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Politische Didaktik als kritische Sozialwissenschaft | APuZ 10/1972 | bpb.de

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APuZ 10/1972 Artikel 1 über die Ideologisierung der politischen Bildung Politische Bildung in der Sackgasse? Kritische Anmerkungen zu dem Aufsatz von E. A. Roloff, Politische Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte" 41/71 Politische Didaktik als kritische Sozialwissenschaft

Politische Didaktik als kritische Sozialwissenschaft

Ernst-August Roloff

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für dieses Heft wurde auf die sonst übliche Zusammenfassung der Beiträge verzichtet, weil es den Charakter einer Anschlußfolge hat: Die von Ernst-August Roloff in B 41/71 entwickelten Thesen werden von Hugo Andreae und Bernhard Sutor in Frage gestellt; der Kritisierte hatte Gelegenheit, in einer abschließenden Stellungnahme seinen Kontrahenten zu antworten und dabei seine Vorstellungen von einer politischen Didaktik weiter zu präzisieren.

Politikwissenschaft und Pädagogik

Ist Didaktik die Wissenschaft vom Lehren und Lernen, so gründet sich der Anspruch der Wissenschaft von der Politik, sie sei das Fundament und der wissenschaftstheoretische Bezugsrahmen für die sogenannte politische Bildung, auf zwei Voraussetzungen:

Was gelernt werden soll, ist Politik, genauer: politisches Verhalten. So selbstverständlich wie Sprache und Sprechen Gegenstand der Sprachwissenschaft sind, ist Politik Gegenstand der Politikwissenschaft. Die Zuordnung der Fachdidaktik zur Fachwissenschaft wird daher soweit von niemandem bestritten. 2. Was und mit welchen Zielen in einer Gesellschaft gelehrt und gelernt werden soll, wird nicht von den Fachwissenschaften bzw. -Wissenschaftlern bestimmt. Auch das ist, was die Grob-oder Endzielwerte betrifft, kaum strittig; aber während Pädagogen wie Bernhard Sutor und Hans-Günther Assel neben der Fachwissenschaft eine „Allgemeine Didaktik" als relativ autonomes Zentrum der Erziehungswissenschaftfen) postulieren, dem die Frage nach den Erziehungszielen überantwortet wird, vertrete ich den Standpunkt von (z. B.) Hans-Hermann Grotthoff, Oskar Anweiler und Jan-peter Kob: „Das mit einem wissenschaftlich ausgebildeten Personal arbeitende und auf Vermittlung wissenschaftlich orientierter Denkweisen und -Inhalte ausgehende Erziehungssystem, das in dieser Weise und mit dieser Absicht Allgemeinbildung für alle Bürger vermitteln will, ist von Anfang an zwangsläufig politisch motiviert, eng mit politischen Grundideen der modernen Welt verbunden und hat gewichtige politische Relevanz." 1)

Wenn Sutor sich das Zusammenwirken von Politik-und Erziehungswissenschaft so vorstellt, daß sie beide von einer übergreifenden philosophisch-pädagogisch-politischen Anthropologie her bestimmt werden, so ist das insofern keine Gegenposition, als ich das nicht bestreite, sondern lediglich behaupte, daß diese „Anthropologie" nur eine Theorie der Gesellschaft sein kann, die deren politischen Charakter als ein kompliziertes Gefüge von Abhängigkeiten — mithin audi von Macht und Herrschaft — erkennt. Wer darin einen gefährlichen Absolutheitsanspruch der Politikwissenschaft sieht, macht diese Wissenchaft für eine Realität verantwortlich, die in Wahrheit das Resultat politischer Entscheidungsund gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ist. Ich erhebe allerdings für die Politikwissenschaft keinen Absolutheitsanspruch, sondern behaupte die faktische Präsenz des Politischen in jeder Wissenschaft und Erziehung. „Gefährlich" wäre ein solcher Nachweis an sich so wenig wie die Erkenntnis der Physiker, daß die alles beherrschende Kraft von Atomen, von Menschen freigesetzt, eben die Realität, die aus ihnen besteht, selbst zu zerstören vermag. Bedeutet die Präsenz des Politischen aber, daß der Erzieher, wenn er nicht auf absolute Werte — also auf normative Intentionen der Pädagogik — vertrauen kann, dann den „gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen unbesehen zu folgen" gezwungen ist? Diese Frage verweist auf den normativen Charakter einer Politikwissenschaft, die politische Prozesse nicht nur beschreibt und analysiert, „Demokratie" nicht nur als formalen Klassifizierungsbegriff benutzt und unter „Pluralismus" nicht die totale Gleichwertigkeit menschlichen Handelns und politischer Zielsetzungen versteht. Es ist gerade nicht wissenschaftlich begründetes Handeln, wenn der Pädagoge keine Kriterien zur Verfügung hat, nach denen es auch geboten sein kann, Erwartungen und aufgegebenen Zielvorstellungen der politischen Entscheidungsträger zu widersprechen oder ihnen entgegenzuwirken. Eine politikwissenschaftliche Analyse taugt nichts, wenn sie n'ht zu Konsequenzen im Handeln und damit zu (Wert-) Entscheidungen führt. Unter dem Aspekt einer inhaltlichen Bestimmung und Bewertung von „Demokratie" ist die entscheidende Frage, wer die politischen Entscheidungsträger sind. „Aufgabe der politischen Didaktik als Teildisziplin der Wissenschaft von der Politik ist, zu fragen, welche Motive und Absichten (Interessen) den Entscheidungen über Zielwerte der Erziehung zugrunde liegen, wer die Entscheidungsträger sind und welchen Einflüssen sie ausgesetzt sind, wie Entscheidungen zustande kommen und begründet werden, welche Rollen die eigentlich Betroffenen, Eltern, Lehrer und Schüler, dabei spielen." Darin liegt zugleich ein Anspruch: Eltern, Lehrer, Schüler — und auch Fachwissenschaftler — 'haben in einer Demokratie das Recht, an den Entscheidungen über Zielwerte beteiligt zu werden und die Pflicht, etwaige Bedenken in den Entscheidungsprozeß einzubringen. Politische Didaktik wird damit keineswegs „auf die nachträgliche Kritik der von den Herrschenden festgesetzten Ziele be-

schränkt", wie Bernhard Sutor meint, vielmehr bedeutet die von mir geforderte „angewandte Herrschaftsanalyse" praktisches politisches Verhalten durch Verwirklichung des Anspruches auf Teilhabe an politischen Entscheidungen.

Daß Lehrpläne und Lernzielbestimmungen in Richtlinien unter Mitwirkung von Fachleuten erarbeitet werden, ist kein Beweis für die demokratische Transparenz und die Existenz von Kontrollmöglichkeiten dieser Entscheidungsprozesse, solange ein unbekannt bleibender Ministerialbeamter nach freiem Ermessen die mitwirkenden Lehrer und Wissenschaftler auswählen, das Ausmaß ihrer Mitwirkung bestimmen und ihre Ergebnisse frei verwerten kann. Sutors Postulat, daß Wissenschaftler und Didaktiker mitwirken müssen, möge das Ohr der Kultusminister erreichen, aber — wer kann sie dazu zwingen? Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die betroffene Öffentlichkeit erfährt selten, wer nach welchen Kriterien von wem in den Kultusministerien zur Mitwirkung an Richtlinien oder zur Begutachtung von Lehrbüchern herangezogen wird. So konnte es geschehen, daß der niedersächsische Kultusminister das Lehrbuch eines anerkannten, an der Universität Lehrer ausbildenden (!) Didaktikers, nämlich K. G. Fischers „Gesellschaft und Politik", für den Gebrauch an niedersächsischen Schulen nicht genehmigte, ohne daß zu erfahren war, wer dieses Urteil wie begründet hat.

Lehrer, die ihren Schülern die Entscheidungen durchschaubar machen, von denen sie gleichermaßen betroffen sind, und Schüler, die lernen, ihre Ansprüche auf Beteiligung an diesen Entscheidungen durchzusetzen, betreiben politische Bildung als angewandte Herrschaftsanalyse, und zwar mit dem Ziel, das man demokratische Emanzipation nennen kann, in jedem Falle aber ein politischer „Wert" ist, der die Kritik entgegenstehender Machtansprüche und Herrschaftsformen, nicht aber deren ergebene Duldung bedeutet. Ich kann mir nicht denken, daß Bernhard Sutor hier eine grundsätzlich andere Position einnimmt; er dürfte mich einfach fehlinterpretiert haben.

Partnerschaft und Gemeinwohl — „faschistoid"?

Daß Friedrich Oetingers Partnerschaftskonzept schon sehr früh, z. T. unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buches, massiven Widerspruch und Alternativkonzeptionen hervorgerufen hat, bestätigt meine Hypothese, daß gerade diese Lehre den Erwartungen der damaligen politischen Entscheidungsträger entsprach. Tatsache ist, daß die meisten Richtlinien und Lehrbücher der fünfziger Jahre so eindeutig vom Geiste Oetingers beherrscht waren, daß man Mühe hat, auch nur Spuren von Einflüs--------------sen seiner Kritiker zu entdecken. Warum hat sich gerade Oetinger — und nicht etwa Weniger — so beherrschend durchgesetzt? Einige Gründe habe ich in Form von Hypothesen genannt, z. B. die Tatsache, daß „der Staat" wegen des proklamierten vorläufigen Charakters der Bundesrepublik und ihrer Verfassung nicht die zentrale Kategorie der politischen Bildung sein konnte und sollte, sondern das sittliche Verhalten. Wichtiger war die bewußte Eliminierung aller plebiszitären Elemente aus der Verfassung und damit die Beschränkung der Masse der Staatsbürger auf plebiszitäranaloge Wahlen als einzige Teilhabe an Entscheidungen über Entscheidungsträger. Oetingers „Wendepunkt" führte nach seinen eigenen Forderungen „weg von den Staats-bildern und hin zur praktischen Aufgabenbewältigung". Unbestritten sind seine Absichten, nämlich die politische Bildung a) zu entideologisieren, b) sie nicht als nur belehrende „Staatsbürgerkunde" wirkungslos zu lassen, sondern c) sie auf die mitmenschliche Verantwortung zu gründen.

Historisch-politisch relevanter ist jedoch die Funktion, die diese Lehre durch ihre beherrschende Rolle in der politischen Bildung der fünfziger Jahre gehabt hat: Sie begünstigte eine Entpolitisierung des Bewußtseins und wirkte daher tatsächlich als eine anti-demokratische Ideologie, unter deren Schutz sich die Restauration der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse vollzog. Zwar bin ich nicht in der Lage, diese Hypothese im Rahmen einer notwendig knappen Erwiderung auch nur andeutungsweise zu verifizieren, doch verweise ich darauf, daß in den sechziger Jahren unter dem Kanzler Erhard die Prinzipien der Oetingerschen Partnerschaftslehre in der Ideologie der „formierten Gesellschaft" wieder aufgegriffen wurden

Die Tugenden der elementaren Sittlichkeit sollten in der „Gemeinschaft" geübt werden, wogegen in der „Öffentlichkeit" und im politischen Kräftefeld andere Regeln gelten sollten. Diese Trennung von (letztlich negativ bewerteter) Politik und privater Sphäre, in der sich die elementare Sittlichkeit entfalten kann, ist die Entsprechung der vom Grundgesetzgeber vollzogenen und gewollten Differenzierung zwischen dem Ausmaß der Rechtsgarantien für den einzelnen Bürger einerseits und dem Ausmaß der Teilhabe an politischer Macht für die große Masse andererseits. Das hierdurch vermittelte Bewußtsein, daß die Organe dieses Staates den Schutz der Grundrechte und damit eines ausreichenden persönlichen Freiheitsraumes garantieren, enthebt den einzelnen der Notwendigkeit, das heißt des Bedürfnisses, an politischen Entscheidungen zu partizipieren, sofern sie nicht diesen scheinbar vorstaatlichen Freiheitsspielraum berühren. An Stelle demokratischer Mitentscheidung tritt Vertrauen auf die gewählten „Repräsentanten". Der „Staat" und seine Institutionen, einschließlich die Parteien, werden als Dienstleistungsunternehmen gewertet deren Leistungen durch Steuern bereits bezahlt sind. Da die Bundesrepublik die Erwartungen der Bürger in dieser Hinsicht bei weitem übertroffen und mehr geboten hat, als nach der Notsituation von 1945 erwartet werden konnte, ohne daß der einzelne politisch zum Engagement gezwungen war, schien da Vertrauen in die gewählten Politiker voll ge rechtfertigt. Der Dank des Volkes war die ab solute Mehrheit für Kanzler und Wirtschafts minister (weniger für ihre Partei), die sich ih rerseits mit der sicher zutreffenden Versiehe rung bedankten, dieser atemberaubende Auf bau, dieses „Wirtschaftswunder" sei die Frucht seiner unermüdlichen Arbeit.

Dieses Gefühl des „wir-sind-wieder-wer“ verband sich mit dem Selbstsicherheit gewährenden Vertrauen auf den Schutz der Errungenschaften durch den Staat, der sich als Garant von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde den früheren westlichen Besatzungsmächten mit Erfolg empfehlen konnte. Die Konfrontation mit dem Kommunismus und seinem westlichsten Exponenten, der DDR, lieferte den Anlaß zur systematischen Entwicklung einer Ideologie des Antikommunismus, in die mühelos die vorhandenen Reste des nationalsozialistischen Antikornmunismus integriert werden konnten. Die Lehre vom „Totalitarismus" begünstigte eine Identifikation des einzelnen westdeutschen Staatsbürgers mit gerade diesem Staat, weil „Demokratie" als das positive Gegenteil von Totalitarismus propagiert und für existent gehalten wurde. Die Berufung auf die Grundrechtsgarantie als Motivation für die Abwehr und Bekämpfung des Kommunismus ist in der Tat, so erstaunlich und paradox das klingen mag, Ansatz und Grundlage für neue Formen nationalistischer Denkweisen geworden.

Dieser „neue Nationalismus in der Politischen Bildung", wie ihn Ursula und Rolf Schmiederer skizziert haben erreichte in den frühen sechziger Jahren und unter dem Eindruck der Mauer in Berlin einen Höhepunkt, den als erster, wenn ich richtig sehe, Kurt Sontheimer in seiner Bedeutung erkannt hat, als er Z. B in Eugen Gerstenmaiers Forderung nach einem neuen Staats-und Nationalbewußtsein be-denkliche Tendenzen zum Anti-und Irrationalismus feststellte, wie sie in der Didaktik der politischen Bildung u. a. Heinrich Newe unver-hüllt propagierte Niemand wird Eugen Gerstenmaier als anerkannten Widerstandskämpfer gegen Hitler eine Affinität zu einem imperialistischen Nationalismus vergangener Zeiten unterstellen, aber ich finde es in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß ein Wissenschaftler wie Walther Hofer, dem wir Standardarbeiten über den Nationalsozialismus verdanken, Ende 1965 den „Nationalismus als Sprengmittel im Weltkommunismus" erkannte und der Bundesrepublik empfahl, bis zu der Bereitschaft der Sowjetunion, die Wiedervereinigung Deutschlands zuzulassen, der Pflege eines . zeitgemäßen'deutschen Nationalbewußtseins ... ihre Aufmerksamkeit zu schenken" Die Arbeiten von Klaus Hornung und vor allem Rudolf Raasch markieren die Entwicklung einer politischen Didaktik, deren theoretische Rechtfertigung Eugen Lemberg mit seinen zwei Bänden über „Nationalismus“ leistete.

Der Nachweis, daß sich neue Formen des Nationalismus durchaus auf die im Grundgesetz garantierten Menschenrechte gründen, läßt sich also erbringen. Feststellbar ist auch das allgemeine Überlegenheitsbewußtsein über die fehlende Geltung der Menschenrechte in sozialistischen Staaten, insbesondere in der Sowjetunion und in derDDR, wie es z. B. von Meinungsträgern in den Massenmedien verbreitet wird. Wenn man diese Geisteshaltung „faschistoid" nennt, so stellt man an den Reaktionen fest, daß dieser Begriff offenbar zu einem politischen „Reizwort" geworden ist, das unvermittelt Emotionen aufrührt und als Beleidigung und Verleumdung aufgefaßt wird. Wer aber den Begriff „Faschismus" als historisches Phänomen wissenschaftlich zuläßt, kann ebensowenig das Wort „faschistoid" ablehnen, da es empirisch beschreib-und erfaßbare Symptome bezeichnet. In Analogie zu den Begriffen der Habituslehre von Ernst Kretschmer gebildet (z. B. schizothym — schizoid — schizophren), bezeichnet „faschistoid" eine Verhaltens-und Denkstruktur, deren „normaler” Typus identisch ist mit der Spießer-Ideologie" (Hermann Glaser) des* liberalen Bürgertums, die jedoch in KrisenSituationen unter bestimmten Bedingungen und Einflüssen in Faschismus umschlagen bzw. übersteigert werden kann. Dabei ist anzumerken, daß ich zwischen Faschismus und Nationalsozialismus ähnliche Unterschiede sehe, wie sie z. B. Fritz Bauer in seinem Vortrag über „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns" (Landesjugendring Rheinland-Pfalz, Mainz 1961) dargelegt hat. Die Frage nach den Wurzeln und Entstehungsbedingungen des Faschismus und seiner Steigerung ins extrem Kriminelle durch den Nationalsozialismus ist „immer die Frage nach der Empfänglichkeit breitester Schichten für seinen Ungeist und nach der Bereitschaft vieler, ja allzuvieler Menschen zur Komplicenschaft" (Bauer, a. a. O., S. 13). Dieser Frage sind u. a. die Arbeiten von Erich Fromm („Die Furcht vor der Freiheit"), Wilhelm Reich („Massenpsychologie des Faschismus"), T. W. Adorno u. a. („The Authoritarian Personality"), Wanda von Baeyer-Katte („Das Zerstörende in der Politik") Alexander und Margarete Mitscherlich („Die Unfähigkeit zu trauern") und vielen anderen gewidmet.

Auf etwaige Zweifel, ob es gerechtfertigt ist, heute auftretende Denk-und Verhaltensstrukturen in diesem Sinne als faschistoid zu bezeichnen, antworten die genannten Arbeiten bereits weitgehend positiv. Der Ruf nach dem starken Staat, das Verlangen nach der Führerpersönlichkeit, der dem „Parteiengezänk", dem Egoismus und den Partikularinteressen zugunsten des Gemeinwohls ein Ende setzt, ist latent nicht geringer als zur Zeit der Weimarer Republik. Exemplarisch hierfür ist die erschrekkend informative Dokumentation von Jürgen Neven-du Mont „Zum Beispiel 42 Deutsche" (München 1968). Das überraschende: die faschistoide Mentalität findet sich in allen Altersgruppen! Die jüngsten Untersuchungen von Walter Jaide haben bestätigt, daß die Prädispositionen hierfür in der heutigen Jugend ausgeprägter sind als Neigungen nach „links". Die Ideologie von „law and order" artikuliert sich um so lauter, je überzeugter der Künder davon ist, daß er als erklärter Gegner jedes Extremismus selbstverständlich ebenso gegen den Nationalsozialismus wie gegen den Kommunismus sei. Aber Faschismus ist nun einmal weder Links-noch Rechts-Extremismus, sondern Extremismus und Radikalismus der Mitte.

Rechtsextremismus ist konservativ-reaktionär und nationalistisch wie die Deutschnationalen und der „Stahlhelm" der Weimarer Republik. Ihre Ablehnung des liberalen Verfassungsstaates ist prinzipieller Art. Das Wählerpotential des Nationalismuswurde dagegen, wie wohl kein Wissenschaftler mehr bezweifelt, vom bürgerlichen Mittelstand gebildet, der zur Zeit der Vorherrschaft des konservativen Nationalismus „fortschrittlich" war und auch in den ersten Jahren der Republik liberale Parteien bevorzugte. Die Bündnispolitik der Nationalsozialisten und konservativen Nationalisten („Harzburger Front") hat nicht nur marxistische Historiker, die dem Zwei-Klassen-Schema dogmatisch verhaftet blieben, zu einer politisch katastrophalen Fehleinschätzung des Nationalsozialismus und auch seiner Gegner geführt. Das Bemerkenswerte: Die ehemals „liberalen" Bürger waren nach dem Ende des nationalsozialistischen Staates überzeugt, niemals anders gedacht zu haben als liberaldemokratisch. Noch einmal: faschistoid ist (noch) nicht faschistisch, faschistisch ist (noch) nicht nationalsozialistisch und Nationalsozialistisch ist nicht identisch mit konservativ-imperialistischem Nationalismus. Worum es geht, zeigt schlaglichtartig die öffentliche Beschuldigung Axel Springers durch Heinrich Böll, seine Blätter Geist schürten den des Faschismus, zu der Herbert Wehner bemerkte, die von dieser Presse betriebene Hetze sei zwar „sehr schlimm", aber er würde das nicht „Faschismus" nennen, da er durch ihn wesentlich schlimmere Erfahrungen gemacht habe. Wehner meinte „Nationalsozialismus", Böll aber hat an einem symtomatischen Beispiel nach-gewiesen, wie faschistoide Mentalitäten manipuliert und in Faschismus pervertiert werden können.

Wenn ich als Beispiel für faschistoide Tendenzen das Buch von Hugo Andreae „Zur Didaktik der Gemeinschaftskunde" (Weinheim und Berlin 1968) angeführt habe, so deshalb, weil es unabhängig von mir auch von anderen Fach-didaktikern wie K. G. Fischer und Rolf Schmie-derer, die wohl kaum als blinde Anhänger einer „linken" Ideologie suspekt sein dürften, so charakterisiert worden ist Explizit lehnt Hugo Andreae Nationalismus als Ideologie und Erziehungsziel ab, aber für die politische Bildung folgert er aus der Analyse der derzeitigen politischen Situation der Bundesrepublik u. a., daß „zuerst die Erziehung zur uneingeschränkten Bejahung des Wehrdienstes zu fordern" sei Die Ziele dieser Erziehung sind:

„Härte, Bereitschaft, Entschlossenheit, Todes-mut — kurzum alle spartanischen Tugenden... Männer, die der Feind fürchtet..." Das ist nicht aggressiv gemeint, sogar in der subjektiv sicher ehrlichen Überzeugung formuliert, damit in Wahrheit zum Frieden beizutragen, aber zu welchen Einschätzungen und Verzerrungen der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit diese Mentalität führt, beweist der Verfasser erneut durch die „Kritik" an meinen Ausführungen, die ich dem Urteil der Leser selbst überantworten möchte.

Noch einmal: Grundrechte und Herrschaft in der Bundesrepublik

Es ist Bernhard Sutor darin zuzustimmen, „daß das Schema von , oben'und . unten'oder von Freiheit und Herrschaft nicht genügt, um Politik verständlich und sachgerechtes politisches Urteilen möglich zu machen" (S. 26 seines Beitrags in diesem Heft), aber ebensowenig vermag ich zu verstehen, was „Daseinsvorsorge" als Aufgabe des modernen Staates bedeuten soll. Wieso soll „die Erweiterung der gesellschaftlichen Chancen vieler durch Politik . .. nur um den Preis gleichzeitiger Zunahme von Herrschaft zu haben" (S. 27) sein, wenn man nicht „Herrschaft" anders definiert, als ich es — etwa im Sinne von Werner Hofmann — getan habe? Daß Herrschaft etwas anderes ist als Macht hat schon Max Weber dargelegt, und es gibt keinen stichhaltigen Grund, diese Unterscheidung aufzugeben. Der entscheidende Unterschied in den Auffassungen scheint mir denn auch in der Beantwortung der Frage zu liegen, ob es so etwas wie „Gemeinwohl" tatsächlich gibt. Selbst wenn das überzeugend bewiesen würde, kann man nicht leugnen, daß die Berufung auf seine angebliche Gefährdung als ideologisches Disziplinierungsmittel gegenüber politischen Ansprüchen auf Gleichberech-tigung, Mitbestimmung und Teilhabe an Macht fungieren und mißbraucht werden kann.

Ich hoffe, daß die diesbezüglichen Bedenken Bernhard Sutors gegen meine didaktische Kon-zeption durch meinen Beitrag zum Thema „Die Grundrechte als Problem der Didaktik" in „Aus Politik und Zeitgeschichte", B 1-2/72, wenigstens teilweise ausgeräumt werden konnten. Anzumerken wäre lediglich, daß der Begriff „sachliche Richtigkeit" insofern unzulänglich und irreführend ist, als ich in der Tat nicht bestreite, sondern mehrfach betont habe, daß er als „Funktion theoretischer Vorentscheidung" zu verstehen ist. Sachliche Richtigkeit meint den Stellenwert einer Information bezogen auf den Zielwert eines Lernprozesses, mithin auf die ihr zugrunde liegende Wertentscheidung. In diesem Sinne bekräftigt Sutor meine Forderung, daß auch unsere heutige demokratische Ordnung Gegenstand des Zweifelns und Fragens sein muß und es im politischen Unterricht keine unbefragbare Axiomatik geben darf, wie auch K. G. Fischer nachdrücklich — gegen Bußhoff und Assel —-hervorgehoben hat.

Wenn Sutor aber sagt, wer „nicht Demokrat" sei, sei in der Schule einer demokratischen Ordnung fehl am Platze, so geben gerade Vorkommnisse der letzten Zeit Anlaß zu der Frage, wer denn eigentlich die Kriterien dafür bestimmt, wer ein „Demokrat" sei. Die Grenzen zwischen grundrechtlich geschützten Gütern und Ausübung von Staatsmacht sind eben nicht unabänderlich und eindeutig, sondern der zentrale Gegenstand von Konflikten.

. Würde des Menschen" als subjektiver Anspruch jedes einzelnen realisiert sich allerdings nur im solidarischen (politischen) Handeln der Betroffenen, und „Betroffenheit" heißt in meiner Konzeption nicht nur das subjektive Angerührtsein. „Radikale Veränderung" bedeutet in der Tat die Beanspruchung aller verbal durch das Grundgesetz geschützten Freiheitsrechte, die auch durch Herrschaftsübung in unserer eigenen Ordnung bedroht sind.

Wer darin den beginnenden Großangriff gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung sieht, kann nur ein gestörtes Verhältnis zur „Demokratie" und ein zumindest ungewöhnliches Demokratie-Verständnis haben. Hugo Andeae aber hat den Feind erkannt. Hier ist sein Steckbrief: Der Feind ist in einer ereignisarmen Zeit, im Nachkriegs-(West-) Deutsdiland aufgewachsen, das sich in nüchterner Absage an alle Ideologen den Aufgaben des Ta-ges arbeitsam zugewandt hat. Er schlägt die aus der historischen Erfahrung resultierenden Warnungen vor den Träumen von der großen Umwälzung, der Weltrevolution, in den Wind, denn er langweilt sich und sucht das große Abenteuer. Deswegen wendet er sich mangels Phantasie abgestandenen und verstaubten Ideologien und Idolen wie Marx, Engels und Lenin zu und beschließt „die intellektuelle Demontage". Er findet unter den lebenden Philosophen späte Propheten wie Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno und versteht sie und die Meister falsch oder gar nicht. Er hört nur heraus, daß es an der Zeit sei, „die moralische Substanz des Grundgesetzes" in Zweifel zu ziehen. Er greift das pseudowissenschaftliche Instrumentarium, genannt Ideologiekritik, auf, um die gesellschaftliche Ordnung wirksam „unterminieren" zu können. Dann begibt er sich unter die Tarnkappe der wissenschaftlichen Didaktik, um zu bewirken, was bislang noch keiner ihrer Vertreter überhaupt in Erwägung zu ziehen gewagt hat: „den Respekt vor der Würde des Menschen ... suspekt machen, das Fundament der Menschenrechte ideologiekritisch abklopfen und seine Fragwürdigkeit offenlegen" (S. 5 seines Beitrages in diesem Heft). Die erklärte Absicht des Feindes ist es, „den Lebensnerv des moralischen Selbstverständnisses des freiheitlich-demokratischen Staates" (S. 5) zu treffen. Dieser Feind ist offenbar um so gefährlicher, als er seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht einzulösen vermag, vielmehr argumentiert er oberflächlich, widersprüchlich und unlogisch; er ist nämlich ein orthodoxer Marxist, der sich eines einfachen Klassen-und Basis-Überbau-Schemas bedient, um mit militant vorgetragenen Revolutionsthesen den gesamten Grundrechtsbestand unserer Verfassung als ein ideologisches Werkzeug der vermeintlich herrschenden Kapitalistenklasse zu entlarven und zu beseitigen.

Ich weiß wirklich nicht, wen Hugo Andreae damit meint, aber sein Aufruf, diesen gefährlichen Feind zu stellen, wird von mir unterstützt, denn dieser im verschlissenen Gewände marxistischer Ideologie durch das friedliche und arbeitsame Land ziehende und die Revolution predigende vorgebliche Didaktiker hat offenbar die Unverschämtheit, dieses Gewand mit Zitaten aus Veröffentlichungen von mir bunt zu flicken. Insofern bin ich indirekt durch die Äußerungen Andreaes betroffen, aber offensichtlich nicht gemeint. Zu einer Stellungnahme habe ich daher keinen Anlaß. Bernhard Sutor dagegen sei gesagt, daß ich seinen wissenschaftstheoretischen Ansatz und seinen (u. a. von Manfred Hättich und anderen Bergstraes-ser-Schülern übernommenen) Politikbegriff ablehne, ihm aber dafür danke, daß er mich durch seine sachliche Kritik zu präziseren Formulierungen und erneutem überdenken veranlaßt hat.

Die Diskussion scheint mir u. a. gezeigt zu haben, daß der von Hermann Giesecke beschrittene Weg von der Pädagogik zur Politikwissenschaft keine Sackgasse ist, sondern der einzige, der von der pädagogischen Theorie unmittelbar zur politischen Praxis führt, nicht obwohl, sondern gerade weil die Situation der Politikwissenschaft durch unterschiedliche, z. T. gegensätzliche Theorien und Politik-Begriffe gekennzeichnet ist. Wir nehmen in diesem Bereich unterschiedliche Positionen ein, und ich bezweifle, ob es einen Weg zurück zu einer rein geisteswissenschaftlichen Pädagogik gibt, die nicht zugleich kritische und empirische Sozialwissenschaft ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Janpeter Kob, Hans-Hermann Grotthoff und Oskar Anweiler, Die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch das Erziehungssystem als politisches Problem, in: Die politische Dimension der Wissenschaft, Loccumer Protokolle 14/1968, S. 26 ff.

  2. So in meinem jüngst erschienenen Buch: Erzieung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik, 1. Bd., Göttingen 1972, S. 15.

  3. über die ideologische Funktion Näheres in meinem Buch S. 90 ff.

  4. Frankfurt a. M. 1970.

  5. Heinrich Newe, Der politische und demokratische Bildungsauftrag der Schule, Kiel 1961. Newe hatte als leitender Ministerialbeamter in der Schulverwaltung maßgeblichen Einfluß auf Richtlinien, Lehrbücher und damit auf die Praxis des politischen Unterrichts.

  6. Friedrich Minssen u. Walther Hofer, Zur Frage nach dem Vaterland, in: Aus Politik und Zeitge-schichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 50/65, S. 23 f.

  7. Vgl. K. G. Fischer in: Neue Politische Literatur, H. 3/1969, S. 425 ff. und Schmiederer, Der neue Nationalismus in der Politischen Bildung, Frankfur 1970, S. 34 f.

  8. Hugo Andreae, Zur Didaktik der Gemeinschaftskunde, a. a. O., S. 120.

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Ernst-August Roloff, geb. 1926 in Braunschweig, Dr. phil., Dipl. -Psych., Wiss. Rat und Professor für die Wissenschaft von der Politik an der Universität Göttingen; Studium der Deutschen Philologie, Geschichte und Psychologie; bis 1966 Studienrat an einem Gymnasium, danach im Hochschuldienst. Veröffentlichungen u. a.: Bürgertum und Nationalsozialismus 1930— 1933, Hannover 1961; Braunschweig und der Staat von Weimar, Braunschweig 1964; Was ist und wie studiert man Politikwissenschaft?, Mainz 1969; Exkommunisten, Mainz 1969; Aufsätze zur Zeitgeschichte und politischen Bildung, darunter Unterrichtsmodelle über „Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung" und „Der besondere Weg zum Sozialismus — Jugoslawien" in der Reihe „Politische Bildung".