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Die Kirchen im Dritten Reich | APuZ 15/1971 | bpb.de

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APuZ 15/1971 Artikel 1 Die Kirchen im Dritten Reich Der Widerstand gegen Hitler Soziologische Skizze über Retter (Rescuers) von Juden in Deutschland

Die Kirchen im Dritten Reich

Klaus Scholder

/ 74 Minuten zu lesen

I. Die Vorgeschichte

Manfred Wolfson Der Widerstand gegen Hitler. Soziologische Skizze über Retter (Rescuers)

von Juden in Deutschland .................. S. 32

Die unmittelbare Auseinandersetzung der beiden christlichen Kirchen in Deutschland mit dem Nationalsozialismus begann nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930. Dieses Datum bildet für die Vorgeschichte unseres Themas die entscheidende Zäsur. Vor dieser Zeit fanden Hitler und der Nationalsozialismus in beiden Kirchen kaum Beachtung; von diesem Augenblick an aber wurden sie in ständig steigendem Maße zum Gegenstand der kirchlich-politischen und der theologischen Diskussion. Dieses Faktum ist leicht erklärbar, wenn man sich die bekannte Entwicklung der NSDAP vor 1933 im Spiegel der Wahlergebnisse ansieht. In der Wahl vom 20. Mai 1928 hatte die NSDAP nicht mehr als 2, 6 % der Stimmen und 12 Reichstagsmandate errungen. Sie war damit eine ausgesprochene Splitterpartei, die nur in den deutschvölkischen Kreisen und Zirkeln größere Resonanz besaß. Innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren — vom 20. Mai 1928 bis zum 14. September 1930 — gelang es Hitler, den Anteil der NSDAP auf 18, 3% der Stimmen und 107 Mandate im Reichstag zu vergrößern. Damit war die NSDAP plötzlich zu einem wichtigen politischen Faktor geworden, der in der breiten Öffentlichkeit nun erst richtig wahrgenommen wurde. Von da an ging es dann relativ schnell. 1932 hatte sich der Anteil noch einmal fast verdoppelt, von 18, 3 0/0 auf 37, 3 °/o der Stimmen; im November dieses Jahres trat ein spürbarer Rückschlag ein (33, °/o), um in den Wahlen vom 5. März 1933 schließlich 43, 9 % zu erreichen.

Die entscheidende Zäsur aber bildete der 14 September 1930. Mit dieser Wahl war die NSDAP im ganzen Reich präsent, und von diesem Augenblick an begannen die Diskussionen um sie.

Die öffentliche Meinung — auch die kirchliche öffentliche Meinung — ging in diesen Diskussionen weithin davon aus, daß der Nationalsozialismus eine noch junge Bewegung und deshalb zu beeinflussen sei. Daher wurden in diesen Jahren eine Fülle von Ratschlägen, Bitten, Forderungen und Bedingungen bei der " Bewegung" angemeldet.

Aber hier lag ein entscheidender Irrtum vor. Hitlers Weltanschauung und damit die politischen Grundentscheidungen der Partei waren längst fixiert. Wenn in der Satzung der Partei das Parteiprogramm von 1920 als „unabänderlich" bezeichnet wurde 1), so war das mehr als eine Phrase. Es brachte zum Ausdruck, daß hier nicht diskutiert, sondern ein bestimmter politischer Wille durchgesetzt werden sollte, und zwar der Wille Hitlers. Tatsächlich hat Hitler — so wendig und anpassungsfähig er im einzelnen sein konnte — an den Grundpositionen seiner Weltanschauung in den 25 Jahren zwischen 1920 und 1945 unverrückbar und mit einer, wenn man die Veränderungen der politischen Umstände wie seines persönlichen Schicksals in dieser Zeit bedenkt, fast unglaublichen Kontinuität festgehalten. Diese Weltanschauung aber hat, zunächst für den kleinen Kreis der Partei, dann für das Deutsche Reich, schließlich für die halbe Welt in Aktion und Reaktion das Gesetz des Handelns bestimmt.

Wie sah diese Weltanschauung aus? 1. Hitlers Weltanschauung Hitlers Weltanschauung baute sich im Grunde auf einem einzigen Gedanken auf, dem Gedanken von einem mit der Welt mitgesetzten Dualismus zwischen einer hochwertigen und einer minderwertigen Menschenrasse.

Die hochwertige Rasse, die sogenannten Arier, waren danach zur Führung der Welt berufen. Ihnen verdankte die Menschheit alles, was an positiven Gütern geschaffen wurde: Ackerbau, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Technik. Die minderwertige Rasse, die Semiten oder Juden, stellten die Negation der hochwertigen dar. Ihr Ziel war es, der hochwertigen die Herrschaft zu entreißen und selbst zu herrschen. Sie bediente sich dazu aller Mittel, vor allem der systematischen biologischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zersetzung der arischen Rasse und ihrer Lebensbedingungen. Aus diesem Dualismus folgte das nationalsozialistische Grundgesetz alles Lebens: der Kampf, nämlich der Kampf zwischen Ariern und Juden um die Weltherrschaft. Ähnlich wie für den Marxismus der Klassenkampf, war für den Nationalsozialismus der Rassenkampf Grundprinzip und zugleich wichtigstes Bewegungsmoment der Weltgeschichte. Hitler selbst hat in „Mein Kampf" andeutungsweise vorgeführt, wie eine konsequent unter diesem Gesichtspunkt verstandene Weltgeschichte aussieht.

Die nationalsozialistische Bewegung verstand sich als Führerin in diesem weltweiten und säkularen Kampf zwischen Ariern und Semiten und glaubte sich darin objektiv in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Weltgeschichte. Das galt vor allem für Hitler selbst. Seine Willenskraft, sein überzeugungsvermögen, seine Fähigkeit, Rückschläge und Niederlagen zu überwinden und seine Unbedenklichkeit in der Wahl seiner Mittel — jene Eigenschaften also, die ihn schließlich über seine Gegner triumphieren ließen — beruhten vor allem darauf, daß er sich vollkommen in Übereinstimmung glaubte mit den Gesetzen der Welt und der Geschichte.

Die Frage, ob Hitler an die nationalsozialistische Weltanschauung geglaubt oder ob sie ihm nur ein Instrument zur Erringung der persönlichen Macht gewesen sei, kann nach meiner Überzeugung nur im ersteren Sinne entschieden werden. Hitler war von dieser Weltanschauung überzeugt und er hat niemals eine politische Entscheidung von einiger Tragweite getroffen, die ihr widersprochen hätte

Man muß sich den Kerngedanken dieser Weltanschauung, nämlich den Kampf zwischen der arischen und der jüdischen Rasse als Prinzip der Weltgeschichte, klarmachen, um zu begreifen, welche zentrale Funktion der Antisemitis-mus für Hitler und den Nationalsozialismus besaß. Der Antisemitismus war in dieser Weltanschauung nicht ein Element unter anderen, das austauschbar gewesen wäre, nicht nur eine Art elementarer Abneigung gegen „Fremde“ oder eine Anknüpfung für die Ableitung von „Aggressionen", sondern er war das bestimmende Grundprinzip der ganzen Bewegung überhaupt. Diese Bewegung kämpfte um die Herrschaft der arischen Rasse, und der einzige ernsthafte Gegner in diesem Kampf war nach ihrer Überzeugung eben das Judentum. Alle anderen Elemente, der Imperialismus, der Nationalismus, die Lebensraum-these, waren diesem Grundprinzip zugeordnet und konnten notfalls suspendiert werden, wie etwa Hitlers Entscheidung in der Südtirol-Frage zeigte. Nur den Kampf gegen die angebliche „jüdische Weltgefahr" hat Hitler niemals — auch nicht um taktischer Vorteile willen — aufgegeben; nur in diesem Kampf hat er nie einen Kompromiß zugelassen. Strenggenommen war für Hitler nicht der Antisemitismus ein Mittel zum Zweck der Herrschaft, sondern umgekehrt: die Herrschaft über Deutschland und Europa war ein Mittel zum Zweck des Kampfes gegen die Juden.

Die Art und Weise, wie nach Hitlers Über-zeugung die Juden ihrerseits um die Herrschaft kämpften, war — wie schon gesagt — die systematische biologische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Zersetzung der arischen Rasse und ihrer Lebensbedingungen. Deshalb sorgte der Nationalsozialismus mit den rigorosesten Mitteln für die sogenannte „Reinhaltung der Rasse" (Nürnberger Gesetze); deshalb sah er in jedem Krieg, in jeder Revolution, in jedem Aufruhr jüdische Agenten am Werk; deshalb waren für ihn der Marxismus ebenso wie der Liberalismus jüdische Erfindungen zur Dekomposition der europäischen Ordnung; deshalb kämpfte er gegen den Börsenkapitalismus wie gegen die moderne Kunst, weil beide als jüdischen Ursprungs und als Mittel im Kampf der Juden um die Weltherrschaft galten. So heißt es in „Mein Kampf":

„Wie sehr sie [die Juden] den nahenden Sieg schon vor Augen sehen, geht aus der furchtbaren Art hervor, die ihr Verkehr mit den Angehörigen der anderen Völker annimmt.

Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben. So wie er selber planmäßig Frauen und Mädchen verdirbt, so schreckt er auch nicht davor zurück, selbst im größeren Umfange die Blutschranken für andere einzureißen. Juden waren und sind es, die den Neger an den Rhein bringen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen.

Denn ein rassereines Volk, das sich seines Blutes bewußt ist, wird vom Juden niemals unterjocht werden können. Er wird auf dieser Welt ewig nur der Herr von Bastarden sein. So versucht er planmäßig, das Rassenniveau durch eine dauernde Vergiftung der einzelnen zu senken.

Politisch aber beginnt er, den Gedanken der Demokratie abzulösen durch den der Diktatur des Proletariats.

In der organisierten Masse des Marxismus hat er die Waffe gefunden, die ihn die Demokratie entbehren läßt und ihm an Stelle dessen gestattet, die Völker diktatorisch mit brutaler Faust zu unterjochen und zu regieren. Planmäßig arbeitet er auf die Revolutionierung in doppelter Richtung hin: in wirtschaftlicher und politischer.

Völker, die dem Angriff von innen zu heftigen Widerstand entgegensetzen, umspinnt er dank seiner internationalen Einflüsse mit einem Netz von Feinden, hetzt sie in Kriege und pflanzt endlich, wenn nötig, noch auf die Schlachtfelder die Flagge der Revolution. Wirtschaftlich erschüttert er die Staaten so lange, bis die unrentabel gewordenen sozialen Betriebe entstaatlicht und seiner Finanzkontrolle unterstellt werden.

Politisch verweigert er dem Staate die Mittel zu seiner Selbsterhaltung, zerstört die Grundfagen jeder nationalen Selbstbehauptung und Verteidigung, vernichtet den Glauben an die Führung, schmäht die Geschichte und Vergangenheit und zieht alles wahrhaft Große in die Gosse.

Kulturell verseucht er Kunst, Literatur, Theater, vernarrt das natürliche Empfinden, stürzt alle Begriffe von Schönheit und Erhabenheit, von Edel und Gut und zerrt dafür die Mensdien herab in den Bannkreis seiner eigenen Wesensart. niedrigen Pie Religion wird lächerlich gemacht, Sitte und Moral als überlebt hingestellt, so lange, bis die letzten Stützen eines Volkstums im Kampfe um.

sind." da s Dasein auf dieser Welt gefallen Wir können den Ursprüngen dieser Weltanschauung, die wohl gerade wegen ihrer Primitivität und Geschlossenheit wirkte, hier nicht im einzelnen nachgehen. Entscheidend ist zunächst die Feststellung ihrer Konstanz, die sich tatsächlich vom ersten Schriftstück der politischen Laufbahn Hitlers, einem Brief vom 16. September 1919 bis zum letzten, seinem Testament, nachweisen läßt, dessen letzter Satz lautet: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum".

Ein ideologischer Kerngedanke dieser Art relativiert nicht nur alle Werte, er assimiliert sich auch — ohne Rücksicht auf den faktischen Tatbestand — das gesamte Material der Weltgeschichte. Es gibt angesichts solcher Ideologien nichts Neutrales, nichts, was nicht in der einen oder anderen Weise zur Bestätigung der Ideologie gezwungen werden könnte und tatsächlich auch gezwungen wird. Und das gilt nun auch für Hitlers Verhältnis zum Christentum. Es ist bisher noch nirgends darauf hingewiesen worden, daß Hitler in den zwanziger Jahren ein bestimmtes Verständnis des Christentums vertrat, das sich bei aller Absurdität doch auf eine Tradition berufen konnte.

Im ersten Hinweis auf das Christentum, der sich überhaupt bei Hitler findet, einer Rede vom 12. April 1922 im Bürgerbräukeller in München, ist diese Auffassung bereits deutlich zu erkennen.

Hitler führt darin aus, daß die nationalsozialistische Bewegung zum erstenmal auf die Judengefahr aufmerksam gemacht habe und daß man sie deshalb heute überall als „Hetzer" verschreie. Er zitiert dann den bayerischen Ministerpräsidenten Graf Lerchenfeld (BVP), der in der letzten Landtagssitzung gemeint habe, „sein Gefühl ... , als Mensch und Christ'müsse ihn abhalten, Antisemit zu sein". An dieser Stelle nun fährt Hitler wörtlich fort: „Ich sage, mein christliches Gefühl weist mich hin auf meinen Herrn und Heiland als Kämpfer. (Stürmischer langanhaltender Beifall). Es weist mich hin auf den Mann, der einst einsam, nur von wenigen Anhängern umgeben, diese Juden erkannte und zum Kampf gegen sie aufrief und der, wahrhaftiger Gott, nicht der Größte war als Dulder, sondern der Größte als Streiteri In grenzenloser Liebe lese ich als Christ und Mensch die Stelle durch, die uns verkündet, wie der Herr sich endlich aufraffte und zur Peitsche griff, um die Wucherer, das Nattern-und Otterngezücht hinauszutreiben aus dem Tempel! Seinen ungeheuren Kampf aber für diese Welt, gegen das jüdische Gift, den erkenne ich heute, nach zweitausend Jahren, in tiefster Ergriffenheit am gewaltigsten an der Tatsache, daß er dafür am Kreuze verbluten mußte (Bewegung im Saale).“

Hitler fährt dann fort, daß er oft die abgehärmten Gesichter der vom jüdischen Kapitalismus Ausgebeuteten sich anschaue und daß er „kein Christ, sondern ein wahrhaftiger Teufel" sein müßte, wenn er „nicht Mitleid empfinden würde und nicht wie einst vor 2000 Jahren unser Herr Front machen würde gegen die, die dieses arme Volk heute ausplündern und ausbeuten"

Hitler vertritt hier die Auffassung, daß Jesus als heldischer Mensch gegen die Juden gekämpft und daß er eben deshalb, und weil er das Wesen der Juden durchschaut habe, ans Kreuz geschlagen worden sei. Seine eigentliche Sendung sei der Kampf gegen das Judentum und den jüdischen Geist gewesen.

Hinter dieser Auffassung stehen Vorstellungen, die in der weltanschaulichen Trivial-literatur im 18. und 19. Jahrhundert in vielen Spielarten variiert wurden. Es ging dabei ganz allgemein um den Versuch, eine reine Heilandslehre zu konstruieren und sie gegen das Alte Testament und vor allem gegen Paulus auszuspielen. Danach sollte vor allem der jüdische Rabbi Paulus mit seinem Dogmatismus und seiner unverständlichen Theologie an der Verfälschung jener reinen, allen Menschen zugänglichen und für alle begreiflichen Heilandslehre schuld sein.

Die wichtigste Quelle für alle diese antijudaistischen Interpretationen des Christentums (die selbstverständlich noch keineswegs antisemitisch im rassischen Sinne waren) stellte das Man Johannes-Evangelium dar. braucht nur die von Hitler zitierte Geschichte von der Austreibung aus dem Tempel bei den Synop-tikern und bei Johannes zu vergleichen, um zu sehen, daß nur bei Johannes die Rede von der Geißel aus Stricken ist, die die Geschichte für Hitler — Jesu, der zur Peitsche griff! — überhaupt erst interessant machte. Johannes hat zweifellos eine starke antijudaistische Tendenz, bis hin zu dem an die Juden gerichteten Wort Jesu, das in Johannes überliefert ist und das im Dritten Reich immer wieder zitiert wurde: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang und steht nicht in der Wahrheit..." 8).

Daß weder bei Johannes noch bei den Antijudaisten des 18. und 19. Jahrhunderts ein Rassenantisemitismus im Spiele war, ist selbstverständlich. Aber die Rassentheorie, einmal entworfen, konnte sich dieser Interpretation vorzüglich bedienen und hat das dann tatsächlich auch getan. Hitler hat seinen Antisemitismus zweifellos nicht aus dieser Quelle bezogen. Aber sie war ihm willkommene Bestätigung seiner Ideologie, die er dann auch in „Mein Kampf" übernahm. Deshalb kann es zum Abschluß des 2. Kapitels über „Wiener Lehr-und Leidensjahre", in dem er die Entstehung seiner Weltanschauung und seine Wandlung zum Antisemiten schildert, heißen: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn."

So sicher Hitler von der Wahrheit dieses Satzes in den zwanziger Jahren überzeugt war, so schnell scheint er — im Gegensatz zu anderen nationalsozialistischen Führern — begriffen zu haben, daß er sich und seine Bewegung mit solchen Formulierungen in einen unaufhebbaren Gegensatz zu den christlichen Kirchen beider Konfessionen brachte. Denn keine der christlichen Kirchen konnte solche Sätze aufnehmen oder auch nur tolerieren. Hitler aber glaubte aus seiner Wiener Zeit zu wissen, daß ein politischer Kampf, der zugleich als Weltanschauungskampf gegen die katholische Kirche geführt wurde, von vornherein zum Scheitern verurteilt war:

„Bei dem Studium der alldeutschen Bewegung und ihres Kampfes gegen Rom bin ich damals und besonders im Laufe späterer Jahre zu folgender Überzeugung gelangt: Das geringe Verständnis dieser Bewegung für die soziale Frage kostete sie die wahrhaft kampfkräftige Masse des Volkes; das Hineingehen in das Parlament nahm ihr den gewaltigen Schwung . .

der Kampf gegen die katholische Kirche machte sie in zahlreichen kleinen und mittleren Kreisen unmöglich und raubte ihr damit unzählige der besten Elemente, die die Nationüberhaupt ihr eigen nennen kann."

Diese drei Fehler wollte Hitler unter allen Umständen vermeiden. Er sah aber, daß er und vor allem einige seiner Unterführer mit der These vom arischen Christentum tatsächlich in einen unmittelbaren Konflikt mit den Kirchen gerieten.

Deshalb entschloß er sich im Sommer 1928 zu einem spektakulären Schritt. Er trennte sich von seinem Thüringer Gauleiter Dr. Artur Dinter, einem der überzeugtesten Verfechter der These vom arischen Christentum. Dieser Schritt wog um so schwerer, als Hitler von Dinter offensichtlich vieles übernommen hatte und vor allem in Rassefragen geradezu als sein Schüler gelten durfte Die Trennung von Dinter änderte an den Grundlagen von Hitlers Weltanschauung selbstverständlich nichts.

Es ging lediglich um die Ermöglichung eines positiven Verhältnisses zwischen ihm und den Kirchen — und das ist ja dann tatsächlich auch für eine kurze Zeit geglückt. 2. Die Kirchenpolitik der Partei bis 1933 Artur Dinter hatte bis zu seiner Trennung von Hitler immer stärker darauf gedrängt, die Partei zu einem Instrument zur Vollendung der Reformation im Sinne seines reinen ari-schen „Geistchristentums" zu machen. Mit der Trennung bekundete Hitler unzweifelhaft, daß er diesen Kurs unter keinen Umständen dulden wollte. Kaum etwas fürchtete er so sehr wie einen Kampf mit den Kirchen; deshalb versuchte er in der Führung der Partei alles zu vermeiden, was einen solchen Kampf provozieren konnte oder mußte.

Die Partei selbst war in dieser Frage gebunden an den berühmten Art. 24 ihres Programmes von 1920. Er lautet: „Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden —----------oder gegen das Sittlichkeits-und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“

Der problematischste Begriff war hier der des „positiven Christentums". Weite kirchliche Kreise hörten bloß den Satz „Die Partei vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums" und verstanden ihn im traditionellen Sinne als Vertretung einer klar dogmatisch bestimmten Christlichkeit im Gegensatz zum Liberalismus aller Schattierungen. Gemeint aber war mit dem „positiven Christentum" ein „Christentum der Tat" im Sinne des zweiten Satzes, der als Interpretation des ersten verstanden werden muß: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. In Parteikreisen hielt man diesen Satz für die Quintessenz des Christentums.

In unzähligen Reden vor und nach 1933 haben Hitler und seine Mitkämpfer immer wieder betont, daß die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, daß der Kampf gegen den Bolschewismus und daß die großen sozialen Programme der Partei christlicher wären als alles, was die Kirchen täten und predigten.

Solche Erklärungen fielen vor allem dort auf fruchtbaren Boden, wo die dogmatischen Grundlagen der Kirche schon lange zugunsten allgemeiner ethischer Postulate preisgegeben waren.

Bis 1930 galt generell für alle Mitglieder und Organe der Partei die strikte Beachtung der kirchenpolitischen Neutralität. Im Zusammenhang mit dem Fall Dinter schärfte Hitler seinen Anhängern auf der Generalmitgliederversammlung in München 1928 ein: „Ich habe nur den einzigen Wunsch, daß in der Partei niemals der Zustand einreißt, daß es einem Katholiken oder Protestanten Gewissenskonflikte unmöglich machen würden, der Partei anzugehören. Die Partei muß stets so geleitet werden, daß jeder fromme Katholik, ohne in Konflikt mit seinem Gewissen zu kommen, ihrer Politik zustimmen kann. Wenn jemand sagt: dann werden Sie Diener einer Konfession, so sagen wir im Gegenteil: nicht Diener einer Konfession, sondern Diener des deut- sehen Volkes (lebhafter Beifall) im Kampf für die Zukunft unseres deutschen Volkes gegen die Todfeinde unseres Volkes, gegen die jüdische Blut-und Rassenvergiftung ..."

Dieser Appell an die strikte Neutralität der Partei in allen kirchlichen und kirchenpolitischen Fragen wurde ständig wiederholt. Aber diese Neutralität ließ sich doch nur solange durchhalten, wie die Partei selbst wegen ihres Splittercharakters politisch noch nicht gefordert war.

Nadi dem Wahlsieg der NSDAP von 1930 begann deshalb in immer stärkerem Maße der Versuch, von der bloßen kirchenpolitischen Neutralität der Partei zu einer Annäherung an die Kirchen zu kommen.

Aus mancherlei Gründen bot sich hier die evangelische Kirche zunächst sehr viel mehr an. Es begann nun die Zeit der Gottesdienst-besuche durch uniformierte SA, die vielerorts in geschlossenen Formationen mitsamt der Hakenkreuzfahne in die Kirchen einrückte. Prominente Nationalsozialisten, wie etwa Goebbels, ließen sich demonstrativ kirchlich trauen und an keinem SA-Sarg fehlte der kirchliche Segen.

Es ist nicht überraschend, daß manche Kirchen-männer angesichts einer scheinbar so dezidiert kirchlichen Haltung ihre Meinung über die NSDAP änderten, nicht zuletzt in der Hoffnung, durch ihre Sympathie oder gar durch ihren Beitritt positiv auf die Partei einwirken zu können.

Diese scheinbare Zuwendung der NSDAP zu den Kirchen wirkte um so eindrucksvoller, als sie vor dem Hintergrund der ausgesprochen antikirchlichen und antichristlichen Agitation der Linken stattfand, die von der KPD kompromißlos geführt, von der SPD zumindest toleriert wurde.

Trotzdem blieb in weiten Kreisen der evangelischen Kirche eine spürbare Reserviertheit gegenüber Hitler und der Bewegung bestehen. Dabei ist zu beachten, daß innerhalb der Kirche angesichts des Anwachsens der Bewegung ein ausgesprochener Generationenkonflikt auftrat: während die Theologiestudenten in Scharen in die NSDAP eintraten und sich unter den etwa 30jährigen Pastoren eine ganze Reihe von Parteimitgliedern fanden, verhiel-ten sich die älteren Pfarrer und Kirchenmänner eher abwartend. Es hat vor 1933, soweit ich sehe, nicht einen einzigen prominenten evangelischen Kirchenmann in den Reihen der NSDAP gegeben

Diese innerkirchlichen Verhältnisse, über die es naturgemäß keinerlei Statistik gibt, lassen sich verifizieren am Aufbau und an der Entwicklung der „Deutschen Christen".

Die „Deutschen Christen" waren der Versuch der Partei, auf dem Weg von strikter Neutralität über betonte Annäherung weiterzugehen zu einer Eroberung der evangelischen Kirche. Der Plan, nun auch innerhalb der Kirche eine eigene nationalsozialistische Gruppe zu gründen, entstand angesichts der bevorstehenden Kirchenwahlen in Preußen im November 1932. Der Führer der Fraktion der NSDAP im preußischen Landtag, der brandenburgische Gauleiter Wilhelm Kube, gab im Januar 1932 im „Völkischen Beobachter" das Startzeichen. „Es ist Zeit", so schrieb er in einem aufsehen-erregenden Artikel, „daß das evangelische Volk in Deutschland seiner Kirche mehr Aufmerksamkeit widmet. Die Kirche darf nicht eine Sinekure der christlich-sozialen und volkskonservativen Generalsuperintendenten bleiben. Wir brauchen eine evangelische Reichskirche für ganz Deutschland ... Die unierte Kirche der Altpreußischen Provinzen besitzt eine Art Selbstverwaltung. Und hier muß der Hebel angesetzt werden. Im Jahre 1932 finden Wahlen zu den Gemeindekörperschaften statt, aus denen dann später die Synoden usw. gewählt werden, und die die Wahlen der Pfarrer in der Hand haben • Nationalsozialisten! . . . Erobert euch eure Kirche und erfüllt sie mit dem lebendigen christlichen Geist der erwachten deutschen Nation! Laßt euch schon jetzt in Stadt und Land zu Hunderttausenden und Millionen in die Wählerlisten eintragen ..."

Der Listenname „Evangelische Nationalsozialisten" wurde von Hitler persönlich in „Deutsche Christen" (DC) umgeändert, um wenigstens noch den Schein einer kirchenpolitischen Neutralität der Partei zu wahren. Als Führer der neuen Unterorganisation der Partei wurde der 31jährige Pfarrer Joachim Hossenfelder gewonnen, der für den Typ der jungen, vom Nationalsozialismus begeisterten Pastoren außerordentlich charakteristisch war

Schon im Februar 1932 lagen Aufrufe und Organisationspläne der Partei für die Kirchen-wahlen vor; im Sommer erschienen die „Richtlinien" der DC und der Wahlkampf begann. Das Ganze war — angesichts des völlig offenen kirchlichen Wahlsystems —-im Grunde nur eine Frage der Organisation, und diese Organisation klappte so vorzüglich, daß die Deutschen Christen im November tatsächlich fast überall rund ein Drittel aller Sitze in den Gemeindekörperschaften errangen

Seit Oktober 1932 erschien auch eine eigene Wochenzeitschrift: „Evangelium im Dritten Reich. Sonntagsblatt der Deutschen Christen" mit Kreuz und Hakenkreuz im Titel.

Die Deutschen Christen waren eine rein politisch orientierte Gruppe. Ihren großen Wahlerfolg verdankten sie weniger einem Einbruch in kirchlich gebundene Wählerschichten als vielmehr der Mobilisierung von Wählern, die bisher an Kirchenwahlen noch nie oder kaum teilgenommen hatten.

Trotz des Wahlerfolges der „Deutschen Christen" darf man den unmittelbaren Einfluß der Partei auf die evangelische Kirche nicht überschätzen. Aufs Ganze gesehen war es der NSDAP vor 1933 zwar gelungen, sich der evangelischen Kirche zu nähern —-von einer tatsächlichen „Eroberung" war sie jedoch weit entfernt. Die „Deutschen Christen" spielten zunächst noch eine so geringe Rolle, daß bei einer Umfrage des Kirchenbundesamtes im März 1933(1) über die Stärke der „Glaubensbewegung DC" in den einzelnen Landeskir-chen fast alle Kirchen mit einer völligen Fehlanzeige antworteten.

Wesentlich schwieriger gestaltete sich für die Partei das Verhältnis zur katholischen Kirche. Obwohl Hitler selbst und viele seiner wichtigsten Führer katholisch waren (Hitler ist bekanntlich niemals exkommuniziert worden) und er in „Mein Kampf" und auch später noch seinen Respekt vor der Institution der Katholischen Kirche nie verleugnet hat, bestanden zwischen der Partei und der Kirche von Anfang an starke Spannungen. Es war nach Hitlers Überzeugung eine Lebensfrage für die NSDAP, sie auch für gute Katholiken wählbar zu machen. Das ist ihm freilich ganz erst mit dem Konkordatsabschluß 1933 gelungen.

Der Hauptstreitpunkt zwischen der katholischen Kirche und der NSDAP lag in der Tatsache, daß die katholische Kirche — im Gegensatz zur evangelischen — eine geschlossene, naturrechtlich begründete Weltanschauung vertrat. Diese Weltanschauung wirkte über die Zentrumspartei unmittelbar in die Politik hinein. Das Zentrum vertrat den Katholizismus, vor allem in kulturpolitischen Fragen, direkt, so daß auf diesem Feld eine Konfrontation schlechterdings nicht zu vermeiden war. Hitler versuchte deshalb auch nicht, das Zentrum möglichst zu schonen, sondern beschritt vielmehr den entgegengesetzten Weg. Er ließ das Zentrum auf jede Weise attackieren unter der Parole: Respekt vor der Kirche, aber Tod dem politischen Katholizismus. Neben den Juden und Marxisten wurden so die „Schwarzen" zum bevorzugten Angriffsziel der NSDAP, wobei mit allem Nachdruck immer wieder betont wurde, daß man gegen die „politisierenden Pfaffen", nicht aber gegen die Kirche vorgehe.

Allerdings war es schwierig, an diesem Kurs festzuhalten, weil die katholische Kirche ihrerseits diese Unterscheidung keineswegs mitmachte, vielmehr nach den Septemberwahlen 1930 mit einigen scharfen Erklärungen gegen den Nationalsozialismus hervortrat.

Im September 1930 erklärte der Generalvikar von Mainz mit aller Deutlichkeit: „Jedem Katholiken ist es verboten, eingeschriebenes Mitglied der Hitlerpartei zu sein" und: „Solange ein Katholik eingeschriebenes Mitglied der Hitlerpartei ist, kann er nicht zu den Sakramenten zugelassen werden."

Das bedeutete praktisch die Exkommunikation für alle Parteimitglieder.

Der deutsche Episkopat hielt diese eindeutige Linie jedoch nicht durch. Aus allgemeinen politischen Erwägungen, aus Nationalgefühl und aus Furcht vor einer drohenden kommunistischen Diktatur hielten es die meisten deutschen Bischöfe nicht für möglich, eine generelle Verurteilung des Nationalsozialismus auszusprechen. Man einigte sich deshalb auf eine Formulierung, die der bayerische Episkopat im Februar gefunden hatte, wonach die Kirche vor dem Nationalismus warnte, „solange und soweit er kulturpolitische Auffassungen kundgibt, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar“ seien Den Geistlichen wurde jede Mitarbeit in der Bewegung verboten, ebenso die Teilnahme geschlossener Kolonnen am Gottesdienst. Diese bayerische Formulierung erschien zunächst nur als eine Modifizierung der Mainzer Verurteilung, erwies sich dann aber 1933 doch, als halber Weg zur Anerkennung des Nationalsozialismus. Hitler hat in seiner berühmten Regierungserklärung vom März 1933, in der er alle kulturpolitischen Forderungen beider Kirchen zu erfüllen versprach, genau auf diesen Punkt gezielt. Es gelang ihm dadurch, den deutschen Episkopat zur Zurücknahme seines Vorbehalts gegenüber der NSDAP zu bewegen

Vor 1933 blieb freilich trotz aller Bemühungen Hitlers der Spannungszustand zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus bestehen.

Wie die Partei ihm zu begegnen suchte, zeigte eine Rede des Führers der Fraktion der NSDAP im Bayerischen Landtag, Dr. Buttmann, am 29. April 1931. Buttmann knüpfte ausdrücklich an die Erklärung des bayerischen Episkopats an und versicherte dem Hohen Hause, daß die Nationalsozialisten sich in die inneren Angelegenheiten der Kirchen keinesfalls einmischen wollten, daß der Begriff „Positives Christentum" selbstverständlich das Christentum meine, „wie es heute vorhanden ist", und daß die Bewegung eine Politik betreibe, die tatsächlich praktisches Christentum sei

An der grundsätzlichen Gegnerschaft zwischen katholischer Kirche und Partei vor 1933 wurde dadurch nichts geändert. Aber es wurde doch der Boden für eine Änderung vorbereitet. 3. Die Auseinandersetzungen der Kirchen mit dem Nationalsozialismus vor 1933 Nach den Septemberwahlen 1930 setzte, wie anfangs dargelegt, in beiden Kirchen fast schlagartig die Diskussion mit und um den Nationalsozialismus ein. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß in den Jahren 1931/32 der Nationalsozialismus „als Frage an die Kirche" eines der wichtigsten Themen der innerkirchlichen Diskussion überhaupt war.

Versucht man, innerhalb der evangelischen Kirche einen Überblick über das Spektrum der Meinungen zu gewinnen, so steht neben einer ganz kleinen Gruppe religiöser Sozialisten, die schon auf Grund ihrer politischen Option eine radikale Ablehnung des Nationalsozialismus vertraten, eine ebenfalls noch kleine Gruppe radikaler Anhänger und Verfechter des Nationalsozialismus. Dazwischen liegt ein breites Mittelfeld von Meinungen, das von entschiedener Ablehnung bis zu entschiedener Bejahung reicht.

Die politische Entscheidung für oder gegen den Nationalsozialismus hing im einzelnen natürlich von vielerlei Faktoren ab. Einige, die in der Diskussion immer wiederkehrten, seien im Folgenden genannt. Zunächst waren sich fast alle — Anhänger wie Gegner — darin einig, daß es sich beim Nationalsozialismus tatsächlich um eine elementare Volksbewegung handele, um einen Aufbruch, der die Grenzen des bisherigen Parteiensystems sprenge, wobei dies für die Gegner eine Folge zynischer Manipulation und für die Anhänger schon einen „Beweis des Geistes und der Kraft" darstellte.

Ein wichtiges Argument für den Nationalsozialismus, das auch bei den Skeptischen und Kritischen immer wieder auftauchte, war die Feststellung, daß der Nationalsozialismus , die Jugend habe'. Tatsächlich waren die Allgemeinen Studentenausschüsse der deutschen Universitäten bekanntlich die ersten Institutionen, die legal von den Nationalsozialisten erobert wurden. Während im September 1930 der Stimmenanteil der NSDAP im Reich 18, 30 o betrug, lag er bei den Asta-Wahlen im WS 1929/30 bei der Mehrzahl der deutschen Hochschulen bereits über 25 °/o, z. T. — wie etwa in Erlangen oder Greifswald — sogar schon über 50 °/o. Eine der wenigen zuverlässigen Zahlen über die Zusammensetzung der SA weist für die Berliner SA im Februar 1931 aus, daß von 1800 Männern nur 10% über 30 Jahre alt waren

Immer wieder findet man dementsprechend in der kirchlichen Diskussion das Argument, daß der beste Teil der deutschen Jugend nationalsozialistisch sei und daß eine Bewegung, die von soviel Begeisterung, Opfermut und Einsatzbereitschaft getragen werde, im Grunde nicht schlecht sein könne. Die Entscheidung gegen den Nationalsozialismus bedeutete nach 1930 eine Entscheidung gegen die große Mehrheit der deutschen Jugend — und daß gerade der Kirche eine solche Entscheidung schwerfallen mußte, liegt auf der Hand.

Ein weiterer — vielleicht sogar der entscheidende — Faktor für die Einstellung kirchlicher Kreise zum Nationalsozialismus war die Frage, wie ernst man bestimmte Erscheinungsformen der Partei zu nehmen habe.

Waren die Brutalitäten, die Rassenhetze, der ganze aggressiv-fanatische Ton der Propaganda nur schlechte Begleiterscheinungen einer an sich guten Sache oder waren sie die Sache selbst? Stellte sich hier die Bewegung dar oder nur ihre Auswüchse? Die Entscheidung in dieser Frage, die natürlich weithin mit der Entscheidung über das Verhältnis zur Hitler-Partei zusammenfiel, wurde selbstverständlich wesentlich von den Voraussetzungen bestimmt, die der einzelne mitbrachte; anders ausgedrückt: man hörte die Antwort, die man hören wollte.

Wer also deutschnational und antimarxistisch gesonnen war und auf eine wirtschaftliche, sittliche und geistige „Erneuerung" Deutschlands hoffte, war auch nur zu gern bereit, in der NSDAP ein Instrument dieser „Erneuerung“ zu sehen und ihre brutalen, ja unheimlichen Züge als „Schlacken“ und „Auswüchse“ abzutun oder sie auf das Konto der Kampfsituation und der noch „jungen" Bewegung zu setzen. Im übrigen wird man davon ausgehen müssen, daß bestimmte Konsequenzen der nationalsozialistischen Ideologie — von der totalen Entrechtung des einzelnen bis zur physischen Vernichtung der Juden — schlechterdings außerhalb der Vorstellungsmöglichkeit der Wähler der Jahre 1930 oder 1931 lagen.

Schließlich spielte eine wesentliche Rolle das Argument, daß die Partei erst am Anfang stehe und infolgedessen noch beeinflußbar sei und auch — gerade aus der politischen Verantwortung der Kirche heraus — von Christen beeinflußt werden müsse. Das war, wie wir gesehen haben, ein Irrtum. Wie weit verbreitet er war, zeigt die Tatsache, daß — mit Ausnahme der Deutschen Christen — alle kirchlichen Stellungnahmen zum Nationalsozialis-mus kritische Vorbehalte enthielten. Auch die wohlwollendsten Äußerungen, etwa die Beiträge in der Allgemeinen Evangelisch-Lutheri-shen Kirchenzeitung, versäumten nie, Bitten, Forderungen und Vorschläge anzubringen, damit die Partei für christliche Kreise wählbar werde.

Mustert man nun die kirchlich-theologischen Positionen, die trotz allem, was für das kirchliche Ja zur Bewegung zu sprechen schien, schließlich zu einer Ablehnung der Hitler-partei kamen, so lassen sich hier vier Ansätze unterscheiden, die im Folgenden kurz skizziert sein sollen. a) Die Religiösen Sozialisten Diese kleine, aber sehr entschiedene kirchliche Gruppe war die einzige, die den Nationalsozialismus von Anfang an geschlossen und konsequent abgelehnt hat. Ihre Argumentation war allerdings stärker politisch als theologisch bestimmt: Entsprechend ihrer Option für die Linksparteien kritisierten sie die faschistische Ideologie in ihren politischen Ursachen und Konsequenzen wie in ihren pseudochristlichen Ansprüchen. Diese Analysen gehören z. T. mit zum Besten, was überhaupt innerhalb der Kirche zur Kritik des Nationalsozialismus gesagt wurde. Diese Kritik blieb freilich fast völlig wirkungslos, weil es den Religiösen Sozialisten nicht gelang, eine glaubwürdige Alternative anzubieten. Die Parteien, auf die sie sich stützten, vor allem die KPD, vertraten weithin einen militanten Atheismus, der zudem mit den sehr lebendigen Erinnerungen an die Christenverfolgungen im Baltikum und in Rußland in den zwanziger Jahren belastet war. Mit solchen Verbündeten waren die Religiösen Sozialisten in kirchlichen Kreisen schlechterdings unglaubwürdig, so hellsichtig und zutreffend ihre Kritik am Nationalsozialismus immer sein mochte. b) Die Dialektische Theologie Soweit die Dialektische Theologie zum Nationalsozialismus Stellung genommen hat, wie etwa in einem Aufsatz von Richard Karwehl geschah dies ganz im Sinne des neuen theologischen Ansatzes als Konfrontation der nationalsozialistischen Ideologie mit dem Anspruch des Wortes Gottes. Karwehl kritisiert — zweifellos im Stil und Sinne Karl Barths — die „säkularisierte Eschatologie der völkischen Bewegung" von den dogmatischen Grundbegriffen der Schöpfung, der Versöhnung und der Erlö-sung her. In allen drei Punkten kommt er bei den Bemühungen, den Nationalsozialismus zu verstehen, zu einem entschiedenen Nein. „Wer von der echten Eschatologie kirchlicher Verkündigung, d. h. von der dem Menschen in seiner Beziehung zu Gott und zum Nächsten gesetzten Grenze nichts hören will, der muß diesen Ungehorsam mit der Preisgabe der Wirklichkeit bezahlen. Läßt sich der Nationalsozialismus dies nicht sagen, so muß über kurz oder lang erschreckend deutlich werden, daß die Bewegung ein Stoß ins Unwirkliche war und daß sie unser Volk nicht zum Heil, sondern ins Unheil führten. Diese kritische Situation müßte dem Nationalsozialismus heute durch die Kirche zum Bewußtsein gebracht werden."

Es war diese Position, von der aus Ende 1933 die Formierung der Bekennenden Kirche begann. Sie erwies sich theologisch als die einzige, die sich auch im Dritten Reich durchhalten ließ und die tatsächlich durchhielt. c) Der linke Flügel des kirchlichen Liberalismus

Es geht hier um die Position, wie sie etwa von Martin Rade und dem Kreis um die „Christliche Welt" vertreten wurde. Hier war man sich ebenfalls einig in der Ablehnung des Nationalsozialismus, weniger aus theologisch-kirchlichen, als vielmehr aus sittlich-moralischen Gründen. Diese Liberalen, die Erben des vielgescholtenen Kulturprotestantismus, hatten ein sehr ausgeprägtes Gefühl für Sittlichkeit und Anstand. Was die NSDAP propagierte und tat, war nach ihrer Überzeugung in hohem Maße unsittlich und unanständig. Es gab Dinge, die konnte ein Christ um keinen Preis dulden oder gar tun, auch nicht für das höchste Ziel; sie verbot schlicht die christliche Sittlichkeit. Aus diesem Kreis kamen 1933 die ersten Proteste gegen die antisemitischen Maßnahmen des Dritten Reiches. Manche aus diesem Kreis schlossen sich später, obwohl theologisch kaum eine Verbindung bestand, der Bekennenden Kirche an als der einzigen Stelle, an der Widerspruch noch artikulierbar war. d) Die radikalen Lutheraner Die Position eines sehr ernsthaften, sehr radikal gedachten Luthertums vertrat etwa Her-man Sasse im „Kirchlichen Jahrbuch" 1932.

Deshalb traf seine Kritik den Nationalsozialismus vor allem an zwei Punkten: in bezug auf die Behauptung von der Höherwertigkeit der germanischen Rasse und Moral, der Sasse mit aller Schärfe die lutherische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders sola gratia entgegensetzte, und hinsichtlich jenes „revolutionären Cäsarismus“, der den Staatsgedanken des Nationalsozialismus beherrsche. „Wirhaben... zu bekennen", schrieb Sasse im Blick auf Artikel des Parteiprogramms, „daß die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders sola gratia, sola fide das Ende der germanischen Moral ist wie das Ende aller menschlichen Moral: und wir erlauben uns die Behauptung, die wieder eine schwere Beleidigung der nordischen Rasse darstellt, daß die Juden Jesus Christus um dieser alle Moral umstürzenden Lehre willen zugleich im Namen des deutschen Volkes und der nordischen Rasse ans Kreuz geschlagen haben." 24)

Der andere Punkt aber, die Kritik der nationalsozialistischen Staatslehre, wandte sich gut lutherisch gegen den „revolutionären Cäsarismus", der den omnipotenten Staat anstrebe, den Staat, dessen Herrschaft sich auch über „die Seelen seiner Bürger" erstrecken solle

Dies waren die vier theologisch-kirchlichen Positionen, die eine kritische Stellung gegenüber dem Nationalsozialismus ermöglichten. Man wird hier freilich wirklich nur von „Ermöglichung" sprechen können: denn eine Garantie für die richtige Entscheidung bot keine dieser Positionen. Es sind aus allen Lagern früher oder später auch Anhänger des Nationalsozialismus gekommen; wenn auch weniger und sicherlich nicht besonders extreme. Diese Stimmen bildeten theologisch und politisch eine Minderheit in der Kirche. Die Meinung der Mehrheit vertrat eher ein Mann wie Künneth, der 1931 in einem vielbeachteten Vortrag das „Ja" und das „Nein" der evangelischen Kirche zum Nationalsozialismus deutlich machte „Ja" sagte die Kirche danach zur völkischen Idee, zur sozialen Neugestaltung, zum Willen zum Christentum. „Nein dagegen sagte sie zum Rassismus, zur natio-nalsozialistischen Kulturpolitik und zur politischen Praxis der Bewegung. Mit dieser Stellungnahme dürfte wohl die Mehrheit der evangelischen Pfarrer einverstanden gewesen sein.

Für die innerkirchlichen Auseinandersetzungen in der katholischen Kirche waren, wenn ich recht sehe, weniger theologische als vielmehr politische Argumente bestimmend.

Theologisch-kirchlich war dieses Verhältnis klar: die Pastoralanweisungen ließen daran keinen Zweifel. Und die Autorität der Bischöfe war groß genug, um jedenfalls innerhalb des Klerus eine verhältnismäßig große Überein-stimmung zu erreichen. Die Zentrumspartei zeigt, daß dies mit gewissen Einschränkungen auch für die kirchentreuen Katholiken galt.

Der März 1933 machte dann freilich auch die Problematik dieser autoritativen Entscheidung klar. Nachdem die Bischöfe ihre Vorbehalte zurückgenommen hatten, begann auch innerhalb des Katholizismus auf breiter Front ein Umschwenken zum Nationalsozialismus, der teilweise den Charakter eines Erdrutsches an-nahm.

Trotz der verhältnismäßig einheitlichen Haltung der katholischen Kirche vor 1933 lassen sich innerhalb des kirchlichen und politischen Katholizismus doch neben der großen ablehnenden Mehrheit bestimmte Richtungen deutlich unterscheiden.

Da war zunächst eine Gruppe von schlechterdings kompromißlosen Gegnern Hitlers und der Partei. Zu ihnen gehören, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, Katholiken wie der Kapuzinerpater Ingbert Naab und der Journalist Dr. Gerlich, die seit 1930 in der Zeitschrift «Der gerade Weg" mit einer Leidenschaft gegen den Nationalsozialismus kämpften, der im bürgerlichen Raum sonst kaum Vergleichbares an die Seite treten konnte. Ausgehend von der unbedingten Gültigkeit des Naturrechts, sahen sie in Hitler das Prinzip des Bösen schlechthin.

Dr. Gerlich erklärte im „Geraden Weg" vom BL Juli 1932 zur Reichstagswahl unter der Überschrift „Der Nationalsozialismus ist eine Pest!": „Nationalsozialismus ... bedeutet: Feindschaft mit den benachbarten Nationen, Gewaltherrschaft im Innern, Bürgerkrieg, Völ-Kerkrieg.

Nationalsozialismus heißt: Lüge, Haß, Brudermord und grenzenlose Not. Adolf Hitler verkündigt das Recht der Lüge ... Ihr, ie Ihr diesem Betrüge eines um die Gewaltherrschaft Besessenen verfallen seid, erwacht! Es geht um Deutschlands, um Euer, um Eurer Kinder Schicksal ... Wir, die hier zu Euch sprechen, wollen nicht an die Macht, wir dienen keiner Partei, wir sind niemandens Sprachrohr als unseres Gewissens . .. Und wir sagen Euch: Es ist eine Gewissenspflicht jedes Katholiken, jene Parteien zu wählen, die die unverlöschlichen Rechte seiner Kirche zu verteidigen entschlossen sind: Zentrum oder Bayrische Volkspartei."

Es ist begreiflich, daß diese ganze Gruppe geradezu Verzweiflung befiel, als ausgerechnet das Zentrum im Juli und November 1932 in Koalitionsverhandlungen mit der NSDAP eintrat

Die Vertreter eines Kurses der Verständigung mit der Hitler-Partei stellten eine andere Richtung innerhalb des Katholizismus dar. Einer ihrer prominentesten Vertreter war der Führer der Zentrumsfraktion im Reichstag, Prälat Kaas. Es ging hier im Prinzip ähnlich wie auf evangelischer Seite um die Frage der richtigen Einschätzung der weltanschaulichen Aspekte des Nationalsozialismus. Dazu kam eine gewisse Affinität des politischen Katholizismus zu manchen Thesen der NSDAP, so etwa in der gemeinsamen Front gegen den Bolschewismus. Hauptsächlich von dieser Richtung wurden die Vorbehalte der Bischöfe gegen den Nationalsozialismus auf bestimmte kulturpolitische Forderungen reduziert — Forderungen, die zuzusagen Hitler 1933 nicht die geringsten Bedenken trug.

Und endlich gab es natürlich auch unter den deutschen Katholiken dezidierte Nationalsozialisten. Vereinzelte Ordensgeistliche, unter ihnen der Benediktinerabt Alban Schachleiter, und Weltpriester, wie der Augsburger Pfarrer Dr. Haeuser, fühlten sich als „Wegweiser . .. für ein deutsches christliches Erstarken" und vertraten einen nationalsozialistischen Katholizismus

Da alle derartigen Äußerungen von den Bischöfen sofort gerügt wurden, ist es schwer zu sagen, wieviele Anhänger der Nationalsozialismus unter dem katholischen Klerus in Deutschland wirklich besaß. Es waren vermut-lich mehr, als öffentlich hervortraten, aber sicher sehr viel weniger als auf der evangelischen Seite

Insgesamt blieb die katholisch-kirchliche Front gegen den Nationalsozialismus vor 1933 be-merkenswert geschlossen, wobei sich freilich das Problem stellte, wie sich dieses Verhältnis unter einem Reichskanzler Hitler und seiner nationalsozialistischen Reichsregierung gestalten sollte.

II. Die Kirchen im Zeichen der Machtergreifung Hitlers (1933— 1934)

Mit der Machtergreifung Hitlers begann für die Kirchen in Deutschland ein Zeitabschnitt, der in der neueren Kirchengeschichte ohne Vergleich ist. Gewohnt, als gesellschaftliche Größen politisch geachtet und respektiert zu werden, sahen sie sich gegen ihren Willen plötzlich in heftige Auseinandersetzungen mit dem herrschenden System verwickelt und dann mehr und mehr in die Rolle einer verfemten und verfolgten Minderheit gedrängt. Diese Erfahrungen mußten vor allem den traditionell staatsloyalen deutschen Protestantismus treffen, und so haben in der Tat die Jahre des Dritten Reiches die protestantische Theologie und Kirche nachhaltiger verändert als irgendein anderer Zeitabschnitt in der neueren Geschichte. Für den deutschen Katholizismus, der zwar auch national war, sich aber doch immer auch als Glied der römischen Kirche verstand, gilt das nicht in gleichem Maße. Trotzdem haben auch hier die Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Regime tiefe Spuren hinterlassen. 1. Die Gewinnung der Kirchen Jubel und Fackelzüge am Abend des 30. Januar 1933 konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine Mehrheit des deutschen Volkes dem neuen Reichskanzler zunächst zurückhaltend, wenn nicht ablehnend gegenüberstand. Zu dieser Mehrheit gehörten, aufs Ganze gesehen, auch die beiden Kirchen.

Das galt, wie wir gesehen haben, besonders für die katholische Kirche. Aber auch auf evangelischer Seite überwog zunächst die Zurückhaltung. Noch im November 1932 konnte im Kirchenausschuß, dem repräsentativen Organ des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, unwidersprochen erklärt werden, der Bewe-gung scheine doch „eine für kirchliche Erkenntnis und kirchliches Wesen grundstürzende Verkehrung des Urteils über Art und Bedeutung des Christentums und christlichen Lebens" zugrunde zu liegen

An dieser distanzierten Haltung der Führer beider Kirchen änderte sich auch durch den 30. Januar zunächst nichts. Das Wort der Fuldaer Bischofskonferenz zu den Wahlen am 5. März empfahl nach wie vor die Zentrumspartei und warnte vor „Agitatoren und Parteien, die des Vertrauens des katholischen Volkes nicht würdig" seien

Auch die Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses erinnerte alle Kirchenmitglieder „ohne Unterschied der Partei'an die Grundlinien des Evangeliums: „ 1. Je mehr des Hasses, desto mehr Liebe ... 2. Je mehr der Lüge, desto strengere Wahrhaftigkeit ..."

Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß dies nicht die kirchlichen Verlautbarungen waren, die Hitler sich gewünscht hatte. Möglicherweise hat ihn sogar die Unnachgiebigkeit der katholischen Bischöfe um die ersehnte absolute Mehrheit gebracht; denn die Zentrumspartei erwies sich, mit der Unterstützung der Kirche im Rücken, als bemerkenswert stabil. Sie konnte, trotz der Wahlanstrengungen der NSDAP, relativ sogar Stimmen dazugewinnen. Um so mehr überrascht es, die Kirchen kaum vier Wochen später, Ende März/Anfang April, in einem sehr viel positiveren Verhältnis zum neuen Staat zu finden. Was hatte diesen Umschwung verursacht? Neben der allgemeinen Veränderung der Stimmung waren es vor allem drei Gründe, die hier für beide Kirchen ziemlich übereinstimmend zusammenkamen. Zunächst wirkte sich die Tatsache aus, daß Hitler nun als Reichs-kanzler jenen Gehorsam beanspruchen durfte, dessen die Kirchen sich jeder Obrigkeit gegenüber schuldig glaubten. Das galt natürlich vor allem für die evangelische Kirche, war aber auch auf die Überlegungen des katholischen Episkopats nicht ohne Einfluß Daneben wußte Hitler sehr geschickt die Furcht vor einem kommunistischen Umsturz für sich zu nutzen. Beide Kirchen übernahmen kritiklos die von Hitler vorgespiegelte Alternative zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus. Vor allem nach dem Brand des Reichstags am 27. Februar gewann dieses Propagandaargument zunehmend an Gewicht und deckte die ersten aufsehenerregenden Terrormaßnahmen des Regimes gegenüber dem Bürgertum und den Kirchen ab. Endlich — und das gab schließlich den Ausschlag — gab Hitler hinsichtlich der Bedeutung und Stellung des Christentums im neuen Staat weitreichende Zusicherungen. Am bekanntesten wurden die folgenden Sätze aus der Regierungserklärung vom 23. März, die für die Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen beider Kirchen 1933/34 eine wichtige Rolle gespielt haben: „Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums. Sie wird die zwischen ihnen und den Ländern abgeschlossenen Verträge respektieren; ihre Rechte sollen nicht angetastet werden ... Die nationale Regierung wird in Schule und Erziehung den christlichen Konfessionen den ihnen zukom-

menden Einfluß einräumen und sicherstellen. Ihre Sorge gilt dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat ... Ebenso legt die Reichsregierung, die im Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Lebens unseres Volkes sieht, den größten Wert darauf, die freundschaftlichen Beziehungen zum Heiligen Stuhl weiter zu pflegen und auszugestalten.“

Nachdem sich in den Märztagen die zustimmenden, ja enthusiastischen Äußerungen zum neuen Staat auf evangelischer Seite gehäuft hatten, gab am 28. März auch der katholische Episkopat seinen Widerstand auf. In einer Kundgebung nahmen die Bischöfe, unter Hinweis auf Hitlers Zusicherungen, ihre Vorbehalte gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung zurück. Damit war der Damm gebrochen. In steigendem Maße wuchs nun auch in gut katholischen Kreisen die Begeisterung für Hitler und den Nationalsozialismus. 2. Der Verrat an den Juden Schon den Zeitgenossen war klar, und Hitler selbst ließ nicht den geringsten Zweifel daran, daß der rassische Antisemitismus ein Kernstück der nationalsozialistischen Ideologie war. So begann praktisch mit dem 30. Januar 1933 die Unterdrückung und Verfolgung der deutschen Juden. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Verfolgungswelle schon Ende März, als die Partei öffentlich zu einem allgemeinen Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April aufrief. Diese Ankündigung und die Durchführung des Boykotts stießen gerade in kirchlichen Kreisen auf Abscheu und Empörung. Auf evangelischer Seite beschworen der Münchener Bankdirektor Freiherr v. Pech-mann, ein prominentes Mitglied des Kirchen-ausschusses, und der württembergische Kirchenpräsident, Theophil Wurm, den Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, D. Hermann Kapier, im Namen der Kirche öffentlich gegen die nationalsozialistische Judenhetze zu protestieren. Das Württembergische Kirchenvolk, so erklärte Wurm, sei mit der Boykottbewegung in keiner Weise einverstanden, die Kirche müsse reden. Er sei überzeugt, daß jedes Wort des Präsidenten in dieser Sache von den übrigen Landeskirchen mit Dank begrüßt werden würde Zur gleichen Zeit kamen auf den Schreibtisch Kaplers eine Fülle von ähnlichen Zuschriften, in denen Bekannte und Unbekannte dringend um ein Wort der Kirche gegen die Judenhetze baten.

Ganz das gleiche Bild finden wir auf katholischer Seite. Auch hier wurde der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, der Breslauer Erzbischof Kardinal Bertram, bestürmt, zugunsten der Juden zu intervenieren. Und auch hier versuchten viele aufs höchste beunruhigte Christen, die Kirchenführer zu irgendeiner öffentlichen Aktion zu veranlassen Aber beide Kirchen schwiegen. Weder der katholische Episkopat noch der Evangelische Kirchenausschuß fanden sich bereit, ihre Stimme für die verfolgten Juden zu erheben. Dabei überwogen auf katholischer Seite Gründe der Furcht und der politischen Opportunität; auf evangelischer Seite die Überzeugung, daß der Staat zu solchen Maßnahmen berechtigt, ja verpflichtet sei. Später sollte sich dieses Schweigen auch gegenüber anderen Rechtsbrüchen und Terrorakten beklemmend fortsetzen.

Daß die beiden Kirchen allein durch dieses Schweigen an den Untaten des Dritten Reiches mitschuldig geworden sind, sollte außer Zweifel stehen. Es offenbarte sich in der innerkirchlichen Diskussion um diese Frage die entscheidende Schwäche beider Kirchen gegenüber dem Nationalsozialismus: beide waren in diesen ersten Jahren sehr viel mehr um ihren Bestand als um ihren Auftrag besorgt und deshalb den institutioneilen Pressionen Hitlers fast wehrlos ausgeliefert. 3. Hitlers Kirchenpolitik Nachdem Hitler die Kirchen mehr oder weniger für sich gewonnen und nachdem ihr Schweigen zu den Judenverfolgungen sie bereits in eine gewisse Komplicenschaft zum neuen Staat gebracht hatte, wurde sehr bald deutlich, wie die weitere politische Behandlung der Kirchen gedacht war. Zur gleichen Zeit, nämlich Anfang April, wurden in der Öffentlichkeit die beiden entscheidenden Stichworte der Zukunft bekannt: das Reichs-konkordat und die Reichskirche. Ob dieses zeitliche Zusammenfallen nun Zufall war oder Absicht — sicher ist, daß von diesem Zeitpunkt an die Pläne mit der katholischen und der evangelischen Kirche parallel vorangetrieben wurden Tatsächlich gelang der vorläufige Abschluß beider Entwicklungen am gleichen Tag: am 14. Juli wurden in derselben Kabinettssitzung das Reichskonkordat und die* Verfassung der DeutschenEvangelischen Kirche von der Reichsregierung gebilligt. Hinsichtlich der politischen Behandlung des Katholizismus und des Protestantismus sah sich Hitler allerdings vor ganz verschiedenen Problemen. Dabei schien die Klärung der Beziehungen zum Katholizismus zunächst die weitaus schwierigere Aufgabe. Selbstverständlich wußte Hitler, daß mit der Erklärung des Episkopats vom 28. März nicht alle Vorbehalte plötzlich aufgegeben waren. Was ihn aber noch mehr beunruhigte, war zum einen die wechselseitige Absicherung von katholischer Kirche und katholischer Partei, die sich bei den Märzwahlen noch als so wirksam erwiesen hatte, zum anderen die internationale Orientierung des Katholizismus, die eine vollständige Gleichschaltung mit dem Dritten Reich von vornherein als aussichtslos erscheinen lassen mußte.

Angesichts dieser Schwierigkeiten erwies sich der Gedanke eines Reichskonkordats, den wohl Papen ins Spiel gebracht hatte, als eine geniale Lösung. Hitlers Absichten hinsichtlich dieses vielumstrittenen Vertrages waren von Anfang an deutlich: ihm ging es vor allem um die Ausschaltung des politischen Katholizismus, den er als entscheidendes Hindernis auf dem Weg zum Einparteienstaat empfand. Das Zentrum sollte aufgelöst, die Kirche ganz auf den „religiösen" Bereich beschränkt werden, wo sie nach Hitlers Überzeugung politisch nicht mehr stören konnte. Das war sein Ziel, und dieses Ziel erreichte er mit dem Konkordat weitgehend.

Schon am 7. April erklärte Papen vertraulich, „er beabsichtige als eine der Hauptgegenforderungen die Aufnahme einer auch im italienischen Konkordat enthaltenen Bestimmung zu verlangen, wonach den Geistlichen verboten wird, sich bei irgendeiner politischen Partei einzuschreiben und zu betätigen" Am Begriff „Hauptgegenforderung" wird deutlich, was von Seiten des Dritten Reiches geplant war: die Gewährung langerstrebter „religiöser" Positionen gegen die Aufgabe der unmittelbaren politischen Einflußnahme der katholischen Kirche. Tatsächlich ist der spätere Artikel 32, der diese Forderung erfüllte, während der ganzen Verhandlungen einer der entscheidenden Punkte gewesen. Als Hitler am 14. Juli vor dem Reichskabinett zum Konkordatsentwurf Stellung nahm, war es cha39 rakteristischerweise vor allem diese Frage, die er als Erfolg verbuchte: w.. daß mit dem Konkordat sich die Kirche aus dem Vereins-und Parteileben herauszöge, z. B. auch die christlichen Gewerkschaften fallen ließe .. . Auch die Auflösung des Zentrums wäre erst mit dem Abschluß des Konkordats als endgültig zu bezeichnen ..."

Neben diesem innenpolitischen Ziel verhalf der Vertrag mit dem Vatikan dem Reichskanzler Hitler zum ersten großen außenpolitischen Erfolg seiner Regierung. Auch diesen Aspekt wußte er sehr wohl zu würdigen. Er konnte deshalb — von seinem Standpunkt aus gewiß mit Recht — erklären, die Vereinbarung mit der Kurie sei „ein so unbeschreiblicher Erfolg, daß demgegenüber alle kritischen Bedenken zurücktreten müßten"

Ganz anders lagen die Dinge beim deutschen Protestantismus. Die Kirche selbst war organisatorisch in 28 Landeskirchen zersplittert und ohne nennenswerte eigene politische Vertretung; der protestantische Volksteil war überwiegend national und zeigte, wie die Wahlresultate verrieten, eine deutlich stärkere Tendenz zur „Bewegung" als katholische Angesichts dieser Gebiete. Verhältnisse lag der Gedanke nahe, die evangelische Kirche, ähnlich wie andere Institutionen und Vereinigungen, von innen her zu erobern und sie dann politisch „gleichzuschalten".

Ein Anfang dazu wurde im Sommer 1932 mit der Gründung der „Glaubensbewegung Deutsche Christen" (GDC) gemacht, die als eigene kirchliche Gruppe mit dem Zusatz „(Nationalsozialisten)" bei den Kirchenwahlen in Preußen im November 1932 beachtliche Erfolge errang.

Deutlich erkennbar aber wurde das Programm der nationalsozialistischen Führung erst auf der 1. Reichstagung der GDC vom 3. bis 5, April in Berlin. Hier erklärte der kurmärkische Gauleiter Kube, der als Vorsitzender der Landtagsfraktion der NSDAP im preußischen Landtag die GDC mitbegründet hatte, „daß die preußische Landtagsfraktion der NSDAP rücksichtslos mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln des Etatrechts und der durch den Kirchenvertrag uns gegebenen Personalpolitik der Umstellung in unserem Volke auch auf dem Gebiet der Kirchenpolitik Rechnung tragen" werde Klarer ließ sich das politische Ziel der neuen Machhaber hinsichtlich der evangelischen Kirche schwerlich ausdrücken.

Die Führer der GDC, die auf dieser Reichstagung ihr Programm entfalteten, bestätigten diese Linie voll und ganz. Sie forderten eine einheitliche Reichskirche, das Führerprinzip, die Entlassung von Pfarrern „artfremden Blutes" und die vorbehaltlose politische und soziale Mitarbeit am neuen Reich. „Wir fordern", so hieß es zusammenfassend in einer These, „die sinngemäße Gleichschaltung der empirischen Kirche mit dem Volksstaat der nationalen Revolution ..."

Mit der Aufnahme der Konkordatsverhandlungen und den Erklärungen auf der Reichstagung der GDC lagen die kirchenpolitischen Pläne Hitlers auf dem Tisch. Dabei ist es gleichgültig, ob er diese Pläne — was wenig wahrscheinlich ist — selbst entwickelt oder ob er sie von anderen übernommen hat. Wichtig ist allein, daß Hitler diese Pläne spätestens seit Anfang April kannte, daß er sie deckte und in entscheidenden Augenblicken — etwa vor dem Reichskabinett am 14. Juli oder in seiner Rundfunkansprache zu den evangelischen Kirchenwahlen am 22. Juli — auch persönlich und unmittelbar vertrat.

Hitlers Ziele waren dabei selbstverständlich ausschließlich politischer Natur. Es ging ihm bei seiner Kirchenpolitik nur darum, alles, was sich möglicherweise als hemmender oder störender Faktor auf dem Weg zum nationalsozialistischen Einheitsstaat erweisen konnte, so weit wie möglich auszuschalten. Das ist ihm mit dem Konkordat zunächst weit besser gelungen als mit dem evangelischen Kirchenvertrag, der sich sehr bald als eine Quelle ständiger Unruhe erweisen sollte.

An eine Liquidierung von Christentum und Kirchen in Deutschland hat Hitler anfänglich zweifellos nicht gedacht. Er war der — nicht ganz unbegründeten — Überzeugung, auf dem eingeschlagenen Wege müßten sich die Probleme lösen lassen. Verschiedene seiner Unterführer, etwa Rosenberg, waren in diesem Punkt von Anfang an anderer Meinung. Das schuf erhebliche Probleme, änderte aber nichts an der Grundrichtung der Hitlerschen Kirchenpolitik, die zunächst auf Anpassung, Gewinnung und Gleichschaltung (notfalls auch mit Gewalt), nicht aber auf Vernichtung der Kirchen ausgerichtet war. 4. Abschluß und Bedeutung des Reichskonkordats

Lassen sich die Motive Hitlers beim Abschluß des Reichskonkordats relativ leicht ermitteln, so liegen die Dinge bei seinem Vertragspartner, der Kurie, und beim deutschen Episkopat sehr viel schwieriger. Was veranlaßte Rom, einem so problematischen Vertragswerk zuzustimmen?

Und warum warnte der deutsche Episkopat nicht, sondern drängte sogar auf schnellen Abschluß?

In einem Gespräch mit dem britischen Botschafter begründete Kardinalstaatssekretär Pacelli, der die Konkordatsverhandlungen geführt hatte, Mitte August die Entscheidung der Kurie für den Vertrag damit, daß die deutsche Regierung ihm nur die Wahl zwischen einem Abkommen auf der Basis sehr weitreichender Zugeständnisse oder einer möglichen Ausschaltung der Katholischen Kirche im Reich gelassen habe

Aber das war doch nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hatte Pacelli, wenn man Brüning glauben darf, schon 1931 auf die Bildung einer Rechtsregierung in Deutschland gedrängt unter der Bedingung, „daß sofort ein Konkordat abzuschließen sei“ Hitler brauchte hier nur einzuhaken.

Er tat es mit einem Vertrag, den die Kurie so von keinem anderen deutschen Staat je bekommen hätte und der politisch ein höchst verlockendes Angebot darstellte. Auf der anderen Seite ließ er durch seine Taktik pausenloser Zermürbung und mehr oder weniger offenen Terrors gegenüber dem Katholizismus im Reich seinen kirchlichen Verhandlungspartnern praktisch kaum einen Spielraum. In dieser Situation entschied sich Pacelli für die Unterschrift. Es fiel ihm dies wohl um so leichter, als zu diesem Zeitpunkt das Zentrum bereits aufgelöst und die katholischen Verbände ohnehin kaum mehr zu retten waren, und geschah möglicherweise mit der Überlegung, was immer aus dem Dritten Reich werden mochte, jedenfalls für die katholische Kirche optimale Bedingungen erreicht zu haben. Pacelli sah im Abschluß des Konkordats zweifellos einen großen Erfolg für die Kirche. Er beurteilte es noch ganz im kurialen Stil, als er am 26. Juli im „Osservatore Romano" darauf hinwies, daß der Vertrag „sowohl im ganzen wie auch in seinen einzelnen Teilen die Tradition der Kirche, auch die jüngste, in wunderbarer Weise“ fortführe und die katholische Kirche „im vollen Besitz der Freiheiten" anerkenne, „auf die sie ihrem Wesen nach und zur Erfüllung ihrer göttlichen Sendung ein Recht" habe

Auf diese kuriale Interpretation des Vertrages erschien von einem maßgeblichen Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation umgehend eine scharfe Erwiderung, die die Auslegung Pacellis in einer Reihe von Punkten zurückwies und in der entscheidenden Frage — dem Verbot politischer Tätigkeit der Geistlichen — eine unverhüllte Drohung enthielt: Es liege „im ureigensten Interesse der römisch-katholischen Kirche, wenn gerade auf diesem Gebiete die Geistlichen auf das strengste den Anschein einer Umgehung dieses Verbots" vermieden

In diesen beiden Stellungnahmen kamen die ganz verschiedenen Absichten und Wünsche, die die beiden Vertragspartner zunächst mit dem Konkordat verbanden, sehr deutlich zum Ausdruck.

Die Kurie war freilich in einem verhängnisvollen Irrtum befangen — einem Irrtum, den sie mit vielen Mitgliedern des deutschen Episkopats teilte —, wenn sie glaubte, mit dem Abschluß des Reichskonkordats ihre Position entscheidend verbessert zu haben. Vielmehr verschlechterte sich das Klima zwischen dem Regime und der Kirche nach dem anfänglichen allgemeinen Jubel rapide und war schon Anfang 1934 auf einem Tiefpunkt angelangt. Am 7. Februar 1934 besuchte der Kölner Erzbischof Kardinal Schulte Hitler und überreichte ihm eine Denkschrift, in der die Übergriffe der NSDAP gegen die Kirche in der Erzdiözese Köln zusammengestellt waren. Einleitend hieß es darin, daß die „regierende Bewegung" immer offenkundiger „gegenüber Kirche und Christentum eine grundsätzlich feindliche Haltung" einnehme und sich damit in Widerspruch setze zu den feierlichen Erklärungen Hitlers vom 23. März 1933 sowie zum „Geist und Wortlaut des Konkordates" Vermittelt durch Papen, lastete Hitler unmittelbar darauf die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen allein der katholischen Kirche an, die sich nicht loyal auf den Boden des Konkordats gestellt habe-, denn, so lautete die charakteristische Begründung, »der Abschluß des Konkordats sei für den Kanzler nur möglich gewesen durch die Gegengabe der Kirche, sich völlig und vorbehaltslos aus der Sphäre der Politik zurückziehen zu wollen"

Hier wird die Lage deutlich, in die der Abschluß des Konkordats die katholische Kirche gebracht hatte und die bis zum Ende des Dritten Reiches im wesentlichen unverändert blieb. Die Kirche hatte sich in diesem Vertrag verpflichtet, sich aller politischen Tätigkeit und Einflußnahme zu enthalten, und das Dritte Reich zögerte nicht, die Erfüllung dieser Bestimmung mit zynischer Konsequenz zu überwachen. Eine extensive Auslegung des Begriffs „politisch" ermöglichte es der nationalsozialistischen Führung, praktisch jede mißliebige Äußerung als „konkordatswidrig" anzuprangern und die katholische Kirche ständig auf die Einhaltung des Vertrages zu verklagen. Praktisch hatte sich die Kirche damit selbst die Hände gebunden. Das galt vor allem für den deutschen Episkopat, der sich in erster Linie für die Erfüllung des Konkordats verantwortlich wußte. In dieser Hinsicht gingen Hitlers Pläne vollkommen in Erfüllung. Er hätte die katholische Kirche nicht besser binden können, als sie es selbst durch ihre Unterschrift unter das Konkordat getan hatte.

Auf der anderen Seite enthielt der Vertrag aber auch Zusagen des Staates, die vor allem den heftigen Kirchengegnern in der Partei mit fortschreitender Zeit immer lästiger wurden. Vor allem Martin Bormann unternahm seit Frühjahr 1938 immer wieder Vorstöße, die Rechtsstellung beider Kirchen im Reich radikal zu verändern und beide auf den Status privater Vereine zu bringen. Die Tatsache, daß Hitler dieses Vorgehen in den sogenannten „konkordatsfreien" Räumen — also in Österreich und in allen später besetzten und eingegliederten Gebieten — billigte, im Altreich dagegen unter ausdrücklichem Hinweis auf das Konkordat strikt verbot, macht deutlich, welche Bedeutung diesem Vertrag für die Sicherung des Bestandes der katholischen Kirche im Altreich in den Jahren nach 1938 zukam. Diese Schutzwirkung des Konkordats wirkte sich auch auf die evangelische Kirche aus, deren Rechtsstatus ebenfalls bis zum Kriegsende unverändert blieb.

Politisch gesehen wird man dem Reichskonkordat also zubilligen müssen, daß es für die Erhaltung des kirchlichen Bestandes im Dritten Reich eine wichtige und positive Funktion besessen hat. Theologisch dagegen war der Pakt der Kirche mit Hitler — das wird durch die Fülle apologetischer Literatur eher unterstrichen als widerlegt — eine der großen Fehlentscheidungen des Jahrhunderts. Die Kirche glaubte, einer außerordentlich schwierigen Situation, die eine geistliche Entscheidung erfordert hätte, mit einem politischen Vertrag begegnen zu können. Das war ein Irrtum, der verständlich war, der aber trotzdem ein Irrtum blieb. 5. Die evangelische Reichskirche Die erste Reichstagung der Deutschen Christen (s. o. S. 17) hatte endlich auch die evangelischen Landeskirchen alarmiert. Kapier, als Präsident des Kirchenausschusses (DEKA) der berufene Sprecher des deutschen Protestantismus, legte unverzüglich beim preußischen Kultusminister und bei Hitler selbst „nachdrücklichste Verwahrung“ gegen die Rede Kubes ein. Zugleich begriff er, daß angesichts der deutsch-christlichen Losungen und ihres gewaltigen Widerhalls ein schnelles Handeln der Kirchenleitungen notwendig war.

Die Entwicklung der nächsten Monate zeigt ein ähnliches Bild wie auf katholischer Seite. Die Dynamik der politischen Veränderungen erfaßte mit ständig zunehmender Geschwindigkeit und Gewalt auch die Zurückhaltenden, Zögernden, Zweifelnden; sie ließ ihnen keine Zeit mehr zum Nachdenken und brachte die Kirche schließlich zur Kapitulation und zur einmütigen Unterzeichnung einer Verfassung, die durch Rechtsbrüche und Gewalt zustande gekommen war.

Zunächst sah es noch so aus, als sollte der DEKA die Initiative behalten. Kapier berief am 23. April ein Drei-Männer-Kollegium, das „eine Reform der Verfassung des deutschen Protestantismus" mit dem Ziel einer „Bündischen Deutschen Evangelischen Kirche" in Angriff nehmen sollte. Zwei Tage später ernannte Hitler den Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zu seinem Vertrauensmann und Bevollmächtigten für die Fragen der evangelischen Kirche mit dem besonderen Auftrag, alle Arbeiten zur Schaffung „einer evangelischen deutschen Reichskirche zu fördern" Dieser Vertrauensmann des Reichskanzlers erwies sich sehr bald als Schlüsselfigur in der ganzen Kirchenfrage. Er arbeitete nicht nur selbstverständlich an der neuen Reichskirchenverfassung mit, sondern strebte auch selbst das neuzuschaffende Amt des ersten evangelischen Reichsbischofs an. Dabei wurde er von den Deutschen Christen nachhaltig unterstützt. In einer dramatischen Kampfabstimmung Ende Mai 1933 entschieden sich die Vertreter der Landeskirchen jedoch gegen Müller und für Friedrich von Bodelschwingh in der erklärten Absicht, damit die Freiheit und Unabhängigkeit der evangelischen Kirche im neuen Staat sichtbar zu dokumentieren.

Vier Wochen später war der Widerstand der Landeskirchen gebrochen. Pausenlose Angriffe der Deutschen Christen und der Partei und wachsende Nachgiebigkeit in den eigenen Reihen führten dazu, daß der Kirchenausschuß Ende Juni Bodelschwingh fallen ließ. Zugleich zeigte nun auch der Staat, daß er entschlossen war, die Dinge notfalls selbst in die Hand zu nehmen. Am 24. Juni setzte der preußische Kultusminister Rust einen Staatskommissar für sämtliche evangelischen Landeskirchen Preußens ein. Das Ziel dieser Aktion wurde klar, als Ludwig Müller vier Tage später mit Hilfe von SA-Einheiten das Gebäude des Kirchenbundes besetzte und selbst die Leitung der evangelischen Kirche übernahm. Der von Müller alsbald berufene neue Verfassungsausschuß sah sich — ähnlich wie zur gleichen Zeit Pacelli in Rom — vor die Alternative gestellt, entweder möglichst schnell eine neue Verfassung zu akzeptieren oder für unbestimmte Zeit die Leitung der Kirche in den Händen radikaler deutsch-christlicher Staats-kommissare zu belassen.

Schon am 10. Juli war unter diesen Bedingungen die neue Verfassung fertiggestellt; am 11. Juli wurde sie von den Vertretern der Landeskirchen einstimmig angenommen. Die daraufhin für den 23. Juli angesetzten Kirchenwahlen brachten den Deutschen Christen, die vom gesamten Propagandaapparat der Partei und Hitler persönlich unterstützt wurden, fast überall überwältigende Mehrheiten. Damit war die Machtergreifung in der evangelischen Kirche vollzogen. Alles weitere schien nur noch Routine.

Wie diese Routine aussah, schilderte ein schwedischer Bericht vom 1. August 1933: „Für schwedische Verhältnisse wäre es wohl ein unvorstellbarer Gedanke, daß an 200 schwedische Geistliche in braunen Uniformen, Reitstiefeln, Leib-und Achselriemen, mit Hakenkreuzen, Rangabzeichen und Ehrenzeichen aller Art sich in der Ersten Kammer des Landes versammelten. Allerdings befinden sich im Saal noch etwa 100 Männer im korrekten bürgerlichen Anzug . . . Unter diesen tritt ein Mann mittleren Alters hervor und bittet in schüchternen Worten um Berücksichtigung der Ansprüche der Zivilkleidung tragenden Minderheit. Die Majorität beginnt darauf zu protestieren, teilweise mit Hohngelächter! ... Der schwarzgekleidete Mann war Dr. Jacobi von der Gedächtniskirche und Führer der jungreformatorischen Gruppe. Die Braunhemden waren . Deutsche Christen'. Die Versammlung war eine Synode der evangelischen Kirche in Brandenburg und der Zweck der Versammlung die Übergabe der Befugnisse dieser so-genannten . Provinzialsynode'an den zu schaffenden Kirchenrat für Brandenburg." In diesem Stil fand nun vielfach die „Wachablösung" in der evangelischen Kirche statt. Die Deutschen Christen bemühten sich, so gut es irgend ging, das Auftreten und die Methoden sie der Partei zu kopieren, und taten dies mit beträchtlichem Erfolg.

Am 27. September trat in Wittenberg die Nationalsynode zusammen und wählte erwartungsgemäß Ludwig Müller einmütig zum Reichsbischof. Hitlers Plan schien damit endgültig geglückt. Die neue evangelische Reichskirche versprach für die Zukunft keinerlei Schwierigkeiten mehr. 6. Die Entstehung der Bekennenden Kirche Mitten in der hektischen kirchenpolitischen Aktivität des Sommers 1933 erschien eine Schrift von Karl Barth, die weithin Aufsehen erregte und wie ein erstes Zeichen zur Besinnung wirkte: „Theologische Existenz heute!“ Gleich zu Anfang erklärte Barth hier, seinen Beitrag zu den aktuellen kirchlichen Sorgen und Problemen sehe er darin, „nach wie vor und als wäre nichts geschehen — vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahme — Theologie und nur Theologie zu treiben" Die Schrift enthielt eine schonungslose Kritik der ganzen politisch inspirierten Kirchenreform, nicht bloß der „Deutschen Christen", sondern auch ihrer kirchli-dien Gegenspieler, der " Jungreformatorischen Bewegung".

Nicht um den Widerstand gegen die „Deutschen Christen" gehe es, sondern um die Herrschaft des Wortes Gottes in der Kirche; und nicht kirchenpolitische Fronten seien deshalb notwendig, sondern das Festhalten an der „theologischen Existenz“: „Das, was jetzt unter keinen Umständen geschehen darf, ist dies, daß wir im Eifer für irgend etwas, was wir für eine gute Sache halten, unsere theologische Existenz verlieren. Unsere theologische Existenz ist unsere Existenz in der Kirche, und zwar als berufene Prediger und Lehrer der Kirche."

Ein Umschwung in dieser von Karl Barth bezeichneten Richtung begann sich anzudeuten, als die „Jungreformatorische Bewegung" nach dem Wahlsieg der „Deutschen Christen" beschloß, sich aus der zurückzuziehen. Der Dahiemer Pfarrer Martin Niemöller begründete und verteidigte diesen Rückzug in 16 Thesen, die unmittelbar an Karl Barths Überlegungen anknüpften. In der Kirche, die nun von den Deutschen Christen gestaltet werde, so meinte Niemöller, müsse Gemeinde Jesu Christi werden, die auch bereit sei zu bekennen, wenn „wirklich ein Bekenntnis von ihr gefordert" werde. Das aber sei keine kirchenpolitische, vielmehr „eine gemeindlich-praktische und kirchlich-theologische Aufgabe"

Tatsächlich begann nun angesichts der hoffnungslosen kirchenpolitischen Situation vielerorts die theologische Arbeit an Grund und Auftrag der Kirche. Sie mündete immer wieder in die Frage nach dem Bekenntnis, das sich als entscheidendes Kriterium erwies. Unter den Pfarrern bildeten sich Gruppen, die sich für das Bekenntnis der Kirche verantwortlich wußten und sich gegen seine Verletzung zur Wehr setzten. Als daher Martin Niemöller Ende September 1933 die Gründung eines . Pfarrernotbundes" bekanntgab, der die alleinige Bindung an die Heilige Schrift und die Bekenntnisse der Reformation forderte, war dies nur eine Konsequenz der neuen Lage. Und der außerordentliche Zuwachs von 2000 Mitgliedern Ende September 1933 bis auf über 7000 im Januar 1934 — über 50 °/o aller evangelischen Pfarrer in Deutschland — zeigte, daß der Ruf zum Bekenntnis nicht ungehört verhallt war. Seine politische Spitze erhielt der Pfarrernotbund von Anfang an dadurch, daß er als einzige konkrete Verletzung des Bekenntnisses den sogenannten Arierparagraphen nannte, also die Anwendung der staatlichen Judengesetzgebung im Raum der Kirche.

Parallel zum Anwachsen des Pfarrernotbundes aber lief ein rapider Verfall der Deutschen Christen. Nachdem die rüden Methoden der neuen Herren und ihre offenkundige theologische und politische Unfähigkeit viele gutgläubige Anhänger bereits unsicher gemacht hatten, brachte eine Kundgebung des DC-Gaues Groß-Berlin am 13. November 1933 im Sportpalast die Katastrophe. Vor 20 000 Zuhörern forderte der deutschchristliche Redner im Hauptreferat die Abschaffung des Alten Testaments, die Liquidierung der jüdischen Theologie des Paulus und die Hinwendung zu einer heldischen Jesusgestalt, deren Lehre sich mit den Forderungen des Nationalsozialismus restlos decke.

Die Folge dieser Kundgebung war eine weitgehende Auflösung der deutschchristlichen Organisation und der fast völlige Verlust ihrer Basis. Auch der Reichsbischof war gezwungen, sich von den DC zu distanzieren und verlor damit zugleich den einzigen Rückhalt, den er in der Kirche besaß.

Damit aber ergaben sich neue Fronten, die bis Ende 1934 die innerkirchlichen Auseinandersetzungen bestimmten: Auf der einen Seite standen der Reichsbischof und die deutsch-christlichen Kirchenleitungen, die bei schwindender Anhängerschaft in den Gemeinden den kirchlichen Apparat — Kirchenleitungen, Konsistorien und Synoden — fest in der Hand hielten, auf der anderen Seite der Pfarrernotbund und eine wachsende Zahl von Gemeinden, die als Richtschnur ihres Lebens und Dienstes allein die Heilige Schrift und die Bekenntnisse der Reformation anzuerkennen bereit waren.

Die Lage wurde dadurch verschärft, daß der Reichsbischof im Frühjahr und Sommer 1934 mit Hilfe des früheren preußischen Staats-kommissars als „Rechtswalter“ auf rechtlich zweifelhafte Weise die Gleichschaltung der Landeskirchen mit der Reichskirche zu erzwingen versuchte. Dank der deutschchristlichen Mehrheiten in den Synoden gelang ihm diese Gleichschaltung überall mit Ausnahme von Bayern, Württemberg und — wenigstens zum Teil — Hannover. Hier waren die rechtmäßigen Bischöfe im Amt geblieben und widersetzten sich nun mit Erfolg den Zwangs-maßnahmen, und Drohungen Müllers und seines „Rechtswalters".

Schon im Herbst 1933 hatte sich angesichts der hoffnungslosen theologischen und organisatorischen Zerstörung der Reichskirche bei einzelnen Pfarrern und Theologen die Frage erhoben, ob man sich nicht von dieser Kirche trennen und den Absprung in die Freikirche wagen müsse.

Aber die Entscheidung fiel schließlich in anderer Richtung. Als sich im Mai 1934 die „Vertreter lutherischer, reformierter und unierter Kirchen, freier Synoden, Kirchentage und Gemeindekreise" zur ersten Reichsbekenntnissynode in Barmen versammelten, ließen sie keinerlei Zweifel daran, daß sie allein — und nicht das Regiment Müller-Jäger und die deutschchristlichen Kirchenleitungen — die Deutsche Evangelische Kirche repräsentierten. Mit der Barmer Synode war aus den verschiedenen bekennenden Gruppen, Gemeinden und Synoden eine Kirche entstanden, die Bekennende Kirche. Die Tatsache, daß diese Kirche zum erstenmal seit dem 16. Jahrhundert auch wieder ein gemeinsames Bekenntnis artikulieren konnte, gab dieser Synode eine Bedeutung, die weit über den aktuellen Anlaß hinausreichte. Sie gehört damit zu den wichtigsten kirchengeschichtlichen Ereignissen des Jahrhunderts.

Die gemeinsam verabschiedete „Theologische Erklärung", das „Barmer Bekenntnis", gab der Bekennenden Kirche für die ganze Zeit des Dritten Reiches das Fundament und die Richtung. In sechs Thesen und sechs Verwerfungeh stellte dieses Bekenntnis einige einfache Grundwahrheiten des Evangeliums fest. Unverkennbar war es Karl Barths Theologie, die hier Früchte trug, namentlich in der ersten These: „Jesus Christus, wie er uns in dei Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorschen haben." Und dazu die Verwerfung: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen."

Damit war nicht nur die Abgrenzung gegen die deutschchristlichen Irrlehren vollzogen, sondern es war — was viel schwerer wog — unmittelbar der einzige Grund des Glaubens und der Kirche benannt. Ihm folgten auch die anderen Thesen, die insgesamt in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit den ganzen Wust nationalprotestantischer Traditionen und Über-zeugungen gleichsam mit einem Schlage aufhoben. Das Gefühl der Freude und Erleichterung, das die Botschaft von Barmen in den bekennenden Gemeinden auslöste, war außerordentlich. Das Wort Gottes, so sah man, hatte sich als mächtiger erwiesen als alle Feinde.

Der Herbst des Jahres 1934 brachte noch weitere Entscheidungen. Anfang Oktober versammelte sich unter dem Eindruck der rigorosen Zwangsmaßnahmen des Reichskirchenregiments gegen Württemberg und Bayern die 2. Reichsbekenntnissynode in Berlin-Dahlem. Sie zog die organisatorischen und praktischen Konsequenzen aus Barmen und kündigte den deutschchristlichen Kirchenleitungen den Gehorsam auf, verweigerte jede weitere Zusammenarbeit, bestellte ein eigenes vorläufiges Kirchenregiment und forderte alle Gemeinden auf, sich in Zukunft allein an die Weisungen der Bekennenden Kirche zu halten. Kurz darauf, Ende Oktober, brach die Kirchen-politik Müllers völlig zusammen. Hitler, der ständigen Streitereien in der evangelischen Kirche längst müde und in Sorge um etwaige außenpolitische Folgen, ließ die renitenten Bischöfe Wurm und Meiser und den Hannoverschen Bischof Marahrens nach Berlin kommen und rehabilitierte sie damit in aller Öffentlichkeit. Der Rechtswalter des Reichsbischofs trat zurück, die Eingliederungsgesetze wurden aufgehoben, Müller selbst schien entmachtet. Für einen Augenblick konnte es scheinen, als hätte die Bekennende Kirche gesiegt.

III. Der Kampf um die Kirchen (1935— 1945)

Das Jahrzehnt von 1935 bis zum Ende des Dritten Reiches war durch eine ständige Verschärfung der Spannungen zwischen der natio-nalsozialistischen Führung und den christli-dien Kirchen gekennzeichnet. Im gleichen Maße, in dem der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus wuchs und die Mittel, ihn durchzusetzen, zunahmen, gerieten die Kirchen in eine immer bedrängtere Lage. Dabei blieb die durch das Konkordat bestimmte Position der katholischen Kirche im wesentlichen unverändert. Sie glich immer mehr einer belagerten Festung, die der Gegner mit allen Mitteln zum Einsturz zu bringen versuchte. Dagegen befand sich die Position der evangelischen wenigstens bis zum Kriegsausbruch in Kirche ständigem Wechsel. Weder gelang es dem Staat, die Kirche in seinem Sinne zu „befrieden", noch gelang es der Bekennenden Kirche, sich wirklich zu konsolidieren. Die Geschichte dieser Jahre ist dementsprechend auf evangelischer Seite wesentlich bewegter und problematischer als auf katholischer Seite. 1. Die Spaltung der Bekennenden Kirche Schon sehr bald nach der Dahiemer Synode stellte sich heraus, daß von einer Einheit der Bekennenden Kirche kaum gesprochen werden konnte. Auf der einen Seite standen die sich zur BK rechnenden sogenannten intakten Landeskirchen Bayern, Württemberg und Hannover, deren Leitungen naturgemäß vor allem an einer Wahrung des kirchlichen Bestandes liegen mußte, auf der anderen Seite gab es in den sogenannten zerstörten Landeskirchen, vor allem in Preußen, die Bruderräte, die gegen die noch im Amt befindlichen deutsch-christlichen Kirchenleitungen die Dahiemer Beschlüsse ständig zu praktizieren hatten. Beide Richtungen zusammen bildeten die Bekennende Kirche; es lag jedoch auf der Hand, daß die verschiedenen Bedingungen, unter denen sie standen, und die daraus resultierenden verschiedenen Entscheidungen auf die Dauer eine gemeinsame Linie kaum zulassen würden.

Immerhin gelang es im November 1934, eine gemeinsame „Vorläufige Kirchenleitung" (1. VKL)

zu bilden. Diese Kirchenleitung zeigte sich überraschend geschlossen als es darum ging, der ersten großen antichristlichen Propagandawelle entgegenzutreten, die im Frühjahr und Sommer 1935 über das Reich hinwegrollte.

Schon im Februar nahm die VKL dagegen Stellung, im März folgte die preußische Bekenntnissynode, die in einer außerordentlich scharf formulierten Kundgebung im Anschluß an Barmen den „Wahnglauben" der Vergötzung von „Blut, Rasse und Volkstum" verurteilte 655). Die Folge dieser Kundgebung war die Verhaftung von hunderten von Pfarrern und eine wütende Hetzkampagne der Partei-presse gegen die Kirche.

Damit war das beherrschende Thema der 3. Reichsbekenntnissynode gegeben, die im Juni 1935 in Augsburg tagte und Gemeinden, Pfarrer und Älteste zu einem klaren Bekenntnis aufrief. Das andere wichtige Problem, die Einheit der BK, wurde dagegen eher aufgeschoben als gelöst.

Inzwischen aber hatte sich Hitler nach längerem Zögern zu einer neuen Initiative in der Kirchenfrage bestimmen lassen. Im Juli 1935 erschien ein Erlaß zur Errichtung eines Kirchenministeriums, das einem alten Mitkämpfer Hitlers, Hanns Kerri, übertragen wurde. Kerri hatte den Auftrag, die Auseinandersetzungen um die evangelische Kirche, die das Dritte Reich mehr und mehr als ernsthafte Belastung empfand, so oder so zu beenden. Zu diesem Zweck erhielt er im September 1935 durch ein „Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche" die Vollmacht, „Verordungen mit rechtsverbindlicher Kraft" für die ganze Kirche zu erlassen. Bis zum Kriegsende bildeten dieses Gesetz und seine insgesamt 18 Durchführungsverordnungen die staatskirchen-rechtliche Grundlage der Evangelischen Kirche. Kerris Pläne schienen zunächst durchaus plausibel. Er berief aus Männern der Kirche einen nur ihm verantwortlichen Reichskirchenausschuß, dem er die Leitung und Vertretung der DEK übertrug. Es gelang ihm, für diesen Reichskirchenausschuß (und ebenso für die entsprechenden Landes-und Provinzialkirchenausschüsse) nicht nur angesehene Mitglieder der großen Mittelgruppe, sondern auch Vertreter der BK zu gewinnen, die meinten, den guten Willen des Staates zur Befriedung der evangelischen Kirche unterstützen zu müssen. Ende 1935 glaubte sich der Minister soweit, durch ein Verbot der Leitungsgremien der BK seine Kirchenausschüsse endgültig als einzig legitime Kirchenleitung bestätigen zu können. Diese Situation stürzte die BK in eine tiefe Krise. Während die intakten Landeskirchen (die keine Kirchenausschüsse besaßen) und ein Teil der lutherisch bestimmten BK zur Zusammenarbeit mit den Ausschüssen neigten, bekundete vor allem der preußische Bruderrat ein schroffes Nein. Der Reichsbruderrat folgte in seiner Mehrheit dem kompromißlosen preußischen Kurs, die „Vorläufige Kir-

dagegen entschied sich für eine chenleitung"

bedingte Mitarbeit. Damit war die BK praktisch gespalten. Der Versuch, diese Spaltung auf der 4. (und letzten) Bekenntnissynode im Februar 1936 in Oeynhausen zu überwinden, scheiterte. Die BK zerfiel fortan in zwei Gruppen: in die „gemäßigte" Gruppe der intakten Landeskirchen und einiger lutherischer Bruderräte, die sich schon sehr bald eine eigene Leitung gab, und in die „radikale" Gruppe vornehmlich preußischer Bruderräte, die im März eine neue „Vorläufige Kirchenleitung 1'wählte und fortan weithin als Stimme der Bekennenden Kirche in Deutschland galt.

Es ging bei diesen Entscheidungen nur oberflächlich gesehen um Fragen der Organisation und des politischen und kirchenpolitischen Ermessens. In Wahrheit stand zur Diskussion, was Kirche sei. Indem Kerri und die Kirchen-ausschüsse davon ausgingen, daß die BK eine unter verschiedenen kirchlichen Gruppen bilde, die es (unter Ausschluß der radikalen DC) miteinander zu versöhnen gelte, bestritten sie den in Barmen und Dahlem erhobenen Anspruch der BK, die eine wahre evangelische Kirche in Deutschland zu sein. War Kirche -— so könnte man die Alternative formulieren — bloß ein pluralistischer Zweckverband oder war sie an das Bekenntnis gebundene und bekennende Gemeinschaft? Dietrich Bonhoeffer nahm im Juni in einem heftig umstrittenen Aufsatz „Zur Frage der Kirchengemeinschaft" Stellung und erklärte darin zum Entsetzen selbst wohlmeinender Freunde mit schneidender Schärfe: „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil. Das ist die Erkenntnis, die sich der wahren Kirche von jeher aufgezwungen hat."

Angesichts dieser grundlegenden theologischen Differenzen war trotz aller Versuche an eine Vermittlung zwischen den beiden Gruppen nicht zu denken. Tatsächlich gelang erst in den letzten Kriegsjahren wieder eine vorsichtige Annäherung.

Die Spaltung der BK besiegelte zugleich das Schicksal der Kirchenausschüsse. Ihre Arbeit stand ohnehin unter dem wachsenden Druck kirchenfeindlicher Parteikreise, denen an einer „Befriedung" der evangelischen Kirche immer weniger gelegen war.

Der Kirchenminister aber verlor das Interesse an den Ausschüssen, als er sah, daß die beabsichtigte Einigung auf diesem Wege nicht zu erreichen war. Schon am Jahresende plante er deshalb ein neues Verordnungswerk mit dem Ziel, die Staatsaufsicht über die Kirchen erheblich auszuweiten.

Als daher der Reichskirchenausschuß (RKA) im Dezember 1936 zugunsten von neun Bekenntnispfarrern gegen die deutschchristliche Kirchenleitung in Lübeck Stellung nahm, versagte Kerri ihm seine Unterstützung. Die Folge war der Rücktritt des RKA im Februar 1937.

Die weitere Geschichte der DEK bis zum Kriegsausbruch ist gekenzeichnet durch vergebliche Versuche Kerris, mit Hilfe einer „völkischen Theologie der Mitte" doch noch eine Basis für die Einigung und „Befriedung“ der evangelischen Kirche zu finden. Daß diese Versuche ausnahmslos scheiterten, lag nicht nur am Zustand der Kirche selbst und auch nicht nur an der Ungeschicklichkeit und Schwäche des Kirchenministers. Der wirkliche Grund lag im weltanschaulichen Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus, der sich mit fortschreitender Zeit immer radikaler offenbarte. 2. Die Verschärfung des Kampfes Im Sommer und Herbst 1933 erreichte die Begeisterung für den Nationalsozialismus und das neue Reich in beiden Kirchen einen Höhepunkt. Zahllose prominente und weniger prominente Autoren beider Konfessionen bemühten sich, den inneren Gleichklang zwischen dem Christentum und dem nationalsozialistischen Staat nachzuweisen und verstiegen sich dabei zum Teil zu den absurdesten Behauptungen -Einen ersten kräftigen Dämpfer erhielten diese Bemühungen, als Hitler am 24. Januar 1934 Alfred Rosenberg „mit der Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der Partei und aller gleichgeschalteten. Verbände" beauftragte. Der Verfasser des „Mythus des 20. Jahrhunderts" galt in beiden Kirchen als Inbegriff aller kirchen-und christentumsfeindlichen Kräfte innerhalb der Partei; seine Betrauung mit einem so exponierten Posten mußte daher wie ein Alarmsignal wirken.

Tatsächlich begann mit dem Kampf gegen das . Neuheidentum" Rosenbergscher Prägung die erste systematische Auseinandersetzung der Kirchen mit der nationalsozialistischen Weltanschauung. Einen Anfang machte hier Kardinal Faulhaber in seinen berühmten Advent-predigten von 1933. Ihnen folgten auf katholischer und evangelischer Seite 1934 und 1935 eine Fülle von Vorträgen, Predigten und Schriften, die mehr oder weniger direkt den Anspruch der Offenbarung Jesu Christi gegen den „Mythus" von Blut und Rasse verteidigten. 1935 erwiderte Rosenberg die katholischen Angriffe mit einer Kampfschrift „An die Dunkelmänner unserer Zeit"; 1937 attackierte er auch seine protestantischen Gegner mit einer Schrift „Protestantische Rompilger". Beide Schriften gingen mit ihren heftigen Angriffen gegen Christentum und Kirchen noch über den . Mythus“ hinaus und erklärten offen die Unvereinbarkeit der christlichen Tradition mit der neuen Weltanschauung.

Beide Seiten machten in diesem Stadium der Auseinandersetzungen freilich noch Gebrauch von der Möglichkeit, den Streit gewissermaßen zu „privatisieren". Hitler selbst rückte in Gesprächen mehrfach heftig vom „Mythus" ab; Rosenberg betonte ausdrücklich, daß er seine Erwiderungen nicht in seiner „parteiamtlichen Eigenschaft" abgefaßt habe, sondern nur „als Verfasser des umstrittenen Werkes, also als Einzelpersönlichkeit . . .“

Umgekehrt versicherten auch die Kirchen beständig, daß sie unbeschadet ihrer Kritik an Rosenberg treu und unerschütterlich zum neuen Reich stünden. Sie klammerten sich an die Hoffnung, Rosenbergs Ansichten seien wirklich nur seine „Privatangelegenheit" und nicht die offizielle Weltanschauung des Dritten Reiches. Diese Hoffnung mochte in den ersten Jahren noch möglich gewesen sein; 1935 war sie bereits eine offenkundige Illusion. Denn mit Beginn dieses Jahres setzte in allen Von Rosenberg kontrollierten Organen der ——___

Partei eine systematische Bekämpfung der Kirchen, insbesondere der katholischen, ein. Vor allem die „Schulungsbriefe", mit einer Auflage von über einer Million, sollten in diesem Sinne auf alle Amtsträger der Partei einwirken.

Am 24. Februar 1935 notierte Rosenberg in seinem Tagebuch im Zusammenhang mit einer Äußerung Faulhabers, der Weltanschauungskampf scheine „nunmehr immer schärfere Formen anzunehmen". Es sei allerdings „politisch unzweckmäßig", Faulhaber einsperren zu lassen, es müsse vielmehr „eine Atmosphäre entstehen, daß das Volk um ihn und seinesgleichen herum einen Bogen macht, wenn es sie trifft" Offensichtlich um diese Atmosphäre zu schaffen, begann 1935 eine Serie von Prozessen gegen Ordensleute und Priester wegen devisenrechtlicher und sittlicher Vergehen. Die Presse räumte der Berichterstattung über diese Vorgänge großen Raum ein und sparte nicht mit hämischen Kommentaren. Hand in Hand damit ging ein offener Kampf gegen die katholischen Konfessionsschulen. Auch staatliche Stellen, so der Reichsinnenminister Dr. Frick, traten unter dem Stichwort „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" in diese Kampagne ein.

Das alles blieb nicht ohne Wirkungen, vor allem in der Partei. Von Anfang an befand sich Rosenberg mit seiner antichristlichen Überzeugung in voller Übereinstimmung mit Schirach, dem Führer der Hitlerjugend, die dieser in militant antikirchlichem Sinne zu erziehen versuchte. Auch der Leiter der PO, Robert Ley, war in diesem Punkt vorbehaltloser Anhänger der Rosenbergschen Richtung. Entscheidend freilich wurde die Unterstützung Bormanns. Der Stabsleiter in der Parteikanzlei, dessen Macht im Parteiapparat ständig wuchs, gehörte zu den entschiedensten Kirchengegnern in der nationalsozialistischen Führung überhaupt und ließ keine Gelegenheit aus, den Kirchen Schaden zuzufügen.

Ebenfalls in dieser Zeit gewann auch Himmlers SS ihr dezidiert antichristliches Profil. Hier erwuchsen den Kirchen Gegner, die, mit sehr viel mehr Macht ausgestattet als Rosen-berg, an eine unmittelbare Liquidierung der Kirchen in Deutschland denken konnten und auch tatsächlich dachten. Was an solchen Plänen später entworfen wurde, geschah ohne unmittelbare Mitwirkung Rosenbergs. Aber es war zweifellos seine Saat, die da aufging.

Beide Kirchen beobachteten diese Entwicklung selbstverständlich mit größter Beunruhigung. Ungewiß, wie weit diese Propaganda offiziellen Charakter und in der Hoffnung, daß es sich doch nur um eine bestimmte Gruppe in der Partei handeln könnte, appellierten sie an Hitler, er möge sie entsprechend seinen Zusagen vom März 1933 im Namen des Staates gegen die Angriffe der Partei in Schutz nehmen.

Am 10. April 1935 schrieb die Vorläufige Leitung der DEK an den Führer und Reichskanzler: „Es ist im deutschen Volk dahin gekommen, daß die Ehre deutscher Staatsbürger in den Staub getreten wird, weil sie Christen sind . . . Alle Versuche, hier Wandel zu schaffen, sind vergeblich gewesen . . . Daher wenden wir uns an Sie ... als den Beschützer der deutschen Ehre nach innen und außen ..." Am 20. August richteten die katholischen Bischöfe eine umfangreiche Denkschrift an Hitler, in der sie dem Reichskanzler ihre zum großen Teil sorgfältig belegten Beschwerden vor-trugen. Auch hier hieß es: „Es hat zuweilen den Anschein, als hätten die Katholiken in Deutschland überhaupt keinen Anspruch mehr auf Ehrenschutz und Gerechtigkeit."

diese noch im Bereich Eingaben Blieben ganz der Wahrung und Verteidigung kirchlicher Interessen, so ging die Denkschrift der (2.) VKL vom 28. Mai 1936 erheblich darüber hinaus und formulierte zum erstenmal eine grundsätzliche Kritik am Dritten Reich. Zwar nahmen auch hier die besonderen kirchlichen Sorgen den größten Raum ein, aber es war doch auch die Rede von der Beschwerung der Gewissen durch Judenhaß und Antisemitismus, durch den Mißbrauch des Eides, durch die Manipulation der Wahlstimmen, durch die Konzentrationslager und die Rechtlosigkeit gegenüber dem Zugriff der Gestapo

Auch wenn diese Denkschrift Hitler selbst nicht erreichte, erregte sie durch eine zunächst unbeabsichtigte Veröffentlichung im Ausland beträchtliches Aufsehen. Von der unmittelbar darauf geplanten Kanzelabkündigung meinten zwar Teile der evangelischen Kirche sich distanzieren zu müssen, trotzdem wurde sie von schätzungsweise drei Viertel aller Bekenntnispfarrer in Preußen verlesen und in einer Auflage von rund einer Million Exemplaren verbreitet.

Anfang 1937 entschloß sich auch die Kurie, die sich bisher auf diplomatische Proteste beschränkt hatte, auf Bitten und Anraten des deutschen Episkopats zu einem öffentlichen Wort über die Lage der katholischen Kirche in Deutschland. Aufgrund einer Vorlage von Kardinal Faulhaber entwarf Kardinalstaatssekretär Pacelli die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge", die Anfang März nach Deutschland kam, insgeheim gedruckt und verteilt und am Palmsonntag, dem 21. März, von den Kanzeln aller katholischen Kirchen verlesen wurde.

Obwohl als Wort des Trostes und der Ermutigung für die deutschen Katholiken formuliert, enthielt die Enzyklika eine so massive Kritik an der nationalsozialistischen Religionspolitik und damit am Nationalsozialismus selbst, daß ihre Wirkung weit über den Kreis der Adressaten hinausreichte. Wenn da von einem „Vernichtungskampf" die Rede war und von der „mehr oder minder öffentlichen Vertragsverletzung", die „von der anderen Seite" „zum ungeschriebenen Gesetz des Handelns" gemacht worden sei, so war klar, daß dieser Vorwurf nicht auf das Konkordat beschränkt bleiben konnte. Auch die Verurteilung der nationalsozialistischen Weltanschauung, der Vorwurf der Unterdrückung gläubiger Katholiken und die Erinnerung an das Naturrecht als absolute Rechtsnorm waren deutlich genug Trotzdem ließ die Enzyklika die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen der Reichs-regierung und den kirchenfeindlichen Maßnahmen des Nationalsozialismus zu. Diese Vorsicht war geboten, weil Pius XL trotz aller Bedenken entschlossen war, am Konkordat festzuhalten.

Hitler wurde von der Veröffentlichung der Enzyklika völlig überrascht. Die Gestapo beschlagnahmte alle Exemplare, deren sie habhaft werden konnte, vermochte aber die Verbreitung nicht mehr zu verhindern. Besonders erbittert zeigte sich der Reichskirchenminister. Seine ohnehin schwache Stel-lung zwischen den renitenten Kirchen und der wachsenden Kirchenfeindschaft der Partei wurde durch den Schritt der Kurie weiter ge-schwächt.

So war es nicht überraschend, daß er — entsprechend seinen Plänen zur Verstärkung der Staatsaufsicht über die evangelische Kirche — mit dem Gedanken umging, das Reichskonkordat für hinfällig erklären zu lassen und dadurch seine Position gegenüber der katholischen Kirche zu stärken. Aber Hitler hatte an diesen Plänen sowenig Interesse wie an einer Evangelischen Staatskirche. Er wollte keinen endgültigen Bruch, und da er sich in diesem Wunsch mit der Kurie begegnete, blieb alles beim alten. 3. Jahre ohne Entscheidung Die kirchenpolitische Situation seit 1937 wurde durch die Tatsache bestimmt, daß Hitler alles Interesse an den Kirchenfragen verloren hatte. In immer stärkerem Maße von den außenpolitischen und militärischen Problemen in Anspruch genommen, war er von dieser Zeit an bis zum Ende des Dritten Reiches zu keinerlei grundsätzlichen Entscheidungen mehr zu bewewegen. Das forderte die Verfestigung der rivalisierenden kirchenpolitischen Gruppierungen innerhalb von Partei und Staat geradezu heraus. In der Tat haben in den folgenden Jahren zwischen dem Reichskirchenminister und seinen Mitarbeitern auf der einen Seite, Bormann, Rosenberg und dem radikalen Flügel der Partei auf der anderen Seite erbitterte Auseinandersetzungen um den offiziellen kirchenpolitischen Kurs stattgefunden. Die Grundkonzeptionen beider Gruppen waren diametral entgegengesetzt. Während Kerri das Modell loyaler, zentralistischer Staatskirchen vorschwebte, arbeitete Bormann auf eine strikte Trennung von Staat und Kirchen hin mit dem Ziel, durch Entzug aller staatlichen Privilegien, durch Dezentralisierung und Privatisierung die Kirchen in private Vereine umzuwandeln, die leicht zu beherrschen waren und zu gegebener Zeit liquidiert werden konnten.

Die Möglichkeit einer Initiative in dieser Richtung ergab sich für Bormann zum ersten-mal mit der Besetzung Österreichs im März 1938. Während die österreichischen Bischöfe noch den Anschluß bejubelten und die hervorragenden Verdienste der nationalsozialistischen Bewegung „auf dem Gebiete des völkischen und wirtschaftlichen Aufbaus" und bei der Abwehr „des alles zerstörenden gottlosen Bolschewismus" priesen und auch die evangelische Kirche sich ähnlich äußerte, arbeitete Bormann bereits an einem völlig neuen Rechtsstatus für beide Kirchen im konkordatsfreien Raum der Ostmark. Als es ihm nach langen Auseinandersetzungen gelungen war, Kerris Kompetenzen auf das Altreich zu beschränken, erschien das „Gesetz über die Erhebung von Kirchenbeiträgen im Lande Österreich vom 28. April 1939", das Bormanns Vorstellungen weitgehend verwirklichte

Dieses Gesetz berechtigte „die katholische Kirche, die evangelische Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses und die altkatholische Kirche in der Ostmark" zur Erhebung von „Kirchenbeiträgen". Als beitragspflichtig galten nur die volljährigen Mitglieder. Beitragsordnung und Beitragshöhe wurden „staatsaufsichtlicher Genehmigung" unterworfen, ebenso die Verwendung der Mittel. Zugleich wurden sämtliche staatlichen Leistungen für die Kirchen gestrichen.

In einem geheimen Rundschreiben erläuterte Bormann den Reichs-und Gauleitern den Sinn der neuen Regelung. Zum erstenmal sei hier eine völlige Trennung von Staat und Kirche erreicht, allerdings nicht im traditionellen Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinander, vielmehr sei die Kirche dem Staat vermögensrechtlich unterstellt und habe lediglich in ihrem eigenen Aufgabengebiet eine gewisse Selbständigkeit

Mit welcher Konsequenz Bormann diese Linie weiterverfolgte, zeigte die nationalsozialistische Kirchenpolitik im Warthegau, die am weitesten in diese Richtung vorstieß und zweifellos als eine Art Modell gedacht war. Nachdem der Reichsstatthalter dort schon am 14. März 1940 eine Verordnung erlassen hatte, die sich zum Teil wörtlich an die österreichische Regelung anschloß, folgte am 13. September 1941 eine „Verordnung über religiöse Vereinigungen und Religionsgesellschaften im Reichsgau Warthegau", die die Kirchen nicht nur materiell, sondern auch personell völlig der Willkür des Reichsstatthalters auslieferte Zur gleichen Zeit versuchte der Reichskirchenminister, seine Vorstellungen einer selbständigen, staatsloyalen evangelischen Kirche durch die Bildung einer volkskirchlichen Mitte zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang mußte ihm die Anregung einiger deutsch-christlicher Kirchenleitungen im März 1938 sehr willkommen sein, durch einen Treueid aller Pfarrer auf den Führer die unbedingte Loyalität der evangelischen Kirche gegenüber dem Dritten Reich unter Beweis zu stellen. Er unterstützte deshalb den Präsidenten des Preußischen Evangelischen Oberkirchenrats, Dr. Werner, als dieser am 20. April, dem Hitlers, in einer Verordnung die Geburtstag Vereidigung aller Pfarrer und Kirchenbeamten forderte Diese Verordnung und die Frage, ob man ihr Folge leisten dürfe und müsse, stürzten die Bekennende Kirche in eine tiefe Krise. Man entschied sich nach heftigen Auseinandersetzungen im Laufe des Sommers schließlich fast dahin, den Eid als überall eine Staat vom geforderte Leistung aus Gründen des Gehorsams abzulegen.

In diesem Augenblick wurde ein Rundschreiben Bormanns bekannt, der die Gauleiter wissen ließ, eine Entscheidung des Führers zur Eidesfrage sei nicht eingeholt worden, deshalb komme dem Eid „lediglich eine innerkirchliche Bedeutung zu"

Damit hatte Bormann mit Erfolg die Bemühungen Kerris um den Aufbau einer „loyalen" Kirche desavouiert.

In die gleiche Richtung wies die Weigerung Heydrichs, Kerri behilflich zu sein, als dieser sich in einer Blitzaktion im Herbst 1938 der lästigen Vorläufigen Leitung und der hinter ihr stehenden Bruderräte entledigen wollte, Heydrich, der an einer Konsolidierung der Kerrlschen Position sowenig interessiert war wie Bormann, erklärte, er könne „ohne Führer-Vortrag die Verantwortung für eine solche Maßnahme nicht übernehmen"

Allerdings — und das war nun entscheidend — schaffte es Bormann trotz ständigen Drängens nicht, Hitler ganz für seine radikale Linie zu gewinnen. Als er im Mai 1939 zusammen mit dem badischen Gauleiter den Versuch unternahm, die österreichische Regelung auf Baden zu übertragen, gelang es dem Einspruch des Reichskirchenministers, der dabei auf mögliche schwerwiegende Komplikationen wegen der Konkordate und Kirchenverträge hinwies, dieses Vorhaben zu vereiteln. Tatsächlich ist der staatskirchenrechtliche Status beider Kirchen im Altreich dann auch bis zum Zusammenbruch grundsätzlich nicht angetastet worden. Daß eine Entscheidung in dieser Frage bis 1945 offenblieb, war zweifellos auch eine Folge des Krieges. Im April 1940 ließ Hitler offiziell wissen, „daß er zur Zeit gegen die Kirchen gerichtete Maßnahmen grundsätzlich nicht wünsche" Diese Erklärung hinderte Bormann, wie die Kirchenpolitik im Warthegau zeigte, nicht, seine antikirchlichen Pläne weiterzuverfolgen. Aber sie band ihm und der radikalen Gruppe in der Partei doch die Hände insoweit, als bekannt war, daß grundsätzliche und spektakuläre Entscheidungen gegen die Kirchen nicht die Billigung Hitlers finden würden. Daher setzte nun ein ebenso zäher wie nachhaltiger Kleinkrieg gegen beide Kirchen ein, der von Bormann persönlich gesteuert wurde.

Zugleich bereitete er im geheimen die Partei auf die große Endabrechnung mit den Kirchen vor. In einem Rundschreiben vom Juni 1941, das an alle Gauleiter des Reiches gerichtet war, erklärte der inzwischen zum mächtigsten Mann in der Partei avancierte Leiter der Parteikanzlei, Christentum und Nationalsozialismus seien schlechterdings unvereinbar. Erst wenn die Einflußmöglichkeiten der Kirchen restlos beseitigt seien, habe die nationalsozialistische Volksführung den vollen Einfluß auf alle Volksgenossen. „Erst dann sind Volk und Reich für. alle Zukunft in ihrem Bestände gesichert."

Nicht nur Bormann sah die Dinge so; Himmler dachte ähnlich. Auf einer Arbeitstagung aller Kirchensachbearbeiter beim Reichssicherheitshauptamt am 22. und 23. September 1941 erklärte SS-Brigadeführer Müller, es sei nunmehr erforderlich, daß den Kirchen eine geschlossene Front von Sachbearbeitern gegenübertrete. „Der Gruppenführer hat daher endgültig entschieden, daß für die Zukunft eine geschlossene Bekämpfung des gefährlichsten aller gefährlichen Gegner durch die staatspolizeilichen Stellen erfolgen muß. Die politische Kirche übernimmt heute die Rolle, die die Spartakisten und Marxisten von 1918 spielten. Für diese Haltung ist den politischen Kirchen einst die Rechnung zu präsentieren. Wir haben daher mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dieses Material zusammenzutragen ..."

Wenige Monate später, im Dezember 1941, starb der Reichskirchenminister. Ein Nachfolger wurde nicht ernannt. Auch hier vermied Hitler selbst jede Festlegung. Er bestätigte weder den Kurs Kerris noch folgte er den Wünschen Bormanns.

Gerade die Vorgänge des Jahres 1941 machen deutlich, daß die Entscheidung über das Schicksal der Kirchen in Deutschland bevorstand, aber noch nicht gefallen war. Es war gewissermaßen eine Entscheidung auf Abruf. Dieser merkwürdige und unheimliche Zwischen-zustand blieb bis zum Ende des Dritten Reiches erhalten. 4. Anpassung und Widerstand Der Mehrgesichtigkeit der nationalsozialistischen Kirchenpolitik in den Jahren ohne Entscheidung entsprach eine Mehrgesichtigkeit in der Haltung der Kirchen. Wer nach Beweisen für Schuld und Versagen des christlichen Glaubens in dieser Zeit sucht, wird sie ebenso finden wie Beweise für Standhaftigkeit und Bewährung: Es gab blinde Gutgläubigkeit, fanatischen Nationalismus und hemmungslosen Opportunismus ebenso wie hellsichtige Warnungen, freimütiges Bekennen und entschlossenen Widerstand.

Von den kirchlichen Huldigungen Hitlers aus Anlaß der Besetzung und des Anschlusses Österreichs war schon die Rede. Auch wenn man das Bewußtsein historischer Gerechtigkeit und die Woge nationaler Begeisterung berück-sichtigt, so bleibt das Verhalten der österrei-chischen Bischöfe — genau ein Jahr nach „Mit brennender Sorge" — doch mit erheblicher Fragwürdigkeit belastet.

Gerade auf dieser Linie der volltönenden Kommentierung der Erfolge Hitlers aber fuhren beide Kirchen unbeirrt fort. So pries der katholische Episkopat die Beilegung der Tschechenkrise Ende September 1938 als eine „Großtat der Sicherung des Völkerfriedens" und ließ — ebenso wie die evangelischen Kirchen — am 2. Oktober die Glocken läuten.

Allerdings zeigte diese Krise auf evangelischer Seite auch, wie außerordentlich schwierig eine Urteilsbildung in dieser Zeit war. Die Vorläufige Leitung der BK hatte nämlich angesichts der drohenden Kriegsgefahr für den 30. September einen Gebetsgottesdienst angeordnet, dessen Liturgie ganz auf den Ton der Buße abgestimmt war und in der es hieß: „Wir bekennen vor Dir die Sünden unsers Volkes. Dein Name ist in ihm verlästert, Dein Wort bekämpft, Deine Wahrheit unterdrückt worden. Öffentlich und im Geheimen ist viel Unrecht geschehen ..." Obwohl dieser Gottesdienst nirgends gehalten wurde, nahm ihn die SS zum Anlaß eines wütenden Angriffs gegen die BK. Kerri nutzte die Situation in seinem Sinne und erreichte, daß sich die Landesbischöfe der intakten Kirchen, Marahrens, Meiser, Wurm und Kühlewein, „aus religiösen und vaterländischen Gründen" von der preußischen BK distanzierten. Zugleich befand sich aber auch die BK selbst in erheblicher Verlegenheit, als ein Brief Karl Barths an den Prager Theologieprofessor Hromadka bekannt wurde, in dem Barth im Namen der Kirche Jesu Christi die tschechischen Soldaten zum militärischen Widerstand gegen Deutschland aufrief. Zu diesem Brief, der in der deutschen Presse mit entsprechenden Kommentaren veröffentlicht wurde, erklärte die vorläufige Leitung, sie empfinde tiefen Schmerz über diese „untragbaren Äußerungen Karl Barths"

Im Grunde war diese ganze Verwirrung nur Ausdruck des fast unlösbaren Konflikts, in den Hitler die deutschen Kirchen — und nicht nur sie — gestürzt hatte.

So wie die Dinge sich entwickelt hatten, unterstützte, wer für Deutschland eintrat, zugleich Hitler, und wer gegen den Nationalsozialismus opponierte, mußte glauben, sein Vaterland zu verraten. Das wurde besonders deutlich, mit dem Ausbruch des Krieges; denn nicht nur die offiziellen Stimmen der Kirchen — der deutsche Episkopat und der neugeschaffene geistliche Vertrauensrat der DEK — traten ein in die Mahnung zum „Gehorsam gegen den Führer" und in die „Fürbitte für Führer und Reich"; auch etwa der aus seiner Diözese vertriebene Bischof von Rottenburg, Sproll, erflehte Gottes Segen für alle, die dem Aufruf des Führers gefolgt waren, und Martin Niemöller, seit 1938 als persönlicher Gefangener Hitlers im KZ, meldete sich von dort freiwillig zur Kriegsmarine.

Die moralische Unterstützung des Krieges war und blieb bis weit in die oppositionellen Kreise der Kirchen hinein ein Gebot der Stunde. Als der Feldzug gegen Rußland begann, wetteiferten Kirchenführer beider Konfessionen in Aufrufen zum Kampf gegen den Bolschewismus — der Geistliche Vertrauensrat der DEK mit einer nachträglich fast makaber klingenden Botschaft, in der der Hoffnung Ausdruck gegeben wurde, daß „in ganz Europa unter Ihrer (Hitlers) Führung eine neue Ordnung erstehe und aller inneren Zersetzung, aller Beschmutzung des Heiligsten, aller Schändung der Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde"

Daß die deutschchristlichen Kirchenleitungen diese Tonart bis zum Ende durchhielten, war nicht erstaunlich. Aber überraschend und tief beschämend war es, daß der Geistliche Vertrauensrat, dem immerhin ein Mann wie der hannoversche Bischof Marahrens angehörte, nach dem 20. Juli 1944 ein Telegramm an Hitler für richtig hielt, in dem es hieß: „In allen evangelischen Kirchen Deutschlands wird heute im Gebet der Dank zum Ausdruck kommen für Gottes gnädigen Schutz und seine sichtbare Bewahrung ..

Der katholische Episkopat blieb wenigstens zu diesem Ereignis still. Der Geistliche Vertrauensrat aber hatte sich mit dieser Äußerung auf die Seite des Volksgerichtshofes und seines Präsidenten Freisler gestellt, des Mannes, der die angeklagten Verschwörer wegen ihres christlichen Gewissens wie ein Rasender beschimpfte und der mehr als alle anderen für schauerliche Mordmaschine nach dem die verantwortlich Attentat war.

Glücklicherweise blieben dies nicht die einzigen Stimmen. Angesichts der immer offenkundigeren Verbrechen des Nationalsozialismus zerbrachen allmählich hier und da die Fesseln, die die Kirchen gebunden hielten: die nationale Tradition und das Ethos des Gehorsams auf evangelischer, die Sorge um das Konkordat und den Bestand der Kirche auf katholischer Seite.

So richtete sich die Stimme des kirchlichen Protestes gegen die Ermordung der Geisteskranken, die Hitler im Oktober 1939 befohlen und die bis 1941 bereits über 70 000 Opfer gefordert hatte. Da viele Geisteskranke in kirchliehen Anstalten untergebracht waren, erfuhren die Kirchenleitungen relativ früh und zuverlässig von diesen Plänen. Neben den verantwortlichen Schwestern, Ärzten und Leitern, von den viele das Äußerste zur Rettung ihrer Schützlinge versuchten, erregten vor allem die öffentlichen Proteste des württembergisehen Landesbischofs Wurm und des Bischofs von Münster, Graf Galen, erhebliches Aufsehen. Während Wurm seit Juli 1940 durch zahllose Schreiben an alle möglichen staatlichen und parteiamtlichen Stellen gegen die „planmäßige Ausrottung schwacher und gebrechlicher Volksgenossen" Stellung nahm wagte es Graf Galen in einer Predigt in Münster im August 1941, seiner Gemeinde mitzuteilen, daß er gegen die Verantwortlichen Anzeige wegen Mordes nach § 211 StGB erstattet habe

Diese Proteste und Anklagen hatten tatsächlich Erfolg. Ende 1941 wurde das sogenannte Euthanasieprogramm stark reduziert und schließlich ganz eingestellt.

Kläglich dagegen blieben alle Versuche, dem Massenmord an den Juden Einhalt zu gebieten. Hier waren nicht nur die Kirchen durch ihr Schweigen seit 1933 tief in die Schuld des Dritten Reiches mitverstrickt; sie durften auch bei ihren Protesten — im Gegensatz zu den Geisteskranken — kaum auf Rückhalt in den Gemeinden, geschweige denn im Volk zählen.

So blieben die Hilfsversuche — auch das evangelische „Büro Grüber" und die katholische Raffaelorganisation — im Grunde Einzelunternehmungen, die oft genug nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland mit Unverständnis und Feindschaft zu kämpfen hatten. Fast alle Mitarbeiter dieser Hilfsorganisationen kamen schon 1940 ins KZ; nur wenige erlebten das Kriegsende.

Als Ende Juli 1941 die „Endlösung" der Judenfrage beschlossen und kurz drauf das Tragen des „Judensterns" auch im Altreich befohlen wurde, reagierte die Kirchenkanzlei der DEK mit einem Rundschreiben an die Obersten Kirchenbehörden, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, daß die getauften Nicht-Arier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinden fernbleiben"

Kardinal Bertram aber riet dem Episkopat, „erst wenn sich größere Schwierigkeiten durch den Kirchenbesuch der nichtarischen Katholiken ergeben sollten", „mit den katholischen Nicht-Ariern selbst die Abhaltung von Sondergottesdiensten zu erwägen"

Erst im September 1943 wagte es der deutsche Episkopat, in einem Hirtenbrief die Tötung Unschuldiger zu verurteilen und vier Wochen später folgte mit fast gleichem Wortlaut die 12. preußische Bekenntnissynode mit einer „Handreichung an die Pfarrer und Ältesten zum fünften Gebot"

Angesichts dieser Schwierigkeiten, auch nur den grundlegenden Widerspruch gemeinsam zu formulieren, kann es nicht überraschen, daß die beiden Kirchen in Deutschland nirgends zum politischen Widerstand gegen das System des Unrechts und der Gewalt aufgerufen haben, geschweige denn selbst im Widerstand aktiv geworden sind. Verschwörer wie der evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer und der Jesuitenpater Alfred Delp waren und blieben in beiden Kirchen Außenseiter. Trotzdem wird man bei der Frage von Anpassung und Widerstand der Kirchen folgendes bedenken müssen: Beide Kirchen haben — das zeigen vor allem die Reaktionen der Partei — allein durch das Faktum ihrer Existenz und die Fortdauer ihrer Verkündigung im Dritten Reich eine kritische Funktion ausgeübt, deren Gewicht ihnen selber weithin unbekannt geblieben ist. Die Tatsache, daß ihre Gleichschaltung mißlang, stellte den Nationalsozialismus an einem Punkt in Frage, an dem er sonst von keiner Gruppe und keiner Institution mehr angegriffen schien: am Totalitätsanspruch seiner weltanschaulichen Herrschaft. Hier bedeutete jede einfache Sonntags-predigt — und gerade sie — einen Widerspruch, den nicht nur die Partei, sondern auch das Volk durchaus und in wachsendem Maße empfand.

Man kann diese kritische Funktion der Kirchen unmittelbar nachweisen in der Motivation jener Männer und Frauen, die sich für den unmittelbaren politischen Widerstand gegen die nationalistische Herrschaft entschieden. Das Christentum erwies sich in überraschend vielen Fällen als Motiv und Kriterium politischer Entscheidung — nicht nur im Kreisauer Kreis, sondern auch bei Militärs, Gewerkschaften und in den bürgerlichen Widerstandsgruppen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, hrsg. v. Gottfried Feder, 1931, S. 19.

  2. Vgl. W. Maser, Hitlers Mein Kampf, 1966, S. 8 f.; und vor allem die Darstellung des Forschungsstandes bei E. Jäckel, Hitlers Weltanschauung, 1969, S. 9 ff.

  3. Adolf Hitler, Mein Kampf, 194317, S. 357 f.

  4. Jäckel, a. a. O. S. 60.

  5. Ebda., S. 85.

  6. Die „Hetzer der Wahrheit", Rede des Pg. Adolf Hitler in der Versammlung vom 12. April 1922 im Bürgerbräukeller zu München. Sonderabdruck aus Nr. 32 des VB (Bundesarchiv Koblenz, NS 26/59).

  7. Joh. 2, 13— 17; Matth. 21, 12— 17; Mark. 11, 15— 19; Luk. 19, 45— 48.

  8. Joh. 8, 44.

  9. Mein Kampf, a. a. O. S. 70. Hervorhebung im Original.

  10. A. a. O. S. 127.

  11. Hitlers Brief an A. Dinter vom 25. Juli 1928 nazDas Geistchristentum", hrsg. v. A. Dinter, 1, 1928, S. 353-356.

  12. Programm der NSDAP, a. a. O., S. 22.

  13. Albrecht Tyrell (Hrsg.) Führer befiel..., Selbst-zeugnisse aus der Kampfzeit der NSDAP, 1969, S. 208.

  14. Vgl. dazu etwa Martin Rade, Unsre Söhne, in: Christliche Welt 44, 1930, Sp. 1162.

  15. Völkischer Beobachter, 10. /11. Jan. 1932, 2. Bei-blatt. Vgl. auch Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich, 1953, S. 70 ff.

  16. Geboren 1899 als Sohn eines Handelsschul-

  17. Buchheim, a. a. O., S. 76 ff.

  18. Ludwig Volk, Der bayr. Episkopat und der Nationalsozialismus, 1930— 1934, 1965, S. 29.

  19. Zur Mitwirkung von Kaas bei den die Kirchen betreffenden Abschnitten der Regierungserklärung Hitlers vgl. jetzt Heinrich Brüning, Memoiren 1918— 1943, 1970, S. 656.

  20. „Das positive Christentum der NSDAP", Völkischer Beobachter vom 1. Mai 1931.

  21. Tyrell, a. a. O., S. 381 und S. 274.

  22. Richard Karwehl, Politisches Messiastum. Zur Auseinandersetzung zwischen Kirche und Nationalsozialismus, in: Zwischen den Zeiten 9, 1931, S. 519— 543. Jetzt auch in: „Dialektische Theologie" in Scheidung und Bewährung, 1933— 1936, hrsg. von Walther Fürst, 1966, S. 19— 41.

  23. Dialektische Theologie, a. a. O., S. 40.

  24. H. Sasse, Die Kirche und die politischen Mächte der Zeit, Kirchl. Jahrbuch 59, 1932, S. 66.

  25. A. a. O„ S. 67.

  26. W. Künneth, Was haben wir als evangelische Christen zum Rufe des Nationalsozialismus zu sagen? Verlag des Landesvereins für Innere Mission der ev. -luth. Kirche in Sachsen, Dresden 1931

  27. Gerlich-Naab, Prophetien wider das Dritte Reich, 1946, S. 437 f.

  28. Vgl. dazu jetzt Br üning, Memoiren, a. a. O., S. 568 ff. und 632 ff.

  29. Pfarrer Haeuser im Völkischen Beobachter vom 20. Janua-19. .

  30. Brüning spricht (a. a. O., S. 665) von „etwa 400 Geistlichen“, die bereit waren, „der NSDAP beizutreten und sogar eine nationale Kirche mitzumachen".

  31. K. Scholder, Die Kapitulation der evangelischen Kirche vor dem nationalsozialistischen Staatoin: Zeitschrift für Kirchengeschichte 68 (1970), S. 185;

  32. B. Stasiewski, Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirchen 1933— 1945, I, 1968, S. 6.

  33. Das Evangelische Deutschland, 10. Jahrg. 19331 S. 83.

  34. Vgl. dazu L. Volk, a. a. O., S. 74 f.

  35. Nach dem stenogr. Bericht zitiert bei B. Stasiew-Si, a. a. 0., S. 15, Anm. 1. Der Satz über den Einfluß der Konfessionen in Schule und Erziehung fehlte bereits in der offiziellen Wiedergabe der Fede im „Völkischen Beobachter“ vom nächsten 1ag. Vgl. dazu auch oben Teil I, Anm. 19.

  36. K. Scholder, a. a. O., S. 190.

  37. Vgl. L. Volk, a. a. O., S. 77 ff.

  38. Für eine bewußte Koordinierung spricht u. a. eine Erklärung Papens vor der Spruchkammer im Januar 1949, er habe „zu einem sehr frühen Zeitpunkt, im April [1933] bereits, Hitler vorgeschlagen, die Rechte der beiden Kirchen durch Verträge zu sichern. Er war damit einverstanden." Zitiert nach E. Deuerlein, Das Reichskonkordat, 1956, S. 110. Noch früher — nämlich auf „unmittelbar nach dem 30. Januar 1933" — datiert Papen seine Initiative in einem Schreiben an den deutschen Vatikan-Botschafter v. Bergen vom 7. April 1934. Vgl. G. Lewy, Die katholische Kirche und das Dritte Reich, 1965, S. 79.

  39. A. Kupper, Staatliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933, 1969, S. 10.

  40. Ebda., S. 237

  41. Ebda.

  42. Joseph Gauger, Chronik der Kirchenwirren, 1. Teil 1932— 1934, 1934, S. 69.

  43. Volk und Kirche. Die amtlichen Berichte der ersten Reichstagung 1933 der GDC, 1933, S. 44.

  44. Zitiert nach Bracher, Sauer, Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, 1960, S. 344.

  45. H. Brüning, Memoiren, a. a. O., S. 358.

  46. Kupper, Staatliche Akten, a. a. O., S. 298 f.

  47. A. a. O„ S. 306.

  48. Stasiewski, Akten, a. a. O., S. 548.

  49. A. a. 0., S. 879 f.

  50. Gauger, a. a. O., S. 74.

  51. Zitiert bei H. Schmid, Apokalyptisches Wetterleuchten, 1947, S. 39 f.

  52. Theologische Existenz heute!, in: „Dialektische Theologie" in Scheidung und Bewährung, a. a. O., S. 43.

  53. Ebda., S. 44.

  54. Junge Kirche I, 1933, S. 100.

  55. J. Beckmann (Hrsg.), Kirchliches Jahrbuch 1933 bis 1944, 1948, S. 85 f.

  56. D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1959, S. 283.

  57. Dazu für die katholische Seite E. W. Böcken-förde in Hochland, 53. Jg. (1960), S. 225 ffiiu die evangelische Seite E. Wolf, Barmen 195 S. 36 ff.

  58. 1. Auf!. 1930, Gesamtauflage bis 1940: 850 000.

  59. An die Dunkelmänner unserer Zeit, 30. Aufl. (!), °'J. S. 3.

  60. H. G. Seraphim (Hrsg.), Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs, dtv Dokumente 219, 1964, S. 70 f.

  61. K. D. Schmidt (Hrsg.), Dokumente des Kirchenkampfes II, Die Zeit des Reichskirchenausschusses, 1. Teil, 1964, S. 703.

  62. Hans Müller, Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Dokumente 1930— 1935, 1963, S. 379.

  63. K. D. Schmidt, a. a. O., S. 696 ff.

  64. Text bei Dieter Albrecht, Der Notenwechsel zwischen dem Hl. Stuhl und der deutschen Reichs regierung I, 1965, S. 404 ff.

  65. Archiv für katholisches Kirchenrecht 118 (1938), S. 286 f.

  66. Ebda, 119 (1939), S. 446 ff.

  67. Rundschreiben Nr. 8/39 g, Bundesarchiv Koblenz, NS 6/330.

  68. Texte bei P. Gürtler, Nationalsozialismus und evangelische Kirchen im Warthegau, 1958, S. 192 f. und 260 ff.

  69. Text bei J. Beckmann, Kirchliches Jahrbuch, a a. O„ S. 237 f.

  70. Text ebda, S. 262.

  71. Nachweise bei K. Scholder, Die evangelische Kirche in der Sicht der nationalsozialistischen Führung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, '6. Jgg. 1968, S. 32 f.

  72. Schreiben des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei Lammers an den Stellvertreter des Führers, Reichsminister Heß, vom 23. 4. 40, Bundesarchiv Koblenz R 43 11/155.

  73. Bundesarchiv Koblenz NS 6/336. Das Schreiben mußte auf persönlichen Befehl Hitlers kurz daran zurückgezogen werden. Abschriftlich zirkulierte es trotzdem schon 1941 in den oppositionellen Kreisen beider Kirchen. Text bei F. Zipfel, Kirchen kampf in Deutschland, 1965, S. 511 ff.

  74. Protokoll der Sitzung durch freundliche mittlung von H. Auerbach, Institut für geschichte, München.

  75. Lewy, Die katholische Kirche, a. a. O., S. 241 f.

  76. Text im Kirchlichen Jahrbuch, a. a. O., S. 263.

  77. Ebda., S. 265 f

  78. Text im Kirchlichen Jahrbuch, a. a. O., S. 478 f.

  79. E. Klügel, Die Lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933— 1945, 1964, S. 409, Anm. 167.

  80. G. Schäfer (Hrsg.), Landesbischof Wurm und der nat. soz. Staat, 1968, S. 126.

  81. J. Neuhäusler, Kreuz und Hakenkreuz, a. a. O II, S. 366.

  82. Text im Kirchlichen Jahrbuch, a. a. O., S. 482.

  83. Zitiert nach Lewy, Die katholische Kirche, a. a. O., S. 313.

  84. Text bei Neuhäusler, a. a. O„ II, S. 373.

  85. Text bei W. Niesel, Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, 1949, S. 104 ff.

Weitere Inhalte

Klaus Schulde r , Dr. theol., o. Professor für Kirchenordnung am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Tübingen; geb. 1930; Forschungsgebiete: Neuere Theologiegeschichte, kirchliche und politische Zeitgeschichte, Kirchenordnung. Veröffentlichungen u. a.: Kirche, Staat, Gesellschaft, in: Evangelische Theologie 18 (1958); Ideologie und Politik, in: Aus Politik und Zeit-geschichte B 30/62; Neuere deutsche Geschichte und protestantische Theologie, in: Evangelische Theologie 23 (1963); Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, München 1966; Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, in: Festschrift Hanns Rückert, 1966; Die Bedeutung des Barmer Bekenntnisses für die Evangelische Theologie und Kirche, in: Evangelische Theologie 27 (1967); Die Kirche — ihre Institutionen im Wandel der Geschichte, in: Herausgeforderte Kirche (1970).