiert in parodistischer Deutlichkeit zu der Trivialität ihres alltäglichen Gebrauchswertes.

Der oft gegen die Pop Art erhobene Vorwurf einer kritiklosen Akklamation der modernen Konsum-und Reklamemechanismen verliert seine Berechtigung, wenn dem Betrachter der dialektische Aussagewert der Pop Art einsichtig gemacht werden kann. Die Besucherschule Bazon Brocks auf der documenta IV (für die documenta V 1972 als Buchpublikation geplant) hatte sich diese Information zur Aufgabe gestellt. Jeder documenta-Besucher erhielt die Möglichkeit, sich vor und während der Besichtigung der Ausstellungsräume per Sprechfunk über die Informationsabsichten der gezeigten künstlerischen Arbeiten zu unter-richten. Dabei erhielt der Fragende die notwendigen materialtechnischen und theoretischen Kenntnisse, um den ästhetischen Reiz und den denkkritischen Inhalt eines Kunst-produkts zu begreifen und seine eigene Urteilskraft sachgerecht zu aktivieren. Damit war erstmalig im praktischen Experiment die Konsequenz aus den psychologischen Erfahrungen mit dem Happening gezogen, daß nur noch die Synthese von ästhetischer und gesellschaftlicher Praxis die soziale Funktion von Kunst legitimiert. Damit leitet die künstlerische Praxis ihre Existenzberechtigung nicht mehr aus der Produktion esoterisch-kulinarischer Objekte ab, sondern verwendet statt dessen die Dingwelt als anschaubares Instrumentarium zur Bewußtmachung von Denkbedingungen und alltäglichen Geschehensabläufen, um dadurch dem Kunstkonsumenten eine emanzipatorische Bewältigung der gesellschaftlich normierten Verhaltensformen zu ermöglichen.

Die jüngsten künstlerischen Tendenzen der Concept Art — die sogenannte Process Art und Behaviour Art —, die sich die subtile Beobachtung realer Veränderungsprozesse und ihre Beherrschung durch den planenden Geist sowie die exemplarische Verhaltens-analyse der menschlichen Äußerungsformen zur Aufgabe machen, verlangen nach einer produktionsadäquaten Vermittlung der künstlerischen Inhalte an den Rezipienten. Hier wird die mangelnde Informationsdidaktik der tradierten Kunstvermittlungsanstalten Museum und Galerie evident. Für die modernen Kunst-tendenzen wären auch die Informationsmedien der öffentlichen Bildungs-und Publikationsanstalten wie z. B. das Fernsehen wesentlich besser geeignete Vermittlungsinstanzen als der museale Raum. Diese Divergenz zwischen der ästhetischen Produktion und ihrer sozialen Praxis — durch eine völlig unzureichende Aufklärung der breiten Öffentlichkeit über die künstlerischen Absichten der Produzenten verursacht — wird in den künstlerischen Arbeiten von Franz Erhard Walther, der zur Zeit an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg lehrt, durch die ästhetische Produktion selbst bewältigt. Walther bietet dem Publikum Objekte an, deren Benutzungszweck nicht aufgrund bereits bekannter konventioneller Gebrauchsriten erkennbar ist. Diese Objekte haben im Kontext der normalen Konsummechanismen keinen Wert, sondern dienen als „Instrumentarien" einer eigenständigen Erfindung von Benützungsformen durch den Kunstverbraucher. Der Künstler unterstützt diese Eigeninitiative lediglich durch eine Erläuterung der Objektbenutzung, die er aus dem Herstellungsprozeß dieser Objekte ableitet:

Die Benutzung und die Bedingungen dieses Prozesses sind am Objekt nicht erkennbar, beides muß ich durch meine Erläuterung leisten, die ich in der Demonstration anbiete. Ich selbst habe beim Herstellungsprozeß des Instrumentariums eingesehen, zu was die Okjekte tauglich sind, d. h. ich habe ihre Grundstrukturen erfahren. Es gibt zwei Typen innerhalb meines Werksatzes von Benutzungsprogrammen, einmal die Typen, die das Handeln deutlich erkennen lassen, z. B. das Stück zum Hineinlegen; bei anderen Typen muß die Benutzung im einzelnen bestimmt werden, da ihre Benutzung im vorhinein nicht als besondere Handlung anzugeben ist. Wenn ich meine Objekte vorführe, dann erkläre ich die Bedingungen der Handhabe, indem ich ihre Daten in Form von Volumen, Strecke, Gewicht, Proportion vermittle. Diese Bedingungsdaten erlauben dann den Benutzungsprozeß. Das Kennenlernen dieser Daten bringt jedoch noch keine Benutzungsinitiative zustande, es vermittelt die objektive Voraussetzung von Benutzung. Um befähigt zu sein, mit den Objekten zu arbeiten, muß der Benutzer mit dem Kennenlernen der Objektbedingungen zugleich seine eigenen Materialien, d. h. die Bedingungen seiner Persönlichkeit begreifen. ... In der bisherigen Kunstproduktion ist die künstlerische Arbeit auf ein Objekt hin ausgerichtet und die Rezeption bestimmt sich als ein Aufnehmen von dem, was bereits vom Künstler getan worden ist, während bei mir die künstlerische Produktion die tätige Rezeption der Benutzer initiiert und die Rezeption mit der Ensicht des Prozeßbenutzers einsetzt, einen zeitlichen Tätigkeitsvorgang unter seiner Bestimmung zu leisten.“

Diese auf Denkinitiative ausgerichtete künstlerische Praxis benötigt zur optimalen Realisation ihrer Lehrmethodik eine intensive Demonstrationspraxis in Laborräumen, die von jedem interessierten Rezepienten nach Belieben aufgesucht werden können, ebenso aber auch die informationstheoretische Aufbereitung durch die öffentlichen Publikationsorgane. Walther selbst würde die Durchführung seiner Übungsdemonstrationen in Schulen, Universitäten, wissenschaftlichen Instituten und anderen Bildungsinstitutionen gegenüber den begrenzten Möglichkeiten der Benutzungspraxis in Galerie und Museum vorziehen, konnte aber bisher — abgesehen von einigen Demonstrationen in amerikanischen Universitäten — nicht über eine andere Informationsebene als Museum und Galerie an die Öffentlichkeit treten. Die methodische Strukturierung des Unterrichtsfaches „Kunsterziehung" ist in unseren Schulen vielfach noch in gleicher Weise wie vor 50 Jahren beschaffen und zielt in erster Linie auf die Vermittlung von kulinarischem Kunstvergnügen und perfektionierten Techniken zeichnerischen Gestaltens, vernachlässigt aber weitgehend die Vermittlung von künstlerischer Aktivität.

Das Buch von Klaus Sliwka: Aspekte zum Unterrichtsfeld Bildende Kunst — Visuelle Kommunikation. Uber die Inhalte Mensch und Gesellschaft (Köln 1971) erarbeitet — gestützt auf praktische Erfahrungen mit Schülern und Studenten —, eine Nutzung des Kunstunterrichtes als „nicht-verbales" Kommunikationsfeld, das die Probleme und informativen Möglichkeiten der Visualisierung kritisch untersucht und die medialen Bildträger unserer Zeit: Comic, Plakat, Illustrierte, Foto, Film, Fernsehen in den Unterricht einbezieht.

III. Praktische Versuche einer kommunikativen Annäherung von Kunst und Gesellschaft

Da die gegenwärtige Kunst ebenso wie die Wissenschaft eine Problemanalyse der Realität leisten will, bedarf sie in zunehmendem Maße der interpretativen Aufbereitung durch die Institutionen der Kunstvermittlung und der Integration in die Informationsmedien der öffent-lichen Bildung. Das von der Kunst intendierte visuelle Begreifen im weitesten Sinne einer kritischen Anschauung und einer freigesetzten Initiative kann nur durch den direkten Kontakt zwischen Publikum und Künstler wirksam werden, wie die mehr als zehnjährige Praxis der Happening-Aktionen aufgezeigt hat. Aber auch dem Happening ist der Abbau von emotionalen Vorurteilen und hemmenden Verständigungsschranken nicht gelungen, weil die institutioneilen Veranstalter von Happening-Demonstrationen ihre Räumlichkeiten nicht den psychologischen Voraussetzungen breiter Publikumsschichten angepaßt haben und statt dessen nur ein elitäres Bildungspublikum in ihre exklusiven Galeriesäle anlocken können. Lediglich dort, wo das Happening — wie das Straßentheater die Straße — den öffentlichen Platz als Kommunikationsraum gewählt hat, konnte eine Breitenwirkung erzielt werden.

Inzwischen hat jedoch auch das Happening seine Ausstrahlungskraft als Evokation von gezielten Bewußtseinsreaktionen eingebüßt, so daß eine didaktische Neuaufbereitung des Happenings keinen Erfolg in der jetzigen Situation hervorbringen könnte. Die ständig wachsende Narkotisierung der Gesellschaft durch reizintensive Konsummechenismen hat die Menschen so sehr abgestumpft, daß heute die psychoanalytische Methodik der Bewußtwerdung durch provokative Schocktherapie angesichts ihres Verschleißes durch die Reklame-und Vergnügungsindustrie nicht mehr die spontane Wirkung hervorbringen kann, die Vostell und Kaprow in den fünfziger Jahren noch erlebt haben. So ist die deutsche Wanderausstellung „Happening und Fluxus" 1970/71 zum retrospektiven Grabgesang des einst kunstrevolutionären Happenings geworden.

Es bleibt jedoch die Aufgabe weiterhin unbewältigt, jene praktischen Erfahrungen einer spontanen Anschauung der Lebensprozesse, die das Happening hervorgebracht hat, auf andere Weise mit dem Ziel einer Annäherung von Kunst und Gesellschaft fruchtbar zu machen. Dazu hat bisher das museale Bildungsund Informationsprogramm kaum entscheidende Initiativen entwickelt, da es sich immer noch grundlegend an der kulinarischen Rollenerwartung von Kunst in der breiten Öffentlichkeit orientiert und die Produktionen künstlerischer Kreativität in der entpolitisierten Enklave esoterischer Museumsaura ansiedelt. Diese gesellschaftliche Isolierung der ästhetischen Produktion wird jedoch durch die progressive Initiative einiger Museumsdirektoren und Künstlergruppen durchbrochen, die sich von der Vorstellung befreit haben, nur die schöngeistige Atmosphäre einer Kunsthalle könnte die Kunst wesensgerecht vermitteln. Sie suchen statt dessen die direkte Kommunikationsbasis der Straße und gestalten das Kennenlernen von Kunst — in Anlehnung an die Bedürfnisse der Gesellschaft — zu einem Spiel mit Kunstobjekten und kreativen Ideen. Die Initialzündung zu dieser Verlagerung der Begegnungsebene zwischen Kunst und Gesellschaft auf die Straße ging ursprünglich von einzelnen Theatergruppen aus, die sich von dem Darstellungsschema des theatralischen Vorspielens gelöst und Möglichkeiten des Zusammenspiels von Schauspielern und Zuschauern erprobt haben.

Vor allem das New Yorker „Bread and Puppet Theatre", das auf alte Formen des volkstümlichen Straßenmaskenspiels zurückgreift, und das „Living Theatre" unter Leitung von Julian und Malina Beck, das die Selbstbefreiung der Persönlichkeit von den Zwängen des konventionellen Verhaltens im freien Gestenspiel des Ensembles experimentiert, haben dem Theater neue konzeptionelle Ideen im Hinblick auf breite gesellschaftliche Kommunikation durch künstlerisches Handeln gewiesen. Im Zeichen dieser Reaktivierung der von Verbrauchsmechanismen verkümmerten zweckfreien Urtriebkraft des Spielens inszenierte der italienische Regisseur Luca Ronconi gemeinsam mit dem Teatro Libero anläßlich der Festspiele von Spoleto 1969 ein vitales Rundum-Spektakel, indem er in Zusammenarbeit mit dem Avantgardedichter Eduardo Sanguineti und mit dem italienischen Plastiker Mario Ceroli aus dem alten Renaissance-Epos „L'Orlando Furioso"

(Der rasende Roland) ein dramatisches und zugleich possenreiches Stück arrangierte. Die einzelnen Handlungsabschnitte wurden in einer großen Freizeitarena gleichzeitig mit Hilfe von fahrbaren Podestbühnen gespielt und im Stil alter Jahrmarktdarbietungen rhetorisch lautstark und mit ironischer Fröhlichkeit dargeboten. Der Zuschauer erlebte mit diesem „Orlando Furioso", der auch auf den Berliner Festwochen 1970 gastierte, ein Aktionsenvironment des totalen Spiels, dessen Sinn nicht mehr in der Vermittlung einer spezifischen literarischen Fabelweisheit zu suchen war, sondern in der Anregung von phantasie-bestimmter Selbstinitiative beim Publikum. Der Zuschauer konnte durch das vielfältige Spielangebot je nach eignem Geschmack und Phantasie unter den einzelnen Szenen-Episoden auswählen und sich selbst im aktiven Mitspielen ganz der zweckfreien Ensemblegestik integrieren. Die Rezeption der künstlerischen Produktion verwandelt sich dadurch selbst in ein vielschichtiges Eigenproduzieren durch das Publikum und wird so zu einer emanzipatorischen Überwindung des kulturellen Konsum-zwangs. Auch der Kunstverein Hannover wollte 1970 das mechanistische Konsumverhalten der Gesellschaft gegenüber der Kunstproduktion auf breiter Basis abbauen und seine Funktion als öffentliche Informationsinstanz zur wirksamen Annäherung von Kunst und Stadtbürgerschaft nutzen. Dank der Mithilfe der Stadtverwaltung Hannover konnte Manfred de la Motte, der Leiter des Kunstvereins, das „Experiment Straßenkunst Hannover" realisieren. Hier sollte erstmalig die Kunst einer ganzen Stadt als neue Erlebnisdimension bewußt gemacht werden, damit sich aus der Begegnung zwischen Künstlern und Bürgern effektive Möglichkeiten einer Integration der Kunst in das gesellschaftliche Leben eröffnen. Am 27. Mai 1970 faßte der Rat der Stadt Hannover den Beschluß, „ein experimentelles Straßenkunstprogramm für alle Formen der bildenden Kunst zu veranstalten. Es soll versucht werden, das Lebensgefühl in einem zunächst begrenzten Stadtbereich durch intensive Einbeziehung von Kunstwerken und Kunstaktionen in den öffentlichen Straßenraum zu verändern und zu steigern. Es soll ferner festgestellt werden, ob die in ihrer Mehrheit im Umgang mit moderner Kunst ungewohnten Bürger und Besucher der Stadt nach Ablauf des Programms die dauernde Einbeziehung von Kunstwerken und -ereignissen in den öffentlichen Stadtbereich als zusätzliche Erlebnisdimension befürworten oder ablehnen. “

Die verspannten Aluminiumplastiken von Kenneth Snelson, die kinetischen Windspiel-skulpturen des Berliners Hein Sinken, die Spielplastiken aus PVC-Folie der Architekten-gemeinschaft Braunwarth, Hannig und Tönshoff, sowie das durchsichtige „Luftkissen" zur Wasserwanderung über den Maschsee von Claus Göhling konfrontierte eine ganze Stadtbevölkerung im Rahmen eines großen Sommervolksfestes mit Projekten der Technik, die nicht der technisch planenden Konstruktion, sondern der kreativen Idee einer künstlerischen Phantasie entsprungen sind und sich weniger an technischen Daten als an den Bedürfnissen der modernen gesellschaftlichen Zivilisation orientieren. Die Besucher, die der Straßenkunst im Zufall des Jahrmarktspaßes begegneten, wurden veranlaßt, ein offenes Auge und Neugier für die erlebnissteigernden Möglichkeiten des Medienverbundes zu entwickeln, die im kinetischen Environment der Mixed-Media-Oper „Sonnengesang" von Dieter Schönbach, Otto Piene und Günter Weseler dargeboten wurden.

Die ersten gesellschaftspolitischen Auswirkungen dieses in Deutschland pionierhaften Experimentes wurden in dem Beschluß der Stadtverwaltung konkretisiert, daß man in Zukunft die Künstler direkt an der urbanen Bauplanung beteiligen werde, um nicht den alten Fehler noch einmal zu begehen, der Öffentlichkeit die Kunst als schmückendes Beiwerk innerhalb der technisierten Urbanistik vorzustellen. Diese praktische Erkenntnis aus der Initiative der Straßenkunst Hannover schützt vor der Gefahr, daß im Jahrmarktsrummel des Volksfestes und im spielerischen Umgang mit den Produkten der bildenden Kunst die eigentlichen Intentionen des gesellschaftlichen Engagements in der bildenden Kunst verdeckt werden könnten, beispielsweise die mangelnde Zukunftsplanung unserer Städte, die Luft-verpestung und die Verkehrsnotstände als die zentralen Probleme unserer industriebestimmten Gesellschaft eindringlich darzulegen.

Leider haben die provokativ gesellschaftskritischen Visualisierungsprojekte der Kunst nur selten ein öffentlichkeitswirksames Informationsforum gefunden. Bisher beschränkten sich die Städte darauf, ihre urbanen Räumlichkeiten den künstlerischen Volksfesten und Spiel-aktionen zu öffnen, während z. B. das Programm der Architektengruppe Zamp, Pinter, Laurids mit dem zeitkritischen Projekt: „Cover — überleben in verschmutzter Umwelt" lediglich in dem progressiv geleiteten Krefelder Stiftungsmuseum „Haus Lange" im Frühjahr 1971 gezeigt werden konnte. Diese junge „Kunst-Macher" -Gruppe, genannt „HausRucker-Co“, demonstriert unter einer riesigen aufgeblähten PVC-Schutzhülle in wirkungsvoller Anschauung die Zukunftsprognose vom Leben in künstlichen Reservaten unter den Umweltbedingungen einer totalen Luft-und Wasserverpestung. Das in der ästhetischen Praxis des „Cover" -Modells simulierte Ereignis eines Existenzzustandes in synthetischen Folienreservaten und chemisch gefilterten Luftkabinen, die das Erlebnis von grüner Natur nur noch per Treibhauskultur und Fernsehmonitor als Freizeitillusion vermitteln können, wird zum ironischen Appell an die kritische Vernunft der ganzen Bevölkerung, da die Duldung einer totalen Beherrschung der Umwelt durch die Interessen der Industrieexpansion mit dem Ende einer natürlichen und freiheitlichen Lebensentfaltung verbunden ist. In der niederländischen Öffentlichkeit zeigt sich im Gegensatz zu den deutschen Verhältnissen als Folge der Design-Aktivität von De-Stijl eine größere Aufgeschlossenheit für die progressiven Tendenzen der bildenden Kunst in Richtung auf eine enge Angleichung der Kunst an die Problembereiche des alltäglichen Lebens. Gefördert durch die avantgardistische Initiative von Jan Leering, dem Direktor des Eindhovener Stedelijk van Abbemuseum, hat die institutionalisierte öffentliche Kunstvermittlung schon in den sechziger Jahren eine effektive Entfaltung künstlerischer Eigendynamik innerhalb der gesellschaftlichen Lebensprozesse ermöglicht, wobei die zahlreichen progressiven Ausstellungsprogramme, z. B. über Concept Art und Land Art, durch breitenwirksame, kostenlose Informationsschriften über die Arbeit der niederländischen Museen unterstützt worden sind. Aufgrund dieser kontinuierlichen Expansion und Integration der bildenden Kunst in den normalen Erlebnisbereich der Bürger wurde es im Sommer 1971 möglich, das große Kunstexperiment „Sonsbeek 71" zu starten. Hier wurd unter Kooperation aller Kunstorgane und öffentlichen Kunstvermittlungsinstitutionen eine das gesamte Territorium der Niederlande überziehende Kunstausstellung auf der Straße veranstaltet, die auf breiter Basis die Veränderung der Geographie durch den Eingriff der kreativen Geistestätigkeit bewußt machen soll. In vielen Städten Hollands wurden progressive künstlerische Arbeiten der verschiedensten Kunstrichtungen aufgestellt, dazu erlebt der holländische Bürger während eines längeren Zeitraumes ein vielfältiges Programm an künstlerischen Aktionen und Theaterveranstaltungen, die nicht in abgeschlossenen Kulturräumen, sondern inmitten der urbanen Kommunikationsangebote — Straße, Platz oder Park — inszeniert werden. Hier tritt die Kunst im Bereich der Öffentlichkeit direkt als integrierter Faktor des Lebens an die Gesellschaft heran, so daß der „Leerraum" zwischen normaler gesellschaftlicher Kommunikationsebene und musealer, esoterischer Kunstszenerie überwunden wird. So erlebt der Bürger z. B.den Reiz des kreativen Experimentes in den Luftschiffgebilden des Künstlers und Flugmaschinenkonstrukteurs Panamerenko als faszinative Kraft einer individualistischen technischen Sensibilität, die sich von dem eindimensionalen Zweckdeterminismus der industriellen Technologie im freien Spiel mit der kreativen technischen Fiktion befreit und dadurch sichtbares Zeugnis ablegt von den potentiellen Erfindungsenergien menschlicher Kombinatorik und Phantasie, die im zweckbestimmten Alltag verkümmern.

Im Frühjahr 1972 wird die Stadt Eindhoven unter der Leitung von Jan Leering und Harald Szeemann eine dokumentarische Ausstellung im Stadtzentrum zum Thema „Die Straße als sozialer Kommunikationsraum" veranstalten. Diese Ausstellung will in Verbindung mit technischen, architektonischen und gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen einerseits eine umfassende Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Funktion einer Straße leisten und zum anderen neue Systeme von Straßenanlagen darstellen, die den sozialen Bedürfnissen (Verkehrsfluktuation, Einkaufsmöglichkeit, Begegnungsebene) in höherem Maße gerecht werden. Um diese künstlerischen Strategien einer Veränderung des bisherigen Systems von Straßenanlagen verständlich zu machen, wird die Bevölkerung mit der vielschichtigen Funktion der Straße in Anschauungsmodellen bekannt gemacht und dabei zugleich auf die Mängel der bisherigen Straßen-planung hingewiesen. Diese Einheit von kritischer Bestandsaufnahme und spekulativer Zukunftsstrategie macht der Bevölkerung den polivalenten Bedingungszusammenhang der urbanen Lebensräume bewußt — ein Wissen, das hinter der Monokultur ökonomisch rationaler und technokratischer Gesellschaftsstrukturierung fast völlig verschüttet worden ist. Mit dem Ausstellungsprojekt „Die Straße als Lebensraum" leistet Leering ein wichtiges Beispiel für ein auf die Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgerichtetes künstlerisches Engagement. In dieser Angleichung von künstlerischer Thematik und sozialem Bedürfnis wird die Abkehr der künstlerischen Produktion vom autonomen Repräsentativsystem der bildenden Kunst deutlich. Es wird ersetzt durch das Postulat einer sozialen Kunst, die sich in ihrer Thematik an den Notwendigkeiten der Zeit orientiert und ihr Selbstverständnis aus der Unabhängigkeit von ideologischen und funktionalistischen Denkformen ableitet. Ähnliche Intentionen wie das Eindhovener Projekt verfolgt Klaus Honnef, unterstützt vom Bundesverkehrsministerium, mit seiner Ausstellung „Verkehrskultur" in Münster im Frühjahr 1972, in der über die nachdrücklichen Veränderungserscheinungen der Welt durch die Existenz des Autos und über die Reaktion des Menschen auf diese Mobilität in Form von künstlerischen Modellsituationen informiert werden soll. Aus der Komplexität der Thematik ergibt sich die Funktion dieser gesellschaftspolitischen Experimentalanalyse der Umweltveränderungen durch das Auto. So wird die Ausstellung mit der Absicht einer möglichst umfassenden Information die Realität des Autos im gesellschaftlichen Leben unter mannigfaltigen Aspekten darstellen:

1. Die Geschichte des Automobil-Designs bis hin zu Zukunftsprojektionen;

2. Das Auto als Auslöser konkreter Umweltveränderungen; 3. Das Auto als Ursache neuer visueller Kommunikationsformen, z. B. Verkehrsschilder, Straßenmarkierungen, Autokartografie;

4. Das Auto als Auslöser neuer Verhaltensweisen in Form von Urlaubs-, Einkaufs-und Freizeitgewohnheiten.

5. Das Auto als gesellschaftlich ambivalenter Faktor, positiv: Mobilität in Beruf und Freizeit, negativ: erhöhte Lebensgefahr und Umweltverschmutzung; 6. Entwicklung künstlerischer Strategien zur Verkehrs-und Stadtplanung von heute und morgen.

Dieser vielschichtige Themenkatalog macht die gesellschaftspolitische und bewußtseinskritische Funktion des Ausstellungsprogramms deutlich, indem der Bedingungszusammenhang der Verkehrskultur in seinen einzelnen Determinanten benannt werden soll. Klaus Honnef schreibt in seinem Arbeitskonzept als grundsätzliche Erwägung zur künstlerischen Bearbeitung des Problems Verkehrskultur: „Um das Auto hat sich ein vollkommen neuer, subkultureller Bereich etabliert, die Verkehrskultur, mit ihren spezifischen Formen: mit Symbolen, Attitüden, Optiken, und Moden. ... Das Auto mit seinen gesellschaftlichen, psychologischen und optischen Auswirkungen ist zum Thema der Kunst geworden. Künstler reflektieren den Komplex der Verkehrskultur. Sie machen bewußt, was ist, und arbeiten obendrein an der Ausarbeitung neuer Lösungsvorschläge zur Bewältigung der aufgetretenen Probleme. Obwohl ihre Vorschläge durchweg von artistischen Überlegungen geleitet sind, entraten sie nicht unbedingt des Praxis-Bezugs, vielmehr vermag die Praxis wichtige Anregungen aus künstlerischen Vorschlägen zu gewinnen. Dadurch könnte die Kunst ein neues gesellschaftliches Verhältnis erhalten, eine neue gesellschaftliche Bedeutung."

Die Analyse individueller und kollektiver Verhaltensweisen, die sich durch den Erfahrungshorizont der Autobenutzung einstellen, ist bereits im Oktober/November 1970 von HA Schult mit dessen spektakulärer Auto-Rallye quer durch Deutschland eingeleitet worden, wobei Schult die Summe seiner subjektiven Erfahrungen während dieser Reise durch die Kooperation mit den Publikationsmedien in das öffentliche Bewußtsein gerückt hat. Dabei wurde das weite Feld der vielschichtigen Bedingungsfaktoren, die das Erlebnis einer Autofahrt bestimmen, mit Hilfe der exakten Aufzeichnung durch Film-und Tonbandmonitor in seiner Wechselbeziehung von Erfahrungs-und Verhaltensreaktionen registriert und zur verfügbaren Erkenntnis gemacht.

Die Ausarbeitung neuer Lösungen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme hat in den sechziger Jahren eine Vielzahl von künstlerischen Zukunftsstrategien und Spekulationen im Bereich beispielsweise der Architektur oder der Verhaltensforschung hervorgebracht, wobei diese Problembereiche der sozialen Wirk-lichkeit nicht wie in der Wissenschaft unter spezialisierten Fragestellungen in Angriff genommen werden, sondern eine komplexere Analyse durch die Möglichkeiten der künstlerischen Visualisierung erfahren.

So wird der kollektive Lebensraum einer städtischen Ansiedlung nicht mehr nur als Raum der Öffentlichkeit geplant, sondern als ein Spannungsfeld von Privatheit und Kollektiv, indem die künstlerischen Modelle zweckfreie Spielräume erschließen, durch die eine ungehemmtere Befriedigung individueller Bedürfnisse gewährleistet wird. Diese Angleichung der architektonischen und gesellschaftsstrukturellen Verhältnisse der Umwelt an die physischen und psychischen Bedingungen des Menschen kann nur dann eintreteh, wenn die Massenansiedlungen ihren architektonischen und verkehrstechnischen Determinismus verlieren und statt dessen zum flexiblen Kontakt-raum zwischen Individuum und Gesellschaft verwandelt werden.

Rolf Wedewer und Thomas Kempas haben in ihrem Buch: „Architektonische Spekulationen", (Düsseldorf 1970) eine Reihe künstlerischer Projektentwürfe zum Thema architektonische Umweltgestaltung gesammelt, die sich um eine Steigerung von räumlicher und psychischer Lebensfreiheit bemühen. Hier wird die tradierte Rollenerwartung von „Kunst am Bau" entscheidend durchbrochen, indem sich das Prinzip der Verschönerung baulicher Zweckkonstruktionen durch künstlerische Attribute in eine lebensgerechte Kommunikation der Gesellschaft durch künstlerische Gestaltung der Realität verwandelt, die ein gesundes Gleichgewicht zwischen Individualität und Öffentlichkeit anstrebt und damit eine organische Architektur postuliert, die sich den wechselnden Umweltbedingungen einerseits und den psychischen Bedingungen der Menschen andererseits angleicht und dabei diese Subjekt-Objekt-Relationen möglichst konfliktlos vermittelt. Dieser Realitätserfahrung wollen die utopischen Siedlungsprojekte gerecht werden, wie sie sich in den Schaumstofflandschaften von Ferdinand Spindel und in den Wohnzellensystemen von Adolf Luther und Reinhard Momma darstellen. Hier wird die feste Baustruktur zugunsten einer vielschichtigen Variabilität aufgegeben, die eine ständige Anpassung der Systeme an die veränderten Umweltverhältnisse möglich macht.

Es bleibt zu wünschen, daß solche Modellentwürfe ihre Auswirkungen auf die städtische Wohnplanung finden, um den Dirigismus der heutigen Wohnballungssysteme zu vermindern. Heide Berndt konstatiert in ihrem Buch: „Architektur als Ideologie" (1968), daß die totale Unterwerfung der Architektur unter gesellschaftliche Funktionsanforderungen notwendig das niedrige „architektonische Niveau von Kasernen, Scheunen, Silos und anderen reinen Nutzbauten" hervorbringen muß, „die bloß als eine Hülse für einen bestimmten Zweck fungieren"

Die Forderung der kreativen Architektur nach Anpassung der Baustruktur an die psychischen Bedürfnisse der Menschen innerhalb der Gesellschaft rückt auch die Idee des Bauhauses von einer „schöpferischen architektonischen Konzeption, die alles in einer Gestalt sein wird, Architektur und Kunst", in einen neuen gesellschaftspolitischen Kontext, den man in den dreißiger Jahren noch nicht gesehen hat. Bauhaus und De Stijl konnten durch die Überbetonung der schönen Form, unabhängig gedacht von ökonomischen Bedingungen, nur begrenzte Verwandlungsimpulse für die urbane Bauplanung auslösen, denn ihre Möglichkeiten blieben letztlich einer finanzstarken Privilegiertenschicht vorbehalten, da der Bedingungsrahmen sozialer Bestimmungsfaktoren nicht weit genug in das Konzept der ästhetischen Zukunftsarchitektur integriert war und statt dessen das Prinzip des ästhetischen Nut-zens auf eine den Design kultivierende Praxis beschränkt blieb, über der „psychohygienischen" Ästhetik wurde der wesentlichere Kampf gegen die „Verödung der städtischen Kommunikation" nicht genügend in Angriff genommen

Die in jüngster Zeit durch Fernsehen und Zeitungspublikationen stark geförderten Bemühungen einer Stadtverschönerung durch Fassadenübermalung sollte man nur unter der Bedingung intensiv propagieren, wenn die Übermalungen häßlicher Slumwände lediglich als befristete Übergangslösungen gedacht sind und keinen Dauerzustand darstellen. Denn mit der Verhüllung städtischer Slumquartiere durch farbenfrohe Übermalung wird die Kunst letztlich wieder ausschließlich im Sinne ihrer tradierten attributiven Verschönerungsfunktion eingesetzt und gewinnt keine gesellschaftsadäquate Veränderungsmöglichkeit der mangelhaften Umweltsituation, da der Lebensraum der in den bemalten Häusern wohnenden Menschen durch das schöne Fassadengemälde nicht verbessert wird.

Die Evolutionierung der optischen Kultur einer Stadt kann nur dann bewerkstelligt werden wenn durch die Erforschung ihrer psychischen Struktur eine Veränderungsstrategie entwickelt wird, die zugleich mit dem ökonomischen Bauprogramm eine „gliedernde Interpunktion durch zweckfreie Subjektivräume" zur Förderung differenzierter Kommunikationsebenen verbindet die allen Bürgern gleichwertig zur Verfügung stehen.

In diesem Sinne versteht sich das Projekt „Citymobil" des Portugiesen Costa Pinheiro, „die imaginative Stadt aus variablen Spielelementen, die von ihren Bewohnern ständig verändert wird" als spekulatives Gegenmodell zur schematisierten Architektur, wie sie sich in den monotonen Wohnungsbunkern unserer Gegenwart als Stätten psychischer Verödung darstellt (Beispiel: Berlin, Märkisches Viertel oder die sogen. „Schlaf-" und „Entlastungs" -Städte in anderen urbanen Zentren).

Die Erforschung der psychischen Struktur der Lebensräume wird innerhalb der künstlerischen Urbanstrategie in differenzierten und vielschichtigen Modellsystemen geleistet. Robert Smithson, einer der bekanntesten Vertreter der Land Art, formuliert seine künstlerischen Absichten in dem Aufsatz „Die neue Landschaft" folgendermaßen: „Kunst hinkt heute nicht mehr der Architektur hinterher, auch ist sie kein Objekt, das man an einem Gebäude anbringt, nachdem es fertig ist, sondern eher ein völliges Engagement mit dem Bauprozeß, von Grund auf und vom Himmel runter. Die alte Landschaft des Naturalismus und Realismus wird ersetzt durch die neue Landschaft der Abstraktion und des Künstlichen." Smithson verändert eine natürliche Landschaftsformation durch geometrische, das heißt künstliche Strukturen, die der Landschaft eine deutlich erkennbare Perspektive der Planung verleihen. Mit diesem Visualisierungsprozeß einer rationalen Raumbegrenzung verdeutlicht Smithson im Modellgeschehen die Verwandlung der psychischen Eindrücke, die der Mensch im alltäglichen Verlauf der Realität unbewußt mit der Veränderung der Naturlandschaft in eine künstliche, weil technisierte Landschaft erlebt.

Jürgen Claus erweitert mit seinem Projekt der „Submarinen Strukturen" das Gebiet der Umweltforschung auf den submarinen Bereich, angeregt durch die Zukunftsprognosen der Wis-senschaft, daß der Mensch mehr und mehr das Meer als Lebensraum erschließen muß, um die Bedürfnisse einer ständig zunehmenden Bevölkerung zu befriedigen. Das völlig andersartige Bedingungssystem der submarinen Räume hat zur Folge, daß die gestaltende Erforschung des Meeres als potentieller Lebensraum in Form einer Systematik submariner Strukturen bislang von der Wissenschaft nur zögernd in Angriff genommen worden ist. Jürgen Claus intendiert mit seinem künstlerischen Projekt der „Submarinen Strukturen" eine systematisierende Bestandsaufnahme künstlerischer und wissenschaftlicher Taktiken zur Erforschung des Meeres.

Die Projekte der Land Art sind vor allem durch die filmischen Aufzeichnungen von Gerry Schum bereits während ihrer Realisation in eine informative Form der Visualisierung transformiert worden. Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, daß erst die adäquate filmische Perspektive den intendierten Bewußtwerdungsvorgang ermöglicht hat. Hier haben ästhetische Produktion und ästhetische Information ein kooperatives Teamworksystem konzipiert, das eine optimale Rezeption der Land-Art-Idee gewährleistet, wie sich offenkundig an den zahlreichen Aufführungen der Land-Art-Filme von Gerry Schum in den Hauptprogrammen der europäischen und amerikanischen TV-Anstalten ablesen läßt.

Auch Jürgen Claus bemüht sich innerhalb seiner künstlerischen Arbeit zur Erforschung der menschlichen Verhaltensweise im Meeresraum um eine dem intendierten Bewußtwerdungsprozeß angemessene Form der Information, indem er ein neues System der überlagerten transparenten Dia-und Filmprojektion entwickelt hat, das mit einem einzigen Bildeindruck die Benennung polyvalenter Bedingungssysteme im submarinen Raum vermittelt und damit auf die Vielschichtigkeit von Erfahrung und Verhalten in diesem noch unbekannten Umweltsystem verweist. Hier leistet die Kunst die wesentliche Aufgabe einer kommunikativen Vermittlung zwischen spekulativer Zukunftsstrategie und ihrer gesellschaftlichen Rezeption und Anwendung, denn die Erschließung neuer Lebensräume kann nur dann sinnvolle Zukunftsperspektiven eröffnen, wenn das Bedingungssystem des menschlichen Verhaltens mit den Bedingungsfaktoren der neuen Umwelt in Einklang gebracht worden ist. Diese künstlerische Strategie könnte jedoch ihre gesellschaftspolitische Aufgabe in gesteigertem Maße wahrnehmen, wenn die öffentlichen Institutionen der Bildung eine stärkere Kooperation zwischen Kunst und Wissenschaft propagieren würden.

IV. Kunst als visualisierte Ideologiekritik

Da sich die bildende Kunst im 20. Jahrhundert in der radikalen Abwendung von den tradierten Kategorien des ästhetischen Vergnügens nicht mehr als dekoratives Stimulans kulinarischer Sensibilität begreift, sondern eine kritische Klärung der Umweltsituation im Sinne einer visuellen Analyse sozialer Kommunikationsprinzipien beabsichtigt, hat die Kunst mit der russischen Avantgarde und der westeuropäischen Dada-Bewegung ein neues Verhältnis zur Politik gewonnen.

Dabei versteht sich die ausgesprochen politisch engagierte Kunst — abgesehen von den staatlich reglementierten Kunstrichtungen — nicht als Rechtfertigung der herrschenden Staatssysteme oder ideologisch fixierter Gesellschaftsnormierung, sondern als veränderungsstrategischer Promotor, der mit der Aktivierung des Prozesses ständiger Aneignung von Realität die freiheitliche Verwirklichung der Individualität innerhalb des kollektiven Zusammenlebens vorantreibt. Das bedeutet, daß die Effektivität eines politischen Engagements in der bildenden Kunst nicht an ideologisch orientierten Veränderungsintentionen abgelesen werden kann; vielmehr liegt der gesellschaftliche Wert einer politisch verantwortlichen Kunst im bewußtseinskritischen Aufklärungsprozeß über den Bedingungsnexus bestehender Verhältnisse und in der Entwicklung evolutionärer Veränderungsstrategien, die sich um den Abbau von gesellschaftlichen und ökonomischen Zwangsmechanismen bemühen. Sobald die politische Ambition der bildenden Kunst die rationale Basis einer ideologiekritischen Funktion in der Gesellschaft verläßt und statt dessen in die Propagierung ideologischer Pro-grammatik abgleitet, wird sie zum sanktionierenden Publikationsorgan politischer Herrschaft und verliert die gesellschaftskritische Eigenständigkeit.

Die Initiative der Berliner Dada-Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg hatte mit ihrer ironisch-kritischen Darstellung gesellschaftlicher Phänomene erste Erfahrungen über die Möglichkeiten zur Mobilisierung einer allgemeinen wertenden Urteilskraft im Hinblick auf politische Sachverhalte vermittelt, indem sie die Kunst als bewußtseinsaktivierenden, provokativen Störfaktor politischer Herrschaftstaktiken eingesetzt hatte. Die frühe Dada-Bewegung erarbeitete für den Visualisierungsprozeß der bildenden Kunst mit der satirisch-provokativen Artikulation durch das Sprach-organ des Bildes eine neue Methodik der bewußtseinskritischen Aufklärung und leistete damit in diesem Bereich ähnliche Fundamentalarbeit, wie sie von Bertolt Brecht im Rahmen-literarischer Gesellschaftskritik realisiert worden ist. Im Grunde ist diese Methodik für alle Formen eines direkten politischen En-

gagements In der Kunst bestimmend geworden. Die Abgrenzung einer politischen Kunst gegenüber der Gesamtkonzeption der gegenwärtigen Kunstszene erscheint insofern peripher, als die engagierte Kunst durchgängig die bewußtseinskritische Aneignung der Wirklichkeit beabsichtigt und damit prinzipiell gesellschaftlich orientiert ist. Die als ausgesprochen politisch apostrophierte Kunst nimmt innerhalb dieser problemkritischen Fundamentalisierung moderner Kunst insoweit eine Sonderstellung ein, als sie mit den formalen Mitteln der gezielten Provokation und der aggressiven Überpointierung in stärkerem Maße für die Realisierung eines individuellen Freiheits-raumes in der Gesellschaftsordnung streitet. Dabei nutzt die sogenannte „politische Kunst" bewußt jenen kulturellen Freiraum aus, der dem Künstler von der Gesellschaft eingeräumt wird, insofern er eine intensivere Verwirklichung seiner Individualität beanspruchen darf als der normale Bürger. Dieser von der Gesellschaft tolerierte individuelle Sprachraum künstlerischer Konkretion konnte jedoch bisher nür in relativ engen Grenzen für einen gesellschaftspolitischen Bewußtwerdungsprozeß fruchtbar gemacht werden, da die Rezeption der künstlerischen Strategie — wie bereits anfangs gekennzeichnet — einem bildungsprivilegierten Kreis von Informierten vorbehalten geblieben ist, der auf Grund der Kommerzialisierung künstlerischer Produktion eine weitgehende Assimilierung'der künstlerischen Aussage an den allgemeinen Verbrauchsdeterminismus verursacht hat.

In dieser permanenten Assimilation künstlerischer Provokationsformen ist die Ursache für die praktische Ineffizienz des sogenannten „Kapitalistischen Realismus" in der zeitgenössischen Kunst zu suchen, der als ausgesprochen politisch und moralisch engagierte Kunstrichtung innerhalb des „Neuen Realismus" und des „Neo-Dada" die subtilen Formen einer kollektiven Zwangsausübung auf das Individuum mit direkten und indirekten Artikulationsmethoden brandmarkt. Dieser Gefahr einer Assimilierung durch ideologisch fixierte Herrschaftsformen und Machtmechanismen konnte auch das literarische Engagement von Bertolt Brecht nicht entgehen, denn der System-stabilisierende, sogenannte „Sozialistische Realismus" der Vierziger, fünfziger und sechziger Jahre in den zentralistisch gelenkten Staaten des Ostblocks vereinnahmt das Brecht-sehe Konzept einer aufklärerischen Gesellschaftskritik ebenso in ihren Herrschaftsapparat, wie der marktmechanistische Kunstbetrieb im Westen die künstlerische Provokation des Neo-Dada durch die assimilierende Integration in die kulturelle Konvention entschärft.

Der „Sozialistische Realismus" unterscheidet sich von den gesellschaftskritischen Kunstaußerungen des „Kapitalistischen Realismus“

darin, daß er die Idee einer sozialistischen Zukunft nicht als konkrete Utopie, sondern als bereits realisierte Wirklichkeit darstellt, um mit den Mitteln der Illusion die Akklamation der breiten Öffentlichkeit zu den bestehenden Verhältnissen und zu den Programmen der Regierung zu erreichen. Mit dieser Verherrlichung eines ideologischen Systems von Weltanschauung ist zugleich die moralisierende Verurteilung kritischer Gegenstimmen verbunden. Dieser eindimensionale Versuch einer ideologischen Systemstabilisierung durch Kunst läßt sich zum Teil auch in den Produktionen der westlichen bildenden Kunst dort aufweisen, wo sie eine enge Bindung an ideologisch-politische Programmatiken eingeht und ihre Veränderungsstrategie fälschlicherweise als bew'ußtseinskritische Analyse der Wirklichkeit ausgibt.

Dieser Fehler einer mangelnden Differenzierung von kritischer Analyse der Wirklichkeit und spekulativer Entwicklung von Veränderungstaktiken ist von der politisch-agitatorischen Plakatkunst der französischen Studentenbewegung während der Pariser Maiunruhen 1968 nicht gemacht worden. Die Plakat-kunst entsprang spontan und ohne Planung den Erfordernissen der speziellen politischen Situation und stellte eine Form der Kommunikation zwischen politischer Reflexion und praktischer Handlungsstrategie dar.

Nur in der Zusammenarbeit von ästhetischer Produktion und bildungspolitischer Information wird die begrenzte Wirkungsebene der politisch engagierten Kunst herausgeführt aus ihrer bisherigen Beschränkung auf die Rezeption durch den Bildungsbürger: „Wenn die Entwicklung des Bewußten und des Unbewußten uns allmählich befähigt, Dinge zu sehen, die wir nicht sahen oder die zu sehen uns nicht gestattet ist, eine Spräche Zu sprechn und zu vernehmen, die wir nicht sprachen oder nicht vernahmen oder die zu sprechen und zu vernehmen uns nicht gestattet ist, und wenn nun diese Entwicklung der der Kunst immanenten Form sich zuwendet — dann würde Kunst in all ihrer Affirmation als ein Teil der befreienden Macht des Negativen wirken, würde dazu beitragen, das verstümmelte Unbewußte und das verstümmelte Bewußte, die das repressive Bestehen festigen, in Freiheit zu setzen. Ich glaube, daß Kunst heute diese Anstrengung bewußter und methodischer als ehedem vollzieht."

DieDivergenz zwischen der allgemeinen künstlerischen Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge unserer Zeit und ihrer informativen Ausstrahlung auf die 'Öffentlichkeit konnte dort vermindert werden, wo die Kunst — wie im Falle der Pariser Maiunruhen — die exklusiven Räume musealer Ausstellung meidet und sich auf den direkten Kontakt mit den aufklärungsbedürftigen Schichten innerhalb der Gesellschaftsstruktur konzentriert.

Wenn die Prognose von Herbert Marcuse . Kunst scheint dazu verdammt, Kunst zu bleiben", auch in der Zukunft trotz einer intensivierten Informationspraxis ihre Richtigkeit bestätigen sollte, dann hat die agitatorisch aufklärerische Polit-Kunst, die sich der nicht-verbalen Ausdrucksmittel des Tafelbildes und der Skulptur bedient, keine effektive Wirkungschance gegenüber der verbalen Argumentation. Maler und Objektemacher, die zur Entwicklung der politischen Kunst wesentliche Beiträge geleistet haben, wie in Deutschland z. B. Johannes Grützke, Wolf Vostell und Klaus Staeck, bestätigen die Prognose Marcuses aus ihrer eigenen Praxis und verweisen auf die Notwendigkeit einer Teamarbeit zwischen Künstlern, Gesellschaftswissenschaftlern and Bildungsinstitutionen, um dem bewußtseinskritischen Ausdruckswert ihrer ästhetischen Produktion eine Resonanz in der Öffentlichkeit zu erschließen. Die Annäherung von Kunst und Gesellschaft in Form einer unmittelbaren Wechselbeziehung zwischen ästhetischer Produktion und ihrer Rezeption kann nur dann in wirksamer Breite realisiert werden, wenn man den Weg der Vermittlung über die spielerische Aktivität des Publikums wählt, wie er von den Experimenten der Straßenkunst exerziert wird.

Sollte die Hoffnung auf den spontanen Kond t zwischen visueller Bildaussage und dem unmittelbaren Verständnis des Publikums eine Illusion bleiben müssen, dann stellt sich dem Künstler und der Kunstvermittlung die Verpflichtung einer intensivierten Integration der künstlerisch-visuellen Information in das etablierte System der programmierten Bildung, wobei jedoch die Gewähr gegeben sein muß, daß der kulturelle Freiraum künstlerischer Gestaltung nicht in einem institutionellen Reglement verlorengeht. Der kulturelle Freiraum muß die Quelle von Produktivität und Kreativität bleiben, wenn die Kunst wesentliche Bildungsergänzung bieten und neue Methoden einer wirksamen bewußtseinskritischen Aneignung der Realität hervorbringen soll.

Die Kunst bietet der Gesellschaft mit der konzentrierten Ruhe ihrer Abbildung von Wirklichkeit eine wesentliche Dimension von Erkenntnis an, die zu einem umfassenden Medium der Kommunikation gestaltet werden könnte.

Die innovativen Formen der interdisziplinären künstlerischen Teamarbeit im Medienverbund sind nur möglich in der freien Improvisation ohne den institutionalisierten Dirigismus. Für diese zwanglose Eingliederung der künstlerischen Initiative in institutionalisierte Publikumsorgane mag der Beethoven-Film von Mauricio Kagel „Ludwig van ...", der im Auftrage des WDR produziert worden ist, neue Perspektiven bieten. Dieser Film setzt im Verbund der Medien Tonmontage, Film und environmentaler Raumgestaltung neue Dimensionen für die filmische Gestaltung frei, er benutzt das Artikulationsrepertoire der audiovisuellen Demontage, um eine konventionelle, kulinarisch oberflächliche Beethoven-Rezeption zu decollagieren. Die audiovisuellen filmischen Environments von Kagel, Benys, Filliou, Rot und Wewerka — in ambivalenter Doppelfunktion als zerreißende Persiflage pomphafter Beethoven-Historie und als experimentelle, gesellschaftskritische Assoziationsanregung arrangiert — liefern mit den zerbröckelnden Beethoven-Büsten in Diter Rots symbolisch aufgebautem Beethoven-Baderaum die Verfremdung des Kitsches zu neuen Formen einer engagierten Aneignung von historisch gewordener Kunst. Kagel nutzt mit seiner avantgardistischen Konzeption des experimentellen „Musiktheaters" die Publikationsmöglichkeiten der öffentlichen Bühnenarbeit aus, um auf diese Weise über die Notwendigkeit einer revolutionären Reform des institutionalisierten Theaterbetriebes durch die Praxis zu informieren.

So fand die Aufführung seines satirischen „Staatstheaters" auf der Hamburger Staatsoper im April 1971 ein breites Echo, da Kagel in dieser ironischen Szenenfolge die Dcolläge traditioneller Kompositionszusammenhänge mit der Anregung eigenständiger Aktions-und Denkbewegungen bei Schauspielern und Publikum verbindet. Das „Staatstheater" leistet in fast grammatikalischer Kategorisierung eine umfassende Bestandsaufnahme der auf der Bühne praktizierten gestischen, optischen und akustischen Darstellungselemente, um durch diese Bestandsaufnahme neue Verwendungsmöglichkeiten künstlerischen Handelns zu erproben, deren Sinn in der selbständigen Aneignung durch die Akteure und das Publikum liegt.

Dieses engagierte künstlerische Selbstverständnis, das die Aufgabe einer bewußtseinskritischen Problemanalyse in die anschaubare Praxis umsetzen will, bedient sich zur Konkretion dieses Aneignungsprozesses von Wirklichkeit der von der Wissenschaft übernommenen Methodik des präzisen Protokollierens von Erfahrungsinhalten und produziert mit dieser ästhetischen Praxis eine neue Form von ästhetischer Materialisation, die nicht mehr auf das kulinarische Beschauen schöner Objekte fixiert ist, sondern stattdessen den hergestellten künstlerischen Gegenstand als Instrument zur Aneignung von Realität durch den Benutzungsvorgang versteht.

Der Determinismus des konventionellen Gebrauchens von Dingen kann im künstlerischen Benutzungsprozeß aufgehoben werden, wenn die produktive Selbsttätigkeit auch wirklich ausgelöst wird: „Der künstlerische Prozeß ist somit die Befreiung des Gegenstandes aus dem Automatismus der Wahrnehmung, der, was die Dinge (in Wirklichkeit) sein könnten, entstellt und verhindert. Demzufolge können wir sagen, daß Kunst eine neue Unmittelbarkeit entdeckt und schafft, die nur aus der Zerstörung der alten hervorgehen kann. Diese neue Unmittelbarkeit wird in einem Prozeß der Rückerinnerung erzielt: Vorstellungen, Begriffe und Ideen, die schon lange . gewußt'werden, finden im Kunstwerk ihre sinnliche Vergegenwärtigung und Verifizierung . .. Das Ästhetische ist eine existentielle und soziologische Kategorie ..."

Das zentrale Problem einer Entwicklung von Kunstdidaktik, die den individuellen Aneignungsvorgang von Wirklichkeit durch ihre vermittelnde Informationstätigkeit in Gang zu setzen vermag, stellt sich daher als vordringliche Aufgabe aller Institutionen, die durch Ausstellung und Information Kunst an die Öffentlichkeit herantragen wollen.

Die Ablösung des Begriffs „schöpferische Tätigkeit" — der Jahrhunderte hindurch das künstlerische Produktivwerden gekennzeid. net hat — durch die wertungsneutrale Benennung dieses Arbeitsvorgangs mit dem Begriff des „Machens" als praktischer Aneignung von Wirklichkeit (abgeleitet aus der Marxschen Gesellschaftstheorie) hat den Boden für die beschriebenen Kommunikationsbestrebungen zwischen Kunst und sozialer Wirklichkeit bereitet: „Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gesellschaftliche Organe sind, sind in ihren gegenständlichen Verhalten oder in ihren Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben."

In einem solchen anthropologischen Selbstverständnis der Kunst artikuliert sich das zentrale Postulat emanzipatorischer Gesellschaftstheo rie, die menschliche Exstenzverwirklichungnu als „Zurückführung der menschlichen Welt der Verhältnisse, auf den Menschen selbst" 3 für möglich erklärt, also Bedingungen erfragt in denen sich eine freie Kreativität entfaltet kann.

Das tradierte gesellschaftliche Rollenverständnis von Kunst, das dem Künstler eine welt-entrückte, geniale Kreativität, befreit von den zeitlichen Fesseln irdischer Existenz gleichsam als Spiegel reiner Imagination des Geistes zusprach, implizierte letztlich auch jene fundamentale Kluft zwischen Kunst und Alltäglichkeit, deren Überbrückung trotz der fast fünfzigjährigen Bemühungen künstlerischer Praxis im 20. Jahrhundert noch nicht erreicht ist und die nur dann wirksam erstrebt werden kann, wenn die Künstler sich mehr dem Menschen und den Problemen der Gesellschaft ZU wenden.

In diesem Sinne wäre für die Zukunft zu hol fen, daß öffentliche Institutionen den bewu seinskritischen Stellenwert der bildenden Kunst in der Gesellschaft mit aktiver un zwangsfreier Förderung unterstützen un statt der bisher praktizierten Finanzierung konsummechanistischer Kunstmärkte und e. tärer Ausstellungsprogramme die Schaffung von Kommunikationsebenen ermöglichen, d den künstlerischen Veränderungsstrateg eine Bewährung in der sozialen Praxis ein räumen. Glossarium Action painting Kennzeichnung für die amerikanische gestische Maltechnik der fünfziger Jahre, die — ähnlich wie der Tachismus — im schnellen Vollzug der spontan sich äußernden Farbaktion den unmittelbaren Kreativitätstrieb zur Anschauung bringt.

Automatismus Von A. Breton konzipiertes Verfahren der surrealistischen Malerei, bei dem die schöpferische Gestaltung ohne Einwirkung der planenden Überlegung aus der intuitiven Imagination vollzogen wird.

Bauhaus 1919 von Walter Gropius in Weimar und später in Dessau eingerichtetes Lehr-und Forschungsinstitut für bildende Künste und Architektur, das eine Integration von Kunst und Technik im Dienste der gesellschaftlichen Bedürfnisse anstreben wollte. Behaviour Art Bezeichnung für eine aus der Prozeß-und Concept-Kunst sich entwickelnde Kunstrichtung der jüngsten Zeit, die den Veränderungsprozeß im zeitlichen Ablauf am menschlichen Körper sichtbar macht. Dabei wird das Informationsmedium Film zum didaktischen Instrument eines gezielten Verweisens auf gewöhnlich nicht bewußt wahrgenommene Erscheinungen und Haltungen des menschlichen Körpers.

Cabaret Voltaire Erste Stätte einer mixedmedialen Kunstpraxis, in Zürich 1915 von der ersten Dadaistengruppe um Hugo Ball eingerichtet. Kabarett, Kunstausstellung, phonetische Lautdichtung, experimentelle Tonkunst und Tanz wurden hier miteinander verbunden, um eine intensive Rezeption der gesellschaftskritischen Aussagen zu initiieren.

Collage Bezeichnung für alle Formen einer Materialmontage auf der Fläche oder als Raumobjekt. Dabei können Dinge des alltäglichen Gebrauchs in die gemalte Bildfläche eingefügt werden oder aber verschiedene Materialien wie Holzreste, Dosen usw. zu einem Objekt zusammengesetzt werden (Schwitters).

Concept Art Kunstrichtung der jüngsten Zeit, die sich auf der Grenzlinie zwischen künstlerischer Materialisation und reiner Ideenproduktion ohne dinglichen Herstellungsprozeß bewegt. Sie will in Analogie zur Wissenschaft bewußtseinsaktivierende Impulse auslösen und auf den Prozeßcharakter und das Struktursystem der Wirklichkeit verweisen. Dadaismus Internationale Kunstströmung, die in Zürich von Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Tristan Tzara und Hans Richter begründet wurde und in der Antikunst-Haltung des Ablehnens aller konventionellen Kunstausdrucksweisen durch Provokation und Irritation nach neuen, unverbrauchten Artikulationsformen suchte. Im Streben nach einer Annäherung von Kunst und Leben entdeckte die Dada-Bewegung neue Materialtechniken und intermediale Kunstaktionen. Industrielle Waren werden zu gleichwertigen Materialien künstlerischer Gestaltung wie die Leinwand des Tafelbildes und das Holz oder die Bronze der Skulptur.

Decollage Veränderung von Gebrauchsmaterialien durch destruktive Aktionen wie Zerreißen, Verwischen, Veibrennen, übermalen, mit der Absicht, in der Zerstörungshandlung neue ästhetische Kapazitäten zu erschließen, die von den konsummechanistischen Benutzungszwängen nicht freigelegt werden können.

Environment Künstlerische Gestaltung von Räumen, die den Betrachter ganz umfangen und durch die Ausstattung mit Materialien des alltäglichen Lebens seine Einbildungskraft provozieren. Fotomontage Collage eines Bildes aus gerissenen oder zerschnittenen Fotos und Druckfragmenten; eine künstlerische Technik, die von Raoul Hausmann erfunden worden ist. Happening Künstlerisch inszeniertes, interdisziplinäres Improvisationsgeschehen, zu dem der Künstler nur eine Art programmatische Partitur liefert, ansonsten bestimmen Zuschauer und Akteure gleichwertig und gemeinsam das Geschehen.

Kapitalistischer Realismus Sozialengagierte, provokative Richtung innerhalb des Neuen Realismus, die sich zur Aufgabe stellt, die Zwänge einer nur konsumorientierten, antiindividualistischen Leistungsgesellschaft ideologiekritisch in Frage zu stellen. Kulinarismus Form einer Produktion und Rezeption von Kunst, die sich lediglich nach der Urteils-kategorie Gefallen—Nichtgefallen ausrichtet und das ruhende Verweilen im schönen, idealistischen Abbild der erlebten Wirklichkeit sucht.

Konstruktivismus Sammelbezeichnung für alle Formen einer systematischen Kunst, die nach festen Regeln die Ordnungsmöglichkeiten der Elemente einer visuellen Darstellung (Farbe, Linie, geometrische Form) experimentell ausschöpft.

Land Art Kennzeichnung für eine Kunstrichtung der Gegenwart, die große Landschaftsformationen mit gestaltverändernden Markierungen überzieht.

Minimal Art Bezeichnung für eine Kunstrichtung, die sich auf wenige raum-oder flächenfixierende Strukturen beschränkt, so daß eine bestimmte Thematik aus der Realität, z. B. die Benennung des Raumes durch die dreidimensionale Determination, anschaubar wird. Neuer Realismus Eine aus der Dada-Bewegung und der Pop Art in Frankreich während der sechziger Jahre entwickelte Kunstrichtung, die eine gesellschaftskritische Aussage mit den Elementen der Pop Art vermitteln will und auf den Veränderungscharakter in den Erscheinungen der Umwelt verweist.

Op Art Kunstströmung, die in Deutschland in den fünfziger Jahren von der Gruppe Zero (Mack, Uecker, Piene) begründet worden ist und sich mit der dynamischen Licht-Modulation im Raum beschäftigt. Neben der räumlichen Op Art gibt es die auf Herbin und Vasarely begründete Op Art, die durch bestimmte Farbserien und rhythmische Strukturen Irritationseffekte erzielt.

Pop Art integriert die Eigenschaften moderner Verbrauchskultur in eine Bildsprache und benutzt die ästhetische Dimension der Werbung mit ihren grellen, psychologisch wirksamen Neoneffekten und aufdringlichen Figurationen, um den optischen Effekt moderner Umwelteinflüsse im künstlerischen Objekt zu artikulieren. Es entsteht eine Distanz zwischen den Ausdrucksweisen der Gebrauchskultur und der Pop Art, die zugleich Momente der Ironie beinhaltet.

Prozeßkunst In exemplarischen Objekt-Benutzungsvorgängen und umweltverändernden Handlungen werden die Bedingungen menschlicher Erfahrungen und Tätigkeiten bewußt gemacht. Readymade Von Marcel Duchamp 1915 geprägte Bezeichnung für seine museal ausgestellten Waren-produkte „Urinoir" und „Flaschentrockner". Durch die Deklaration zum Kunstwerk — so Duchamp — verlieren die industriellen Waren ihren konsummechanistischen Zwang und zeigen sich in ihrer reinen ästhetischen Erscheinung.

Sozialistischer Realismus versteht sich in seinen künstlerischen Produktionen als politisches Erziehungsinstrument der Kommunistischen Partei. Er spiegelt die Wirklichkeit nicht mit der real vorhandenen Problematik, sondern unter der Perspektive einer idealisierten Zukunft, die auf dem Wege zur sozialistischen Gesellschaft schon weit fortgeschritten ist. Diese Konzeption des S. R. ist aus der Leninschen Funktionsbestimmung der Kunst innerhalb der gesellschaftlichen Produktivkräfte abgeleitet worden.

de Stijl Von Mondrian und van Doesburg 1917 in den Niederlanden begründete Künstler-und Architektengruppe, die für die Entwicklung der abstrakten Kunst und der strengen, zweckbetonten Architektur durch die Reduktion auf geometrisch klare Formen wichtig geworden ist.

Tachismus eine aus dem Surrealismus sich entwickelnde abstrakte Kunstrichtung der Malerei; Emotionen werden in spontane Malakte (Farbflecken) umgesetzt, damit das Bild den unmittelbaren Ausdruck der psychischen Regung widerspiegelt.

Surrealismus 1924 aufkommende, hauptsächlich französische Kunstbewegung, die in A. Bretons „Manifeste du Surrealisme" ihre theoretische und programmatische Begründung fand. Der Surrealismus suchte die bildhafte Anschauung des psychisch Unbewußten, der Träume, Visionen, Assoziationen und der halluzinatorischen Rauscherlebnisse.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe dazu Leo Navratil, Schizophrenie und vunst. Ein Beitrag zur Psychologie des Gestaltens, Munchen 1965 und Herbert Read, Erziehung durch Kunst, München 1968.

  2. Vgl. John Coplans, Interview with Kenneth Snelson, in: Artforum, März 1967, S. 46 f.

  3. Katalog: Licht und Materie, Luther-Ausstellung, Folkwang-Museum, Essen 1971.

  4. Katalog: Licht und Materie, a. a. O.

  5. Hans Richter, Dada-Kunst und Anti-Kunst, Köln, 1964, S. 36.

  6. Jean-Jacques Lebel, Umsonst. Bemerkungen zu den Happenings, in: Jürgen Becker/Wolf Vostell, Happenings, Hamburg 1965, S. 358.

  7. Jean-Jacques Lebel, a. a. O., S. 358 f.

  8. Allan Kaprow, Aufsatz über das Happening, in: Artforum, März 1966.

  9. Allan Kaprow/Wolf Vostell, Die Kunst des Happening. Aktionsvortrag, 19. 4. 1964 New York, abgedruckt in: Becker/Vostell, Happenings, Hamburg 1965, S. 403 f.

  10. Lucie R, Lippard, Pop Art, München 1968, S. 148.

  11. Lawrence Alloway, Die Entwicklung von Pop in England, in: Lucie R. Lippard, Pop Art, München 1968, S. 25.

  12. Karin Thomas, Interview mit Franz Erhard alther, Juni 1971, in: Karin Thomas, Kunst-Praxis heute, Köln 1972.

  13. Katalog „Experiment Straßenkunst Hannover", Kunstverein Hannover, 1970.

  14. Klaus Honnef, maschinenschriftliches Arbeitskonzept zur Ausstellung „Verkehrskultur'1.

  15. Heide Berndt, Ist der Funktionalismus eine funktionale Architektur? In: Architektur als Ideologie, Edition Suhrkamp, 1968, S. 18 f.

  16. Alfred Lorenzer, Städtebau: Funktionalismus und Sozialmontage? In: Architektur als Ideologie, Edition Suhrkamp, 1968, S. 61.

  17. Einführung von Rolf Wedewer, in: Architektonische Spekulationen, Düsseldorf 1970.

  18. Ausführliche Darstellung in Jürgen Claus, Expansion der Kunst, Hamburg 1970, S. 60.

  19. Vgl. Jürgen Claus, a. a. Ö., S. 75.

  20. Herbert Marcuse, Zur Laqe der Kunst in der sadimensionalen Gesellschaft. Vortrag in der dacoo. o Visual Art, New York 1967; deutsch abfurtor v in dem Katalog: Kunst und Politik, Frankfurter Kunstverein 1970/71.

  21. Herbert Marcuse, a. a. O.

  22. Karl Marx, Werke, Schriften, Briefe, Bä.

Weitere Inhalte

Karin Thomas, geb. 1941 in Köln, Studium der Kunstgeschichte, Germanistik, Philosophie und Geschichte. Nach kurzer Lehrtätigkeit im gymnasialen Schuldienst weitere Studien zur Kunstgeschichte und zur Medienforschung. Zur Zeit Lektorin in einem Kölner Kunstbuchverlag. Veröffentlichungen u. a.: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert, Köln 1971; Kunst-Praxis heute, Köln 1972; Die Literatur der DDR als Spiegel von Gesellschaftsbewußtsein und Gesellschaftskritik, in: Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, München 1971; Mischformen in der modernen Kunst, in: Die Kunst, Reihe Wissen im Überblick, Freiburg 1972.