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Reaktionen in Asien auf das Godesberger Programm | APuZ 48/1969 | bpb.de

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APuZ 48/1969 „public relations" -oder das Vertrauen der Öffentlichkeit Gefahren für die Freiheit von Rundfunk und Fernsehen? Reaktionen in Asien auf das Godesberger Programm

Reaktionen in Asien auf das Godesberger Programm

Gebhard Hielscher

Der folgende Beitrag enthält zustimmende und kritische Reflexe auf das Godesberger Programm in einigen Ländern Ost-und Südostasiens. Für die Diskussion von Programmen demokratischer Parteien wird hier eine neue Dimension sichtbar — die Dimension einer Art „Weltinnenpolitik". Parteiprogramme, bisher ganz überwiegend Gegenstand „landesinterner" Erörterung, erweisen sich hier, am Beispiel des Godesberger Programms, als geistig-politische Ereignisse von bemerkenswerter Ausstrahlung über die Grenzen hinaus. Gedanken eines neuen Programms finden Resonanz bei Parteien anderer Länder, vor allem, wenn sie sich als — engere oder entferntere — politische Verwandte empfinden. In späteren Beiträgen beabsichtigt die Redaktion über internationale Auswirkungen von Programmen anderer demokratischer Parteien zu berichten.

Vor nunmehr zehn Jahren hat sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) auf ihrem außerordentlichen Parteitag vom 13. bis 15. November 1959 ein neues Grundsatzprogramm gegeben — das sogenannte Godesberger Programm.

Als Hauptmerkmale des neuen Programms können die folgenden Punkte angesehen werden: Die endgültige Aufgabe des Selbstverständnisses der SPD als einer Partei der Arbeiterklasse zugunsten des Konzepts einer Volkspartei, die jedermann offensteht.

Im Godesberger Programm findet diese Entwicklung ihren Niederschlag u. a. in folgenden Formulierungen: „Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden. . . . Auf deutschem Boden sammeln sich die Sozialisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die jeden in ihren Reihen willkommen heißt, der sich zu den Grundwerten und. Grundforderungen des demokratischen Sozialismus bekennt." 1) Überwindung schematischer Ordnungsvorstellungen im wirtschaftlichen Bereich — wie das langjährige Dogma von der Sozialisierung der Produktionsmittel — durch eine elastische, den Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft angepaßte Haltung. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Sozialisierung nur eines unter mehreren Mitteln ist — niemals aber ein Selbstzweck —, fordert das Programm den Aufbau einer Gesellschaft, in der der Arbeitsertrag gerecht verteilt wird, wo jedermann die Chance erhält, durch faire Beteiligung an den Gewinnen der Volkswirtschaft Vermögen anzusammeln und in der die wirtschaftliche Macht durch Instrumente wie die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, Anti-Monopolgesetzgebung und, soweit erforderlich, Sozialisierung der Produktionsmittel demokratischer Kontrolle unterworfen wird.

Das Godesberger Programm drückt diese Vorstellungen u. a. mit den Worten aus: „Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand und eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft. 2). „Wirksame öffentliche Kontrolle muß Machtmißbrauch der Wirtschaft verhindern. Ihre wichtigsten Mittel sind Investitionskontrolle und Kontrolle marktbeherrschender Kräfte.

Gemeineigentum ist eine legitime Form der öffentlichen Kontrolle, auf die kein moderner Staat verzichtet. Sie dient der Bewahrung der Freiheit vor der Übermacht großer Wirtschaftsgebilde. .. . Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig." „Die Sozialdemokratische Partei will Lebensbedingungen schaffen, unter denen alle Menschen in freier Entschließung aus steigendem Einkommen eigenes Vermögen bilden können. Das setzt eine stetige Erhöhung des Sozial-produkts bei gerechter Verteilung voraus." 3. Ersetzung des Anspruchs einer „Weltanschauungspartei“ — bei der Sozialismus als eine Art absoluter Ideologie eine ähnliche Rolle spielt wie die Religionen („Ersatzreligion") — durch Respekt gegenüber der besonderen Aufgabe der Kirchen und Toleranz gegenüber den Religionen mit der Folge, daß jedes Parteimitglied in religiösen Fragen seinen eigenen Glaubensvorstellungen anhängen kann und zwischen der Partei und den Kirchen eine echte Koexistenz und sogar eine Zusammenarbeit möglich wird mit dem Ziel, die lange Geschichte der Konfrontation und des Antagonismus zu beenden.

Die entsprechenden Formulierungen im Godesberger Programm lauten: „Der kein Religionsersatz. Sozialismus ist Die Sozialdemokratische Partei achtet die Kirchen und die Religionsgemeinschaften, ihren besonderen Auftrag und ihre Eigenständigkeit . . . Zur Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Sinne einer freien Partnerschaft ist sie stets bereit . . . Freiheit des . .. Glaubens und des Gewissens und Freiheit der Verkündigung sind zu sichern. Eine religiöse oder weltanschauliche Verkündigung darf nicht parteipolitisch . . . mißbraucht werden."

Das Godesberger Programm wurde von seinen Anhängern als ein Durchbruch zum modernen demokratischen Sozialismus gefeiert, während seine Kritiker der SPD vorwarfen, sie habe mit der Annahme des Programms das Vermächtnis der Arbeiterklasse verraten.

Als ein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie hat das Godesberger Programm auch außerhalb Deutschlands Beachtung gefunden. Auf den folgenden Seiten werden Stellungnahmen und Kommentare zum Godesberger Programm aus Asien wiedergegeben. Die Zusammenstellung ist das Ergebnis einer Umfrageaktion, mit der versucht wurde, zwei Typen von Materialien zum Godesberger Programm zu ermitteln, nämlich a) Stellungnahmen aus der Zeit der Verabschiedung des Godesberger Programms (also von 1959/60)

und b) Kommentare aus heutiger Sicht (die in der Zeit von Anfang August bis Mitte Oktober dieses Jahres abgegeben worden sind). Zu diesem Zweck wurden gleichlautende Anfragen — deren Inhalt ungefähr der eingangs versuchten Einführung entsprach — an insgesamt 65 Persönlichkeiten aus den Bereichen Politik, Wissenschaft und Kirchen in den Ländern Ceylon, Indien, Indonesien, Japan, Korea (Süd), Malaysia, Philippinen und Singapur gerichtet. Die Auswahl der Adressaten erfolgte nach deren vermutetem Interesse an der Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. Bis zum 15. Oktober 1969 sind insgesamt 27 Antworten eingegangen. Zwei weitere Stellungnahmen Dritter wurden von einem Adressaten aus eigener Initiative vermittelt. Je einen Aufsatz und einen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1959 hat der Verfasser in Archiven ausfindig gemacht. Auf ein Buch, das Stellungnahmen zum Godesberger Programm enthält, wurde er von einem Umfrageadressaten aufmerksam gemacht. Nachfolgend wird der Inhalt aller Stellungnahmen und Kommentare insoweit wiedergegeben — in der Regel als Übersetzung aus dem Englischen oder Japanischen, während ein Interview sogar in deutscher Sprache geführt werden konnte —, als diese eine sachliche Äußerung im Zusammenhang mit dem Godesberger Programm enthalten. Dabei wird, soweit das möglich war, eine Kurzinformation über den Verfasser der Stellungnahme bzw. über seine Organisation vorausgeschickt. Die vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, einigen Stimmen aus Asien bei der weiteren Diskussion um das Godesberger Programm und seine Bedeutung als ein Dokument des demokratischen Sozialismus Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig ist diese Zusammenstellung als ein Zeugnis dafür gebracht, welche Beachtung einige Entwicklungen der deutschen Innenpolitik in interessierten Kreisen Asiens finden.

A. Stellungnahmen aus der Zeit der Verabschiedung des Godesberger Programms

Aus dieser Zeit konnten nur japanische Quellen ermittelt werden.

Japan 1. Ungezeichneter Artikel in der Wochenzeitschrift „Shakai Shimpo", dem Organ der Sozialistischen Partei Japans (SPJ), Ausgabe vom 5. Dezember 1959, S. 2.

Einführung:

Die SPJ besteht in ihrer jetzigen Form seit 1945. Die Partei vereinigt in sich sehr verschiedene ideologische Richtungen von der Sozialdemokratie im westeuropäischen Sinne bis hin zu einem Peking-freundlichen links-marxistischen Flügel. Innerparteiliche Fraktionskämpfe um die Besetzung der Führungspositionen des Parteiapparats spiegeln sich entsprechend in Parteidokumenten, Vorstandsbeschlüssen und Parteiorganen wie „Shakai Shimpo" wider. Ungefähr einen Monat vor Verabschiedung des Godesberger Programms durch die SPD hat sich die SPJ durch Ausschluß des von Suehiro Nishio geführten Flügels gespalten, der sich anschließend zu einer selbständigen Partei formierte, der Demokratisch-Sozialistischen Partei Japans (DSP). Die SPJ ist im japanischen Unterhaus mit 137 von 486 Sitzen die stärkste Oppositionspartei (DSP 31 Mandate). SPJ und DSP sind Mitglieder der Sozialistischen Internationale 6).

Text:

Das neue Programm der westdeutschen SPD Vergessener Sozialismus/Gefahr des Verfalls zu einer dritten konservativen Partei „Die SPD hat ein neues Programm angenommen, das sich von den Traditionen des Marxismus entfernt." „Nach ihren drei aufeinander-folgenden Wahlniederlagen überprüft die englische Labour Party ihre Verstaatlichungspolitik." „Der Kapitalismus hat sich geändert.

Verbürgerlichung der Arbeiterklasse." Solche und ähnliche Propagandaäußerungen werden in der kommerziellen Presse ungefähr zur gleichen Zeit gemacht, zu der Nishio seine neue Partei gründet. Das Parteiorgan der SPJ hat mit einer genauen Analyse dieser Fragen begonnen. Bisher liegt jedoch erst die folgende Analyse der Planungsund Forschungsabteilung vor:

(1) Das neue Programm der SPD ist im ganzen gesehen sehr allgemein gehalten. Es klingt nicht wie ein konkretes Programm zur Verwirklichung des Sozialismus, sondern mehr wie ein Instrument zur Gewinnung unentschiedener Stimmen aus den Mittelschichten. Wenn man z. B.den für Deutschland wichtigsten Punkt herausgreift, nämlich einen Friedensvertrag für Ost-und Westdeutschland und die demokratische Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands, so heißt es dazu nur abstrakt: „Die Spaltung bedroht den Frieden." Während die ganze Welt den Weg des Tau-wetters, den Weg des Friedens und der Abrüstung einschlägt, wird in dem neuen Programm kein konkreter Weg zur Friedensförderung gezeigt, vielmehr weist es sogar in eine der allgemeinen Weltlage entgegengesetzte Richtung. Die Anerkennung der Notwendigkeit der Landesverteidigung und des Ausbleiben einer Äußerung gegen die Wehrpflicht usw. weisen auf die Gefahr hin, daß auch die SPD vom imperialistischen Nationalismus beeinflußt sein könnte, der in letzter Zeit in Westdeutschland auf Grund einer Verstärkung der Atombewaffnung und Erweiterung der Rüstungsindustrie allgemein vorherrschend geworden ist. Das könnte, wenn man es aus der Perspektive eines langfristigen Kampfes sieht, zu einem bedeutsamen Verlust und Makel werden, der durch den vorübergehenden Gewinn von Stimmen der Mittelschichten nicht wieder gut gemacht werden könnte. (2) In dem neuen Programm werden für das wichtigste Prinzip des Sozialismus, nämlich den öffentlichen Besitz der Produktionsmittel, sehr ungenaue Ausdrücke verwendet. Z. B. „Gemeineigentum nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung und Dezentralisierung" oder „Investitionskontrolle und Kontrolle marktbeherrschender Kräfte". Aber wieweit und auf welche Weise das konkret geschehen soll, wird nicht klar. Man muß daher noch den Verlauf der konkreten Diskussion analysieren.

Man sagt, in Westdeutschland seien die Gewerkschaften durch das Recht der Mitbestimmung am Betrieb beteiligt. Tatsächlich aber weiß jeder, daß die wirkliche Macht in der Wirtschaft und den Betrieben in den Händen der Monopolkapitalisten liegt. Unter diesen Umständen ist das neue Programm, wenn man es nicht nur als eine vorübergehende Sache ansieht, in letzter Konsequenz auf Grund seiner Anerkennung des Prinzips der freien Marktwirtschaft und der Ablehnung der Sozialisierung bestimmter Industrien nicht einmal ein Programm des demokratischen Sozialismus, sondern das Programm eines modifizierten Kapitalismus. Wenn dann in Zukunft die Widersprüche des Kapitalismus nicht mehr allein durch den modifizierten Kapitalismus (die Kontrolle der Finanzen) gelöst werden können, wird dieses Programm wieder modifiziert. Auch der demokratische Sozialist D. H. Cole (Fabier) hat den öffentlichen Besitz der Produktionsmittel für ein Prinzip des Sozialismus gehalten. Also hat sich das neue Programm nicht nur vom Marxismus getrennt, sondern auch vom Prinzip des demokratischen Sozialismus. Die gleiche Frage stellt sich auch bei der englischen Labour Party. Gegenüber einigen Stimmen aus der Mitte der Partei, welche die Sozialisierungspolitik zurückziehen wollten, erklärte Bevan: Die Wahlen wurden deshalb verloren, weil man sich nicht zum System des Sozialismus bekannt hat und deshalb der politische Unterschied zur Konservativen Partei nicht klar war. Parteiführer Gaitskell hat dazu geäußert, daß er an der jetzigen Politik der Labour Party festhalte. (3) Warum hat ausgerechnet die SPD ein neues Programm verfaßt? Das liegt daran, daß sie sich in der Beurteilung vorübergehender Erscheinungen getäuscht und eine langfristige, grundsätzliche Betrachtungsweise aufgegeben hat. Wenn sich die kapitalistische Wirtschaft im Aufschwung befindet, begünstigt das bei der Wahl die konservative Partei. In der Wirtschaft geht es zur Zeit relativ friedlich zu. Gerade in Westdeutschland gab es nach dem Kriege bei Industrie und Bergbau ein enormes Wachstum, welches durch den großen Wiederaufbaubedarf der Nachkriegszeit im Anschluß an die Inflation und Produktionsverknappung gegen Kriegsende und zu Beginn der Nachkriegszeit und durch die verborgene Produktionskraft und die technologischen Reformen gemeinsam ermöglicht worden ist. Dadurch hat man sich täuschen lassen und angenommen, es gäbe bereits einen Kapitalismus ohne Krisen.

Aber die Zeit des Wiederaufbaubedarfs ist vorbei und die technischen Reformen machen in der Welt die Runde. Der internationale Marktwettbewerb des Kapitalismus wird sich immer weiter verschärfen, andererseits wird der Pro-Kopf-Anteil des einzelnen am Bruttosozialprodukt in der ganzen Welt immer geringer werden. Dann wird die Richtung der Abrüstung und friedlichen Koexistenz sich endgültig durchsetzen und es gibt keine Hoffnung mehr auf eine Rüstungsinflation. Es gibt keine Gewähr dafür, daß nicht in Zukunft eine Krise kommt, die mit einer Politik des modifizierten Kapitalismus zu kontrollieren ist. Für eine sozialistische Partei, die diese Änderung der Lage des Kapitalismus nicht durchschaut und seine vorübergehnde Blüte fälschlich für langfristig hält, ist es daher ein gründlicher Fehler, wenn sie sich deshalb vom Sozialismus trennt und sich ein Programm des modifizierten Kapitalismus gibt. (4) Der nächste Grund war, daß „sich in letzter Zeit eine Veränderung des Kapitalismus im Sinne einer Verbürgerlichung der Arbeiterklasse gezeigt hat. Daher muß man ein neues Programm machen, das auch für die bürgerlichen Mittelschichten annehmbar ist." Aber es ist ebenfalls eine Täuschung, wenn man die Modernisierung und qualitative Aufwertung eines Teils der Arbeiterschaft für eine Verbürgerlichung hält.

In Japan ist das politische Bewußtsein der Arbeiter in gewissem Sinne sogar fortschrittlicher als anderswo. Wenn jetzt das Bewußtsein der Oberschicht der und deutschen englischen Arbeiter wegen ihres Aufstiegs vorübergehend etwas konservativer geworden ist, so werden sich diese Arbeiter in Zukunft, wenn der Kapitalismus wieder eine Depressionsphase hat und die Überschüsse aus den Kolonien sich verringern, bestimmt den Angriffen von Seiten des Kapitals ausgesetzt sein und wieder ein erhöhtes politisches Bewußtsein entwickeln.

Für die japanischen Bauern ist nach der Land-reform bei guter Ernte endlich ein normales menschliches Leben möglich geworden, doch spüren sie jetzt auch die Schranke der niedrigen Preise von Weizen, Süßkartoffeln und Milch, die vom Druck des Monopolkapitals herrühren. Das Leben der städtischen Mittelschichten ist in Wirklichkeit labiler als vor dem Kriege. Besonders im Fall Japans, wo — anders als in Westdeutschland oder England — der größte Teil der Bevölkerung aus kleinen und mittleren Unternehmern, Bauern und zehn Millionen Menschen mit sehr niedrigem Einkommen — monatlich nur 2000 Yen — besteht, muß man sagen, daß es nur leere Theorie und unrealistisch ist, wenn man nicht gegen das Monopolkapital kämpft und wie die neue Nishio-Partei in ihrem Bemühen um Beliebtheit nur von einer Theorie zum Schutze der bürgerlichen Mittelschichten spricht. Wenn nicht auch die mittleren Schichten gegen die Politik des Monopolkapitals kämpfen, wird es keine echte Befreiung und Aufwärtsentwicklung geben. Und wenn man seine Politik und seine Grundsätze so ungenau formuliert wie in Westdeutschland oder bei Nishios neuer Partei, dann gibt es keinen anderen Weg, um die mittleren Schichten auf die Seite des Sozialismus zu ziehen, als selber die dritte konservative Partei zu werden. Innerhalb der Massenorganisationen, der Ausbildungs-und Aufklärungsbewegungen und bei den alltäglichen Aktivitäten soll man den klaren Glauben an den Sozialismus verbreiten — das ist der richtige Weg. Ein altes Sprichwort sagt, wenn man es eilig hat, soll man einen Umweg machen.

Zu einer demokratischen Verwirklichung des Sozialismus bedarf es in jeder fortgeschrittenen kapitalistischen Nation einer Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten. Im Falle Japans sind wir der Ansicht, daß das politische Programm der Sozialistischen Partei Japans zutreffender ist.

2. Professor Tamio Kawakami: Vortrag, gehalten am 12. Dezember 1959, abgedruckt in der Monatsschrift „Dojin", Ausgabe vom 1. März 1960 (Gründungsnummer), S. 1— 7.

Einführung:

Tamio Kawakami ist der Sohn des früheren Vorsitzenden der SPJ, Jotaro Kawakami. Er ist Unterhausabgeordneter für die SPJ und gehört in der Partei zum sozialdemokratischen, nach seinem Vater benannten Kawakami-Flügel. Professor Kawakami lehrt Politische Wissenschaften an der Tokai Universität.

Text:

Uber das neue Programm der SPD — besonders über seine Aufnahme — Auf einem außerordentlichen Parteitag, der vom 13. bis 15. November 1959 in der Nachbarstadt Bonns, in Bad Godesberg, abgehalten worden ist, hat die SPD ein neues Programm angenommen, das sich endgültig vom Marxismus trennt. Das Programm wurde mit 324 gegen 16 Stimmen verabschiedet.

Das Programm hat in Japan zweierlei Aufnahme gefunden. Da ich an der Art der Aufnahme einige Zweifel habe, möchte ich einiges dazu sagen.

Die einen bringen das Programm mit Nishios neuer Partei in Verbindung, erläutern seine Bedeutung und begrüßen es. Sie sagen, die SPD habe eine Wendung um 180 Grad von der Klassenpartei zur Volkspartei gemacht. Das entspreche der allgemeinen internationalen Lage und die SPJ solle entsprechend nachziehen. Den politischen Sinn muß man in diesem Fall darin sehen, daß dadurch der Nachweis geführt wird, daß die neue Nishio-Partei, die den Weg einer Volkspartei vorgeschlagen hat, sich auf internationaler Ebene im Hauptstrom des Sozialismus befindet. Da findet man solche Ausdrücke wie: „Die Zeit des Sozialismus ist zu Ende. Daß man den Sozialismus über Bord wirft, ist die richtige Haltung gegenüber dem Schicksal der sozialistischen Bewegung."

Es gab zwar keinen Leitartikel, der so etwas sagte, aber in dem Auszug aus dem neuen SPD-Programm, den die . Sankei'-Zeitung am 21. Oktober brachte, stand am Anfang des achten Abschnitts des neuen Programms: „Die sozialistische Bewegung hat eine geschichtliche Aufgabe erfüllt" mit dem Untertitel „Ende des Auftrags der sozialistischen Bewegung". Als ich das zunächst gelesen habe, habe ich mich gewundert. Aber hinterher, als ich den vollständigen Text las, wurden an dieser Stelle die Verdienste aufgezählt, welche die sozialistische Bewegung bisher erworben hat. Und dann kommt ein Ausblick auf die Zukunft und Ausführungen über die Bedeutung des Sozialismus, und man sagt, daß weder der Kommunismus noch der Kapitalismus, sondern nur der demokratische Sozialismus die Aufgaben der heutigen Zeit, der Zeit der zweiten industriellen Revolution, lösen kann. Hier steht kein Wort von einem „Ende des Auftrags der sozialistischen Bewegung".

Ich weiß nicht, wie der deutsche Originaltext an dieser Stelle lautet, aber in der von der SPD herausgegebenen englischen Übersetzung heißt es „The socialist movement has a historic mission", und wenn man sich an diese Übersetzung hält, so bedeutet das, „die sozialistische Bewegung hat eine historische Aufgabe", d. h., bis jetzt hat man wichtige Aufgaben erfüllt, aber auch für die Zukunft gibt es eine wichtige Rolle. Der in der Sankei’-Zeitung wiedergegebene Auszug mag eine falsche Übersetzung aus an Sprachkennt -Mangel nis gewesen sein, doch kann es sich kaum um einen reinen Zufall handeln, eher wird man sagen, das sei ein symbolisches Zeichen für diese Art der Aufnahme.

Die andere Art der Aufnahme ist die von Herrn Ichiro Sakisaka. Herr Sakisaka hält das Programm der SPD für das reine Verderben, für einen Sturz in den Abgrund, an dem nichts zu verteidigen ist, und er schrieb in der Zeitschrift Shakaito’ eine einfache Kritik darüber, in der er sagte: „Das ist kein Sozialismus mehr." Aber das ist dasselbe, was er im letzten Jahr in Shakaito’ geschrieben hat, als die SPD ihren Entwurf veröffentlichte (im Mai 1958) und er auf ihrem Stuttgarter Parteitag diskutiert wurde. Damals hat Herr Sakisaka in einer Diskussion (Rundgespräch über „Das Konzept der SPD" vom Januar 1959) folgende Meinung vertreten:

Ich habe das Gefühl, als ob ich die wörtliche Form der Erklärung der Französischen Revolution lese. Bei der Erklärung der großen Französischen Revolution findet man noch einen Sinn, einen Esprit, aber dies hier ist ganz ohne solchen Sinn, es sind nur die Worte der Erklärung der Französischen Revolution. Wenn man es liest, kann man das Wort . Sozialismus’ sehen, aber wo der Sozialismus ist, versteht man nicht.

Zu dieser Zeit gab es ein ziemlich bekanntes Professor Buch von Kentaro Hayashi: „Überprüfung des modernen Sozialismus". Natürlich wird Herr Sakisaka niemals diese Gedanken von Professor Hayashi aus der letzten Zeit anerkennen, dennoch sagte er bei der Diskussion über das Godesberger Programm: „Der Sozialismus von Kentaro Hayashi ist besser." Professor Hayashi lächelte sauer: „Ich bekam an einer sonderbaren Stelle ein Lob von Professor Sakisaka."

Die Aufnahme des Programms bei den Rezensenten und in den politischen Kreisen verteilt sich im großen ganzen auf diese beiden Richtungen. Nur ein Leitartikel des , Asahi Journal’ vom 29. November 1959 war ganz anders und wurde deshalb auch beachtet. Es wird dort gesagt, daß die Richtungsänderung der SPD nur für die 1961 vorgesehenen Wahlen gedacht sei; im übrigen ist man sehr pessimistisch und fragt, ob diese taktische Änderung gegenüber dem erfolgsstarken Adenauer und Erhard von der CDU wirklich wirksam sein kann.

Wenn man die politische Lage Westdeutsch -lands betrachtet, kann man diese Ansicht nicht einfach vom Tisch fegen. Vor allem den Abschnitt über die Religion hat die SPD, so könnte man meinen, nur in der Absicht angenommen, ihr Fundament nicht wie bisher nur bei den evangelischen Wählern, sondern auch bei den Katholiken zu finden. Wenn man sich aber Gedanken darüber macht, ob das Programm nur zur Lösung solcher Gegenwartsprobleme verfaßt worden ist, kann man diesem Leitartikel doch nicht ganz zustimmen.

Das wird jedem von selber klar, der bedenkt, wie lange an dem Programm gearbeitet worden ist, wie vorsichtig es behandelt wurde, bis man es als neues Programm angenommen hat.

Ich finde daher die erste Art der Aufnahme sehr oberflächlich, weil man dabei über den historischen Werdegang bis zur Annahme des heutigen neuen Programms, über die schweren inneren Kämpfe und blutigen Auseinandersetzungen und über das Gewicht der Geschichte hinwegsieht. Es muß daher als selbstgefälliges Mißverständnis kritisiert werden, wenn man so tut, als sei das neue Programm 1959 plötzlich in der Welt aufgetaucht und man habe dann diese Richtungsänderung um 180 Grad vollzogen.

Die zweite Ansicht, also die von Herrn Sakisaka, beharrt dagegen viel zu sehr auf dogmatischen Vorstellungen, ihr fehlt jede elastische Haltung, um neue Bemühungen zu verstehen, die durch die zeitliche Entwicklung erforderlich werden. Schon daß man die Geschichte allzu statisch betrachtet, widerspricht dem Geist von Marx, dessen wissenschaftliche Haltung darin bestand, die Realitäten unmittelbar zu betrachten.

Die SPD-Vorsitzende Ollenhauer hat bei der Eröffnung des Godesberger Parteitags folgendes erklärt, wodurch Ansichten wie die von Sakisaka scharf widerlegt werden: „Das neue Programm der Partei ist nicht von ihrer marxistischen Vergangenheit zu trennen, sondern eine selbstverständliche Folge der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen. Es wäre ein Widerspruch zum Marxismus, wollte man das Programm von Marx und Engels in das Programm von 1959 mit hineinnehB men" (Sekai Shuho', Ausgabe vom 8. Dezember 1959).

Auf dem letzten Parteitag im Juni 1958 hat die SPD den Entwurf des Programms angenommen; aber wenn man den Entwurf vom letzten und das Programm von diesem Jahr vergleicht, so ist der Inhalt kaum geändert. Nur beim Satzbau und in der Wortwahl gibt es kleine Unterschiede. Meiner Ansicht nach ist die jetzige Fassung besser. (Fußnote: Daß dieses Programm besser ist als der Entwurf von 1958, ist meine persönliche Meinung; es gibt Leute, die den früheren Inhalt besser finden, übrigens wurde bei der Annahme, so heißt es, der Abschnitt über die Verteidigung fast verdoppelt.) Wenn man unbedingt etwas dazu sagen will, so dies, daß man den Eindruck hat, es sei straffer und geordneter als vorher.

Der Programmentwurf vom vergangenen Juni wurde im darauffolgenden Jahr in den verschiedenen Parteigremien durchdiskutiert und die Ergebnisse der Diskussion beim neuen Programm verwertet. Nimmt man dazu noch den Verlauf der Dinge bis zur Veröffentlichung des Programms überhaupt, so muß man fünf Jahre bis 1954 zurückdenken. Erstmals auf ihrem Berliner Parteitag von 1954 hat die SPD eine Einleitung zum Aktionsprogramm angenommen. Anschließend wurde der Parteivorstand mit der Abfassung des Entwurfs für ein Grundsatzprogramm beauftragt. Es wurde beschlossen, daß der Parteitag nach allgemeiner Diskussion ein neues Grundsatzprogramm verabschieden soll. Nach dieser Entscheidung des Parteitags hat der Parteivorstand 34 Ausschußmitglieder ernannt. Dieser Ausschuß hat 40 Vollsitzungen und kleinere Zusammenkünfte abgehalten und den Entwurf des Grundsatzprogramms erst im Jahre 1958 fertiggestellt und dem. Stuttgarter Parteitag vorgelegt, über den Ablauf von jenem Parteitag bis zum letzten Parteitag habe ich schon berichtet. Zunächst vier Jahre lang sorgfältige Erörterung durch die Fachleute, danach noch ein Jahr Diskussion durch alle Parteimitglieder, so daß es insgesamt fünf Jahre Vorbereitungszeit gegeben hat — das ist ein Punkt, den fast alle Zeitungen in unserem Lande übersehen haben.

Es kommt hinzu, daß man schon in der Einleitung zum Berliner Aktionsprogramm von 1954 den Geist des neuen Programms deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Z. B. wird dort betont, daß die SPD eine Partei ist, die ihre Grundlagen in der christlichen Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie hat. Auch der Grundton des neuen Programms pulsiert schon in jenem Aktionsprogramm. Wenn man auch nur diesen einen Punkt sieht, versteht man, daß es nicht so war, daß eine marxistische Partei das neue Programm von 1959 zum Anlaß genommen hat, sich plötzlich von einer Klassenpartei in eine Volkspartei zu verwandeln. Auch ist klar, daß nicht etwa ein Teil der Partei mit unwiderstehlicher Gewalt heraus-gebrochen und zur . Volkspartei'erklärt worden ist.

In diesem Sinne hat Professor Royama auf eine Sache aufmerksam gemacht, und zwar im letzten Teil des Programms auf das „ist geworden“ in dem Satz: „Die Sozialdemokratische Partei ist von einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden." Dieses „ist geworden" klingt etwas anders als das japanische „geworden". Es hat eher die Bedeutung „zur Reife gekommen", während es im Japanischen nur heißt: „Ab jetzt ist sie eine Volkspartei." Als ich ihm zuhörte, ist mir erneut aufgefallen, wie sehr es darauf ankommt. „Ist geworden" wird in der Bibel bei der Schöpfungsgeschichte benutzt („. .. so ist Himmel und Erde geworden") und klingt tiefer als das japanische „geworden". Im englischen Text heißt es: „has turned from a party of the working dass into a party of the people". Kritiker aus verschiedenen Ländern — ich habe das allerdings nicht so genau überprüft — wie z. B. in den repräsentativen Zeitungen Englands und Amerikas haben darüber flüchtig geschrieben, aber im , New Statesman'finde ich keinen Artikel darüber, was natürlich ein Versehen von mir sein kann. Die Zeitschrift , New Statesman'steht der englischen Labour Party nahe und schreibt gewöhnlich über solche internationalen Fragen. Daß sie aber im Vergleich zu den japanischen Zeitschriften nicht darüber geschrieben hat, sollte man nicht außer acht lassen. Der , New Statesman'hat im letzten Jahr eine Rezension des Entwurfs gebracht, und ich habe dort zum erstenmal die englische Übersetzung von „Volkspartei" gesehen.

Daß die japanischen Zeitungen, die im letzten Jahr nicht darauf geachtet haben, in diesem Jahr so viel Wind machen, zeigt eine schlechte Gewohnheit der Japaner, die solche internationalen Fragen ohne Überlegung als Bestätigung für ihre eigene Haltung benutzen wollen.

Was mich am meisten beeindruckt hat, war ein Aufsatz der Journalistin Elsner in Die Welf (Übersetzung in der Yomiuri’-Zeitung vom 7. Dezember 1959), weil sie das Programm in seinem geschichtlichen Zusammenhang gesehen hat. Als ich den Aufsatz las, mußte ich an den tiefen Eindruck denken, den vor acht Jahren, als 1951 die Sozialistische Internationale gegründet und das Frankfurter Programm angenommen wurde, ein Aufsatz von Löwenthal über die historische Bedeutung des Programms auf mich gemacht hatte.

Der Aufsatz von Elsner beginnt so: „Wer etwas anfängt, hat es leicht. Er braucht keine Rücksicht auf Traditionen zu nehmen, er braucht nicht den Mut zur Umkehr oder Selbstkritik ... Er braucht auch keine Leute der Vergangenheit, die ihre alte Denkweise haben und daher mit den schnellen Entwicklungen der Zeit nicht mehr mitkommen, zu überreden oder umzuerziehen . . . Aber so geht es nicht bei der SPD."

Dann würdigt sie die Periode, in der die SPD mit ihrer Erklärung, der Marxismus sei eine . unbestreitbare Wahrheit', vielen armen Arbeitern in schlechtesten Lebensumständen neue Hoffnung gegeben hat, und sagt: „Das kann man nicht einfach wegstreichen. Um das zu schaffen, bedurfte es eines langen Weges, vieler Zwischenstufen, Perspektiven, Änderungen der Gesellschaft und Überwindung der Armut. Der letzte außerordentliche Parteitag hat diese Entwicklung zum Abschluß gebracht." „Man kann es nicht einfach wegstreichen". „Es bedurfte eines langen Wegs, vieler Zwischenstufen, Perspektiven, Änderungen der Gesellschaft, Überwindung der Armut." Einzelne Worte dieses Satzes berühren mich ziemlich, wenn ich an die Tragödie der Spaltung der SPJ und an den Zustand der neuen Nishio-Partei denke.

Nach dieser Einleitung ihres Aufsatzes schreibt Elsner über das Eisenacher Programm und die geschichtliche Entwicklung, in deren Mittelpunkt das fünfmal neugeschriebene Programm der SPD steht. Die fünf Programme der SPD sind: das Eisenacher Programm (1869), Gothaer Programm (1875), Erfurter Programm (1891), Görlitzer Programm (1921) und das Heidelberger Programm (1925). Und dieses Go-desberger Programm ist das erste offizielle Programm der nach dem Kriege wiederaufgebauten SPD, historisch gesehen seit dem Heidelberger Programm von 1925. Erst 34 Jahre später, ganz abgesehen davon, daß die Partei nach acht Jahren von den Nationalsozialisten vertrieben wurde und untertauchen mußte, hat sie dieses neue Programm angenommen.

Wie Sie wissen, stand der Anfang der sozialistischen Bewegung in Deutschland unter dem Einfluß von Lassalle. Er blieb im Lande, ist nicht ausgewandert wie Marx, und führte die Bewegung, die 1863 die erste politische Gruppierung deutscher Arbeiter, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, organisiert hat. Bei einem Duell um ein Mädchen wurde er verletzt und ist daran gestorben, doch übte er noch lange über seinen Tod hinaus beträchtlichen Einfluß auf die deutsche Arbeiterbewegung aus. Marx und Engels haben übers Meer aus England, wohin sie geflüchtet waren, die deutsche Bewegung geführt. Und das erste Programm der Partei, welches Bebel und Lieb-knecht unter dem Einfluß von Marx verfaßt haben, war das Eisenacher Programm.

Später, als sich der Lassalle-Flügel und der Marx-Flügel vereinigten, wurde ein neues Programm angenommen, das Gothaer Programm, mit dem Marx sehr unzufrieden war, weil es zu stark von Lassalle beeinflußt sei.

Seine Gedanken hierüber faßte er in der berühmten „Kritik des Gothaer Programms" zusammen. Zur Zeit des Erfurter Programms war Marx schon tot, aber Engels lebte noch und unterstützte es im großen und ganzen. Das Erfurter Programm hat einerseits die ganze Theorie von Marx übernommen — einschließlich der Sozialisierung der gesamten Produktionsmittel —, andererseits enthielt es verschiedene aktuelle Forderungen wie die Verwirklichung des Acht-Stunden-Tags usw., die unmittelbar mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Zusammenhang standen. Das Erfurter Programm wurde damals 30 Jahre lang als das Programm der SPD verehrt, doch in seiner grundsätzlichen Denkart beherrschte das Programm auch später noch, nämlich die rund 40 Jahre bis zur Unterdrückung der Partei durch die Nazis, die Geschichte der SPD. Die SPD war die Säule der Zweiten Internationale, und selbst Lenin gibt zu, daß „die deutsche SPD lange Zeit unsere Lehrmeisterin war". Und ich glaube, daß auch die Sozialistische Partei Japans in einem gewissen Sinne zunächst nur im Rahmen des Erfurter Programms denken konnte.

über die besonderen Merkmale des Erfurter Programms hat der oben schon erwähnte Löwenthal ganz zutreffend bemerkt, daß das Programm . zweistöckig'sei mit einem Maximalprogramm und einem Minimalprogramm. In dem Maximalprogramm sei die Grundideologie des Marxismus enthalten, während man in das Minimalprogramm die Forderungen nach Verbesserung unmittelbaren Lebensbedingungen ausgenommen habe.

Auch Elsner schreibt über das Erfurter Programm und meint, daß seit dieser Zeit im Programm und in der Politik der SPD utopische Hoffnungen und realistische Gegenwartsforderungen immer miteinander verknüpft waren.

Was aber wird daraus, und was ist tatsächlich daraus geworden, die Methode des Erfurter Programms in die Praxis zu übertragen? Löwenthal schreibt dazu: „In ihrer Sprache waren sie radikal, doch in der Praxis trieben sie es schlimmer als die englische Labour Party, von der sie wenig hielten. Außerdem hat die SPD in unsinniger Weise immer zwischen ihrem Maximal-und Minimalprogramm hin und her geschwankt. Das ist der Grund, warum sie 1933 einfach unterging."

Die Besonderheit des Frankfurter Programms der Sozialistischen Internationale, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen worden war, ist das Bemühen, in Reaktion auf die schwächende Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis einen Mittelweg zwischen den beiden Programmen zu finden. Die gleiche Einschätzung muß auch für das Godesberger Programm gelten. Wenn man an diese Schwäche des Erfurter Programms denkt, an den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, dann kommt einem der Name Bernstein in Erinnerung, des Gegners von Kautsky. Am Wendepunkt des 19. auf das 20. Jahrhundert hatten sie ihren Disput. Und man könnte sagen, daß Bernstein, der eine Änderung der Erfurter Ideologie verlangte, sich-in einem gewissen Sinne in diesem neuen Programm durchgesetzt hat.

Nur darf man dabei nicht vergessen, daß die SPD der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einige Erlebnisse hatte, die Bernstein erspart blieben, und schwer kämpfen mußte, bis sie zu ihrer heutigen Form kam: Erlebnisse mit den Nazis, den Kommunisten, Änderungen des Kapitalismus usw. Aufgrund dieser bitteren Erfahrungen haben die Worte . Freiheit'und . Menschlichkeit'eine noch größere Bedeutung für sie. Das macht dieses neue Programm so bedeutsam und beeindruckend, des-halb stellt es auch an uns seine Fragen. Mit diesem geschichtlichen Hintergrund ist das Programm an uns herangetreten, und wir brauchen dieses geschichtliche Verständnis für seine Beurteilung.

Punkt ist geblieben, und Ein wichtiger übrig zwar die Frage nach dem Inhalt des neuen Programms. Doch darüber wird Kosaku Wada bald eine Untersuchung machen, also werde ich mich darauf beschränken, einige Punkte aufzuzählen. In dem neuen Programm gibt es drei wichtige Dinge, nämlich 1. die Frage nach dem Eigentum, 2. die Landesverteidigung und 3. die Frage der Religion (oder Weltanschauung). Das muß man noch im einzelnen untersuchen, auch soll ein Bericht über die Beratungen und über den Hauptinhalt des Programms herausgegeben werden. Den möchte ich genauer studieren und richtig verstehen.

Jetzt möchte ich nur noch auf eines hinweisen, nämlich daß Deutschland ein deutsches, England ein englisches, Österreich ein österreichisches und jedes Land sein eigenes Programm der demokratisch-sozialistischen Partei hat, das die Besonderheiten der eigenen Lage widerspiegelt (zum Beispiel in der Haltung zur Frage der Sozialisierung). Außerdem fällt mir auf, daß man die optimistische Unterwerfung unter eine allmächtige Ideologie aufgegeben hat aus dem Gedanken heraus, daß jeder Versuch einer Verbesserung der Gesellschaft, solange es Menschen gibt, immer mit Fehlern des menschlichen Verstandes behaftet sein kann. 3. Professor Yoshihiko Seki:

Aufsatz in der Zeitschrift „Jiritsu", Ausgabe vom 15. Januar 1960, S. 38— 43

Einführung:

Yoshihiko Seki gilt in Japan als einer der renommierten Spezialisten für die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung, besonders der englischen und deutschen Sozialdemokratie. Er ist der Verfasser des Entwurfs für das Parteiprogramm der Demokratisch-Sozialistischen Partei (DSP) von 1960, das in seinen Grundzügen auf dem Programm der „Forschungsgesellschaft für sozialistisches Gedankengut“ (Shakai Shiso Kenkyukai) beruht. Auch an der Aufstellung dieses Programms war Professor Seki als langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft maßgeblich beteiligt. Bis zum Sommer 1969 war Professor Seki Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der städtischen Universität in Tokio.

Text:

Das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1) Im letzten September, als die SPJ gerade Gefahr lief, sich wegen des Parteiausschlusses von Nishio zu spalten, stand in einigen Zeitungen ein Bericht über die Veröffentlichung des Konzepts eines SPD-Programms. Das hat vielen SPJ-Führern einen ziemlichen Schock gegeben. Denn nicht wenige der gegenwärtigen Führer der SPJ haben ihr sozialistisches Gedankengut von der deutschen SPD gelernt und haben den Marxismus der SPD für orthodox gehalten. Daß ausgerechnet diese SPD einen Programmentwurf als Volkspartei und ohne Marxismus veröffentlicht hat — genau gesagt handelt es sich um einen zweiten Entwurf, der erste ist schon 1958 veröffentlicht worden —, bedeutet für diese SPJ-Führer, daß ihre bisherigen Vorstellungen über den Sozialismus sogar in Deutschland verneint worden sind. Einige von ihnen blieben ganz ruhig und erklärten: „Dieser Entwurf wird auf dem Godesberger Parteitag am 15. November korrigiert werden, oder man wird dagegen stimmen." Doch beim Parteitag wurde das Programm, abgesehen von einigen Änderungen am Wortlaut, mit Mehrheit angenommen. Diejenigen, welche aus der SPJ ausgetreten sind, haben sich gefreut, daß ihre Theorie von der Volkspartei auf der Weltbühne Unterstützung gefunden hat, aber die in der Partei Gebliebenen konnten ihre Überraschung nicht verbergen. Parteivorsitzender Suzuki meinte, das neue Programm der SPD habe große Ähnlichkeit mit dem SPJ-Programm, doch die Parteizeitung . Shakai Shimpo'kritisierte es als Entartung des Sozialismus.

Aber unabhängig davon, was die Leute von der SPJ darüber denken, ist das neue SPD-Programm epochemachend. Das heißt nicht, daß die Gedanken in dem Programm völlig neu sind. Wenn es nur darum ginge, dann hat die englische Labour Party vor einem halben Jahrhundert das gleiche gesagt. Der Grund dafür, daß es epochemachend ist, liegt darin, daß sich die SPD, die bisher als Partei der marxistischen Ideologie die sozialistische Bewegung in der Welt geführt hat, nun vom Marxismus trennt und als demokratisch-sozialistische Partei neu geboren wird. Ich werde versuchen darzulegen, wie sich das neue Programm vom bisherigen marxistischen Sozialismus unterscheidet. 2) Die bisherigen SPD-Programme — sei es das nach dem Ersten Weltkrieg (1921) angenommene Görlitzer Programm oder das Heidelberger Programm (1925) — standen auf der Grundlage des Erfurter Programms von 1891.

Beim alten Programm gab es zunächst eine Analyse des Kapitalismus und dann wurde prophetisch der Zusammenbruch des Kapitalismus infolge einer Zunahme seiner inneren Widersprüche sowie die Ankunft des Sozialismus beschrieben. In dem neuen Programm hingegen werden nach einem kurzen Vorspruch zunächst die „Grundwerte des Sozialismus"

aufgeführt, also die Gesellschaft, die sich der Sozialismus zum Ziel gesetzt hat, „in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als dienendes Glied der Gemeinschaft verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Menschheit mitwirken kann". Die Partei erstrebt eine Gesellschaftsordnung, die diesen Grundwerten entspricht, aber zugleich wird betont, daß „der Sozialismus eine dauernde Aufgabe ist". Das heißt, der Sozialismus kommt nicht mit kausaler Naturnotwendigkeit, sondern er ist ein Ideal, nach dem alle Menschen streben müssen, um es zu erreichen.

Im alten Programm, das heißt nach marxistischer Vorstellung, hat die Geschichte ihre eigenen Entwicklungsgesetze, die vom menschlichen Willen unabhängig sind; die Geschichte benutzt eine bestimmte Klasse als Mittel zur Erreichung ihres Selbstzwecks, des Sozialismus. Daher mußte eine sozialistische Partei prophetisch den Lauf der Geschichte vorhersagen, und sie hatte die geschichtliche Aufgabe, das Proletariat zu organisieren und in dieser Richtung zu führen. Mit anderen Worten: Der Sozialismus mußte die Regeln der Geschichte, die allerletzte Wahrheit finden.

Das neue Programm beseitigt dieses prophetische Denken. „Der demokratische Sozialismus will keine letzten Wahrheiten verkünden — nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben." Zum zweiten wird an dieser Stelle ein neues Problem geboren. Denn die SPD heißt nicht nur die Leute in der Partei willkommen, die an die altehrwürdigen Dogmen des Marxismus vom Menschen, von der Gesellschaft und von der Geschichte glauben. Diese weltanschaulichen Fragen sind vielmehr Sache jedes einzelnen; die SPD wird ihre Tore Leuten mit allen Weltanschauungen öffnen. Das bedeutet aber nicht, daß der Sozialismus ohne Regeln ist. Denn es ist Grundvoraussetzung, daß man die Grundwerte des Sozialismus anerkennt. Ob man nun diese An-B erkennung aus christlicher, existenzialistischer oder unitaristischer Haltung macht, bleibt jedem überlassen. Die Grundhaltung des Programms ist dabei folgende: Weder der Staat noch eine politische Partei sollen sich in Fragen der Religion und der Weltanschauung einmischen. Das ist von entscheidender Bedeutung. Denn erst von einer solchen Haltung aus gelangt man zum Geist der Toleranz gegenüber der Freiheit des Denkens und Glaubens. Leute, die eine bestimmte Ideologie haben (z. B.den Marxismus), könnten, einmal an die Macht gelangt, nicht der Verlockung widerstehen, ihre Ideologie dem ganzen Volk aufzuzwingen. Mit der Folge, daß die Partei oder der Staat . . . sich in Wissenschaft, Religion und Kunst einmischen und alles außer ihrer offiziellen Ideologie unterdrücken. Daß die SPD in ihrem Programm nicht nür von der Freiheit des Denkens und der Rede spricht, sondern auch die Grundlage für diese Haltung angibt, ist sehr wichtig. Dieses Verlangen nach Freiheit, was man im bisherigen Programm nicht finden konnte, und zwar nicht nur die Freiheit des Geistes, sondern auch eine Garantie dieser Freiheit, wird in diesem Programm als politische Demokratie mehrfach in den Vordergrund gestellt. Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie erst durch den Sozialismus erfüllt — diese Betonung der Übereinstimmung von Sozialismus and Demokratie ist bei dem oben dargelegten Denken eine selbstverständliche Folge. 3) Der dritte Punkt ist, und auch dies scheint mir eine natürliche Folge der obigen Haltung zu sein, daß sich die SPD ganz deutlich gegen den Kommunismus erklärt. Schon zwischen den beiden Weltkriegen war die SPD in ihrer Praxis sehr anti-kommunistisch. Aber es ist nicht einfach, von einer Position des Marxismus her gegen den Marxismus-Leninismus zu sein. Kautsky hat mit Lenin über den Marxismus diskutiert, doch blieb er bei der Diskussion wohl der schwächere. Aber dieses Programm hat sich, wie gesagt, vom Marxismus getrennt, and deshalb gibt es eine klare Stellungnahme aicht nur gegen die Kommunistische Partei, sondern auch gegen den Kommunismus selber ab, und zwar: „Die Kommunisten unterdrükken die Freiheit radikal. Sie vergewaltigen die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Persönlichkeit und der Völker. . .. Auf dem Rücken ihrer Völker errichten sie eine wirtschaftliche und militärische Macht, die zur wachsenden Bedrohung der Freiheit wird." — Die japanischen Links-sozialistenziehen eine Linie zwischen sich und der Kommunistischen Partei, doch gehört es zu ihren Eigenheiten, daß sie nichts gegen den Kommunismus sagen. 4) Der vierte Punkt ist die Hervorhebung, daß auf der Grundlage des Wohlfahrtsstaats ein Kulturstaat aufgebaut werden soll. Was mit Wohlfahrtsstaat und Kulturstaat gemeint ist, wird aus den Begriffen selber nicht klar, doch werden ihre Grundlagen im eigentlichen Text erklärt. Will man es in einen Satz zusammenfassen, so bedeutet es, daß man die Gesellschaft bis in die letzten Winkel hinein mit demokratischem Lebensstil erfüllen will. Das bedeutet nicht nur die Anerkennung einer Konkurrenzpartei bzw.des Mehrparteiensystems und der Dreiteilung der Gewalten, sondern auch die Erkenntnis, daß der Staat ein Mittel ist, um jedem einzelnen die Bedingungen für seine moralische Entwicklung zu schaffen. Im Gegensatz dazu macht der rechts-oder linkstotalitäre Staat den einzelnen zum Objekt des Staates. Das Ideal des Wohlfahrtsstaats oder des Kulturstaats aber ist es nicht, daß der Staat selber die kulturellen Werte schafft, vielmehr bedeutet es die Anerkennung seiner Hebammenfunktion gegenüber dem Bestreben des einzelnen. Es ist dies natürlich nicht der Nachtwächterstaat, aber auch nicht der Gedanke, den Staat wie Hegel als das moralisch Gute zu betrachten. Es ist eine Vorstellung, die auf der Theorie vom pluralistischen Staat beruht. 5) Die fünfte Besonderheit des Programms hängt mit der Wirtschaftsverfassung zusammen. Die bisherigen Mißverständnisse über den Sozialismus beruhen auf dem Gedanken einer Sozialisierung der gesamten Produktionsmittel. Im extremen Fall hieß es, ohne Beseitigung aller Privatvermögen gäbe es überhaupt keinen Sozialismus. Auch das alte Programm hat sich zu diesem Punkt nicht klar geäußert. Als der Besitzer der Produktionsmittel alle Macht hatte — wie im 19. Jahrhundert —, war die einzige Methode zur Verwirklichung der Ideale des Sozialismus sicherlich ein Verbot des Privatbesitzes an Produktionsmitteln. Doch später wurde dies zum Dogma; tatsächlich hat sich auch der Kapitalismus gewandelt, dennoch blieb dieser Gedanke als Mythos erhalten.

Das neue Programm nimmt ganz deutlich Abschied von solchen Mythen. Es betont nämlich, daß die Wirtschaftsordnung des Sozialismus auf ein klassenloses „Leben in Freiheit ohne Abhängigkeit und ohne Ausbeutung" abzielt, nicht aber auf eine Verneinung des Privatvermögens. Es hebt vielmehr das Ziel einer gerechten Verteilung des Privatvermögens hervor. Auch hinsichtlich der Produktionsmittel nimmt das Programm eine positive Haltung ein und erklärt, daß „das private Eigentum Anspruch auf Schutz und Förderung hat, soweit es nicht den Aufbau einer gerechten Sozialordnung verhindert".

Natürlich bedeutet das keine unbeschränkte Anerkennung. Wirtschaftliche Macht ist ebenso wie politische Macht eine zweischneidige Sache. Wirtschaftliche Macht birgt oft die Gefahr des Mißbrauchs in sich — genauer gesagt vor allem dann, wenn große Unternehmen ein Monopol innehaben. Um das zu vermeiden, spricht die SPD von Investitionskontrolle und von der Kontrolle marktbeherrschender Kräfte und nennt als eine Methode solcher Kontrolle das Gemeineigentum. Es heißt dort nämlich: „Gemeineigentum ist eine legitime Form der öffentlichen Kontrolle, auf die kein moderner Staat verzichtet. Sie dient der Bewahrung der Freiheit vor der Übermacht großer Wirtschaftsgebilde." In der modernen Wirtschaft hat der Eigentümer im alten Sinne infolge der Trennung von Eigentum und Management seine wirtschaftliche Verfügungsgewalt verloren; sie ist allmählich in die Hände der Manager gefallen. Um die Macht dieser Manager zu brechen, bleibt die Sozialisierung ein unentbehrliches Mittel, um einzelne Industrien je nach Notwendigkeit in Gemeineigentum überführen zu können; doch ist bemerkenswert, daß das Programm nicht von einem ä-priori-Prinzip der Sozialisierung ausgeht. Das entspricht der Haltung des Hauptstroms der englischen Labor Party. In Artikel 4 der englischen Charta von 1918 steht jedoch, daß die Mittel der Produktion, Verteilung und des Austauschs in öffentlichen Besitz überführt werden sollen, was die Anhängerschaft der SPD in Deutschland nicht so deutlich aussprechen kann, dennoch wird es allmählich in dieser Richtung laufen.

Diese Frage hängt mit den Problemen der Planung zusammen. Nach dem alten Mythos ist Sozialismus gleich Planwirtschaft. Solange sich der Sozialismus als Gegenbewegung zum freien Kapitalismus entwickelt hat, gab es natürlich die Forderung nach irgendeiner Planung in der Wirtschaft. Doch gibt es auch im Bereich der Planung sehr verschiedene Methoden. Die Frage lautet also nicht, ob mit Planung oder ohne Planung, sondern welche Planung. Das neue Programm sagt dazu eindeutig, „freie Konsumwahl und freie Arbeitsplatzwahl sind entscheidende Grundlagen, freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik", und erkennt das Prinzip der Marktwirtschaft an. Auf dieser Basis wird man verschiedene Pläne einführen, um zu verhindern, daß der Markt von einzelnen oder von Gruppen beherrscht wird. Es ist kein Plan zur 'Abschaffung der Marktwirtschaft, sondern er dient der Wiederbelebung des Gedankens der Marktwirtschaft dort, wo sie bereits zerstört worden ist. „Wettbewerb soweit wie möglich — Planung soweit wie nötig!", so lautet das Prinzip, und so soll man diese Worte auch verstehen. 6) Zum Schluß, doch als wichtigste Punkte, kommen die Fragen der Landesverteidigung und der Außenpolitik. Die früheren Programme zeigten darin keine sehr klare Haltung. Gegenüber einer Bürgerwehr war man positiv eingestellt, während die Haltung gegenüber einem stehenden Heer nie klar ausgesprochen wurde. Die Haltung der deutschen SPD in der Weimarer Zeit war so, daß man es zwar in der Praxis anerkannt, doch theoretisch nicht gebilligt hat. Als Folge davon wurde die Wehrmacht in eine SPD-feindliche Haltung getrieben. Doch im neuen Programm steht ganz deutlich, daß man die Landesverteidigung bejaht. Es spricht sich gegen den Besitz von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln aus, bejaht aber das Vorhandensein militärischer Macht und betont besonders, daß zwischen den Soldaten und den demokratischen Kräften des Volkes ein Vertrauensverhältnis bestehen müsse. Natürlich fordert die SPD die Abrüstung und eine mit einer internationalen Polizeitruppe ausgestattete internationale Rechtsordnung. Doch hält sie es bis zur Erreichung dieses Ziels nicht vereinbar für die Haltung einer politischen Partei mit Verantwortungsgefühl gegenüber dem Volk, die einseitige Abrüstung zu fordern.

Im Bereich der internationalen Politik ist man natürlich für eine Stärkung der UNO und betont die internationale Gemeinschaft, zugleich aber gibt man dem sehnlichen Wunsch nach Wiedervereinigung von Ost-und Westdeutschland Ausdruck und spricht sich im übrigen für eine Stärkung regionaler Sicherheitssysteme im Rahmen der Vereinten Nationen aus. Der Gedanke passiver Neutralität ist dabei nicht zu erkennen. Sie äußern sich zwar nicht direkt zum NATO-Problem, doch ist anzunehmen, daß sie eine weitere Mitgliedschaft befürworten, solange die gegenwärtige internationale Spannung anhält. Zum Geist der Außenpolitik der japanischen SPJ besteht ein Unterschied wie Tag und Nacht. 7) Es ist natürlich ganz einfach, diese Haltung der SPD vom Standpunkt des alten Marxismus aus zu kritisieren. Man könnte sagen, das ist kein Sozialismus mehr oder es ist ein Verrat daran. Aber es gibt nirgendwo ein Gesetz, daß der Marxismus der einzig richtige Sozialismus ist. Diese Losung gilt nur im Kreise der Marxisten. Wenn man die Entwicklung des sozialistischen Denkens ohne Vorurteil verfolgt, muß man anerkennen, daß Marx ein hervorragender sozialistischer Denker des 19.

Jahrhunderts war, aber es läßt sich auch nicht bestreiten, daß er nur einer von ihnen war und daß sein eigenes Denken — zumindest in der Frühzeit — eher humanistisch und anders war, als die späteren sogenannten Marxisten den Marxismus verstehen. Als Haupt-strom des Sozialismus muß vielmehr der ethische, auf dem Humanismus basierende Sozialismus angesehen werden. Aus diesem Blickwinkel gesehen bleibt das neue Programm der SPD den Traditionen des Sozialismus treu. Damit hat die SPD nach fast ein halbes Jahrhundert währenden Umwegen wieder zu der echten Tradition des Sozialismus zurückgefunden. Auch die sozialistische Bewegung Japans, die unter dem Einfluß der deutschen SPD stand, dürfte nicht mehr weit davon entfernt sein, zur Tradition des echten Sozialismus zurückzukehren. Anzeichen dafür werden allmählich sichtbar.

B. Kommentare zum Godesberger Programm aus heutiger Sicht

Indien 4. Prem Bhasim Schriftliche Stellungnahme vom 19. August 1969

Einführung:

Prem Bhasim ist der Generalsekretär der „Praja Socialist Party" (PSP), einer von zwei sozialistischen Parteien Indiens, mit 23 von 494 Sitzen im indischen Unterhaus. Die PSP ist seit vielen Jahren Mitglied der Sozialistischen Internationale. Die Stellungnahme Prem Bhasims erfolgte zugleich im Namen des Parteivorsitzenden N. G. Goray.

Text:

Ich fürchte, niemand von uns hat jemals eine Stellungnahme zum Godesberger Programm der SPD abgegeben. Mir ist auch nicht bekannt, ob andere Parteien oder politische Führer in Asien sich dazu geäußert haben. 5. Brij Mohan Toofan Schriftliche Stellungnahme vom 20. August 1969

Einführung:

Brij Mohan Toofan ist Vorstandsmitglied und Sekretär des Außenpolitischen Ausschusses der PSP. Er hat an vielen Kongressen und Tagungen der Sozialistischen Internationale teilgenommen.

Text:

Vermutlich haben nur sehr wenige Leute in Asien etwas über das Godesberger Programm gehört. Ich würde sogar bezweifeln, ob auch nur zehn Leute (in Asien) davon gehört haben.

Indonesien 6. Djoeir Moehamad Schriftliche Stellungnahme vom 9. Oktober 1969

Einführung:

Djoeir Moehamad war Vorstandsmitglied der unter dem früheren Präsidenten Soekarno verbotenen und noch nicht wieder zugelassenen „Partai Socialis Indonesia“. Die PSI war Mitglied der mit der Sozialistischen Internationale verbundenen „Asian Socialist Conference“ — die ihren Sitz in der burmesischen Hauptstadt Rangun hatte, bis ihr Fortbestehen durch den Staatsstreich von General Ne Win im März 1962 unmöglich gemacht wurde —, jedoch niemals der Sozialistischen Internationale selber. Heute gehört Djoeir Moehamad dem aus neun Mitgliedern bestehenden Kollektivsekretariat der „Gerakan Kerakjaten Gembangunan" (Demokratische Volksbewegung) an, einer Nachfolgeorganisation der PSI, die eigene Kandidaten aufstellen will, sobald in Indonesien wieder Parlamentswahlen zugelassen werden.

Text:

Als langjähriger überzeugter Sozialist und Vorstandsmitglied der (unter dem Soekarno-Regime aufgelösten und vom Soeharto-Regime noch nicht wieder zugelassenen) Partei Socia-lis Indonesia habe ich keinerlei Einwendungen gegen das Godesberger Programm der SPD und stimme seinem Inhalt im großen ganzen zu. Und zwar deshalb, weil es das Hauptziel des Sozialismus ist, Arbeit und Produktion zu regulieren, ihre Früchte so gerecht wie möglich unter den Mitgliedern der Gesellschaft aufzuteilen, die Aufrechterhaltung der Grundrechte wie auch der persönlichen Freiheit zu garantieren, indem der Religion und dem Glauben des Volkes Toleranz entgegengebracht und ihre moralische und geistige Integrität respektiert wird.

Nachdem die sozialistischen Parteien wiederholte Niederlagen, Stagnationen, Spaltungen und unpopuläre politische Einstellungen und Maßnahmen durchgemacht haben, glaube ich, daß die Führer der sozialistischen Parteien und Bewegungen in den Entwicklungsländern, wo Traditionalismus, religiöser Fanatismus und Feudalismus noch tief im Leben der Masse verwurzelt sind, die gegenwärtigen Ideologien und politischen Einstellungen ihrer jeweiligen Parteien wie auch deren organisatorische Struktur einer Überprüfung und Neubewertung unterziehen sollten, um sie in die Lage zu versetzen, von ihren Völkern ohne Zögern anerkannt zu werden.

Es ist unsere höchste Pflicht, uns nunmehr frei zu machen von den bestehenden Hindernissen für eine Verwirklichung der sozialistischen Ziele, anstatt uns weiterhin mit dem überalterten Dogmatismus und einer versteiften und verhärteten Haltung herumzuschlagen.

Die Errungenschaften, welche die SPD mit ihrem Godesberger Programm zustande gebracht hat, sollten uns zu einer solchen Über-prüfungund Neubewertung ermuntern. Mi einer solchen Grundeinstellung können wij dann unser eigenes Grundsatzprogramm neu formulieren, das den Bedingungen unserer Gesellschaft und Umwelt angepaßt sein sollte Doch sollten wir nicht unseren alten Fehlel einer blinden Übernahme der Dogmen unc Theorien der früheren westlichen sozialistischen Parteien wiederholen, denen es nicht gelungen ist, ihre Ziele zu erreichen. 7. Soedjatmoko Schriftliche Stellungnahme vom 26. August 1969

Einführung:

Soedjatmoko gehört zu den führenden Theoretikern der PSI. Er ist gegenwärtig indonesischer Botschafter in Washington und gehört dem Kollektivsekretariat der „Gerakan Kerakjatan Gembangunan“ an.

Text:

Das Godesberger Programm ist sicherlich ein sehr bedeutsamer Meilenstein in der Entwicklung des Sozialismus; es wäre wichtig, seine Bedeutung und seine Mängel für den sozialistischen Kampf in den unterentwickelten Ländern darzustellen. 8. Dr. T. B. Simatupang Schriftliche Stellungnahme vom 3. September 1969

Einführung:

Dr. Simatupang, ein pensionierter General, war Oberbefehlshaber der indonesischen Armee. Als Protestant gehört Dr. Simatupang zur starken christlichen Minderheit in Indonesien. Er ist Vorsitzender des indonesischen Kirchenrats und vertritt in dieser Eigenschaft sein Land im Weltkirchenrat.

Text:

Meine erste Reaktion auf das Godesberger Programm ist eine solche der Zustimmung. Ich kann mir vorstellen, daß angesichts der Realitäten einer modernen, aufsteigenden Industriegesellschaft in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die alte doktrinäre Betrachtungsweise hinsichtlich der Rolle der Partei, der Notwendigkeit einer Sozialisierung und des dogmatischen Selbstverständnisses als einer „Weltanschauungspartei" nicht mehr weitergeführt werden konnte und daher eine völlig neue Denkweise erforderlich wurde, um die Ideale des Sozialismus zu verwirklichen.

Das Ausmaß des Wandels in den Zielen und der Betrachtungsweise mag durch die Verwendung der Worte , „Verwirklichung der Ideale des Sozialismus" anstelle „Verwirklichung des Sozialismus" zum Ausdruck kommen.

Aber welche Bedeutung hat dieser Anschauungswandel inmitten der Realitäten einer westlich industriellen Wohlstandsgesellschaft für die „Verwirklichung der Ideale des Sozialismus" in den asiatischen Gesellschaften, die noch tief verstrickt sind in die Wehen der Entwicklung und Industrialisierung der nachkolonialen Ära und bei denen die Ideale moderner Demokratie das Leben und Denken des Volkes noch nicht tief durchdrungen haben?

Für Länder wie Indonesien mag das Godesber-ger Programm in zweierlei Hinsicht bedeutsam sein: 1) Es kann unsere eigenen Erfahrungen bestätigen und stärken, daß sich nämlich eine allzu doktrinäre Betrachtungsweise des Sozialismus, die auf einer allzu dogmatischen Interpretation der Geschichte und der gesellschaftlichen Verhältnisse beruht, angesichts der Realitäten unserer sich modernisierenden, entwickelnden, nachkolonialen Gesellschaft unter den Gegenwartsbedingungen dieser Welt als unproduktiv erwiesen hat. 2) Angesichts der Gegebenheiten einer Gesellschaft, die sich von denen der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft im Westdeutschland der Nachkriegszeit wesentlich unterscheidet, kann es sicherlich nicht imitiert werden, doch kann es als Anregung dienen für eine realistische und schöpferische Neu-Interpretation der „Ideale des Sozialismus" unter den Verhältnissen des heutigen Indonesien.

Japan 9. Mitsu Kono Interview vom 13. Oktober 1969

Einführung:

Mitsu Kono ist einer der , großen alten Männer'der sozialistischen Bewegung Japans, der besonders als führender sozialdemokratischer Theoretiker hervorgetreten ist und der japanischen Bewegung das Gedankengut des europäischen Sozialismus vermittelt hat. Er hat den größten Teil der „Gesammelten Werke von Marx und Engels“ aus dem Deutschen ins Ja panische übersetzt, außerdem Heinrich Cunows „Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts-und Staatstheorie: Grundzüge der Marxschen Soziologie“. Bis 1968 war Mitsu Kono Stellvertretender Vorsitzender der SPJ; er ist noch immer Unterhausabgeordneter seiner Partei und führt innerparteilich den soge-nannten Kawakami-Flügel (vgl. oben 2).

Text:

Am Godesberger Programm fällt mir auf, daß erstens der Mensch in den Mittelpunkt gestellt, die Menschlichkeit betont wird; zweitens daß sich die Partei von einer Klassenpartei zur Volkspartei entwickelt hat; und drittens, daß die SPD den demokratischen Sozialismus sich zu eigen gemacht und mit der Ein-parteien-Diktatur des Kommunismus konfrontiert hat. Als Grundgedanken kann ich allen drei Punkten zustimmen.

Wenn man das ganze Programm durchliest, so findet man, daß es viel leichter zu verstehen ist als frühere Programme. Man hat einzelne Fragen herausgestellt und gibt klare Antworten darauf. Seit dem Erfurter Programm hat es eine feste Form gegeben, die beim Godesberger Programm durchbrochen worden ist. Das finde ich gut.

Wenn ich etwas gegen das Programm einzuwenden hätte, dann wäre es dies, daß das Programm sehr leicht, vielleicht zu leicht verständlich geworden ist und dadurch einige Merkmale des Sozialismus und der SPD verloren hat* auch fehlt eine Darstellung der philosophischen Grundlagen, der Weltanschauung.

Gut finde ich dagegen, daß das Programm sich klar über Religion und Kirchen geäußert hat. Denn die Spannungen zwischen Religion und Ideologie werden noch größer werden, wie man z. B. in Israel und Nordirland sehen kann. Vor dem Krieg hat die japanische sozialistische Bewegung ihren größten Einfluß aus England und Deutschland erhalten. In der praktischen Gewerkschaftsbewegung haben wir von England gelernt und in der politischen Bewegung der Partei von Deutschland und vom Marxismus. Wer die japanischen Parteiprogramme aus der Vorkriegszeit studiert, kann sogleich feststellen, daß sie Umarbeitungen des Erfurter und Görlitzer Programms sind.

Zur Frage der Möglichkeit einer Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis bei den japanischen Sozialisten ähnlich der Entwicklung bei den deutschen Sozialdemokraten: Ich glaube, die Möglichkeit einer solchen Entwicklung besteht. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung des Kapitalismus das erste Problem. Denn durch die Änderung des Kapitalismus erhöht sich der Lebensstandard der Bevölkerung. Man muß den Sozialismus aber verwirklichen, ohne diesen Lebensstandard zu verschlechtern. Um dies zu erreichen, muß man sowohl innenpolitisch als auch in den internationalen Beziehungen den Weg des demokratischen Sozialismus einschlagen. Für Deutschland muß das Godesberger Programm eine entscheidende Reform gewesen sein, weil man sich dadurch in einem gewissen Sinne von den Einflüssen des Marxismus trennt. Doch wird diese Entwicklung auch in Japan kommen, denn es ist die normalste Form sozialer Erneuerung in einem Land mit hoch entwickeltem Kapitalismus. Sozialisierung und Rationalisierung müssen dabei so durchgeführt werden, daß sich der Lebensstandard des Volkes nicht verschlechtert, sonst kann man nicht mit seiner Unterstützung rechnen.

Zur Rolle der Ideologie:

Ich finde, daß man sich von der Ideologie zwar nicht gefangennehmen lassen soll, daß aber — wie ich schon vorhin sagte — etwas Zusammenhängendes, also eine Weltanschauung, vorhanden sein muß. Ohne eine solche Gesamtschau kann man weder die Studenten noch allgemein die Jugend führen. Der Marxismus hatte seine Philosophie und daraus folgte ein System, das vorschrieb, wie es bei der Politik zuzugehen habe, wie die Wirtschaft zu ordnen sei usw. Auch ein Programm muß etwas ähnliches enthalten, um damit die Jugend zu überzeugen.

Zum Beispiel steht im Godesberger Programm einiges über Landesverteidigung, tatsächlich aber ist Westdeutschland Mitglied der NATO geworden. Gibt es da keine Widersprüche? Diese Frage kann man nur mit Hilfe philosophischer Vorstellungen lösen. Dann steht hier etwas über die Vereinigung der beiden Deutschland. Aber um die deutsche Jugend, um die ganze Welt davon zu überzeugen, warum und wie eine solche Wiedervereinigung stattfinden soll, dazu braucht man eine Philosophie.

Ich möchte noch etwas über wirtschaftliche Fragen sagen. Von den Anfängen der SPD an war die Sozialisierung oder Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum früher immer ein Grundprinzip der Sozialdemokraten Deutschlands gewesen. Wenn man nun dieses Programm genau liest, dann findet man auch noch solche Vorstellungen, aber in Wirklichkeit ist das Programm in dieser Frage der Sozialisierung der Großunternehmen oder Schaffung von Gemeineigentum sehr zurückhaltend. Ich glaube, daß dies die schwache Seite des Programms ist. 10. Professor Tamio Kawakami Interview vom 11. Oktober 1969 Einführung: vgl. oben (2)

Text:

Zum Thema Klassenpartei/Volkspartei:

In Japan stellt sich die Frage so: entweder Klassenpartei oder Volkspartei. Aber bei der SPD heißt es, daß sich die Partei zur Volkspartei vergrößert habe, daß sie dazu geworden ist. Das ist ein interessanter Unterschied. Mir selber scheint es fraglich, ob die Entwicklung zur Volkspartei wirklich der Grund dafür ist, daß die SPD bei den Wahlen mehr Stimmen bekommen hat. Ich glaube, daß eine viel wichtigere Änderung darin lag, daß das Godesberger Programm im Vergleich zu der Zeit Schumachers, als die Partei sich hauptsächlich mit Fragen der Außenpolitik beschäftigt hat, größeres Schwergewicht auf die Innenpolitik legt.

Zu Professor Schiller und der neuen Wirtschaftspolitik der SPD:

Ich bin zwar über die gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland nicht so genau unterrichtet, glaube aber, daß sich das Vorhandensein eines wirtschaftlichen Sprechers der SPD bei der Wahl sicher günstig ausgewirkt hat. Auch die Große Koalition hat sich nicht negativ, sondern positiv ausgewirkt, und zwar in dem Sinne, daß die Partei die Kraft zum Regieren hat. Diese Situation läßt sich mit derjenigen der englischen Labour Party vergleichen, die sich in der Kriegszeit an der Regierung Churchill beteiligte und dadurch nach 1945 allein das neue Kabinett bilden konnte. Professor Schiller spielt heute eine ähnliche Rolle wie der damalige Wirtschaftsminister Cripps in England.

Eine ganz andere Frage aber ist es, ob Schillers Wirtschaftspolitik sozialistisch ist. Immerhin hat er seine Fähigkeiten bewiesen. Wichtiger war aber die politische Entscheidung der SPD, in die Große Koalition einzutreten. Das hat ihr eine Chance gegeben. über die deutsch-japanischen Beziehungen:

Wenn man es offen und ehrlich sagt, so hat das japanische Interesse — und zwar nicht nur der hiesigen Sozialisten, sondern ganz allgemein — an der SPD seit der Annahme des Godesberger Programms stark nachgelassen. Es besteht kein theoretisches Interesse mehr daran, was die SPD tut. Wenn man sich jetzt für sie interessiert, dann für ihre politischen Entscheidungen wie z. B. ob Große Koalition oder Kleine Koalition usw. Aber als sozialistische Partei haben wir kein sehr großes Interesse mehr.

Als das Godesberger Programm herauskam, fand es hier ein sehr großes Echo. Warum das Interesse an dem Programm zurückging, liegt an folgendem: Für die Leute, die für das Programm waren, hat die Partei Nishios keine hinreichend interessante Entwicklung gehabt. Und für Leute wie Sakisaka, die am alten marxistischen Dogma festhalten wollen, war das Programm eine Herausforderung, doch gab es in Japan später noch mehrere un-erwarte Herausforderungen wie z. B. die Kulturrevolution in China, die Bildung eines neuen linken Flügels, die chinesisch-russische Konfrontation. Diese Dinge haben die Position von Sakisaka durcheinander gebracht, und so hat man das Interesse am Godesberger Programm verloren.

Dennoch wird die SPD nun zehn Jahre später unter dem Vorsitzenden Brandt an die Regierung kommen. Da muß man zurückdenken und überlegen, ob das wirklich am Godesberger Programm liegt, ob die „Volkspartei''dabei eine Rolle spielt, oder ob die Veränderung der Politik der SPD im Vergleich zu Schumachers Zeit der Partei geholfen hat, oder ob die SPD es soweit gebracht hat, weil sie gerade zu dem Zeitpunkt eine mutige Entscheidung getroffen hat, als die Epoche der CDU-Herrschaft zu Ende ging.

Es ist schwer zu sagen, welcher dieser Gründe am ehesten dafür verantwortlich war. Doch finde ich, daß das Godesberger Programm und die „Volkspartei''damit am wenigsten zu tun haben und statt dessen die anderen Gründe mehr Bedeutung beanspruchen können.

Uber das Verhältnis zu den Entwicklungsländern: Als ich das Programm jetzt noch einmal las, fand ich, daß es eigentlich wenig Anziehungskraft für die Entwicklungsländer hat. Es steht zwar darüber einiges drin, weil man so etwas schreiben mußte, dennoch hatte Deutschland in den letzten zehn Jahren immer weniger mit Entwicklungsländern zu tun. Gegenüber der Zweiten Internationale ist es zwar ein Fortschritt, daß man wenigstens etwas über diese Fragen geschrieben hat. Aber ist es nicht fast ironisch, daß man darüber zu einer Zeit schrieb, als Deutschland mit den Entwicklungsländern nicht mehr viel zu tun hatte und auch der Einfluß der deutschen Sozialisten in den Entwicklungsländern nicht mehr bestand? Das ist wohl einer der Gründe, warum das Programm kaum etwas mit asiatischen Fragen zu tun hat.

Natürlich werden die Japaner die politische Entwicklung der SPD verfolgen, wenn sie tatsächlich an die Regierung kommt. Sollten sie aber mit der Kleinen Koalition Schiffbruch erleiden, so wird das Interesse noch geringer werden. . 11. Professor Masao Takahashi Schriftliche Stellungnahme vom 12. September 1969

Einführung:

Masao Takahashi, Professor emeritus der staatlichen Universität Kyushu, gehört zu den prominenten Theoretikern des sozialdemokratischen (rechten) Flügels der sozialistischen Bewegung in Japan. Er gilt als Jugoslawien-Spezialist, ist aber auch in Fragen des europäischen Sozialismus als Experte anerkannt. Er bekleidet zahlreiche Ämter in den verschiedensten Unterorganisationen der Sozialistischen Partei Japans, so ist er u. a. Geschäftsführer der „Gesellschaft zur Förderung der SPJ", einer Organisation zur Mobilisierung finanzieller Unterstützung für die Partei, sowie des „Instituts zur Erforschung sozialistischer Politik“.

Text:

Einige Kommentare zum Godesberger Programm 1) Uber die Sozialisierung Am Anfang des „Finanzkapital" von Rudolf Hilferding, das 1910 erschien, liest man folgendes: „Die menschliche Produktionsgemeinschaft kann prinzipiell auf zweierlei Art konstituiert sein. Sie kann einmal bewußt geregelt sein. Die Gesellschaft — mag nun ihr Kreis . . . die sozialistische Gesellschaft umschließen — schafft sich die Organe, welche als Vertreter des gesellschaftlichen Bewußtseins das Ausmaß und die Art der Produktion festsetzen und das gewonnene Gesellschaftsprodukt un-47 ter die Mitglieder verteilen . . . Anders die Gesellschaft, die dieser Organisation entbehrt. Sie ist aufgelöst in voneinander unabhängige Personen, deren Produktion nicht mehr als Gesellschafts-, sondern als ihre Privatsache erscheint . .

Dieser Gedanke stammt von Marx, doch gab es seit den Anfängen sozialistischen Denkens und der sozialistischen Bewegung kaum Zweifel daran. Auch Lenin ist dem gefolgt. Aber die Erfahrungen der Sowjetunion und des westlichen Kapitalismus und ihre Veränderungen — besonders die Stärkung der sozialistischen Macht in diesen Ländern — bewirkten allmählich auch eine Änderung der „idee fixe" über die Sozialisierung. Aber es gehört eine ganze Portion Mut dazu, sich diese Dinge klar zu machen und sie offen auszusprechen. Die SPD hat in ihrem Godesberger Programm diesen Mut gehabt. Für sie als eine Partei, die mit den Namen von Marx und Engels verbunden war und die viele Hochs und Tiefs erlebt hat, muß das besonders schwierig gewesen sein. Aber gerade darum schätze ich es besonders hoch. Noch immer ist die Verwirrung über die Sozialisierung als Selbstzweck — obwohl dies nur eine der Bedeutungen des Begriffs Sozialismus ist — sehr verbreitet. Ich hoffe daher, daß das Godesberger Programm auf das Denken und Handeln des Sozialismus in der Welt — einschließlich ihrer östlichen, westlichen und südlichen Teile — einen großen, vorwärtstreibenden Einfluß ausübt. 2) Die sozialistische Partei ist eine Arbeiterpartei, gleichzeitig aber ist sie eine Partei der Nation — das behaupte ich schon seit Jahren. Daß die sozialistische Partei eine Arbeiterpartei ist, bedeutet, daß der Schwerpunkt der Partei von den Arbeitern, von der arbeitenden Bevölkerung gebildet wird. Natürlich ist die sozialistische Partei für alle Leute offen. Daß die sozialistische Partei eine Partei der Nation ist, bedeutet, daß sie für die Nation ist und mit Unterstützung und Zustimmung der Nation die Macht ergreift und den Sozialismus verwirklicht.

Die Bedeutung des Wortes „Volk" bei der „Volkspartei" des Godesberger Programms scheint mir etwas enger zu sein als der Begriff „Nation" in der „Partei der Nation", und zwar in dem Sinne, daß Volk Leute bedeutet, also nur einen Teil der Nation umfaßt, wie mir scheint. Aber vielleicht ist das ein Denkfehler oder ein Verständigungsfehler meinerseits.

Der Gedanke des Godesberger Programms widerspricht jedenfalls nicht meiner These. Wenn aber das „Volk" tatsächlich enger ist als „Nation", dann würde ich mir wünschen, daß es eines Tages in „Partei der Nation" geändert wird. 3) Das Problem der Weltanschauung Die Frankfurter Erklärung der Sozialistischen Internationale (1951) sagt folgendes: „Der demokratische Sozialismus ist eine internationale Bewegung, die keineswegs eine starre Gleichförmigkeit der Auffassungen verlangt. Gleichviel, ob Sozialisten ihre Über-zeugung aus den Ergebnissen marxistischer oder anders begründeter sozialer Analysen oder aus religiösen oder humanitären Grundsätzen ableiten, alle erstreben ein gemeinsames Ziel: eine Gesellschaftsordnung der sozialen Gerechtigkeit, der höheren Wohlfahrt, der Freiheit und des Weltfriedens."

Ich bin für diese Erklärung und vertrete selber folgende Auffassung: Demokratie in einer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft wird, wenn man die Verhältnisse praktisch und nicht nur formal analysiert, zum Sozialismus. Der Demokrat in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft ist unvermeidlich ein Sozialist. Das Godesberger Programm paßt zu beiden obigen Gedanken. Daher werde ich mich aus ganzem Herzen für das Programm einsetzen. 12. Shimpei Fujimaki Interview vom 7. Oktober 1969 (in deutscher Sprache)

Einführung:

Shimpei Fujimaki ist Internationaler Sekretär der SPJ, der seit vielen Jahren an fast allen Aktivitäten seiner Partei im Bereich der zwischenstaatlichen und zwischenparteilichen Beziehungen beteiligt war. Auf Grund seiner vielseitigen Sprachkenntnisse (Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch u. a.) hat er oft als Vermittler ausländischen Gedankenguts an Japan und umgekehrt gewirkt. So hat er u. a. „Die Perspektiven für die 70er Jahre" der SPD ins Japanische übersetzt. Innerparteilich gehört er zum Kawakami-Flügel (vgl. oben 2).

Text:

Im Jahr der Verabschiedung des Godesberger Programms gab es zwei Ereignisse, die für uns sehr interessant waren: in Kuba die Gründung der Revolutionsregierung und in Japan die Spaltung der Sozialistischen Partei Japans. Und seither hat es in den letzten zehn Jahren ungeheure Veränderungen in der ganzen Welt gegeben. Da war erstens die Zersplitterung der internationalen kommunistischen Bewegung, zweitens die ziemlich schnelle Wachstumsrate der entwickelten Länder und drittens die Stagnation sowie eine Reihe von politischen Krisen in den Entwicklungsländern. Als Resultat blieb die Vertiefung der Kluft zwischen Süd und Nord.

Gerade diese Frage hat man ganz bewußt in die „Perspektiven" ausgenommen. Wenn man gegen diesen Hintergrund das Godesberger Programm betrachtet, dann kann man zwei große Folgerungen ziehen. Die erste wäre die Frage danach, wie die entwickelten Industrie-gesellschaften die Lösung neuer Probleme anfassen. Hierzu bietet das Godesberger Programm, glaube ich, einen grundsätzlichen Lösungsvorschlag. Das heißt, in den Industriegesellschaften kann man Sozialreformen, die Verwirklichung der sozialistischen Ziele, Schritt für Schritt, nur auf friedlichem Wege erreichen.

So haben in den entwickelten Industriegesellschaften infolge der Spaltung der internationalen kommunistischen Bewegung einige sehr interessante Entwicklungen stattgefunden. Nämlich der Gedanke vom eigenen Weg zum Sozialismus selbst unter den kommunistischen Parteien wie in England, Italien, Frankreich und auch in Japan. Diese Tendenz hat sich besonders im Fall Italiens ganz klar zugespitzt, wo die Kommunisten nach dem Rücktritt der Regierung Moro die Bildung einer Koalitionsregierung unter Einschluß der KP Italiens vorgeschlagen haben. Ich glaube, auch Japan wird auf dem gleichen Wege weitergehen. Es ist wohl der einzige Weg für die Industriegesellschaft. Aber zunächst muß man ein neues Problem lösen, und zwar die Entfremdung und Frustration zum Beispiel unter den Studenten und Jugendlichen. Schon die „Perspektiven" haben dafür einige Ansatzpunkte gezeigt. Man hat dort ein sehr typisch deutsches Wort geprägt und von der Gefahr der Verplanung gesprochen, gegen die sich gerade die These von der Entfremdung wendet.

Die zweite Folgerung ist meines Erachtens viel ernster und die Zeit drängt sehr. Und zwar meine ich die Verschärfung des Nord-Süd Problems. Ich glaube, die Entwicklungshilfe spielt bei seiner Lösung nur eine sekundäre Rolle und kann das eigene Bemühen in den Entwicklungsländern nicht ersetzen. Dabei ist die Situation jetzt viel dringender als vor zehn Jahren. Um so wichtiger, und zwar in welthistorischen Ausmaßen, war es daher, daß die SPD in ihrem Godesberger Programm ihre Verpflichtung gegenüber den Entwicklungsländern als eine sozialdemokratische Partei anerkannt hat. Das hat indirekt auch für das Verhältnis zu Asien Bedeutung. Natürlich liegt für die Bundesrepublik wie überhaupt für Westeuropa Afrika näher, aber Asien ist für sie, wie ich glaube, der zweitwichtigste Weltteil. Für Japan und die SPJ ist diese Haltung der SPD keine akademische Frage, sondern eine von sehr praktischer Bedeutung.

Japan steht gerade jetzt vor der Alternative, entweder in großem Stil aufzurüsten und die ganze Wirtschaft zu remilitarisieren, um eine mögliche Depression abzudämpfen, oder aber Entwicklungshilfe ohne politische Bedingungen zu geben. Die jetzige konservative Regierung steht wohl auf beiden Beinen, d. h. ziemlich große Rüstungsindustrie und auch Entwicklungshilfe vor allem gegenüber Südostasien. Zur Kritik an der SPD, sie habe mit dem Godesberger Programm das Erbe der Arbeiterklasse verraten:

Ich glaube, es gibt noch eine Gruppe, die noch immer diese Haltung vertritt. Doch hat sich die Schärfe etwas abgeschwächt. Die direkte Ursache für diese Schärfe war wohl die damalige Spaltung der SPJ, d. h. die Abspaltung der DSP. Und die Ursache der Abschwächung ist wohl die Spaltung der kommunistischen Bewegung, indem sich die Kommunisten in den hochentwickelten Industrieländern viel stärker für die parlamentarische Demokratie eingesetzt haben (z. B. Italien und England). Sie haben keine Alternative. 13. Suehiro Nishio Interview vom 4. Oktober 1969

Einführung:

Suehiro Nishio kommt aus der Gewerkschaftsbewegung und ist einer der ältesten noch aktiven Sozialistenführer. Er war einer der ersten japanischen Sozialisten, die ins Parlament gewählt wurden, Mitbegründer und zeitweilig Generalsekretär der SPJ und Kabinettschef bzw. Vizepremier in den beiden einzigen (Koalitions-) Regierungen, an denen die japanischen Sozialisten bisher beteiligt waren (1948/49). Nach seinem Parteiausschluß im Jahre 1959 bildete er Anfang 1960 die neue Demokratisch-Sozialistische Partei (DSP), deren Vorsitzender er lange Jahre war und deren Kern sich aus dem ehemaligen Nishio49 Flügel innerhalb der SPJ rekrutierte (vgl. oben 1). Suehiro Nishio ist heute Ehrenvorsitzender und Unterhausabgeordneter seiner Partei.

Text:

Ich habe das Godesberger Programm zwar nicht original gelesen, glaube aber, daß ich seine Bedeutung gut verstehe. Ich bin ganz für dieses Programm und finde es gut.

Ein paar Monate, bevor die SPD damals ihr neues Programm herausgab, habe ich mich von der SPJ getrennt. Es war ungefähr die gleiche Zeit, und so empfinde ich so etwas wie eine Schicksalsfügung. Warum ich mich von der SPJ trennen mußte, dazu möchte ich etwas sagen.

Die Amerikaner haben nach dem Kriege die Friedensverfassung eingeführt, damit Japan nie wieder ein militaristisches Land wird; sie versuchten, das Land im Rahmen der Besatzungspolitik zu demokratisieren, z. B. durch Hilfe beim Aufbau von Gewerkschaften, durch Landreform, damit auch die Kleinbauern ihre eigenen Felder haben können, und durch das Frauenwahlrecht. Später habe ich dann als einer ihrer Führer die SPJ mitaufgebaut und das Katayama-Kabinett gebildet, in dem ich ja Kabinettschef (Anm. d. Vers.: Chef der Kanzlei des Ministerpräsidenten mit dem Rang eines Ministers ohne Ressort) war. Aber allmählich wurden in der SPJ die marxistischen Anschauungen stärker. Ich vertrat dagegen die Auffassung, daß in einem demokratischen Land wie Japan die Befreiung des Arbeiters auf parlamentarischem Weg herbeigeführt werden muß und glaube, daß das auch möglich ist. Ich habe daher gegenüber den Stimmen, die als revolutionäre Klassenkampfpartei eventuell auch mit den Kommunisten zusammenarbeiten wollten, geltend gemacht, daß es zur Erlangung der politischen Macht notwendig sei, nicht nur die Arbeiter, sondern auch die mittleren Schichten wie die Bauern und die kleinen und mittleren Unternehmer in einer Volkspartei zusammenfassen und sich zu einer Politik der parlamentarischen Demokratie zu bekennen.

Innerhalb der Partei wurde ich als Ketzer angesehen und bei dem Parteitag, der ungefähr einen Monat vor der Annahme des Godesberger Programms durch die SPD abgehalten wurde, gab es von Anfang an Ausschließungsanträge gegen mich. Da ich mich mit meiner Auffassung nicht durchsetzen konnte, bin ich selber aus der Partei ausgetreten.

Ich wollte daher eine neue Partei aufbauen; dabei hat Professor Royama eine „Gesellschaft zur Erforschung sozialistischen Gedankenguts" organisiert, welche die Partei ideologisch unterstützen sollte. Die neue Partei ist im Januar 1960 entstanden, aber inzwischen gab es schon das Godesberger Programm, und so haben Professor Seki und Professor Muto das Programm studiert und sich darauf berufen. Wir haben es sehr richtig gefunden, und so kam uns das Godesberger Programm bei der Abfassung unseres eigenen Programms wie gerufen.

Ich finde, daß man in Ländern wie China und Rußland, die nicht demokratisch sind, in denen es keine Gewerkschaften gibt usw., Revolution versuchen soll und damit sogar eine Chance hat, doch in Ländern wie Japan oder Westdeutschland, die demokratisch sind und wo es eine moderne Industrie gibt, da muß man es anders machen und sich an die parlamentarische Demokratie halten.

Verhältnis zu den Kirchen:

Der Buddhismus ist nicht so politisch wie der Katholizismus in Europa. Immerhin gibt es seit einigen Jahren unter den Nichiren-Sekten — die immer sehr kämpferisch waren — die „So-kagakkai". Die ist politisch sehr aktiv. Doch gibt es unter den Nichiren-Sekten auch andere Gruppen, die einen neuen Verband, die „Shinshu-Ren", gegründet haben. Die wollten zunächst nur die konservative Liberaldemokratische Partei unterstützen, doch werden sie nun auch uns unterstützen, ohne die LDP fallenzulassen.

Aussichten der DSP:

Unsere Zukunftsaussichten sehen etwas rosiger aus als die der SPJ. Die verlieren dauernd, bei der letzten Unterhauswahl sind sie von 160 auf 140 Sitze gefallen, auch bei der Oberhauswahl haben sie verloren, und bei den Wahlen zum Stadtparlament in Tokio sind sie vom ersten auf den dritten Platz unter den Parteien zurückgefallen. Mal sehen, was die nächste Wahl bringt. In jedem Fall geht es bei uns aufwärts, und wir freuen uns für die SPD als eine Partei mit gleichen Anschauungen über ihren Erfolg. 14. Eki Sone Schriftliche Stellungnahme vom 13. Oktober 1969 Einführung:

Eki Sone stieß als Anhänger von Nishio zu den Sozialisten, wo er sich besonders als außenpolitischer Experte hervorgetan hat. Nach der Gründung der DSP wurde er ihr erster Generalsekretär. Heute ist er Unterhausabgeordneter und im Parteivorstand als Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses für die internationalen Beziehungen seiner Partei zuständig.

Text:

Zum 10. Jubiläum des Godesberger Programms Es ist sehr bedeutsam, daß die SPD zehn Jahre nach der Annahme des Godesberger Programms am 15. November 1959 bei den Wahlen einen so großen Sprung machen konnte und nun dabei ist, unter ihrer Führung eine Regierung der Kleinen Koalition aufzubauen. Der Erfolg der SPD bedeutet nicht nur einen Lichtblick für die Kraft des demokratischen Sozialismus in Deutschland, sondern er ermuntert zusammen mit dem jüngsten Wahlerfolg der schwedischen Sozialdemokraten alle demokratisch-sozialistischen Parteien Europas. Auch in England ist die Stellung der Labour Party dadurch bereits gestärkt worden.

Natürlich lassen sich mehrere Elemente als Gründe für den Machtzuwachs der SPD heranziehen — wie die besonders gute Führung, traditionelle Stärke der Organisation, moderne Werbung usw., aber vor allem die grundsätzliche Haltung, welche die Partei seit der Annahme des Godesberger Programms vor zehn Jahren einheitlich durchgehalten hat, hat der Bevölkerung das Vertrauen in die SPD als einer Reformpartei, die sich schon aufs Regieren vorbereitet hat, gegeben.

Auf Grund meiner Studien der sozialistischen Theorie sowie als Mitbegründer der DSP kurz nach dem Godesberger Programm und als einer, der im Ausschuß für die Abfassung des DSP-Programms mitgewirkt hat, halte ich es für sehr wichtig, daß die Bedeutung des Programms für die demokratischen Kräfte der ganzen Welt, auch derjenigen Japans, aus diesem Anlaß noch deutlicher hervorgehoben wird. Daß das Programm der DSP ähnliche Grundzüge aufweist wie das Frankfurter Programm der Sozialistischen Internationale, das Rangun-Program der „Asian Socialist Conference" und das neue Programm der SPD, ist hinreichend bekannt. , Nach meiner persönlichen Auffassung liegen in den folgenden Punkten die besonderen Merkmale des Programms und die Unterschiede zum Marxismus-Leninismus und der dogmatischen marxistischen Theorie:

Erstens haben die Interpreten des dogmatischen Marxismus vermutlich gegen den Willen von Marx selber übersehen, daß die Grundwerte des Sozialismus eigentlich im Moralischen liegen, und die materialistische Seite überbetont. Das Programm hat diesen Fehler korrigiert, betont die Freiheit des Geistes und besteht auf Gerechtigkeit und Solidarität. Es lehnt jede Form totalitärer Herrschaft ab und betont, daß die Demokratie ihre Grundlage in der Achtung menschlicher Werte und in der verantwortlichen Haltung eines jeden hat. Sozialismus kann nur durch die Demokratie erreicht werden und die Demokratie wird erst durch den Sozialismus erfüllt. In diesem Sinne bedeutet Sozialismus eine klare Konfrontation mit dem Kommunismus.

Zweitens mißachtet der Marxismus-Leninismus die parlamentarische Demokratie und erkennt nicht die Existenzberechtigung und freie Betätigung von Oppositionsparteien an. Doch das Programm macht ganz deutlich, daß es an der parlamentarischen Demokratie festhält.

Außerdem erzwingt der dogmatische Marxismus die Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat und lehnt freie Konsumwahl, freie Arbeitsplatzwahl und freie Unternehmerinitiative ab. Das Programm aber sagt dazu, daß das Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik wachsender Wohlstand, ein Leben in Freiheit ohne Abhängigkeit und Ausbeutung und eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft ist, es lehnt die Zwangswirtschaft ab, weil diese die Freiheit zerstört, und bejaht den freien Markt, wo immer wirklicher Wettbewerb herrscht.

Drittens legt der dogmatische Marxismus großes Gewicht auf den Besitz und die Übernahme der Produktionsmittel. Demgegenüber verlangt das Programm die Kontrolle der Großunternehmen und macht die Kontrolle wirtschaftlicher Macht zum Zentralthema und bejaht den Privatbesitz an Produktionsmitteln, soweit er nicht den Aufbau einer gerechten Ordnung stört. Auch nimmt es eine Haltung ein, wonach kleinere Unternehmen zu fördern sind.

Viertens vertreten die Kommunisten in der Außenpolitik den Internationalismus mit der Sowjetunion als Zentrum und verneinen die Souveränität der Länder. Das Programm setzt die Unabhängigkeit aller Länder voraus und zielt letzten Endes auf die Errichtung einer Völkerrechtsordnung mit einheitlicher, starker Vollzugsorganisation ab.

Das Programm bejaht die Landesverteidigung bis zur Errichtung einer mit Machtmitteln ausgestatteten internationalen Rechtsordnung, die nationale Landesverteidigungen ablösen wird. Das Programm unterstützt nicht eine Haltung unverbindlicher Neutralität, sondern fordert realistisch die Bildung regionaler Sicherheitssysteme. Fünftes und größtes Merkmal des Programms ist jedoch, daß es die SPD von der Klassenpartei zur Volkspartei gemacht hat. Das ist kurz gesagt die Befreiung vom marxistischen Dogma und — davon bin ich fest überzeugt — auch der Schlüssel zum Erfolg der SPD bei dieser Wahl.

Südkorea 15. bis 19. Bericht von Professor Chi über die Sitzung vom 6. September 1969, an der teilgenommen haben: 15. Chui Kim Einlührung:

Chui Kim ist Generalsekretär der „United Socialist Party" (USP), die trotz ihrer Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale von der südkoreanischen Regierung mit großem Argwohn beobachtet und in ihrer Entfaltung mehr oder weniger behindert wird (so wurde ihr die Genehmigung zur Herausgabe einer Parteizeitschrift nach vier Ausgaben wieder entzogen). 16. Dhong Whah Rhee Einführung:

Dhong Whah Rhee, ein ehemaliger Kommunist, hat bis zum Koreakrieg als Professor für Politische Wissenschaften an der Kim II Sung-Universität in Pjöngjang unterrichtet. In Südkorea, wohin er freiwillig übersiedelte, wurde er Vorsitzender der USP, nach dem Militärputsch von 1961 verhaftet und mehrere Jahre in Gefangenschaft gehalten. Heute ist er Berater der USP. 17. Dr. Ha Eun Chung Einführung:

Dr. Chung lehrt christliche Ethik am Koreanischen Theologischen Seminar. Er ist Verfasser des Buches „Modernisierung Koreas und ethische Entscheidung", in dem auch einige Seiten der SPD und ihrem Godesberger Programm gewidmet sind. 18. Professor Young Ki Park Einführung:

Professor Park lehrt Arbeitnehmer/Arbeitgeber-Beziehungen am „Labour Management Institute“ des Sogang College in Söul und ist Verfasser zahlreicher Publikationen über die Geschichte der koreanischen Arbeiterbewegung, Arbeitsrecht etc. Früher war Professor Park internationaler Sekretär des südkoreanischen Gewerkschaftsverbands „Federation of Korean Trade Unions“ (FKTU). 19. Professor Myong Kwan Chi Einführung:

Professor Chi ist Spezialist für Fragen im Zusammenhang mit der Rolle der Religionen bei der Modernisierung in Asien. Er lehrt Religionsphilosophie am Duksung Women's College in Söul.

Text:

1. Die Gründe für die Annahme des Godesberger Programms können folgendermaßen verstanden werden:

a) Versuch, durch Einbeziehung der Angestellten breitere Unterstützung zu erhalten. Es kommt darauf an, die politische Macht zu erlangen. Wenn die Leute arm sind, ist die revolutionäre Ideologie vorherrschend.

b) Es handelt sich um eine Art Rechtswendung, bei der Freiheit stärker betont wird als Gleichheit.

c) Unter dem Massenkapitalismus besteht gegenwärtig eine Tendenz zur Abschwächung politischer Ideologien.

d) Berufung auf die Verdienste der westdeutschen Sozialstruktur sowie auf die Freiheit im Verhältnis zu Ostdeutschland (die kapitalistische Politik der CDU ist kein hinreichendes Mittel im Kampf gegen den Stalinismus). 2. In der Diskussion wurde folgende Kritik am Godesberger Programm vorgebracht:

a) Das Programm scheint — zumindest zum Teil — die Ideale des Sozialismus aufgegeben zu haben. Als Folge davon ist die außer-parlamentarische Opposition in Deutschland zum Problem geworden.

b) Das mag eine Folge politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Einflüsse der USA seit Kriegsende sein. Man hofft, daß es sich nur um eine vorübergehende Politik handelt, c) Aus Arbeitern kleine Kapitalisten zu machen, ist keine erstrebenswerte Form der Erhöhung ihres Lebensstandards.

d) Wenn sie Kapitalisten werden, werden sie sich verschlechtern. Es ist notwendig, dem Sozialismus treu zu bleiben. Ohne Gleichheit gibt es keine Gerechtigkeit. Sozialismus in Deutschland macht manchmal den Eindruck, als ob er den Kapitalismus unterstützt anstatt für die Arbeiter zu sprechen. Hierzu gab es Gegen-meinungen mit folgender Begründung:

Es kommt darauf an, was Sozialismus ist. In unterentwickelten Ländern zeigt Sozialismus eine Tendenz zur Radikalisierung und verlangt Sozialisierung der Produktionsmittel. Sozialismus ist mehr als nur Sozialisierung. Aber es muß zugestanden werden, daß der Sozialismus im Falle Schwedens sein Schwergewicht im Bereich der Sozialversicherungspolitik hat anstelle individuellen Sparens oder Vermögensbildung der Arbeiter. Die Gesellschaft muß entscheiden, ob sie den gesellschaftlichen oder den individuellen Anteil höher bewertet. Gegen diese Meinung wurde vorgebracht:

Auch in Deutschland gibt es einige sozialistische Merkmale wie z. B. im Versicherungswesen und in der Erziehung usw. Die gegenwärtige Welt wird nicht durch Arbeitergruppen, sondern durch Elitegruppen verbessert.

e) Die Rechtswendung der SPD war übertrieben. Es wurde auch zu viel Kritik am Kommunismus geübt. In einer Zeit, in der die Charakteristika des Kommunismus im Wandel begriffen sind, muß die SPD unbedingt ihren ideologischen Standpunkt festigen — vor allem in Zusammenhang mit der Frage der Einheit Deutschlands — und eine wichtige Rolle in den internationalen Ost-West-Beziehungen übernehmen. Sie sollte sich nicht auf den Standpunkt des Kapitalismus erniedrigen lassen. 3. Die Bedeutung des Godesberger Programms für Entwicklungsländer:

a) In Korea wurde die sozialistische Bewegung von Kommunisten ins Leben gerufen und geführt. Selbst heute wird demokratischer Sozialismus im Unterschied zum Kommunismus noch nicht richtig verstanden.

b) Unser Industrialisierungsproblem ist anders als das in den fortgeschrittenen Ländern, c) Hätten wir eine sozialistische Bewegung wie die SPD in Deutschland, dann gäbe es wahrscheinlich auch eine andere politische Situation im heutigen Korea, d. h. ohne den Konflikt zwischen extremem Konservatismus und Radikalismus. d) Das Godesberger Programm hatte für die Koreaner beträchtliche Bedeutung, vor allem im Zusammenhang mit Freiheit und Kommunismus.

Malaysia 20. Hock Guan Goh Telegraphische Stellungnahme vom 15. September 1969

Einführung:

Hock Guan Goh ist Generalsekretär der „Democratic Action Party“ (DAP), einer Schwesterpartei der „People's Action Party" (PAP) des sozialistischen Ministerpräsidenten Kuan Yew Lee im benachbarten Singapur. Die DAP ist als selbständige Partei erst 1965 entstanden, nachdem das Ausscheiden Singapurs aus dem Malaisischen Bund eine weitere Aktivität der PAP in Malaysia unmöglich gemacht hatte. Bei den Parlamentswahlen vom 10. Mai 1969 errang die DAP in West-Malaysia 13 von 104 Sitzen und wurde damit größte Oppositionspartei. Seit den folgenden Rassen-unruhen herrscht jedoch der Ausnahmezustand im Lande und die DAP kann ihre Funktionen nur beschränkt wahrnehmen. Die Partei ist Mitglied der Sozialistischen Internationale. Sie hat Willi Eichler beauftragt, das Vorwort zu ihrer Programm-Broschüre zu schreiben.

Text:

Das Godesberger Programm der SPD ist das Modell, nach dem wir in der DAP Malaysia unsere Philosophie ausgerichtet haben. 21. C. V. Devan Nair Schriftliche Stellungnahme vom 2. September 1969

Einführung:

C. V. Devan Nair war bis zu den Wahlen vom 10. Mai 1969 (vgl. 20) einziger Parlaments-abgeordneter der DAP in Malaysia. Als früherer Gewerkschaftsführer des Dachverbands „Singapore National Trade Union Congress“ (SNTUC) hat er weiterhin enge Verbindungen zum politischen Leben Singapurs, was ihn veranlaßt hat, bei den letzten Parlamentswahlen nicht mehr in Malaysia zu kandidieren. C. V. Devan Nair war Gründungsmitglied und erster Generalsekretär der DAP. Text!

In der nach-marxistischen Ära des demokratischen Sozialismus gab es verschiedene Versuche, Marx vor den Marxisten zu retten, und einer der erfolgreichsten dieser Versuche wurde von denen unternommen, die das Godesberger Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands formuliert haben.

Wie viele frühere Philosophien und Theorien tendierte der Marxismus dahin, in den Händen intoleranter Absolutisten zu einem sakrosankten Dogma zu erstarren. Statt ihn als eine höchst schöpferische Analyse der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse anzusehen, behandelten sie den Marxismus wie eine unfehlbare Verkündung, auf deren Grundlage jeder Aspekt des Lebens und Denkens der Menschen reguliert werden sollte.

Doch das Buch des Sozialismus ist noch lange nicht geschlossen. Eine unendliche Zahl von Seiten bleiben im Zuge der menschlichen Entwicklung und des Fortschritts auf diesem Planeten noch aufzuschlagen. Marx hat einige sehr wesentliche Seiten dazu beigetragen, doch stellen sie nicht das A und O des Sozialismus dar.

Das Godesberger Programm verdient Beachtung für die klare und intelligente Form, mit welcher es die Eisengitter des absoluten Denkens durchbricht, um eine neue Atmosphäre zu schaffen, in der Sozialisten freier atmen und klarer denken können. In dem Programm wurden die sozialistischen Prinzipien und Ziele als vereinbar mit und in der Tat untrennbar von den großen Idealen eines rationalen Humanismus und der Demokratie dargestellt. Sie waren auch nicht unvereinbar mit den Errungenschaften des menschlichen Geistes seit Alters her in den Bereichen der Religion, Philosophie, Literatur und den bildenden Künsten.

Das Godesberger Programm hat fast instinktiv erfaßt, daß die Ziele der sozialen Gerechtigkeit, Gleichheit und fairer Behandlung allen guten Menschen gemein sind, unabhängig von ihren sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschieden.

In diesem Sinne verdient der Geist des Godesberger Programms, daß man ihm nacheifert, und zwar ganz besonders in den Gesellschaften und Nationen von Süd-und Südostasien mit ihrer Vielfalt an Sprachen, Religionen und Kulturen.

Philippinen 22. Cicero D. Calderon Schriftliche Stellungnahme vom 2. September 1969

Einführung:

Dr. Calderon ist Präsident der protestantischen Silliman Universität. Hinsichtlich seiner Beziehungen zur Arbeiterbewegung vgl. Text.

Text:

Nach mehr als achtjähriger Zusammenarbeit mit der philippinischen Arbeiterbewegung als Direktor des „Asian Labor Education Center"

(Institut für Arbeitererziehung) der Staatlichen Universität der Philippinen habe ich den Eindruck gewonnen, daß das Godesberger Programm, so wie ich es kennengelernt habe, die wirksamste Methode zum Aufbau einer Gesellschaft bieten könnte, in der der einfache Bürger eine Chance erhält, Erfüllung zu finden.

In den Entwicklungsländern, wo die politischen Parteien von Familiendynastien oder Interessengruppen kontrolliert werden, wo die Arbeiter mangels einer starken Position bei Tarifverhandlungen keinen gerechten Anteil an den Früchten der Produktion erhalten, wo Landreformen wegen des starken Widerstands der Großgrundbesitzerklasse nicht durchgeführt werden konnte, gewinnt das Godesberger Programm besondere Bedeutung und Dringlichkeit.

Das Godesberger Programm, das gegenüber den Religionen den Geist der Toleranz bietet, hat die organisierten Religionen dazu angeregt, sich selbst und ihre Rolle in der heutigen Welt einer Überprüfung zu unterziehen. 23. Jose J. Hernandez Schriftliche Stellungnahme vom 12. September 1969

Einführung:

Jose J. Hernandez ist seit vielen Jahren Generalsekretär des Gewerkschaftsverbands „Philippine Trade Union Council" (PTUC), der dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften in Brüssel (1BFG) angeschlossen ist. Außerdem vertritt Hernandez die philippinische Arbeiterschaft als Arbeiterdelegierter seines Landes bei der ILO.

Text:

Im großen und ganzen sind die Ziele und Zwecke des Godesberger Programms der SPD benswert, weil es die kapitalistische Regiengs-und Gesellschaftsform ablehnt. Doch erfolgt das Godesberger Programm sein ieal im Rahmen einer hochentwickelten Inustriegesellschaft; für ein Entwicklungsland je die meisten Nationen Asiens ist es noch icht angemessen. Das Godesberger Programm erlangt eine gerechte Verteilung der Früchte er Arbeit. Gut und schön. Aber es will dies lit solchen Instrumenten wie Mitbestimmung, Lnti-Monopolgesetzgebung und — falls notrendig — Sozialisierung erreichen. Mit andeen Worten: Es hat sich noch nicht völlig on den beanstandenswerten Aspekten des Kapitalismus abgewendet. Was die Entwickngsländer in Asien brauchen, ist eine drastichere Methode, welche die Gesellschaften die-er Länder in die Lage versetzt, diejenigen der chon hochentwickelten Länder einzuholen. Ind das kann nur auf dem Wege staatlicher Kontrolle der Produktionsund Verteilungs-ittel erreicht werden. n einem gewissen Sinne ist das Godesberger rogramm dennoch ein Durchbruch, vor allem ir die in Asien vorherrschenden Kolonialesellschaften. Doch kann es nur ein Anfang ein. 4. Cipriano Cid christliche Stellungnahme vom 8. September 969 iniührung:

Cipriano Cid ist Vorsitzender des Gewerkchaftsverbands „Philippine Association oi 'ree Labor Unions" (PAFLU) und einer der großen alten Männer'der philippinischen Areiterbewegung. Zeitweilig beteiligte sich Cid n dem Versuch, auf der Basis verschiedener lewerkschaftsverbände . eine politische Partei ur Vertretung der Interessen der Arbeiterchaft aufzubauen: Er war zunächst Vorsitender der 1963 gegründeten Arbeiterpartei Lapiang Manggagawa", zog sich jedoch bald vieder von ihr zurück. 'ext:

Vir hatten einmal bis zur Zeit des letzten Krieges eine „Sozialistische Partei der Philip-inen", die von Don Pedro Abad Santos aus . er Provinz Pampanga geführt wurde, dem Kentrum der gegenwärtigen sozialen und auern-Unruhen. Es war im Grunde genom-

en eine Landreformbewegung, obwohl die ‘artei weitergehende gesellschaftliche Ziele ntsprechend den Vorstellungen des demo-

ratischen Sozialismus verfolgte. Während der Kriegszeit und der japanischen Besetzung des Landes ging die Sozialistische Partei eine Allianz mit der „Kommunistischen Partei der Philippinen" (CPP) ein; später schlossen sich beide Parteien zusammen, um der Diktatur der japanischen Militärherrschaft besser widerstehen und die japanische Besatzungsherrschaft stürzen zu können.

Ich habe das Godesberger Programm mit großem Interesse und Freude gelesen. Die Grundwerte und Grundforderungen, wie sie in dem Handbuch von Willi Eichler über die „Grundwerte und Grundforderungen des demokratischen Sozialismus" dargestellt werden, sind praktische und ausgezeichnete Ziele, die jede demokratische Gesellschaft zu verwirklichen trachten sollte. In unserem Lande dürfte ihr Wert und ihre Bedeutung eher von der Gewerkschaftsbewegung als von irgendeiner anderen Gruppe erkannt werden, da unsere Gemeinschaft sich unter dem Großgrundbesitz und später dem kapitalistischen System entwickelt hat. Wir haben hier zur Zeit immer noch eine Mischung aus beiden, obwohl die Notwendigkeit einer Änderung und der Verwirklichung der Ziele des demokratischen Sozialismus anerkannt wird. Der Impuls zu einem solchen Systemwechsel kann nur von der Arbeiterklasse dieses Landes kommen. Wir hoffen immer noch, daß dieser Wechsel auf evolutionärem Wege bewirkt werden kann. Doch falls daraus nichts wird, besteht die Gefahr, daß das Volk — wie schon in der Vergangenheit — wieder zur einzigen Methode Zuflucht nimmt, die ihm vertraut ist, zum Weg der Gewalt. In den letzten 50 Jahren haben wir 17 soziale Aufstände gehabt, meistens Bauernunruhen verbunden mit anderen sozialen Forderungen. Die Erkenntnis der Notwendigkeit sozialer Reformen auf seifen der Regierung hat in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten zur Verabschiedung der erforderlichen Gesetze über die Errichtung eines Sozialversicherungssystems, Wohnungsbauprogramme, Reform des Landpächterwesens und über das Organisationsrecht und die Tariffähigkeit der Arbeiter geführt.

Diese Änderungen unseres Systems wurden durch den Druck der Notwendigkeit bewirkt. Doch die Durchführung hinkt hinter der Formulierung neuer Maßnahmen kräftig hinterher.

Wenn man bedenkt, daß die Philippinen fast 360 Jahre unter spanischer Herrschaft, gekennzeichnet durch feudalistischen und klerikalen Absolutismus, und ungefähr 46 Jahre unter amerikanischer Kontrolle gestanden haben, die uns das gegenwärtige System des Kapitalismus bescherte, dann kann man das Fehlen der im Godesberger Programm ausgezeichneten Grundeigenschaften des Sozialismus in unserem System begreifen. Das heißt nicht, daß unser Volk sich nicht nach diesen Dingen sehnt, doch im gegenwärtigen Stadium ist sein gesellschaftliches und philosophisches Verständnis noch nicht genügend entwickelt, und es ist noch nicht hinreichend organisiert, um ihre Einführung jetzt oder in unmittelbarer Zukunft zu verlangen. Es gibt viele in der jungen Generation, die die Notwendigkeit eines sofortigen Wandels sehr eindringlich empfinden. Es gibt hier nun auch Anfänge sozialistisch eingestellter Organisationen. Eine ansehnliche Gruppe von Gewerkschaftlern hat die soge-nannte „Sozialistische Partei der Philippinen" organisiert. Sie steht mehr oder weniger links. Sie ist an den Weltgewerkschaftsbund angeschlossen. Die andere Gruppe von Arbeitern organisierte die „Lapiang Manggagawa" (Arbeiter-Partei) im Jahre 1963. Beide Gruppen haben sich bis jetzt noch nicht völlig durchgesetzt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Grundsatzprogramm der SPD, hrsg. v. Parteivorstand, Bonn 11/59, S. 26 f., im Abschnitt „Unser Weg".

  2. A. a. O., S. 13, im Abschnitt „Wirtschaftund Sozialordnung".

  3. A. a. O., im Abschnitt „Wirtschaftund Sozialordnung" unter „Eigentum und Macht".

  4. A. a. O., S. 16, im selben Abschnitt unter „Einkommens-und Vermögensverteilung".

  5. A. a. O., S. 21, im Abschnitt „Das kulturelle Leben" unter „Religion und Kirche".

Weitere Inhalte

Gebhard Hielscher, Ausländskorrespondent für Presse und Rundfunk in Tokio, geb. 1935, Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Berlin und Freiburg. Veröffentlichungen: Sozialismus in Japan, in: Sozialismus, hrsg. von Iring Fetscher u. a., München 1968; Kommunismus in Japan, in: Kommunismus, hrsg. von Iring Fetscher u. a., München 1969, Richtungskämpfe im japanischen Sozialismus, Aufsatz in „Kagami — Japanischer Zeitschriftenspiegel", hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Natur-und Völkerkunde Ostasiens in Tokio in Zusammenarbeit mit dem Institut für Asienkunde, Hamburg, Jahrgang 1968, Heft 3.