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Albanien — Ein Vierteljahrhundert Kommunismus | APuZ 44/1969 | bpb.de

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APuZ 44/1969 Provokation der Vernunft? Herbert Marcuse und die Neue Linke Albanien — Ein Vierteljahrhundert Kommunismus

Albanien — Ein Vierteljahrhundert Kommunismus

Otto Rudolf Ließ/Robert Schwanke

Unter eigener und fremder Flagge Die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts haben dem Zweimillionenstaat Albanien die Wiederkehr bedeutsamer Gedenktage gebracht: 1962 begingen Tirana und das Auslandsalbanertum jeder Gesinnungsrichtung die 50-Jahrfeier des modernen Staatswesens Albanien; 1966 feierte die „Partia e Punes s Shqipris“ (PPSh), die kommunistische „Partei der Arbeit Albaniens", ihren 25. Gründungstag. 1968 gedachte die Volksrepublik Albanien vornehmlich des 500. Todestages des Türkenbesiegers Skanderbeg, erinnerte an umwälzende staatspolitische und außenpolitische Ereignisse seit dem Kominformkonflikt 1948 und feierte außerdem den 60. Geburtstag Enver Hoxhas, dieses , Talleyrand des Balkankommunismus', der seit einem Menschenalter die Geschicke Albaniens lenkt. Im Jahre 1969 tauchte die Erinnerung an jenen Karfreitag vor 30 Jahren auf, an dem das faschistische Italien das kleine Land auch militärisch besetzte. Besonders bedeutungsvoll aber ist für Albanien das Datum des 20. bis 23. Oktober 1969. Vor 25 Jahren, am 22. Oktober 1944, wurde in Berati die erste Provisorische Regierung des Nachkriegsstaates unter dem damals 36jährigen KP-Chef Enver Hoxha eingesetzt.

Die verbreitete Unkenntnis über die Zeitgeschichte Albaniens gibt jenem Gelehrten recht, der 1916 dieses Land einmal die „Monade" des Balkans genannt hat; Milan von Sufflay meinte damit die Abkapselung Albaniens gegen die Außenwelt, eine Igelstellung, die dem „Tibet Europas" gemäß zu sein scheint. Welche Position kommt Albanien nun heute in Europa zu? Welche Wechselbeziehungen zum Westen oder Osten, zu Jugoslawien, Rußland, China bestimmen die Bedeutung dieses Zwergstaates mit seiner Schlüsselstellung an der Adria?

Seltsamerweise wissen nur die wenigsten Europäer, daß die Wiege einer Anzahl von bekannten Heerführern, Staatsmännern, Gelehrten und Künstlern des Mittelmeerraumes auf albanischem Boden gestanden hat. Nur einige dieser Persönlichkeiten seien genannt: der albanische Türkenbesieger Georg Kastriota Skanderbeg (1405— 1468), ebenbürtiger Zeitgenosse des ungarischen Türkenhelden Johannes Hunyadi (1387— 1456). Inmitten fremden Volkstums und fern der Stammesheimat hat sich das Schicksal anderer „Söhne des Adlers" im Zenith europäischer und außereuropäischer Leistung vollendet: Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wirkte in Konstantinopel etwa Sinan (1489— 1587), der bedeutendste Baumeister der Osmanen. 1464 floh seine Familie aus Albanien vor den Türkengreueln. Unter ihren Nachkommen waren fünf Kardinäle und Papst Clemens XL (1649— 1721), der mit der Abwehr gegen die Osmanen zur Rettung des damaligen Abendlandes entscheidend beitrug. Außer maßgeblichen Jungtürken war auch Kemal Atatürk (1881— 1938), der Begründer der modernen Türkei, albanischer Herkunft. Bekannt ist die Tatsache, daß die Dynastie Mehmet Alis in Ägypten, die bis 1952 herrschte, 1805 durch einen Albaner begründet wurde. Italiens Ministerpräsident Francesco Crispi (1819— 1901), der für das nationalstaatliche Werden Italiens richtungweisend gewirkt hat, war ebenso albanischer Herkunft wie der eigenwillige titokom-munistische Spitzenfunktionär Milovan Djilas („Die neue Klasse"). Angesehene Mediziner, Architekten, Kaufleute des Osmanenreiches, Westeuropas oder der USA entstammen ebenfalls albanischem Volkstum.

Das heutige kommunistische Staatswesen umfaßt nur etwas mehr als die Hälfte aller albanischen Volkszugehörigen; die anderen leben vor allem in Jugoslawien, Italien, Griechenland, in der Türkei, in Westeuropa und in den USA. Bevor wir aber einen Blick auf die Geschichte der albanischen Nation werfen, seien einige Angaben zur Landes-und Wirtschaftskunde der Volksrepublik Albanien vorausgeschickt.

II. Geographische Lage, Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

Abbildung 3

1. Die geographische Schlüsselstellung Albaniens Das Staatsgebiet in der Form eines unregelmäßigen Sechsecks hat eine maximale Nord-Süd-Achse von 340 km und eine Breite von 148 km. Albaniens Hoheitsgebiet umfaßt 28 748 km 2. Von der gesamten Grenzlinie (1204 km) entfallen 476 km auf Jugoslawien und 256 km auf Griechenland. 472 km mißt die Seegrenze des Staates. Ein Drittel des Hoheitsgebietes weist eine durchschnittliche Höhe von 300 m über NN auf, die übrigen zwei Drittel haben Höhenlagen zwischen 300 und 2700 m. Neben großen Strömen (Drin — innerhalb Albaniens 281 km; Semani — 252 km; Vjosa — 238 km; Shkumbini — 146 km; Mati — 104 km, usw.), die fast alle im Lande selbst entspringen, besitzt Albanien etwa 150 Binnenseen, zum Teil in Grenzgebieten (Shkodra, Ohrid, Prespa). Lediglich der Drin wird zur Gewinnung von Elektrizität gestaut, so daß er in Zukunft auch schiffbar gemacht werden könnte. Albanien weist sehr unterschiedliche klimatische Zonen auf. An der Küste herrscht Mittelmeerklima vor; für die Berggegenden gelten weitaus niedrigere Temperaturen und kontinentale Verhältnisse. Demgemäß schwanken die durchschnittlichen Jahrestemperaturen zwischen 10° und 17, 8°. Der jährliche Niederschlag verteilt sich sehr ungünstig auf das Winterhalbjahr; während ein bis drei Monaten gehen große Regenmengen nieder, die oft Überschwemmungen verursachen. Entwässerung und Bewässerung sind daher zur Sicherung der Ernte dringend notwendig. 45 °/o des Staatsgebietes sind von Wäldern bedeckt; der Holzreichtum gleicht dem Schwedens und Finnlands.

Albaniens Berge sind reich an Bodenschätzen. Bisher konnten mehr als 30 verschiedene me-tallische und nichtmetallische Mineralien festgestellt bzw. gewonnen werden: Große Reserven von Erdöl und Erdgas wurden entdeckt;

sie spielen auch für die Ausfuhrwirtschaft des Landes eine große Rolle. Die Vorkommen des seit fast einem Jahrhundert abgebauten, ausgezeichneten Asphalts sind nahezu erschöpft.

Bis zu 7000 Kalorien weist die geförderte Kohle (Lignit) auf. Ferner ist Albanien eine der reichsten Fundstätten an qualitativ hochwertigem Chromerz, das bis zu 48 0/0 reines Metall enthält. 1958 begann die Ausbeute von Eisen-nickel (60 °/o reines Eisen, 1— 2 °/o Nickel und ein geringer Anteil Kobalt). Wie die beigegebene Wirtschaftskarte zeigt, nimmt Kupfer unter den Erzen eine besondere Stellung ein. Unter den Nichteisen-Metallen gibt es Vorkommen von Blei, Bauxit, Nickel, Gold, Silber, Magnesium, Quecksilber, Uran, Platin, ferner Gips, Schwefel, Arsenik usw.; Erze und Mineralien machen rund 50 °/o der albanischen Exporte aus.

Unter den Städten ist Tirana eine der jüngsten; 1923 zählte die Hauptstadt 10 845 Einwohner, 1938 waren es 25 000, heute sind es 170 000. Der Hafen Durresi ist eine der ältesten Städte Europas, angelegt 627 vor Christus (alter Name: Epidamnus oder Dyrrachion) — ein Industriezentrum mit 53 000 Einwohnern. Shkodra, Kora, Vlora und Elbasani sind Zentren der beginnenden Industrialisierung des Landes, während Kruja, Berati oder Gjirokastra mehr als „Museen" mittelalterlicher Architektur und muselmanischer Überlieferung anzusehen sind. Die Meerenge von Otranto (72, 5 km) bezeichnet auch heute die strategische Bedeutung des „Sperriegels" Albanien, dessen Küstenbefestigungen und militärisch gesicherte Berggrenzen auch gegenwärtig noch den jahrhundertelangen Kampf der Nachbarn und Großmächte um die albanische Schlüsselstellung widerspiegeln. 2. Grundlagen der Wirtschaft In der Landwirtschaft finden Getreidebau, die Kultur von Industriepflanzen, der Anbau subtropischer Pflanzen (sogar Bananen) sowie die Weidewirtschaft die besten Voraussetzungen. 53 °/o der landwirtschaftlichen Anbaufläche entfallen auf Getreidekulturen, vornehmlich Mais-anbau, lO°/o auf Obstbau; 34 °/o der Nutzfläche dienen der Viehzucht. Von wachsender Bedeutung sind technische Kulturen: Tabakkulturen werden im Gebiet von und im Shkodra Südosten Albaniens gepflanzt; Baumwolle wächst insbesondere auf den bewässerten Böden zwischen Durresi und Vlora und bringt Ernten über 25 000 t. Holzproduktion und -Verarbeitung sind im Flußtal des Drins und in Mittel-albanien (Lai, Elbasani) konzentriert.

Die Leistung der Energiewirtschaft weist hohe Steigerungsgrade auf. 1968 übertraf die Strom-erzeugung den Stand von 1950 um das sechsundsiebzigfache. Bis 1971 sollen alle Dörfer elektrifiziert werden.

Die bestehenden Möglichkeiten für Jagd und Fischfang sind noch in keiner Weise genutzt.

Die Ernteerträge für Getreide liegen etwas über dem sowjetischen Durchschnitt (12, 5 Doppelzentner pro Hektar). Besondere Mühe hat man nach 1945 auf die Anpflanzung von Hunderttausenden von Ol-und Citrusbäumen sowie auf die Entwicklung des Weinbaus (in dem islamischen Lande!) verwandt. Als besonders hoffnungsvoll bezeichnet man die systematische Sammlung von Heilpflanzen. Meliorationen, Entsumpfung von Küstengebieten, Bau eines einfachen Bewässerungssystems für die Hälfte des anbaufähigen Bodens, bessere fachliche Ausbildung der in der Landwirtschaft Beschäftigten — alle diese Projekte entspringen der Erkenntnis, daß eine noch so gesteigerte Industrialisierung die ausschlaggebende Bedeutung höherer landwirtschaftlicher Erträge für die Lebenshaltung nicht herabmindern kann.

Im bisherigen Wirtschaftsaufbau hat sich insbesondere die Montanindustrie als entwicklungsfähig erwiesen. Erfolgversprechend sind nicht bloß Erzgewinnung, sondern Buntmetallurgie, Erdölförderung und -Verarbeitung, chemische Erzeugung und auch Holzindustrie. Zunächst sei auf die von englischer und italienischer Seite begonnene Erdölförderung mit ihren Nebenprodukten verwiesen (1968: 1 Mill, t Rohöl). Bitumen bildet heute ein wichtiges Ausfuhrkontingent, das in zwanzig Länder geliefert wird. Man verdankt es italienischen Forschungen der Zwischenkriegszeit, daß die Reserven an Bodenschätzen erstmals verhältnismäßig genau bekanntgeworden sind; denn Italien beabsichtigte, die albanische Wirtschaft als Zulieferer von Erzen und Halbprodukten zu „integrieren". Damals wurden die Vorkommen an Kupferpyrit und Kalkopyrit auf 55 Mill, t geschätzt (Förderung 1968: 285 000 t). Die Eisenchromlager sollen etwa 20 Mill, t ausmachen. Albanien förderte 1968 nach offiziellen Angaben 365 000 t Chromerz. Heute beziehen bereits acht Länder Chromerz aus Albanien. Die Eisennickel-Förderung erreichte 1967 405 000 t. Ebensowenig fehlt es an Kohlenflözen, deren Abbau z. T. übertage erfolgt.

Im Unterschied zu den meisten übrigen Volksdemokratien war der Anteil der Schwerindustrie an der gesamten Industrieerzeugung bis 1960 geringer als der der leichtindustriellen Sparten (darunter besonders Tabakverarbeitung und Konservenindustrie). Die Gruppe der Industriesparten „A" (Schwerindustrie) erreichte jedoch 1967 bereits 54, 8%, während der Anteil der Gruppe „B" (Leichtindustrie) nur noch 45, 2 % betrug.

Die Transportlage Albaniens ist gegenwärtig angespannt. Ein Großteil der Güter-und Personenbeförderung erfolgt durch Kraftwagen. Insgesamt entfielen 1967 90, 62 % der beförderten Güter auf den Straßenverkehr. Es gibt eine im Ausbau befindliche Automagistrale Shkodra—Durresi—Tirana—Vlora mit einer Abzweigung nach Elbasani und Kora. Der Seetransport bewältigte 1, 6% des Gütervolumens. Auf die Eisenbahn entfielen 7, 74 % der Personen-und Frachtbeförderung. Ausgebaute Strecken sind Durresi—Tirana, Durresi—Elbasani und Rrogoshina—Fieri (es bestehen 200 km Schienenwege; weitere Strecken werden von Jugendbrigaden allmählich fertiggestellt). 3. Staats-und Gesellschaftsordnung (1944 bis 1969)

Bereits am 24. Mai 1944 hatte ein Antifaschistischer Nationaler Befreiungskongreß mit 200 Abgeordneten in Permeti die Grundlagen der neuen Staatlichkeit Albaniens beschlossen. Im Herbst 1944 hatten Partisanenkräfte rund zwei Drittel des Staatsgebietes besetzt, so daß der Antifaschistische Nationale Befreiungsausschuß auf dem Kongreß von Berati am 22. Oktober 1944 seine Leitung in eine erste Provisorische Regierung Albaniens unter Enver Hoxha umwandeln konnte. Ein Jahr später, am 26. September 1945, beschloß der gleiche Antifaschistische Nationale Befreiungsausschuß das Gesetz über die Verfassunggebende Versammlung, die nach dem ersten allgemeinen Wahlgang der Nachkriegszeit’ (2. Dezember 1945) am 10. Januar 1946 zusammentrat, um am nachfolgenden Tage die „Volksrepublik Albanien" zu proklamieren.

Am 15. März 1946 erhielt Albanien eipe neue Verfassung, die 1950 eng ah die Stalinsche Verfassung des Jahres 1936 angepaßt wurde. Verglichen mit der jugoslawischen Verfassung sind die Bestimmungen über das Staatseigentum breiter gefaßt, die Stellung der Frau wird in Albaniens Verfassung besonders nachdrücklich hervorgehoben. Zwischen 1945 und 1948 erfolgte die des „Sozialisierung" Bodenbesitzes, der gewerblichen Unternehmen, der Ban-, ken und Versicherungsanstalten, der Viehherden und Olivenbaumbestände.

Das oberste Organ der Volksrepublik Albanien ist die für vier Jahre gewählte Volksversammlung (Einkammersystem), die das Präsidium der Volksversammlung wählt und die Regierung bildet — den Ministerrat.. Nach diesem Schema ist auch die Albanische Partei der Arbeit (PPSh), die einzige Partei des Landes, organisiert, die die sogenannte Demokratische Front anleitet, die ihrerseits vor Wahlgängen alle gesellschaftlichen Massenorganisationen propagandistisch zusammenfaßt. Es gibt in Albanien 26 Verwaltungsbezirke.

Der Geburtenreichtum Albaniens erklärt zu einem Teil die jahrhundertelange nationale Selbstbehauptung dieses „Volkes der Grenzen". Mit einem hohen jährlichen Zuwachs (1967 = 35, 3 %o Geburten, 8, 4 %o Sterbefälle, natürlicher Zuwachs 26, 9 %o) erwartet man für das Jahr 1980 einen Bevölkerungsstand von über 2, 4 Millionen. Für das Land, das heute eine Bevölkerungsdichte von 68 Menschen pro Quadratkilometer aufweist, schätzt man für das Jahr 2000 im heutigen Staatsgebiet 3, 6 Mill. Einwohner (= 125 pro Quadratkilometer).

Von den etwa 800 000 Erwerbstätigen arbeiten noch rund 58 0/0 auf Staats-und Genossenschaftsgütern. 27 °/o sind als Arbeiter im Gewerbe oder in nichtlandwirtschaftlichen Betrieben tätig. Der Anteil der Angestellten beträgt etwa 11 °/o, der der Handwerker 2, 7 °/o und der der Kaufleute 0, 3 °/o.

Wie schon erwähnt, beherbergt die Volksrepublik Albanien mit ihren zwei Millionen Staatsangehörigen höchstens die Hälfte aller Albaner. Schätzzahlen für die im Ausland lebenden Albaner lauten wie folgt: Griechenland 50 000, Türkei 70 000, Jugoslawien 1 000 000 bis 1 600 000, Italien 200 000, Rumänien 30 000 und in den USA 60 000.

Am 13. November 1967 wurden alle gesetzlichen Verfügungen und Garantien, die die Glaubensgemeinschaften Albaniens betreffen, für ungültig erklärt. Diese ungewöhnliche „Lösung" des religiösen Problems durch eine atheistische Diktatur hat rund 72, 8 0/0 Einwohner mohammedanischen Bekenntnisses, 17, 1 °/o orthodoxe und 10, 1 (, /o römisch-katholische Albaner schlagartig ihrer Gottesdiensträume, der Möglichkeit zum Religionsunterricht, der religiös-kirchlichen Fürsorge usw. beraubt. Sieht man von dem architektonischen Zerstörungswerk durch Umwandlung von Moscheen, Minaretten und Kirchen in Kulturhäuser, Lagerräume und dergleichen ab, so ist damit in Europa erstmalig durch eine „Verwaltungsmaßnahme" der Glaube „abgeschafft" worden — zweifellos eine folgenreiche „Revolution von oben", wie sie in anderen europäischen Volksdemokratien nur in der späten Stalinzeit der „Kirchenstürme" denkbar gewesen wäre.

III. Geschichte und Geschichtsmythos bis zur Neuzeit

Abbildung 4

• . i ii Die Kleinnation der Albaner hat ein Jahrtausend hindurch überdauert. In ihnen lebt der zähe Trotz des Illyrertums fort; Epochen hindämmernder Lethargie und großpolitischer Bedeutung lösen einander ab. Anpassungsfähigkeit vereint sich im Shqipetarentum mit einem starken Widerstandsgeist, ottomanisch ber dingte Rückständigkeit mit einem verblüffenden Neuerungsstreben; gutnachbarliche Gesinnung schlägt im Leben des einzelnen und der gesamten Nation schnell zur abwehrbereiten"

Igelstellung um: Immer aber ist es das gleiche Albanertum, dessen Sonderstellung auch die übrigen Balkanvölker anerkennen. 1. Bestand und überdauern bis zum ersten Türkeneinfall Seit dem Neolithikum, dem 6. Jahrtausend vor Christus, läßt sich für den Raum des heutigen Albanien eine kontinuierliche Besiedelung nachweisen— mögen es nun die vorindoger-manischen Pelasger oder später die indogermanischen Thraker und Illyrer gewesen sein, die hier seßhaft werden. Seit 627 v. Chr. werden griechische Pflanzstädte — wie überall am Gestade des Mittelmeers — gegründet. Die einheimischen Illyrer setzen sich gegen die makedonische Oberherrschaft Philipps II. und Alexanders des Großen zur Wehr. Den Römern gelingt es erst nach sechs Jahrzehnten, in immer neu aufflackernden Kämpfen Illyrien um 168 v. Chr. endgültig zu erobern. Neue Aufstände gefährden den Gewinn. Auch die Römerherrschaft vermag nur „als Retorte zur Einschmelzung und Umschmelzung der albanischen Eigenart" zu dienen. Die Völkerwanderungszeit bringt den Durchzug der Westgoten, Hunnen und anderer. Von 851 bis 1018 steht das Land unter bulgarischer Oberhoheit.

Im Jahre 1081 landet der normannische König Robert Guiscard mit seiner Adriaflotte im Hafen von Durresi. Zwischen 1204 und 1358 besteht in Gestalt des Despotats Epirus auf dem Gebiet des heutigen Albanien eine Art Vorläufer des derzeitigen Staatswesens. Karl Robert I. von Anjou, Bruder Ludwigs IX. von Frankreich, begründet 1272 das erste Regnum Albaniae. Byzantiner, Bulgaren, Venezianer und Serben üben in dem geopolitisch wichtigen Anrainergebiet wechselnd ihre Herrschaft aus, bis der erste Türkeneinfall (1385) den neuen Grundakkord des albanischen Schicksals für ein halbes Jahrtausend einleitet. Mit dem 1431 errichteten ersten türkischen Sandschak (Verwaltungsbezirk) machen sich die Osmanen auch die meisten albanischen Stammesfürsten untertänig. Zwei Jahrzehnte vor dem Fall Konstantinopels (1453) scheinen damit ethnische Behauptung und politischer Widerstand Albaniens besiegelt zu sein. In diesem Augenblick aber — angesichts kleinlichen Haders und verzweifelter Abwehrkämpfe im südlichen Europa — lehnt sich die unverbrauchte Kraft des Albanertums gegen die osmanische Expansion auf und gewinnt in der Gestalt Skanderbegs plötzlich gesamteuropäische Bedeutung. 2. Das Zeitalter Skanderbegs und die Nachära Die Legende rankt manche Geschehnisse um den hünenhaften Kastriota, der vermutlich 1405 geboren wurde und vielleicht erst mit achtzehn Jahren zur Erziehung an den Hof von Adrianopel geschickt wurde. Der Jüngling Georg Kastriota wurde zwangsweise Muselmane, erhielt den Namen Iskinder (Alexander), erlernte gemeinsam mit zwei Brüdern am Hofe des Sultans alle ritterlichen Tugenden eines Janitscharen. Bald erhielt er im Kriegsdienst den Rang eines Beg, so daß er für die Zeitgenossen Iskinder-Beg, das ist Skanderbeg, wurde. Der bis zur Verwegenheit kühne und kluge Anführer genoß das besondere Vertrauen des Sultans Murad II. (1421 bis 1451), der ihn 1438 zum Befehlshaber (Subashi) der den albanischen Sandschak beherrschenden Festung Kruja ernannte. Im Jahre 1443, also nach zwanzigjährigem Kriegsdienst unter dem Halbmond und als Mohammedaner, entschloß sich Skanderbeg plötzlich zum offenen Kampf gegen die Hohe Pforte. Der Sultan hatte ihn kurz vorher nach Dibra „strafversetzt". Georg Kastriota trat öffentlich zum Christentum über und leistete ein Vierteljahrhundert lang erfolgreich Widerstand gegen die Unterwerfung seiner Heimat durch die Ungläubigen. Bereits 1450, nachdem er vorher im Zweifrontenkrieg gegen die Osmanen und Venedig standgehalten hatte, erwies sich der albanische Empörer bei der Verteidigung in und vor der Festung Kruja als überlegener Heer-führer. Murad II. belagerte Kruja mit einem Massenheer. Georg Kastriota hatte 1500 Besatzungssoldaten im Inneren der Festung zurückgelassen und beunruhigte mit 8000 weiteren Gefolgsmannen die türkischen Belagerer durch Überfälle und Einbrüche so erfolgreich, daß der große Herrscher der Osmanen sich nach viereinhalbmonatiger Belagerung im Herbst 1450 zurückzog.

Als der ungarische Heerführer Johannes Hunyadi 1448 auf dem Amselfeld durch ein Heer der Osmanen eine Niederlage hinnehmen mußte, eilte Skanderbeg aus dem Süden herbei, um Hunyadi beizustehen. Er kam zu spät, weil er auf seinem Zug durch Serbien zuerst mehrere Festungen bezwingen mußte, in denen der Despot Georg Brankovic (1427— 1456) den Vormarsch des albanischen Heeres aufzuhalten trachtete.

Skanderbeg war im April 1463 durch den Vertrag von Usküb zu einem Frieden mit Mehmed II. gelangt. Er selbst brach dann diesen Frieden einseitig, weil Papst Pius II., Venedig und Neapel zum Kreuzzug rüsteten und er als abendländischer Heerführer ausersehen war. Im August 1464 scheiterte der Plan. 1465 und 1466 wehrte Kruja neue Belagerungsstürme ab. 1468 versammelte Georg Kastriota Skanderbeg in Lezha die Stammesführer seines Volkes zu einer Beratung, um die 1444 begründete „Albanische Liga" unter den Feudalen Albaniens zu erneuern. Da ereilte ihn der Sumpffieber-Tod, kurz nachdem der Einbruch des Türkenheeres im Norden des Landes abgewehrt werden konnte. „Große Zeiten sind niemals glückliche Zeiten gewesen!" Das Wort Oswald Spenglers bestätigte sich in dieser 25 Jahre währenden Herrschaft Skanderbegs vielfältig: Streit, Auflehnung, Verrat unter den eigenen adeligen Gefolgsleuten; Versuche Serbiens und der Republik Venezia, sich der Häfen und der Küstenlandschaft Albaniens zu bemächtigen; Hungersnot, Seuchen — im Todesjahr des großen Skanderbeg war ein Drittel der Bevölkerung des heutigen Staatsgebietes ausgerottet. 3. Vom Paschalik zur unabhängigen Republik 1912

Die Leistung des „Athleten Christi", wie Papst Paul II. Skanderbeg nannte, war nicht nur eine Episode, sondern bewahrte die Apenninenhalbinsel und vielleicht das übrige Abendland vor der überrennung durch die Osmanen. Fast ein Jahrhundert währte der hinhaltende Widerstand der albanischen Stämme. Im Jahre 1690 führte der Pascha von Pec die islamische Zwangsbekehrung im Lande fast lückenlos durch und verdrängte einen Teil der Bevölkerung in das damals schon von Shqipetaren bewohnte Gebiet von Kosovo-Metohia im heutigen Jugoslawien. Ein Jahr vorher, 1689, hatten sich die österreichischen Heere unter Graf Piccolomini bis Makedonien durchgekämpft, mußten sich jedoch nach dessen Tode fluchtartig zurückziehen. Vom 17. bis 19. Jahrhundert erfolgen zahlreiche Aufstände, bis mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer Befreiungskampf einsetzt, der 1912 mit der Gründung eines selbständigen Staatswesens endet.

Im Zeichen der Ära Napoleons I. erlangten zwei große Paschaliks in Albanien — Bushatli im Norden (1775— 1831) und Ali Pascha im Süden (1788— 1823) — zeitweilige Unabhängigkeit; dann aber folgte eine erneute Unselbständigkeit Albaniens bis zur türkischen Niederlage und zum Frieden von San Stefano (1878). Der Friedensvertrag von San Stefano sah bedeutende Gebietsverluste des albanischen Kerngebietes an balkanische Nationen vor. Der Berliner Kongreß 1878 sollte diese Zerreißung Albaniens bestätigen. Am 10. Juni 1878 wurde dann von Abgesandten aus den verschiedenen Volkstumsgebieten des Albanertums unter Pascha Iljaz von Dibra der Bund von Prizren, die Lidhja e Prizrendit „zum Schutze der Rechte des albanischen Volkes", gegründet. In diesem Aufbruch von Prizren — heute innerhalb der Grenzen Jugoslawiens gelegen — kulminierte der albanische Freiheitskampf des 19. Jahrhunderts: Die albanische Kleinnation wehrte einige Gebietsverluste an die Nachbarn ab. Während der bewaffneten Fronde und mitten in den wiederkehrenden Aufständen mußten aber die Albaner der westlichen Balkanhalbinsel überhaupt erst die Grundvoraussetzungen der staatlichen Selbständigkeit und des nationalen Bestandes schaffen: Das religiös und krichlich zerrissene Volk bedurfte eines gemeinsamen Alphabetes, einer einheitlichen Schriftsprache, eines neuen Selbstbewußtseins. Zunächst gelang es von der Peripherie her — von Bukarest, Stambul, Athen, Alexandria und dank den bedeutenden albanischen Siedlungsgruppen auf Sizilien und in Süditalien —, die Fundamente für die politische und geistige Befreiung vom Osmanentum zu legen. Man wird rückblikkend gerade das Ergebnis dieser Bemühungen und Kämpfe bis zum Kongreß von Manastir (Bitola) 1908 als ein geschichtliches Wunder unserer modernen Welt bezeichnen dürfen.

Zunächst galt es für das erwachende Albanertum, die Fesseln des „kranken Mannes am Bosporus" abzustreifen und nach Jahrhunderten wieder ein eigenes Staatswesen zu gründen. Das Ende des Ersten Balkankrieges bot die Gelegenheit zur raschen Tat: Im Spätherbst 1912 verließ Ismail Qemal Beg (1844 bis 1919) Konstantinopel und reiste zuerst nach Rumänien, das sich in diesem bewaffneten Konflikt neutral gehalten hatte. Mit der Vollmacht der Bukarester nationalalbanischen Vereinigung begab sich Ismail Qemal nach Wien, wo er dem dortigen Führungskreis der Nationalalbaner erstmals Mitteilung machte, daß sich Albaniens Volksvertreter nicht mehr mit der am 18. August 1912 durch die Hohe Pforte genehmigten nationalen Autonomie begnügen würden. Albaniens Volk wünsche seine volle, staatliche Unabhängigkeit. Der 68jährige Staatsmann eilte in die Heimat und leitete in Vlora jene Versammlung, deren Abgeordnete am 28. November 1912 die Eigenständigkeit Albaniens unter dem Präsidenten Ismail Qemal verkündeten. Damals hatten die Serben Tirana besetzt und bereiteten sich vor, Elbasani und Durresi in ihre Gewalt zu bekommen. Die Truppen Montenegros bedrängten Shkodra, und griechische Kräfte bewegten sich von Himara in Richtung auf Vlora.

IV. Das moderne Albanien bis zur faschistischen Besetzung

Abbildung 5

1. Das Ringen um die staatliche Unabhängigkeit bis 1924

Sehr bald nach der erneuten Staatsgründung wurde die Regierung Ismail Qemal durch die Botschafterkonferenz der Großmächte in London (1913) anerkannt, da Österreich-Ungarn und auch Kräfte in Italien die Eigenständigkeit Albaniens unterstützten. Unter Schwierigkeiten und diplomatischen Intrigen wurden die im allgemeinen noch heute gültigen Grenzen des albanischen Hoheitsgebietes festgelegt; Montenegro, Serbien und Griechenland erhielten dabei albanische Volkstumsgebiete, in denen beinahe die Hälfte der albanischen Kleinnation, geschlossen oder in Streusiedlungen, wohnte. Wechselseitige Mißgunst und Eifersucht der Nachbarn und Großmächte ermöglichten damals und heute die staatliche Souveränität Albaniens in einem ständig bedrohten labilen Gleichgewicht.

Eine Episode blieb vom 7. März bis 3. September 1914 die Regierung des Fürsten Prinz Wilhelm zu Wied-Neuwied. Das im Schatten der Großmächte und gemeinsam mit den maßgeblichen Feudalen errichtete Fürstentum umfaßte im August 1914 nur noch die Gebiete von Durresi und Vlora. Ohne jede Hilfe, von Osterreich-Ungarn im Stich gelassen, verließ der Prinz zu Wied am 3. September 1914 samt Regierung und wenigen Söldnern sein Fürstentum der sechs Monate. In dem neuen Staatswesen nahm sehr bald eine beherrschende, aber zwielichtige Stellung Esad Pascha Toptani ein, der sich am 2. Oktober 1914 zum provisorischen Regierungschef und Ober-kommandierenden der albanischen Armee ausrufen ließ. Nach der Eroberung und Besetzung Albaniens durch Österreich flüchtete der serbienfreundliche Pascha im Januar 1916 mit seiner Regierung nach Korfu, später nach Frankreich.

Am 29. Juli 1913 hatten zwar die vier Groß-mächte die Unabhängigkeit Albaniens unter ihrer Garantie und Kontrolle beschlossen. Zwei Jahre später aber, am 26. April 1915, sah ein Geheimvertrag von London, geschlossen zwischen Italien, England, Frankreich und Ruß-land, eine Aufteilung des albanischen Staats-gebietes zwischen Italien, Montenegro, Serbien und Griechenland vor. Dieser Vertrag wurde auch nach dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg geheimgehalten.

Bei Kriegsende meldeten sich sämtliche Anwärter auf albanische Staats-und Volksgebiete. Die Friedenskonferenz von Versailles entschied schließlich nach zehn Monaten des Feilschens, daß die drei Großmächte England, Frankreich und die USA am 9. Dezember 1919 ein Abkommen über Albanien treffen sollten. Gegen ein solches Abkommen, das die Zerreißung des Landes . besiegelt hätte, erhob sich in Albanien ein einmütiger Protest. Der Kongreß von Lushnja, der vom 28. bis 31. Januar 1920 zusammentrat, setzte sich gegen diesen Aufteilungsplan zur Wehr, und ein bewaffneter Befreiungskampf erzwang schließlich die internationale Anerkennung des staatlichen Kerngebietes der Albaner. Entscheidend wurde das am 20. August 1920 in Tirana unterzeichnete Protokoll, auf Grund dessen Italien den Abzug seiner Truppen aus Albanien zusicherte, auf eine Beseztung von Vlora verzichtete und als Faustpfand lediglich die Insel Saseno zurückbehielt. Am 17. Dezember 1920 wurde Albanien Mitglied des Völkerbundes.

Der Erste Weltkrieg hatte durch Feindeinwirkung, Epidemien und Hunger fast ein Zehntel der Einwohnerzahl Albaniens gefordert. Die Kämpfe und Intrigen zur Wahrung der Eigen-staatlichkeit hatten das Land erschöpft. Dennoch entbrannten zwischen 1920 und 1925 Gruppenkämpfe und ein Führungsstreit, bis Ahmet Zogu fest im Sattel saß und sich immerhin bis zum Frühjahr 1939 zuerst als Innenminister und Chef des Heeres, dann als Ministerpräsident, Staatspräsident und König behaupten konnte. Bereits am 24. September 1922 erlangte Ahmet Zogu (1896— 1961) seine erste Ministerpräsidentschaft. Ein beiläufiges Ereignis im Jahre 1924 hätte ihn jedoch fast um die Frucht seiner Mühen gebracht. Der revolutionäre Student und Attentäter gegen Esad Pascha Toptani, Ravni Rustemi, hatte seine Tat vom 13. Juni 1920 in Paris nur um knappe vier Jahre überlebt: Auf ihn wurde am 20. April 1924 ein Anschlag verübt, angeblich auf Betreiben Zogus. Die Beerdigungsfeierlichkeiten für Rustemi lösten in Vlora am 1. Mai 1924 Unruhen aus, die Achmed Zogu zur zeitweiligen Flucht nach Jugoslawien zwangen und am 16. Juni 1924 die Errichtung einer Regierung der „linken Mitte" unter dem späteren orthodoxen Bischof Fan Noli ermöglichten, die von der heutigen kommunistischen Geschichtsschreibung Albaniens als „demokratisch" anerkannt wird. Innerhalb von sechs Monaten schaffte diese Regierung innen-und außenpolitische Ansätze, die vielfach erst nach dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt wurden: Eine einschneidende Bodenreform, Erziehungsund Schulpläne, Sozialversicherung standen auf der Tagesordnung — alles noch verfrüht und weder innen-noch außenpolitisch abgeschirmt. Albanien vereinbarte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR. Allerdings mußte der Tiranaer Regierungschef kurz darauf den soeben eingetroffenen neuen Sowjetbotschafter (unter westeuropäischem Druck) bitten, das Land binnen 24 Stunden wieder zu verlassen. Unvergessen blieb jedoch damals und später, daß Lenin 1917 das Londoner Geheimabkommen von 1915 zwischen Italien und den Großmächten der Entente aufgedeckt und den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zu einer Stellungnahme zugunsten Albaniens veranlaßt hatte. 2. Ahmet Zogu und die Gleichgewichtspolitik zwischen den Großmächten Das politische Glück ließ Fan S. Noli überraschend in Stich. Am 10. Dezember rückte Ahmet Zogu mit Söldnern aus Jugoslawien in Albanien ein und eroberte am 24. Dezember die Hauptstadt. Fan S. Noli und sein Anhang flohen. Ahmet Zogu wurde am 6. Januar 1925 Ministerpräsident, am 31. Januar 1925 Präsident der Republik und am 1. September 1928 König der Albaner. Es begann sein waghalsiges Spiel zwischen Rom, Belgrad und Athen. US-amerikanische Kapitalgeber, 0'1-und Montangesellschaften Westeuropas, britische Berater der Gendarmerie und engere politische und wirtschaftliche Bindungen mit dem Italien Mussolinis seit dem 30. Januar 1925 bestimmten das allzeit schwankende Gleichgewicht des Staatshaushaltes, der Innenpolitik sowie der auswärtigen Beziehungen. Etwa 23 Prozent des staatlichen Hoheitsgebietes sollen damals durch Schürfkonzessionen, Förderlizenzen und Verpachtungen vorübergehend in ausländische Hände gelangt sein. Ahmet Zogu bemühte sich 1933, den italienischen Druck durch Vereinbarungen mit Jugoslawien und Frankreich zu lockern.

Dieser Condottiere Albaniens hat in der Zwischenkriegszeit auch den staatspolitischen und verwaltungsmäßigen Anschluß des rückständigen Landes an europäische Verhältnisse vorbereitet: Ansätze eines modernen Schulwesens, eine Bodenreform im Jahre 1930, in deren Verlauf jedoch in dem spätfeudalen Herrschaftsgefüge nur 5 °/o der Ländereien an Kleinbauern verteilt wurden, ein bürgerliches Gesetzbuch und die erste Fassung eines modernen Strafund Handelsrechtes. 3. Die faschistische Ära als Auftakt zum Zweiten Weltkrieg Ahmet Zogu mußte mit der Ernennung Galeazzo Cianos zum Außenminister Mussolinis am 9. Juni 1936 mit einer „dynamischen" Außenpolitik Italiens und seinem endgültigen Abgang rechnen. Ciano verschaffte sich während der Besprechungen in Belgrad vom 18. bis 23. Januar 1939 die Gewißheit, daß Jugoslawien einer italienischen Besetzung Albaniens tatenlos zusehen werde. Am 7. April 1939, einem Karfreitag, landeten 35 000— 40 000 Mann italienischer Truppen im Hafen von Durresi. Fortan zielte die Politik Italiens auf eine fugenlose wirtschaftliche und kulturelle Einbeziehung des Albanertums in das kurzlebige Imperium Romanum Mussolinis.

Gewiß waren die imperialen, weißleuchtenden Regierungsbauten des fascio in Tirana, überdimensionale Plätze für Feiern und Aufmärsche sowie die italienischen Kapitalgesellschaften für die Shqipetaren keine Veranlassung, sich der italienischen Besatzungsmacht besonders verpflichtet zu fühlen. Dennoch haben die Italiener seit dem Ersten Weltkrieg bestimmte Voraussetzungen für die nach 1945 erfolgte Wirtschaftsplanung, für den Ausbau des Schulwesens und für eine wissenschaftliche und technische Planung geschaffen. Im nachhinein bleibt die Frage fast unerheblich, ob der italienische Kolonialismus dabei vorwiegend von reinem Machtdenken und Gewinnstreben geleitet war.

Konnte es anfangs scheinen, daß die faschistische Besetzung des Anrainerstaates der Adria bloß einen ersten Schritt für weitere Einflußnahmen auf dem Balkan bedeutete, so wandelte sich das Bild durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges entscheidend. Italiens Krieg gegen Griechenland (28. Oktober 1940) und die ersten militärischen Mißerfolge der Italiener auf dem Balkan hatten einen großen Rückschlag für die Bevormundung Albaniens durch Rom zur Folge. Vom 11. September 1943 bis zum November 1944 übernahm dann die Wehrmacht Hitlerdeutschlands die Besetzung des albanischen Staates. Wohlüberlegt verfügte damals die deutsche Besatzungsbehörde die Schaffung „Großalbaniens“, das heißt den Übergang des Gebietes Kosovo-Metohia aus dem jugoslawischen in den albanischen Staats-verband. Nur so konnte es geschehen, daß „lokale Verräter" aus nationaler Überzeugung in die Regierungs-und Verwaltungsstellen des besetzten Landes eintraten, daß Tausende junger Albaner bis zum Jahresende 1944 für dieses Großalbanien rückhaltlos kämpften. Zwischen 1939 und dem 17. November 1944 — dem Tage des Einzuges albanischer Partisaneneinheiten in Tirana — hatte sich jedenfalls erwiesen, daß auswärtige Mächte Albanien weder durch Wirtschaftshilfe und soziale Reformen noch durch militärische Gewalt auf die Dauer annektieren konnten.

V. Wendepunkte im Zweiten Weltkrieg und die Zusammenarbeit mit Belgrad

Abbildung 6

1. Vom Partisanenmythos zum Beginn der kommunistischen Staatlichkeit Wie der Erste Weltkrieg, so bedeutete auch die zweite weltweite Auseinandei Setzung des 20. Jahrhunderts für die „Söhne des Adlers" eine große Wende. Wie stets, glichen dabei die führende Schicht und das Volk Albaniens dem Getreidekorn zwischen den Mühlsteinen. Welche Voraussetzungen aber brachte diese dünne Schicht der Gebildeten und Halbgebildeten für die neue Zeit unter Hammer und Sichel, für den proletarischen Internationalismus mit?

Die Mehrzahl der jungen Intelligenz der Zwischenkriegszeit war in Wien, Rom oder Paris ausgebildet worden. Von achtzehn jungen Albanern, die ihre Fortbildung in Moskau gesucht hatten, blieben höchstens zwei übrig, die das schwierige Unternehmen der kommunistischen Gruppenbildung in der Heimat in Angriff nehmen wollten. Der Freundeskreis um Fan S. Noli hatte am 25. März 1925 in Wien das Komiteti nacional revolucionar = „Konare" gegründet. Der zunehmende Linksdrall dieser Gruppe verursachte eine Spaltung; die linksgerichteten Elemente fanden in der UdSSR und vor allem in Frankreich Rückhalt. Ali Kelmendi kehrte 1930 aus Moskau in die Heimat betätigte politi zurück und sich im -schen Untergrund Mittelalbaniens. Die eigentliche „preußische" Bildungszelle der albani -schen KP wurde indessen Kora, wo sich 1929 bzw. 1934 eine erste Gruppe albanischer Kommunisten organisierte. 1938 erschien in Korea ein illegales Organ „Perpara" (Vorwärts), daneben gab es nur noch eine einzige unbedeutende und kurzlebige Zeitschrift der extremen Linken. Shkodra und Tirana bildeten 1938 weitere revolutionäre Zellen.

Es wäre völlig verkehrt und legendär, diesen frühen Prozeß als klare Willensbekundung einer geeinten kommunistischen Auslese anzusehen. Die 1935 bis 1937 für Westeuropa ausgegebene Volksfrontparole Moskaus stiftete bei diesen wenigen linksgerichteten Intellektuellen und Gewerkschaftern ebenso Verwirrung wie im Frühjahr 1939 die offen einsetzende Faschisierung des Landes durch Italien. Nicht zuletzt wurde aber im Zweiten Weltkrieg zwischen 1943 und 1944 „Großalbanien" die harte Belastungsprobe des proletarischen Internationalismus der wenigen Kommunisten Albaniens.

Vom 4. bis 8. November 1941 war es den Funktionären der jugoslawischen KP Miladin Popovic und Dusan Mugosa geglückt, die offizielle Bildung einer einheitlichen Kommunistischen Partei Albaniens durchzusetzen. Zu diesem Zweck hatte man nicht die Anführer dieser Gruppen mit ihren Ansprüchen und Streitpunkten eingeladen, sondern gewöhnliche Mitglieder. Die beiden Vertreter der Gruppe Korea hießen Hoxha und Peristeri. Der junge, anpassungsfähige und mit einer großartigen politischen Witterung begabte Enver Hoxha wurde so am 8. November 1941 auch Erster Provisorischer Sekretär der KP Albaniens. Er sollte seither als „Talleyrand des Balkankommunismus" die Geschicke seiner Partei unablässig und maßgebend mitbestimmen.

Der als Sohn eines Tuchhändlers am 16. Oktober 1908 in dem überlieferungsreichen Gjirokastra geborene Führer der PPSh, der Partei der Arbeit Albaniens, zeichnet sich bis in die unmittelbare Gegenwart durch einige Besonderheiten aus: Zum Unterschied von den übrigen ostmitteleuropäischen Spitzenfunktionären ist er als Mittelschullehrer Angehöriger der Intelligenz Albaniens. Seit 1941 kann man ihn als einzigen Partei-und Staatsführer bezeichnen, dessen Lebensweg mit der Entwicklung der KP Albaniens weithin identisch ist. Begreiflicherweise haben die Auseinandersetzungen Tiranas mit Nachbarn und Großmächten auch den Charakter und das Verhalten des heute 61jährigen geprägt. Die jeweiligen Feinde und Gegner innerhalb und außerhalb der PPSh haben immer wieder versucht, den „Genossen Enver" als „rücksichtslosen Ehrgeizling" oder „kaltblütigen Sauberer" anzuklagen, der im Laufe von fast drei Jahrzehnten rund siebzig namhafte Parteigenossen, Staatsbeamte und Militärs absetzen ließ. Tatsache ist jedenfalls, daß Hoxha unter schwierigsten Verhältnissen „erster Mann" der Volksdemokratie geblieben ist — liebenswürdig im Auftreten, landesväterlich ermahnend, kein Mann des raschen Zornes, der übereilten Frontstellung, eher die Strategie des Abwartens übend, doch dann und gründlich im Zuschlägen. G. F. Achminow kennzeichnete 1963 in einer Analyse der sowjetischen Albanienpolitik den KP-Chef Albaniens wie folgt:

„Nun ist die Beurteilung des Charakters regierender Persönlichkeiten eine komplizierte Sache. Enver Hoxha ist gewiß kein Engel. Doch liegt die absolute Zahl der politischen Morde an seinen Mitarbeitern (es dürfte sich um einige Dutzende handeln) unter dem . normalen Durchschnitt'eines regierenden Kommunisten-führers." Heute wird neben Hoxha am meisten Ministerpräsident Mehmet Shehu (geb. 1913), der gelernte Soldat und Mann der zupackenden Tat, genannt: Sohn eines mohammedanischen Priesters und einer der militärischen Führer der KP Albaniens von 1941 bis 1944. Nach 1954 übernahm er von Enver Hoxha das Minister-präsidium. Trotz früherer und späterer Nebenbuhlerschaft hat vor allem das Jahr 1961 — der Bruch Moskaus mit Tirana — die beiden enger Spitzenfunktionäre zusammengefügt.

Es gab in Albanien von Anbeginn nichtkommunistische Widerstandsgruppen, die bis 1944 zeitweilig große Unterstützung in der bäuerlichen Bevölkerung fanden: die demokratische Gruppierung „Baili Kombetar" (Nationale Front) und seit 1943 die zogutreue „Legalitet". Demgegenüber vertrat die kommunistisch geführte „Nationale Befreiungsfront" eine doppelte Taktik: den Volksfrontgedanken des antifaschistischen Widerstands und den Aufbau einer eigenen kommunistischen Befreiungsarmee nach jugoslawischem und sowjetischem Vorbild. Im Frühjahr 1941 bildeten die Kommunisten Albaniens ihre ersten bewaffneten Widerstandsgruppen von 50 bis 70 Mann, am 15. August 1943 entstand — immer unter titoistischer Betreuung — die erste albanische Brigade. Ein Versuch, am 1. und 2. August 1943 in Mukaj zwischen den Richtungsgruppen des albanischen Widerstandes eine tragfähige Vereinbarung zu schaffen, scheiterte am Einspruch des damaligen jugoslawischen Partisanengenerals Vukmanovic-Tempo. Auslösende Ursache dieses Widerrufs war die Zustimmung des albanischen KP-Vertreters Ymer Dishnica zur großalbanischen Idee gewesen, zum Anschluß der jugoslawischen Region Kosovo-Metohia an das albanische Mutterland. Seit Mukaj und bis zum Bruch zwischen Belgrad und Moskau 1948 wurde die Frage Kosovo-Metohia durch die KP-Führung in Tirana nicht mehr aufgeworfen.

Zusammenfassend läßt sich über die Rolle der KP Albaniens feststellen: Die jugoslawische und britische Unterstützung der kommunistischen Partisanen, die italienische Niederlage und das Ende des Zweiten Weltkrieges boten einer aktiven und entschlossenen Gruppe junger Kommunisten oder Linkspolitiker Albaniens die endgültige große Chance der Machtübernahme und der politischen Elitebildung — zunächst freilich unter spürbarer Vormundschaft der Belgrader Genossen.

Für die KP Albaniens wurden — ähnlich wie in Jugoslawien — Widerstand und Partisanen-zugehörigkeit das Ferment der neuen Führungsschicht. Mythos und Wirklichkeit sind dabei nicht immer voneinander zu trennen. Die albanischen Kommunisten stellen die durch Titos Beauftragte geprägte jugoslawische Ära Albaniens etwa so dar: Nach der Besetzung des Landes durch die jugoslawisch-albanischen Partisaneneinheiten seit 1944 hätten die Belgrader Beauftragten zunächst die — zum Teil reichlichen — Warenvorräte Albaniens gegen bald darauf entwertetes Geld eingekauft. Die Preise im Warenverkehr zwischen beiden Ländern seien von Belgrad zuungunsten Tiranas „diktiert" worden. Die „Gemischten albanisch-jugoslawischen Gesellschaften" hätten dem gleichen Ziel der Ausbeutung gedient wie die Gemischten Gesellschaften der UdSSR in Rumänien, Ungarn usw. Die jugoslawische Beratung der KP Albaniens sei in eine immer unerträglichere Gängelei ausgeartet. Mehr noch: Der Vertrauensmann Koi Xoxe habe den Anschluß Albaniens als siebentes „Bundesland" an Jugoslawien betrieben und dagegen aufbegehrende KP-Genossen abgesetzt, liquidiert, in den Tod getrieben. Titos Revisionismus sei auslösende Ursache für die Entfremdung und Verfeindung der beiden Bruder-parteien geworden.

Zum besseren Verständnis der Gesamtentwicklung innerhalb der PPSh seit 1944 müssen einige Säuberungsvorgänge erwähnt werden. Der Wortführer der Belgrader KP-Hierarchie, Koi Xoxe, mißbrauchte zweifellos seine Stellung und begann seit Oktober 1944 mit der Verdrängung mißliebiger Genossen, darunter auch des Mehmet Shehu und der führenden Kommunistin Liri Belishova. Noch im November 1947 sah sich deren erster Gatte Nako Spiru als Planungsminister in einer ausweglosen Lage, weil er gegen titoistische Bevormundung aufgetreten war — und beging Selbstmord. Während dieser Zeit zeichnete sich Enver Hoxha durch Nachgiebigkeit, Selbstkritik und Abwarten aus. Tatsächlich aber rettete im letzten Augenblick nur der offene Bruch zwischen Moskau und Belgrad Ende Juni 1948 Hoxha, Shehu und einigen anderen den Kopf. Nunmehr ließ das Schicksal den unerbittlich zuschlagenden Titoisten Xoxe im Stich. Er wurde des Verrates und der Abweichung angeklagt, am 11. Juni 1949 verurteilt und am gleichen Tage hingerichtet.

Zwischen Herbst 1948 und März 1952 wurden aus der PPSh 5594 Funktionäre, Mitglieder und Anwärter ausgeschlossen — immerhin über ein Zehntel der gesamten KP Albaniens. Bis 1963 folgten zahlreiche innere Auseinandersetzungen, Ausschlüsse, Verhaftungen und öffentliche Verfahren mit harten Urteilen. Nicht jedesmal behauptete die Anklage konspirative Bindungen zu den Belgrader Titoisten, später zu den Moskauer Chruschtschowissen oder gar zu Washington. Manchmal entschieden auch Unfähigkeit der Betroffenen oder persönliche Gegensätze. 2. „Uneigennützige sowjetische Hilfe" nach dem Bruch Belgrad — Tirana Im Herbst 1947 reiste Enver Hoxha als der unbekannteste KP-Führer einer winzigen Volksrepublik nach Moskau und wurde erstmals Stalin persönlich vorgestellt. Zwölf Jahre später sollte die ganze Welt den Rebellen gegen Moskau kennen, der sich mit unglaublicher Gewandtheit in einer abhängigen und schwierigen Lage eine „Igelstellung" an der Adria errichtet hatte. Von Anbeginn standen die sowjetisch-albanischen Beziehungen unter einem verhältnismäßig günstigen Vorzeichen: Bereits 1949 bestritt der Kreml 38 °/o der albanischen Staatseinkünfte. Im Laufe von elf Jahren steigerten sich Anleihen, Schuldennachlaß, Geschenke (sowjetischen Angaben zufolge) auf fast 400 Millionen US-Dollar Gegenwert. Moskau verzichtete auf Gemischte Gesellschaften und stellte eine große Anzahl Berater zur Verfügung, die für die Staatsverwaltung, für den Ausbau der Partei, der Gewerkschaften, für den Planungsapparat Albaniens lange Zeit über ihren Abzug hinaus richtungweisend blieben. Auch nach dem offenen Bruch zwischen Moskau und Tirana im Jahre 1961 war die Verständigungssprache zwischen den albanischen Genossen und den chinesischen Beratern noch lange das Russische.

Die sowjetische Parteiführung hat die Zustände in Albanien nachträglich gerügt, auf „selbstlose Hilfen der UdSSR" beim Aufbau der Staatswirtschaft hingewiesen, die Gesetzlosigkeit im Lande sowie den „Undank" der Gruppe um Enver Hoxha gebrandmarkt. Von albanischer Seite dagegen ließ sich unter anderem folgendes vernehmen: Der Botschafter und die Berater aus der Sowjetunion traten als die Herren des Landes auf und ließen es immer wieder an Achtung gegenüber den albanischen Genossen fehlen. Ein sowjetischer Berater erhielt monatlich 80 000 (alte) Lek (= 6400 DM), während das Staatsoberhaupt Haxhi Lleshi mit einem offiziellen Aufwand von monatlich 60 000 Lek ausgestattet war. Ein sowjetischer Mechaniker erhielt mit 16 000 Lek den vier-bis fünffachen Monatslohn seines albanischen Fachkollegen. Albanien mußte seine Warenlieferungen in die UdSSR zu Preisen abwickeln, die um 30 0/0 bis 45 °/o unter dem Weltmarkt-niveau lagen. Die Ausbildung zahlreicher junger Albaner in den Ländern des Sowjetblocks erfolgte nicht unentgeltlich. Tirana mußte für seinen fachlichen Nachwuchs und die Studenten in Moskau, Prag usw. hohe Beträge bezahlen. 3. Rebellion gegen das sowjetsozialistische Lager Das bisher erregendste Kapitel der Parteigeschichte der PPSh ist zweifellos die seit dem XXII. Parteikongreß der KPdSU in Moskau (17. — 31. Oktober 1961) datierende offene Feindschaft der kommunistischen Führungsgruppe Albaniens gegenüber dem Kreml. Man wird dabei an das Hungerjahr 1960 in Albanien zu denken haben, aber auch an die seit 1959 ständig wachsende Gunst Pekings, die dem Geltungsstreben der kleinen Volksrepublik an der Adria zweifellos sehr entgegenkam. Schätzungsweise hat bis jetzt die Volksrepublik China dem kommunistischen Albanien knapp 500 Millionen US-Dollar in Waren und Devisen zur Verfügung gestellt hat. Denn stets begann die Freundschaft einer Großmacht zum Berg-und Küstenland Albanien mit Hilfsversprechen, mit der Förderung und Ausbildung der landeseigenen Fachkräfte und Führungs39 organe. Die rotchinesischen Berater haben seit 1961 einige krasse Fehler ihrer Vorgänger im Amt unterlassen und demonstrieren Zurückgezogenheit und bescheidenes Auftreten, verlangen kein überhöhtes Arbeitsentgelt, keine Sonderläden und verursachen kein unliebsames Aufsehen durch den Ankauf von Juwelen und Gold im ganzen Land. Es ist ein sachlicher Stil, der den einheimischen Technikern und Arbeitern vieles abfordert. Gleichwohl geht man kaum fehl in der Annahme, daß das seit 1966 im ganzen Lande für den vierten Fünfjahrplan (1966 bis 1970) verbreitete Schlagwort „Alles aus eigener Kraft!" die — zwangsläufige — Begrenztheit der Hilfe Pekings für Tirana mit zur Ursache hat.

Die rotchinesischen Berater haben die Abkapselung der PPSh gegenüber vielen Bruder-parteien innerhalb und außerhalb des Sowjet-blocks verstärkt. Man darf es als eine Art Ausgleich bezeichnen, wenn etwa beim V. Kongreß der PPSh. (1. bis 8. November 1966) von 27 Auslandsabordnungen, die in Tirana ein „Gipfeltreffen" der „Marxisten-Leninisten" veranstalteten, 21 als prochinesisch zu bezeichnen waren. Die Delegierten des Sowjetblocks fehlten, mit Ausnahme einer Bukarester Delegation.

Fraglos kam der harte Kurs Pekings innerhalb des Weltkommunismus der Entschlossenheit der KP-Führung Tiranas entgegen, sich selbst innerhalb des Landes sowie die Albanische Volksrepublik gegenüber ausländischer Gefährdung zu behaupten. Seit dem sogenannten „Offenen Brief" der PPSh vom 6. März 1966 richtete sich die Partei-und Staatspolitik nach der „Großen Proletarischen Kulturrevolution" Chinas aus: Führende Parteifunktionäre wurden aus der Hauptstadt in die Provinz, aus den Landstädten in entfernte Dörfer versetzt. 15 000 Beamte des staatlichen „Apparates" mußten ausscheiden, militärische Ränge wurden abgeschafft. Nach einer Ansprache Enver Hoxhas am 6. Februar 1967 folgte die zweite Welle der zentral durch die Parteihierarchie gesteuerten „Kulturrevolution" albanischer Observanz: Die Jugend trat kritisch, demonstrierend und mit ungezählten freiwilligen Arbeitseinsätzen und Verpflichtungen in Aktion. Wie stets richtete sich auch dieser weltanschauliche Feldzug der PPSh gleichzeitig gegen mehrere offene und versteckte Feinde, sowohl von „rechts" wie von „links": Eine Dezentralisierung und Entlastung der überbesetzten „Apparate" sollte durch verbesserte Qualifizierung und höhere Gewissenhaftigkeit der verbleibenden Funktionäre ermöglicht werden, die überdies auf „überhöhte" Lohnsätze zu verzichten hatten. Der so angefeuerte Klassenkampf in Albanien sollte insbesondere die Landwirtschaft revolutionieren, überflüssige Arbeitskräfte freisetzen und die religiösen und idealistischen „Vorurteile" im Staat endgültig beseitigen. Daneben blieb man bestrebt, die Stellung der Frau in der Gesellschaft zu verbessern und „Intellektualismus" und jede Andeutung einer Technokratie erbarmungslos zu bekämpfen. Der unbedingte Vorrang der PPSh sollte in sämtlichen Bereichen die „Wachablösung" durch die jungen und jüngsten Manager gewährleisten. Andererseits beklagte ein Bericht des Politbüros vor dem 6. ZK-Plenum (September 1968): „Manche Kader der Verwaltung, einschließlich der Zentralverwaltung, interessieren sich mehr für kleine technische Details, Schrauben und Nägel, als für die Lebensweise der Arbeiter, für Probleme, die die Werktätigen beunruhigen."

Im Blick auf die innere Entwicklung der Partei gewinnt man jedenfalls seit 1959 den Eindruck einer anhaltenden Hochspannung, einer permanenten Revolution wie in der VR China. Vermögen diese Kader, vermag die große Zahl der eingesetzten Albaner unter diesen Umständen auf längere Sicht durchzuhalten — selbst wenn es eben Shqipetaren, „Söhne des Adlers" sind?

VI. Planpolitik und Wirtschaftsaufbau der Volksrepublik Albanien

Abbildung 7

1. Leistungen des wirtschaftlichen Aufbaues seit 1944

Die wechselvollen Beziehungen der albanischen Staatswirtschaft zu den kommunistischen Partnern spiegeln sich auch in der Kreditgewährung, in den Außenhandelsumsätzen und in der Preisgestaltung für Lieferungen und Gegenlieferungen deutlich wider. Vor allem aber wurde die Abhängigkeit von den Auslandsmärkten und sozialistischen Lieferanleihen dem Lande fast zum Verhängnis, als der Abzug der titoistischen und sowjetischen Beraterstäbe 1948 und 1961 ebenso einschneidend wirkte wie der plötzliche Entzug oder die Verzögerung von Krediten oder zugesagter technischer Ausrüstung. Die Erklärung dafür, daß der Wirtschaftsapparat angesichts plötzlich fehlender Fachleute, Ersatzteile, Austausch-materialien oder Teilinstallationen nicht einfach zusammenbrach, liegt vor allem in der einfachen, noch wenig differenzierten Wirtschaftsstruktur Albaniens.

Es gibt allerdings eine weitere Erklärung dafür, daß der staatliche Planapparat sich nach dem Bruch Tiranas mit Moskau wieder einpendeln konnte: Während Jugoslawien 1948 — wirtschaftlich durch den Kreml im Stich gelassen — seinerseits Albanien beinahe schlagartig jede Hilfe entzog, spielte sich die parteipolitische „Wachablösung" zwischen Moskau und Peking 1960/61 für Albanien wirtschaftspolitisch etwas günstiger ab. Gewiß, man sprach damals in Tirana mit einer gewissen Berechtigung von einem „Wirtschaftsboykott" durch die Sowjets sowie von einer kulturellen Abschnürung. Im wesentlichen aber wurden die Handelsabkommen der VR Albanien mit den übrigen Comecon-Partnern erneuert; deren Anleihehilfen freilich fehlten seither. Doch wurden die Preise beiderseits dem westlichen Weltmarktniveau angeglichen. Gemeinsame Comecon-Projekte zerschlugen sich. So sollten zum Beispiel Aufbereitung und Barrenverarbeitung des Eisen-Nickelerzes durch Kooperation mit einem entsprechenden Werk der Hüttenindustrie in der Slowakei gekoppelt werden. Moderne Raffinerieanlagen und Erdölausrüstungen wurden z. T. vereinbarungswidrig nicht geliefert. Verschiedentlich konnten die albanischen Fachleute sogar nachweisen, daß einzelne Comecon-Partner an die Volksrepublik Albanien zwar auf Kredit, dafür aber Ausschußwaren geliefert hatten. Monatelang dauerte beispielsweise der Streit um ein von der DDR geliefertes Werk für die Herstellung von Fischkonserven. Der Ost-Berliner Parteichef Ulbricht verzichtete voll Ärger auf die Bezahlung dieser in unzulänglichem Zustand verkauften Fabrik, die in albanischen Konservenlieferungen erfolgen sollte.

Erst vor diesem außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Hintergrund läßt sich die eigene Leistung bei der Industrialisierung und der landwirtschaftlichen Erzeugung richtig einschätzen. Man wird dabei die überhöhten Steigerungsraten zwischen 1938 und 1968/69 der sprunghaften Aufwärtsentwicklung eines Entwicklungsgebietes zuzuschreiben haben: 1968 verzeichnete man auf dem Industriesektor eine 52, 5fache Produktionssteigerung verglichen mit dem Vorkriegsjahr 1938. Um die Größenordnung der albanischen Anstrengungen anzudeuten, sei jedoch festgestellt, daß die gesteigerte volkswirtschaftliche Leistung von 1968 mit ihrer gesamten Kapazität nur etwa 11/20/0 des jährlichen Brutto-Sozialprodukts der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Seit 1966, dem Beginn der vierten Planperiode, fällt die Über-betonung des schwerindustriellen Sektors (Gruppe „A") gegenüber der Leichtindustrie (Gruppe „B") auf. Allerdings haben sich die jährlich projektierten Zuwachsraten der Gruppen „A" und „B" von 1951 auf 1965 von 19, 9 0/0 bzw. 24, 6 °/o auf 7, 1 °/o und 6, 5 °/o verringert. Man wird erst ab 1971 mit einem schwerindustriellen Übergewicht rechnen können, das sich dann mit den Statistiken und dem Reifegrad der auf dem Balkan benachbarten staatskollektiven Wirtschaftsgebiete vergleichen läßt. Die tatsächlichen Entfaltungsmöglichkeiten können durch die z. T. nicht vergleichbaren Daten der Statistischen Jahrbücher seit 1957 bloß angedeutet werden. Bis 1970 sollte sich z. B. in der Montanindustrie folgende Aufwärtsbewegung, verglichen mit 1965, vollziehen: Rohöl + 61 °/o, Erdgas + 500%, Chromerzförderung + 19— 21 %, Lignit + 80— 82 %, Kupfererz + 147— 151 %. Besonders die Förderung von Chromerz und Kupfer bildet eine Schwerpunktaufgabe der Periode von 1966 bis 1970. Das Problem der Stromerzeugung will man bis zum Jahresende 1970 in der Weise lösen, daß bezogen auf das Vergleichs-jahr 1965 die Stromerzeugung um 130% angestiegen sein soll. Gleichzeitig wird eine Zunahme des Industrieausstoßes von nur 51 % bis 54 % eingeplant.

Die Gesamtsituation beleuchtet jedoch eine Ansprache Enver Hoxhas vor dem III. ZK-Plenum der PPSh im Oktober 1967 („Zeri i Popullit" v. 21. 10. 1967): „Bezüglich der Maschinen-produktion stecken wir noch gewissermaßen in den Kinderschuhen. Mit unseren eigenen Möglichkeiten haben wir kleine Betriebe zu errichten begonnen, produzieren einige komplexe Landmaschinen, doch wollen wir dabei nicht stehen bleiben. Die Entwicklung unserer sozialistischen Wirtschaft hat uns neue Möglichkeiten und Aussichten erschlossen, die innerhalb einer nicht allzulangen Periode völlig realisierbar sein werden."

Für ein kleines und armes Land erscheinen all diese Pläne und Planungen kostspielig. Schwankende Ernteergebnisse oder ein so folgenschweres Erdbeben wie jenes vom 30. November 1967 werden noch für längere Zeitabschnitte Erfüllung und Nichterfüllung der Pläne beeinflussen. Tatsächlich zeigt Albanien, verglichen mit Nachbarländern oder gar westlichen Agrargebieten, immer noch einen beträchtlichen Leistungsrückstand.

Das Albanien der Nachkriegszeit hat verhältnismäßig spät begonnen, sich auf marktwirtschaftlich orientierte Kunden einzustellen und über bilaterale Tauschgeschäfte etwa Ergänzungskäufe für seine technischen Anlagen zu tätigen. Trotzdem bleibt zu hoffen, daß der kleine Markt diesen Anschluß gewinnt. Am Beispiel anderer europäischer Volksdemokratien hat es sich schließlich längst erwiesen, daß Geschäft und politische Führungsordnung im Verkehr zwischen West und Ost sehr deutlich zu trennen sind. 2. Planungs-und Produktionsprobleme 1970— 1975

Das Jahr 1969 wird laut Statistik eine Leistungssteigerung der Planwirtschaft von fast 16°/o gegenüber 1968 erzielen — anstelle der ursprünglich eingesetzten Zuwachsrate von 8 °/o. Die landwirtschaftliche Ertragssteigerung liegt gegenüber dem Vorjahr um 22 °/o höher. Alles in allem wollte man einen überzeugenden Endspurt vor dem Beginn der 5. Plan-periode (1971— 1975) vorlegen und die Plan-ziele für 1970 bereits ein Jahr vorher verwirklichen. Welche Aussichten bietet volkswirtschaftlich das 5. Planjahrfünft? Das am 20. November 1968 getroffene Abkommen zwischen der VR China und Albanien über umfassende Anleihe-hilfen, Lieferzusagen und sonstige Hilfen Pekings dürfte erstmals nüchterne Perspektiven für eine großgewerbliche Investitionstätigkeit bieten. Albanien erhält einen zinslosen Kredit für 30 vorrangige Industrieprojekte.

Zu diesen Vorhaben zählt der Bau eines Metallkombinats mit einer Verarbeitungskapazität von 800 000 t Eisennickel und 250 000 t Stahl pro Jahr. Gestützt auf große Kupfervorkommen, soll z. B. eine Anreicherungsanlage in Reps (Mirditha) ihre Kapazität verdoppeln; ebenso ist ein großer Schmelz-und Raffinadebetrieb für Kupfer mit modernen Verfahren eingeplant. Eine Chromanreicherungsanlage in Bulgiza soll noch während der 5. Plan-periode Konzentrate mit über 50 0/0 Chrom für die Ausfuhr bereitstellen. Moderne Abbau-methoden für große Kohlenlager im Distrikt Tirana werden eingeführt. Die beachtlichen Vorkommen an Phosphaten und Asbest sollen in der neuen Chemiesparte industriell genützt werden. Der Ausbau und die Modernisierung bestehender Erdölverarbeitungsanlagen soll die gualitativ hochwertige Verarbeitung von einer Mill, t Rohöl jährlich ermöglichen. Erstmals wird die Erzeugung von Polychlorvinil, kaustischer Soda und Schwefelchlorid ausgenommen. Außerdem soll ab Mitte der siebziger Jahre der Papierverbrauch aus der Produktion im Lande selbst gedeckt werden. Die bestehenden Reparaturwerkstätten für landwirtschaftliche Traktoren und die Herstellung von Ersatzteilen will man bis zur vollen Befriedigung des wachsenden Bedarfes steigern. Auf dem Energiesektor soll das Wasserkraftwerk Firza am Drin mit einer 150 Meter hohen Sperrmauer bis 1975 eine Leistung von 400 000 kW erbringen — und damit die 1968 verfügbare Strom-energie von 714 000 kWh beachtlich erhöhen.

Der geringe Aussagewert der offiziellen Statistik hinsichtlich der Leistungen der Pflanzen-und Viehzucht könnte auf einige noch bestehende „Engpässe" der Landwirtschaft hindeuten. Unter den gegebenen Umständen dürfte der Bau zweier Kunstdüngerfabriken in Mittelalbanien von außerordentlicher Bedeutung sein, wenn man an die gegenwärtig bescheidenen Hektarerträge (12— 14, 5 dz) und die Absicht der Staatsplaner denkt, die Ackerfläche von 449 400 ha (1965) bis zum Jahre 1970 auf 538 400 ha zu erweitern. Wie in jeder kollektivistischen Wirtschaft bildet die Viehhaltung (besonders von Großvieh) ein besonderes Problem. Albaniens Landwirtschaft befindet sich mit ihren angelaufenen Meliorationsvorhaben, mit der Einführung neuer Kulturen, der Anlage von Weinbergen, Olbaum-Pflanzungen, Aufforstungen und der versuchsweisen Einführung neuer Zuchtrassen in einem großen Wandlungsprozeß. Tatsächlich ist noch die Rückständigkeit vieler Dörfer auf zivilisatorischem Gebiet, besonders in den Berggegenden, weitverbreitet. Es wird noch viele Jahre der Umstellung und Erziehungsarbeit kosten, bis zufriedenstellende Ergebnisse der Landwirtschaft die Erfüllung des Industriesolls erleichtern. Albaniens Außenhandel hat mit dem Ende der sechziger Jahre ebenfalls einen Wendepunkt erreicht. Fast gleichzeitig mit dem Abschluß der rotchinesischen und albanischen Kultur-revolution kündigte Tirana die Errichtung neuer diplomatischer und handelspolitischer Vertretungen im Westen an. Bereits am 1. Dezember 1968 erklärte der Präsident der albanischen Nationalversammlung, Haxhi Lleshi, die VR Albanien wünsche ihre Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten zu normalisieren. Gegenwärtig wickeln die Außenhandelsmonopole Albaniens ihren Warenaustausch mit den Ländern des Sowjetblocks auf der Grundlage westlicher Usancen und Marktpreise ab. Die 1945 einsetzende grundlegende Richtungsänderung des Außenhandels führte zunächst zu der beherrschenden Stellung Jugoslawiens (bis 1948), dann der UdSSR (bis 1961). Im Außenhandelsumsatz des kleinen Adriastaates haben sich seit 1960 die Handelsbeziehungen zwischen Tirana und Peking fast verzehnfacht: Die VR China weist einen Anteil von 57, 2 °/o am internationalen Warenverkehr Albaniens auf. Die Einfuhrseite der VR Albanien verzeichnete 1966 79, 8 0/0 Waren chinesischer Herkunft oder Bestellung. Dazu gehörten z. B. 1966 Weizeneinfuhren von 120 000 t, die zu 97 °/o durch die VR China gedeckt wurden. Unter den westlichen Staaten hat Italien inzwischen wieder am besten Fuß gefaßt. Doch beträgt der italienische Anteil am Gesamtumsatz der VR Albanien weniger als 4 °/o. Daneben treten als Partner besonders Österreich, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland in Erscheinung. Der gesamte westliche Anteil am albanischen Außenhandelsumsatz liegt noch weit unter der von Tirana festgelegten Obergrenze von 10 °/o. 3. Soziale Probleme staatskollektiver Gegenwart Die relativ hohe Bevölkerungsdichte, die allmählich steigende Lebenserwartung (für Männer 64, 9 und bei Frauen 67 Jahre) und die wachsenden Bedürfnisse der Lebenshaltung erfordern — jenseits aller Weltanschauung und Machtpolitik — die arbeitsteilige und kooperative Einbeziehung Albaniens in die Wirtschaft Europas. Solange diese Grundforderung der albanischen Zukunft nicht erfüllt werden kann, ist an eine völlige Gesundung der Verhältnisse kaum zu denken.

Ein Blick in die heutige Sozialgesetzgebung Albaniens verrät die z. T. wortgetreue Befolgung des sowjetischen Modells. Gegenüber der Vorkriegszeit mit ihrer Selbstsorge und Vorsorge in Sippe und Familie hat die staatliche Sozialgesetzgebung der albanischen Volksdemokratie beachtliche Vorzüge aufzuweisen: Altersversorgung und Krankenversicherung sind wie in den übrigen Volksdemokratien und in der UdSSR eingerichtet. Unentgeltliche ärztliche Behandlung und Zuweisung von Medikamenten gehören zu den Neueinführungen seit 1945. Es fehlt aber gerade auf dem flachen Lande und in entlegenen Gegenden an Ärzten, Apothekern, an einer genügenden Zahl von Krankenbetten, an technischen Einrichtungen und Labors mitteleuropäischen Maßstabes. Ohne Zweifel befindet sich insbesondere das Versicherungswesen in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (Kolchosen) und auf den Staatsgütern (Sowchosen) in einem überaus schwierigen Aufbaustadium. Landflucht und Überalterung der Genossenschaftsbauern und der Landarbeiterschaft gehören auch in der VR Albanien bereits zum volksdemokratischen Alltag.

Die agrarkollektive Grundlage auch des heutigen Staatswesens wird deutlich, wenn man den Anteil der bäuerlichen Bevölkerung im Jahre 1938 (84 %) mit der Angabe für 1964 (66, 8 %) vergleicht. Immerhin aber wies die Wirtschaft des Landes, die 1965 274 000 Industriearbeiter und -angestellte zählte, bis 1967 eine Zunahme von 41 000 Arbeitern auf. Der Arbeitseinsatz erwerbstätiger Frauen läßt sich für Industrie und Handel mit ca. 30 °/o aller Arbeiter und Angestellten nur ungefähr schätzen. Die traditionelle Frauenarbeit herrscht in der Agrarwirtschaft vor und dürfte in absehbarer Zeit zu einem Motor der erst in den Anfängen befindlichen Frauenemanzipation werden. Wie sieht demgegenüber die berufliche Gliederung in der PPSh aus? Altersmäßig stellen die Mitglieder unter 30 Jahren rund 27, 4 °/o der PPSh. Der berufliche Querschnitt der Partei ergab 1966: Angestellte 37, 14 %, Arbeiter 32, 9%, Kolchosbauern 25, 81 %, Privatbauern 3, 14 %. 1966 (1961) zählte die PPSh 66 327 (53 659) Mitglieder.

Die Zahl der weiblichen Mitglieder der PPSh erreichte 1966 nur 12, 47 %. Allerdings haben seither große Eintrittsbewegungen den Mitgliederstand und die Funktionärskader der Partei nicht nur radikal verjüngt, sondern auch den Anteil der Frauen und Mädchen verstärkt.

Albaniens Sozialpolitik nach 1945 gemahnt noch in mancher Beziehung an die industrielle Gründerzeit in anderen Ländern Westmitteleuropas. Es gibt immer noch die Armut und Anspruchslosigkeit der Bergbauern und Hirten. Nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich das Handwerkertum nur schrittweise zu einem modernen Arbeiterstand im westlichen Verständnis. Einige wenige Großbetriebe bringen mit der ersten Arbeitergeneration auch die ersten sozialen Spannungen. Die albanischen Gewerkschaften sind nicht nach Fachverbänden gegliedert, sondern territorial organisiert. Bei der geringen Größe des Landes würde dies sonst eine übermäßige Zersplitterung bedeuten. Die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder betrug im Jahre 1967 150 000 bei einem Stand der Arbeiter und Angestellten von 315 000.

Durch eine Gesetzesnovelle wurden Ende des Jahres 1965 schließlich die meisten Rechte der Gewerkschaften in ein formales Aufsichtsrecht umgewandelt. Eine initiative Tätigkeit wird von den Gewerkschaften auf dem politischen, erzieherischen und kulturellen Sektor verlangt, besonders zur Weckung der Arbeitsmoral und Erfüllung der Staatspläne. Im Jahre 1969 wurde dieses Aufsichtsrecht der Gewerkschaften durch die Schaffung einer sogenannten Arbeiterkontrolle entscheidend ausgeweitet: Am 21. und 22. Januar 1969 tagte das Plenum des Zentralrates der Gewerkschaften Albaniens BPSh (Bashkimet Profesionale t Shqiperise/Gewerkschaftsbünde Albaniens). In Anwesenheit des langjährigen Gewerkschaftspräsidenten Gogo Nushi und des ZK-Sekretärs der PPSh Spahiu kündigte der Generalsekretär der Gewerkschaften Tonin Jakova „eine weitere Vertiefung der Arbeiterkontrolle innerhalb und außerhalb der Unternehmen" an. Zur Beseitigung des „Ökonomismus und Syndikalismus" auch in der Gewerkschaftsjugend selbst muß eine Arbeiterkontrolle „in der Horizontalen" Prüfung und Kritik auf der Ebene der Unternehmen ergänzen: Dadurch wächst die organisierte Arbeiterschaft über die Rolle eines „Transmissionsriemens" der PPSh hinaus und kontrolliert unmittelbar und allgemein die Tätigkeit der Betriebsleitung, Leistung und Verhalten der Arbeitskollegen im eigenen oder im fremden Betriebe, die persönliche Bewährung jedes Arbeitnehmers im Betrieb, in der Freizeit und in der Familie. Es wird etwa das Beispiel der Schweißerei des Werkstättenunternehmens „Enver Hoxha" in Tirana angeführt, dessen Arbeiter und Angestellte die Gesinnung und den Fleiß der Hoch-schüler der Universität überprüfen, mit den Studenten gemeinsame Gepäckmärsche machen usw. Die Schwierigkeiten dieser wechselseitigen Kontrolle werden als vorübergehend bezeichnet. Während 1969 rund 80 °/o der Arbeiter Albaniens gewerkschaftlich organisiert sind, hat der Bund der Arbeiterjugend Albaniens BRPSh (Bashkimi i Rinise s Punes s Shqipris) fast 70 % der 14-bis 26jährigen in der Grundorganisation erfaßt. Am 17. März 1969 tagte das Plenum der BRPSh, um neue Massenaktionen freiwilliger Arbeit durch Jugendbrigaden an Eisenbahnstrecken, in Dorfeinsätzen, auf Baustellen und in Betrieben zu beschließen. Der freiwillige Arbeitsdienst der Jugendorganisation bildet seit dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, beide Geschlechter sowie Stadt und Dorf auf einen gemeinsamen weltanschaulichen Nenner zu bringen. Die Jugendlichen unterscheiden sich durch einen weit höheren Leistungskoeffizienten und durch Freiwilligkeit und Ehrgeiz einzelner Brigaden in auffallender Weise von der durchschnittlichen Pro-Kopf-Leistung der Genossenschaftsbauern oder Industriearbeiter in den Betrieben.

Der Versuch, Staat und Gesellschaft Albaniens umbruchartig neu zu gestalten, findet auf verschiedenen Ebenen der Wirtschaft und des Kulturlebens Ausdruck: Durch Verfügung vom 30. Januar 1969 wurden etwa die bestehenden Gewerbegenossenschaften (Handwerk und Dienstleistungen) mit ihren 28 000 Werkstätteneinheiten als nicht mehr fortschrittlich genug in 68 staatliche Großunternehmen (Staatsindustrie und Lokalindustrie)

überführt, die der dauernden zentralen Über-prüfung zugänglicher sind als kleine und kleinste Wirtschaftseinheiten. Den gleichen Zweck verfolgte 1968 die Halbierung des soge-nannten „Hoflandes" der Genossenschaftsbauern oder die „freiwillige Ablieferung" des privat gezüchteten Großviehs an die Kolchosen und Staatsgüter. Es besteht kein Zweifel, daß Albanien damit das staatskollektivistische Experiment unter sämtlichen europäischen Volksdemokratien am weitesten vorangetrieben hat, obwohl gerade dieser kleinräumige Zwergstaat an der Adria 1944 mehr Überreste früherer Gesellschaftformationen aufwies als die übrigen größeren Staaten des Balkans. Albanien steht in seiner Lebenshaltung noch weit hinter Ungarn, der Tschechoslowakei oder gar Österreich zurück. Nicht extreme Bekundungen einer Kulturrevolution werden das Ziel der Hebung des Lebensstandars fördern, sondern zuletzt nur die Zusammenarbeit in einem gemeinsamen balkanischen Kleineuropa und in Europa überhaupt.

Lebenshaltung, sozialer Status und staatliche Sozialpolitik spiegeln die Ubergangsphase zu einem künftigen Agrar-Industriestaat wider, der bis jetzt in auffallender Weise auf den Fremdenverkehr als zusätzliche Hilfsquelle verzichtet.

VII. Weltanschauung und Kulturpolitik bis 1969

Abbildung 8

1. Geistiges Schaffen und die Formung des albanischen Nationalbewußtseins Das Diaspora-Schicksal eines der ältesten Balkanvölker prägt auch das geistige Schaffen, das Werden und das Wachsen der National-kultur. Seit dem frühen Mittelalter entfaltet sich die schöpferische Kraft des Shqipetarentums in Bereichen, die geographisch, politisch und kulturell vielfach weit auseinander liegen. So bedingt die Osmanenherrschalt über albanisches Kerngebiet bis zum 19. Jahrhundert, daß Wiedererweckung und Pflege eigenwüchsiger Nationalkultur häufig von Kalabrien und Sizilien aus oder durch Emigranten in Stambul, Bukarest, Sofia, Wien, Kairo oder Paris angestrebt und nachhaltig gefördert werden. Am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewinnen Bemühungen auf dem Gebiet der Erziehung, der Folklore und einer bis heute nicht endgültig gesicherten einheitlichen Rechtschreibung und Schriftsprache nationalpolitische Bedeutung für das Werden des modernen Staates. Andererseits sind das italienische rinascimento, der Aufbau im befreiten Griechenland, die Jungtürkische Revolution von 1908 erst dank dem befruchtenden Beitrag einzelner Gelehrter, Künstler, Literaten und Politiker albanischer Herkunft zur vollen Auswirkung gelangt. Fünfhundertjährige Türkenherrschaft und Islamisierung bewirkten im Kerngebiet des Albanertums eine Lähmung und Erstarrung des westmitteleuropäisch ausgerichteten nationalen Kulturschaffens; zugleich entsteht aus der mannigfaltigen Berührung zwischen Herrschenden und Beherrschten dennoch ein Brückenschlag zu den Ländern des östlichen Mittelmeers.

Ein Blick auf die Anfänge und frühesten Zeugnisse albanischer Sprache läßt seit dem Zeitalter Skanderbegs Priester und Ordensleute, vornehmlich des nordalbanischen Kulturkreises, als Sachwalter des Kulturerbes hervortreten. Das älteste Denkmal der albanischen Sprache stammt aus der Epoche Skanderbegs; der Erzbischof Pal nglli von Durresi (Durazzo) teilt in seinem Hirtenbrief vom 8. November 1462 eine albanische Taufformel mit. Vertreter der religiös-didaktischen Literatur in albanischer Sprache zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert sind Gjon Buzuku (Meßbuch 1555), Pjeter Budi (Christenlehre 1618— 1621) oder der spätere Bischof Frang Bardhi (1606— 1643), der 1635 ein lateinisch-albanisches Wörterbuch mit 5000 Wörtern verfaßt.

Die ältesten literarischen Zeugnisse der albanischen Siedlungen in Italien sind ebenfalls religiöser Art (ein Katechismus 1592, Kirchen-lieder, ein Marienleben 1762). In Südalbanien ist etwa Theodor Kavalioti (1718— 1789) beheimatet, der 1770 in Venedig ein griechisch-rumänisch-albanisches Wörterbuch (in der Mundart von Korea) herausbringt, das griechische Buchstaben verwendet. Um 1800 wird dann das in Mittelalbanien gelegene Elbasani Zentrum linguistischer Bemühungen um ein einheitliches Alphabet, verpflichtende Rechtschreibung, gemeinsame Schriftsprache. Theodor Haxhi Filipi, genannt Dhaskal Todhri, wurde Pionier des heutigen Alphabets, das 1908 durch einen Kompromiß zwischen toskischen und ghegischen Varianten zustande kam.

Sprache, Literatur und Volkstum finden aber auch in den osmanisch beherrschten national-albanischen Kolonien des Balkans Förderung und Auftrieb. Allenthalben entstehen Bruderschaften, Zentralkomitees, Gesellschaften — in Rom, Athen, Konstantinopel, Bukarest, Sofia, Kairo. In Athen entsteht 1864 eine solche Bruderschaft. Im gleichen Jahr wird in Bukarest die erste patriotische Kulturgemeinschaft „Drita" („Das Licht") gegründet, die vorerst freilich nur drei Jahre lang Bestand hat. In Konstantinopel bemüht sich eine Gruppe gebürtiger Albaner bei der Hohen Pforte zunächst ergebnislos um die Genehmigung einer albanischen Kulturgesellschaft in der Hauptstadt des Osmanenreiches. Erst 1876 kann in Konstantinopel das „Zentralkomitee für den Schutz der Rechte der albanischen Nationalität" entstehen; aus ihm entwickelt sich 1879 die „Gesellschaft für die albanische Rechtschreibung", kurz „Gesellschaft Kontantinopels" genannt. Oft sehr kurzlebige Zeitschriften werden für die Siedlungsgruppen der Albaner in ausländischen Großstädten gegründet, wie 1884 „Drita" („Das Licht“) in Kontantinopel, deren Nachfolge-organ „Ditura" („Das Wissen") heißt. Während in der albanischen Stammheimat immer bedrohlicher Widersetzlichkeit und bewaffnete Aufstände zunahmen, schufen gerade in Konstantinopel einige geistige Führerpersönlichkeiten die Ansätze für eine Rückeuropäisierung der albanischen Nation. Manche dieser Forscher, Dichter, Politiker werden gleichzeitig in der türkischen Erneuerungsbewegung Vorkämpfer der Freiheit, wie z. B. Sami Frasheri (1850— 1903), der unter dem Namen Shemseddin Sami grundlegende Werke in türkischer Sprache zur Geschichte und Sprachwissenschaft des Reiches veröffentlichte.

Im Jahrhundert der nationalen Wiedererwekkung treten einige Dichter und Geschichtsschreiber auf, die über die engen Grenzen des eigenen Volkstums Bedeutung gewinnen. Ihre Wirkungsstätte liegt oft außerhalb des geschlossenen albanischen Kerngebietes. Als Lyriker und Sprachforscher betätigt sich der in Neapel lehrende de Rada (1814— 1903). Der Verfasser der albanischen Volkshymne, Pashko Vasa (1825— 1892), lebte in Venedig (er starb als türkischer Pascha in Beirut). Der geniale ältere Bruder des Sami Frasheri, Naim (1846— 1900), wirkte als Lyriker und Erzähler; er übte in Konstantinopel das Amt eines Zensors des Unterrichtsministeriums aus. Novellist, Übersetzer und Buchhändler ist sein Neffe Midhat Frasheri (1880— 1949), der sich als Förderer der Literatur und Albanologie hervortut.

Der wohl bedeutendste epische Dichter des Albanertums ist Gjergj Fishta (1871— 1940). Ihm wird noch zu Lebzeiten der Ehrenname Poeti Kombetar, nationaler Dichter, zuteil. Sein Hauptwerk sind die Heldengesänge „Laute des Hochlandes" („Lahuta e Malcijs"), das bedeutendste Kunstepos der Albaner.

Für die literarische Epoche 1912 bis 1939 besteht in der heutigen offiziellen Kritik eine gewisse Verlegenheit. Volle Anerkennung wird vornehmlich dem als Politiker bekannten Fan Stylian Noli (1880— 1965) zuteil. Geboren in der Nähe von Adrianopel, lebte der orthodoxe Priester und spätere Bischof in Griechenland, Ägypten und in den USA — abgesehen von der revolutionären Episode als Regierungschef der albanischen Republik. Politische Lyrik, historische Epen und Übersetzungen, die Musikkomposition „Skanderbegs Rhapsody", ein Werk „Beethoven und die französische Revolution" sind einige Wegzeichen seines romanhaften Lebensganges und einer reichen, vielseitigen Begabung.

Ernest Koliqi (geb. 1903), Dramatiker, Erzähler und Lyriker, war in der faschistischen Ära Unterrichtsminister, findet also heute keine Anerkennung in der VR Albanien. Die Tiranaer Literaturgeschichte nennt dafür etwa Progressisten wie Foqion Postoli (1889— 1927) oder den Dramatiker Haki Stermilli (1889— 1953). 2. Dichtung und Kunstschaffen im Schatten der Ideologie „Das zeitgenössische Schrifttum ist zu einer Aussagekraft geworden, die dem Volke auf seinem beschleunigten Marsch zu dem großen Ziele behilflich ist — zur Errichtung der sozialistischen Gesellschaft in Albanien." Mit diesen Worten kennzeichnete 1964 der Literatur-kritiker Koo Bihiku das literarische und künstlerische Gegenwartsschaffen in Albanien. Es seien einige Schriftsteller und ihre erzieherischen Themen genannt, die heute den Büchermarkt in Albanien beherrschen. Sie gelten fast ausschließlich dem Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs, den Sozialisierungsmaßnahmen seit 1944 und dem Ringen um den „neuen Menschen": F. Gjata: „Der Umsturz", D. S. Shuteriqi: „Die Befreier", A. Abdihoxha: „Ein stürmischer Herbst", Q. Buxheli: „Des Königs Pferde und die neuen Reiter", K. Jakova: „Die wachsamen Helden"; L. Qafzezi: „Der Kommunist". An dramatischen Werken führt die Tiranaer Chronik unter anderem an: S. Pitarka: „Die Familie des Fischers", Xh. Broja: „Das Scharmützel", K. Jakova: „Unsere Erde", V. Ziko: „Schwester Katharina".

Der Schriftstellerverband zählt heute 400 Mitglieder und Kandidaten. Viele der Kulturschaffenden haben sich im Zuge der Kulturrevolution zum zweijährigen Arbeitseinsatz in Industriebereichen und in der Landwirtschaft gemeldet, andere bemühen sich in Massenaktionen um die Aufklärung und Arbeitshilfe für Bergbauern.

Natürlich fehlt es auch nicht an den üblichen Verurteilungen des „Revisionismus": So wurde etwa „Der Partisan ohne Namen" von F. Arapi angegriffen, ein Drama, in dem „schabionisiert" und gegen eine „realistische" Anschauung angekämpft werde. Im Roman „Der Tunnel" von D. Xhuvani sei der opferbereite Mensch nicht eine fortschrittliche Person, er zeige keine Freude an kollektiver Aufbauarbeit. Kritisiert wird unter anderem auch das Drama „Das Duell" von Q. Buxheli, in dem ein ritterlicher nazistischer Feind auftritt.

Auch auf dem Gebiet der Musik bemüht man sich um eine „Nationalsprache". Die ersten Opern entstehen, zum Beispiel „Mrika" von P. Jakova und „Blume des Gedenkens" von K. Kono. An Liedkompositionen rühmte man 1969 Schöpfungen wie „In einer Hand den Spaten, in der anderen Hand das Gewehr" (P. Jakova); „Der Marsch der Partisanen" (A. Mule); „Genosse Enver im Gebirge" (A. Prodani). 3. Kulturrevolution und Probleme des Generationswechsels „Kulturrevolution" meint in Albanien gesellschaftspolitisch nicht die Entmachtung der bestehenden Parteihierarchie. Unter der zentralen Führung des Ersten ZK-Sekretärs der PPSh, Enver Hoxha, wurde seit dem V. Kongreß der Partei (1. bis 8. November 1966) zwar beinahe jedes Schaffensgebiet, jede Verwaltungseinheit und Kolchose von „unten" revolutioniert — aber im Auftrag von „oben". Nachfolgend beschäftigen wir uns mit einigen Gesichtspunkten im Bildungs-und Erziehungswesen Albaniens, um von dorther aktuelle Einblicke in den Generationswechsel in der Volksrepublik Albanien zu gewinnen.

Vor 1945 war das Schulsystem überwiegend dem österreichischen bzw.dem französischen Muster angeglichen. Nach 1944 trat der sowjetische Schultyp immer beherrschender in Erscheinung — schon allein deshalb, weil Hochschulreife und Postgraduiertenbildung von den albanischen Studenten und jungen Gelehrten meist in der Sowjetunion erworben wurden. Wichtig für die Zukunft ist die nunmehr durchgeführte achtklassige Pflichtschule, deren Abgangszeugnis für jeden künftigen Facharbeiter erforderlich ist. Während die neue Schulgesetzgebung von 1946 und die Reformgesetze der Jahre 1955 und 1963 überwiegend noch der Bekämpfung des Analphabetismus, der Umstellung auf ein neues Fachschulwesen und der „Polytechnisierung" des Unterrichts dienten, stand die Schulreform 1969 ganz im Dienste der „Kulturrevolution". Das Hochschulwesen Albaniens umfaßt heute die Universität in Tirana mit sieben Fakultäten und 54 Fachrichtungen, eine Hochschule für Bodenkultur (drei Fakultäten), Hochschulinstitute für bildende Kunst, Körperkultur und Pädagogik, eine Schauspielschule und ein Konservatorium. Gegenüber dem Jahre 1938 (25 000 Schulbesuchende) erhöhte sich die Zahl der Schüler und Hörer 1969 auf 536 000. Neben 100 allgemeinbildenden Mittelschulen gibt es heute 136 Fachmittelschulen für 51 Ausbildungsgänge, ferner 53 technische Gewerbeschulen für den Facharbeiternachwuchs.

Vor einem Sonderausschuß für Schulreform-fragen (7. März 1969) sowie vor dem VIII. ZK-Plenum der Partei (26. bis 28. Juni 1969) äußerten Enver Hoxha und Mehmet Shehu folgende Grundgedanken zur Revolutionierung des Schulwesens: Es gilt noch die Erfordernis der entsprechenden sozialen Herkunft bei der Vergabe von Studienplätzen und Stipendien.

Ebenso muß die Lehrerschaft von Elementen gesäubert werden, deren politische Vergangenheit und Haltung als zweifelhaft beurteilt wird. Sowohl für die Mittel-wie für die Hochschule gilt die gleichzeitige Vermittlung theoretischer Kenntnisse, praktischer Arbeitsgänge, physischer und militärischer Erziehung (sechs Monate Unterricht, zwei Wochen Leibeserziemung, zweieinhalb Monate Produktionsarbeit, ein Monat Militärdienst, zwei Monate Urlaub). Nach dem Abitur müssen alle Hochschulanwärter ein Jahr lang in der Produktion tätig sein. Das Arbeiterkollektiv des Betriebes oder der Kolchose entscheidet dann durch Abstimmung über die Zulassung des Mittelschulabsolventen zur Universität, überhaupt wird eine effektive, direkte Arbeiterkontrolle über das Bildungswesen eingesetzt.

Die Vereinheitlichung des Mittelschulwesens, die Verkürzung des Hochschulstudiums auf drei bis vier Jahre, nachhaltiger Ausbau der Erwachsenenbildung — all diese zum Teil kulturrevolutionären Faktoren sollen in dem Land, das noch 1938 rund 80 °/o Analphabeten zählte, einen Aufholprozeß für den Nachwuchs beschleunigen. Bis 1976 sollen alle Reformen des Schul-und Bildungswesens durchgeführt sein.

Für die Nachwuchserziehung ist kulturrevolutionär von besonderer Bedeutung, daß ein Mittelschul-oder Hochschulzeugnis den Anwärter nicht zur Anstellung in dem erlernten Beruf berechtigen. Der Wille der Partei sowie der Nachholbedarf entscheiden über den Arbeitsplatz und den Einsatz in der Stadt oder der Provinz. Man will durch eine Lohnnivellierung nach unten gegen „karrieristische Konzepte" ankämpfen, um Opfermut und Bereitschaft der jungen Generation auch für die Zukunft zu gewährleisten.

Eine Besonderheit der Kulturrevolution in Albanien ist der Versuch der Parteiführung, die nachwachsende Schicht von Fachleuten gegenüber der Bürokratie in Schutz zu nehmen, der am 6. März 1966 in einem sogenannten „Offenen Brief" schonungslose Bekämpfung angesagt worden war. Einen Tag nach einer ziel-weisenden Rede Enver Hoxhas mit dem Aufruf zum kulturpolitischen Umbruch schrieb das Organ „Zeri i Popullit" am 7. Februar 1967: „Der albanische Bürokrat ist eine Mischung von Idealismus, Sozialismus und Mystizismus". Am darauffolgenden Tag berichtete das ZK-Organ über die Mittelschüler der Naim-Frasheri-Anstalt der Hafenstadt Durresi. Diese Jugend war dem chinesischen Beispiel der Demonstrationen, Massenaktionen und Wandzeitungen gefolgt. Die Schlagzeile unter dem Bilde der Schülerschaft lautete: „Mit dem scharfen Schwert der Parteiideologie gegen religiöse Ideologien, Aberglauben und rückständige Sitten". Zu dieser Stoßrichtung der Jugend paßt Hoxhas „Dialog mit den Alten", um Loyalität und Solidarität der älteren Generation für die Kulturrevolution der Jugend propagandistisch auszuwerten. Zu dem gesamten weltanschaulichen Feldzug zählte aber auch ein Brief von 21 Priestern an Hoxha, die auf ihr Amt und ihre religiöse Funktionen verzichteten und als wesentliche Begründung ein von Enver Hoxha häufig angeführtes Wort Naim Frasheris nannten: „Der Glaube des Albaners ist das Albanertum!" Die Beendigung der Kulturrevolution in der VR China hat auch für die Aktionen und Diskussionen in Albanien eine gewisse Entspannung und Entschärfung gebracht. Läßt man die zum Teil nachahmerischen überstiegenheiten des ideologischen Purismus zwischen 1966 und 1969 beiseite, so behaupten sich für die Dauer wohl folgende Zielsetzungen: Emanzipation der Frau, Umbau und Aufbau einer neuen Gesellschaft im Bannkreis des Dorfes und Ackerbürgerstädtchens, Beseitigung der „Schnellsiederei" im Bildungswesen, erhöhte Anforderungen an die Leitungsorgane und Fachleute in Staat, Wirtschaft, Kulturarbeit. Ein wesentliches Problem für die PPSh entsteht aus der Notwendigkeit, über die junge Generation und über politische und fachliche Führungskräfte des Landes den Anschluß an die fortschrittliche Technik, Wirtschaftsorganisation und Kultur Europas und der übrigen Welt zu gewinnen und zu halten. Der Generationswechsel hat hierfür besonderes Gewicht: Auf der einen Seite steht der Typ des Partisanen, der oft aus grenzenloser Armut, Halbbildung und Treue gegenüber der Parteiführung zu Führungsposten berufen worden ist, denen er nicht mehr genügen kann; auf der anderen der Nachwuchs der „Ordensburgen", die in Moskau, Prag oder Ost-Berlin und Peking erzogene neue Elite, mit ihrer höheren fachlichen Befähigung und mit dem Anspruch auf die Übernahme der Führung in Partei, Planapparat, Bildung und Erziehung.

Der Stil der neuen Führung wird dabei noch einige Zeit keineswegs endgültig geklärt sein. Ursache für diese noch immer vorhandenen Richtungsschwankungen sind weder Hoxha noch seine heimlichen Gegner, sondern der Druck von außen, der auch einen ethischen Klärungsprozeß innerhalb der PPSh verhindert oder verzögert. Mancher wichtige Wechsel in den Führungskadern erfolgte mit einem Seitenblick auf Jugoslawien, Rußland oder China. Während die Generation, die in den dreißiger Jahren zum Zuge gelangte, weltoffen, auslandserfahren und anpassungsfähig war, fehlt der Jungen Garde Albaniens heute dieses sichere Weltgefühl.

VIII. Staat, Nation und die albanische Außenpolitik

Ein halbes Jahrtausend hat das Volk der Albaner ohne Staat, ohne gemeinsames religiöses Bekenntnis, faktisch auch ohne einheitliche Kultur, der Auflösung und Aufweichung widerstanden. Allein das Bekenntnis zur gemeinsamen Herkunft und ein ungewöhnlicher Widerstandsgeist und Lebenswille haben die Albaner als Nation überdauern lassen.

Neben dem Freundschaftsbündnis des Zwergstaates an der Adria mit dem 700-Millionen-Reich der Volksrepublik China gewinnt das Verhältnis Albaniens zu Jugoslawien, dem „Riesen im Norden", eine beherrschende Bedeutung. Diese Beziehung trug und trägt mit allem Nachdruck nationalitätenpolitische Akzente. So gibt die Verzahnung der Nationalitäten in dem in Jugoslawien gelegenen Autonomen Gebiet Kosovo ständigen Anlaß zur Polemik. Das ZK-Organ der Partei in Tirana „Zeri i Popullit" (Volksstimme) schrieb am 14. März 1964 u. a.: „Nach einer jugoslawischen Statistik, die wahrscheinlich stark gefälscht ist, lebten in Kossowo am 31. 3. 1961 646 631 Albaner oder 67 0/0 der gesamten Bevölkerung, und 23, 5 0/0 Prozent Serben. Den Rest machten die anderen Nationalitäten aus. Bis 1961 waren, nach dieser Statistik, 60 985 Personen nach Kossowo eingewandert und 74 445 umgesiedelt, nicht eingerechnet die 14 441 Personen, die ins Ausland gegangen waren. Kann man denn diese massenhafte Verpflanzung der Kossowoalbaner und die starke Einwanderung der Serben und Montenegriner anders als eine barbarische Entnationalisierungspolitik bezeichnen (wobei man sich vor Augen halten muß, daß diese Zahlen viel zu niedrig gegriffen sind)? Folgender Prozeß ist jetzt deutlich zu beobachten: Die Kossowoalbaner werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und die serbischen und montenegrinischen Zuwanderer nehmen ihren Platz ein."

Unzweifelhaft handelt es sich in Kosovo um ein bäuerliches, übervölkertes „Entwicklungsgebiet" mit einem so geringen Industrieanteil, daß der albanische Bevölkerungsüberschuß dieses Gebietes zur Abwanderung in die übrigen Teilrepubliken Jugoslawiens gezwungen wird. Umgekehrt wanderten besonders Verwaltungsbeamte und Führungskräfte der Wirtschaft aus dem serbischen Kerngebiet in diese Gegend. Im Frühjahr 1967 besuchte der Staatschef Jugoslawiens, Marschall Tito, diese Autonome Region und führte einige der groben Verstöße der Führung in der Region Kosovo gegen das einheimische Albanertum auf die terroristischen Methoden des im Juni 1966 abgesetzten Innenministers und Chefs der Geheimpolizei, Aleksandar Rankovic, zurück.

Nach Lage der Dinge wäre eine förmlich und tatsächlich gesicherte Autonomie des Albanertums in Kosovo, Montenegro, Serbien und Makedonien der wesentliche Beitrag zu einer Befriedung zwischen Jugoslawien und Albanien. Die proletarischen Internationalisten zweier Nachbarrepubliken haben jedenfalls ihr brennendes Grenz-und Nationalitätenproblem hüben und drüben bis zur Stunde nicht gelöst.

Die albanisch-sowjetischen Beziehungen wurden 1948 über so viele Fäden geknüpft, daß eine Trennung politisch, militärisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt kulturell fast undenkbar schien. Am 16. November 1960 trat Enver Hoxha offen gegen den Kreml-Machthaber N. S. Chruschtschow auf. Am 15. Dezember 1960 bescheinigte der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht vor dem ZK-Plenum der DDR den albanischen Genossen eine „dogmatische und sektiererische" Einstellung zu den Problemen. Am 8. Januar 1961 flog eine albanische Wirtschaftsdelegation nach China ab. Vom 13. bis 20. Februar 1961 fand der mehrfach verschobene IV. Kongreß der PPSh in Tirana statt, vor dem Enver Hoxha den Trennungsstrich gegenüber den sowjetischen Freunden und Förderern zog. Die Märzkonferenz 1961 des War-schauer Paktes leitete für Albanien die schwierig durchzuführende Entflechtung seiner militärischen Belange von denen der Sowjetarmee ein. Anfang Juni 1961 räumten Einheiten der 8. sowjetischen U-Bootflotte den Stützpunkt Vlora und die Insel Saseno (albanisch: Sazan). Aber erst nach der Invasion in die SSR löste Albanien am 13. September 1968 auch förmlich seine Vertragspflicht gegenüber dem War-schauer Pakt.

Um die Jahresmitte 1955 erfolgte die Versöhnung zwischen Moskau und Belgrad. Erst Ende Mai 1959 sah sich der damalige sowjetische Machthaber veranlaßt, dem trotzigen, aber noch getreuen Albanien einen Besuch abzustatten. Damals unterliefen der sowjetischen Großmacht gegenüber der VR Albanien und der VR China diplomatische und psychologische Fehler, die Folgen haben sollten. In dem Augenblick, als Belgrad wieder begünstigter Bundesgehosse des Kreml wurde, mußte die kommunistische Führung Albaniens Konsequenzen ziehen.

Der offene Bruch zwischen Moskau und Tirana wurde solange durch boykottartige Sanktionen verschärft, bis man in den übrigen Hauptstädten des Sowjetblocks einsah, daß der shqipetarische Trotz nicht zu brechen war. Das Verhältnis Albaniens zu Bukarest und auch zu Belgrad gestaltete sich unter dem Eindruck des Truppeneinmarsches der War-schauer-Pakt-Mächte in die CSSR schlagartig günstiger. Bulgarien gegenüber ergaben sich seit 1966, als eine albanienfreundliche Gruppe in Sofia abgelöst wurde, mehrfach Reibereien. Auch noch im Herbst 1969 beschuldigten albanische Stellen die Führung in Sofia, daß Bulgarien als Militärbasis für den Aufmarsch sowjetischer Verbände gegen Albanien (und Jugoslawien) diene.

Bis zur Stunde besteht zwischen Athen und Tirana ein offizieller Kriegszustand. Es gibt Grenzzwischenfälle, daneben Familienzusammenführungen, Zugeständnisse Tiranas an die zwischen 25 000 bis 30 000 geschätzte Zahl der Griechen in Südalbanien, die in den Fachministerien und Spitzengremien der albanischen Hauptstadt verhältnismäßig stark vertreten sind. Griechenland erhebt Anspruch auf den „Nord-Epirus", das ist Südalbanien, dessen Amputierung den gesamten heutigen Staat Albanien vermutlich in seiner Lebensfähigkeit bedrohen würde.

Gegenüber Italien sind immer noch Ressentiments vorhanden: Die Zwischenkriegszeit, vornehmlich die Ara Mussolinis, brachte über die Straße von Otranto beherrschendes Kapital, „monopolistische" Kulturinstitutionen, maßgebliche Wirtschaftsführer, militärische Berater und Außenhandelskaufleute ins Land. Die Abwehr dieser „Überfremdung" ist seit 1945 durch die ideologische Gegnerschaft zwischen den Regierungen in Tirana und Rom verstärkt worden.

Das Albanertum ist durch alte Beziehungen mit Deutschland verbunden. So ungewiß es ist, ob ein Fähnlein deutscher Landsknechte unter der Befehlsgewalt Skanderbegs gestanden hat, so sicher steht fest, daß deutsche Heerführer seit Ende des 17. Jahrhunderts im Kampfe gegen den Halbmond diesem Land immer wieder beigestanden haben. Da ist z. B. im Feldzug 1689/90 der Herzog von Holstein zu nennen; 1717 entriß der in venezianischen Diensten stehende Graf Johann Mathäus von der Schulenburg den Osmanen zeitweilig feste Plätze in Albanien. Ganz überwiegend aber hat zwischen dem 21. Juli 1718, dem Friedensschluß von Passarowitz, bis fast zum Zweiten Weltkrieg Österreich, den Repräsentanten deutscher Kultur und Kulturpolitik abgegeben. Damals wurde die Donaumonarchie als Schutzmacht der Katholiken Nordalbaniens bestellt. Seither haben sich diese Beziehungen über ein Vierteljahrtausend hinweg als förderlich für das Streben der Albaner nach Eigenständigkeit erwiesen.

Zu den deutschen und österreichischen Gelehrten, die sich um das Land besondere Verdienste erwarben, zählen u. a.der aus Frankfurt/Main gebürtige österreichische Konsul Johann Georg v. Hahn (1811— 1861), der aus Großstrelitz gebürtige Philologe Gustav Meyer (1850 bis 1900), der angesehene, aus Mähren stammende Philologe Norbert Jokl-Wien (geb.

1877), der 1942 ein Opfer der Judenverfolgung wurde. Erwähnt werden müssen ferner der Südtiroler Historiker Jakob Ph. Fallmerajer (1790— 1860), die Archäologen C. Patsch (1865 bis 1945) und Camillo Praschniker-Wien (1884 bis 1949) sowie der hannoversche Botaniker August Grisebach (1814— 1879). 1963 starb 81jährig der zuletzt in Leipzig tätige Folklorist Maximilian Lambertz, dem Albanien u. a. eine gemeinsam mit Georg Pekmezi verfaßte und 1912 bei Hartleben (Leipzig) erschienene Grammatik zu danken hat.

Nach dem Ersten Weltkrieg festigten sich die albanisch-österreichischen und albanisch-deutschen Beziehungen. So sind zum Beispiel zwischen 1921 und 1923 österreichische und deutsche Bauingenieure unter Meissner Pascha in Albanien tätig gewesen. Deutsche Ingenieure nahmen 1929 im Tiranaer Arbeitsministerium leitende Stellungen ein. Die Einrichtung des Flugverkehrs ist dem deutschen Aero-Lloyd zu danken (1925). Wie vielfältig und eng die Bindungen waren, geht auch daraus hervor, daß seit Entstehung des modernen Albanien bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Kultur-beziehungen vor allem getragen wurden durch Hunderte junger albanischer Akademiker und Fachleute, die eine deutsche Erziehung und Ausbildung — meistens in Österreich -— erhalten hatten.

Wie soll man den gegenwärtigen Standort Albaniens bestimmen? Es ist ein Land zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, ein Land der Grenzen und immerwährenden Frontstellungen. Albanien läßt heute einerseits die Relikte des osmanischen Feudalstaates hinter sich und entwickelt sich zum modernen europäischen Staatswesen, wie es andererseits eine neue nationalkommunistische Generation heranbildet. Diese Generation ist bestrebt, die „alten Kämpfer" einer spätgegründeten Kommunistischen Partei abzulösen.

In Albanien vollziehen sich mehr Ereignisse und Entwicklungen systemneutral, als die unmittelbar Betroffenen oder auch der Außen-stehende ahnen. Denn Albaniens Aufgabe ist zunächst einfach die Überwindung einer zivilisatorischen Rückständigkeit, die endgültige Überwindung spätfeudaler Ordnungen, die das Volk der Shqipetaren von Westmitteleuropa und von Europa insgesamt trennen. Der osmanische Halbmond stand ein halbes Jahrtausend über diesem Bergstaat, der gewissermaßen ein Modellfall im Großtürkischen Imperium wurde. Auch heute ist die kleine Volksrepublik als „Entwicklungsland" ein Probefall für das Sowjetimperium und die VR China geworden — ein Schaufenster, das eigentlich Interesse wecken sollte.

IX. Anhang

CHRONIK Daten zur Zeitgeschichte Albaniens, 1909— 1969 1909— 1912 1912 28. November 1913 16. April 1913 29. Juli 1914 7. März— 3. September 3. Oktober— November 1915 1915 24. April 1916 ff 1918 25. Dezember 1920 1920 28. — 31. Januar 1920 17. Dezember 1922 2. Dezember 1924 Mai—Dezember 1925 31. Januar 1928 1. September 1939 7. April 1940 28. Oktober 1941 8. November 1944 24. Mai 1944 22. Oktober 1944 29. November 1946 11. Januar 1946 14. März 1948 l. Juli 1949 11. Juni 1949 21. Februar 1954 20. Juli 1955 14. Mai 1955 14. Dezember 1960 20. — 25. Juni 1960 November Albaneraufstände gegen die Türken als Auftakt zu den Balkan-kriegen Unabhängigkeitserklärung unter Ismail Qemal Österreich-Ungarn und Italien verabreden ein Albanienstatut Die Großmächte erkennen Albanien als autonomes Fürstentum an Regierung des Fürsten Wilhelm zu Wied-Neuwied Regierung Esad Pasha Toptani Londoner Pakt über die Aufteilung Albaniens Besetzung Albaniens durch Osterreich-Ungarn, Italien und Frankreich Neue albanische Regierung unter Turhan Pasha Aufstand gegen die serbische und italienische Okkupation Kongreß von Lushnja, Regentschaftsrat Aufnahme Albaniens in den Völkerbund Ahmet Zogu wird Ministerpräsident Regierung der linken Mitte unter Fan Noli Ahmet Zogu wird Präsident von Albanien Zogu wird König der Albaner Italien besetzt Albanien, Zogu flüchtet Italien beginnt in Albanien Krieg gegen Griechenland Gründung der Kommunistischen Partei Albaniens Erster antifaschistischer nationaler Befreiungskongreß in Permeti Erste provisorische Regierung Enver Hoxhas Albanien in den Händen der nationalen Befreiungsfront Proklamierung der VR Albanien Erste albanische Verfassung Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu Jugoslawien Hinrichtung Koi Xoxes Beitritt Albaniens zum Comecon Shehu löst Hoxha als Ministerpräsident ab Beitritt Albaniens zum Warschauer Pakt Beitritt Albaniens zur UNO Erstes öffentliches Eintreten Albaniens für China auf der Konferenz von Bukarest Albanien verläßt infolge von Differenzen die Gipfelkonferenz von Moskau 1961 13. — 20. Februar 1961 3. Dezember 1962 1963 3. September 1964 31. Dezember und 1965 17. März 1966 4. März 1966 14. September 1966 1. — 8. November 1967 6. Februar 1967 22. Juni 1967 13. November 1968 30. April 1968 24. Juni 1968 13. September 1969 11. März 1969 26. Juni 4. Kongreß der PPSh. Vorerst umfassende Wirtschaftsabkommen mit China Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion Wiederholte Proteste Albaniens wegen der Nichtzuziehung zu den Sitzungen des Comecon und des Warschauer Paktes Beginn des offenen Zwistes der Sowjetunion mit China. Ende des Alleinganges Albaniens in der Auseinandersetzung Tschou En Lai in Albanien Beginn einer Verwaltungsreform Aufhebung des Justizministeriums V. Kongreß der PPSh (Angriffe gegen Moskau)

Beginn des verschärften Kulturkampfes (Schließung von Kirchen, Moscheen, Kampf gegen alte Bräuche)

Vollkollektivierung in Albanien Gesetzliche Verfügungen zum Schutze der Glaubensgemeinschaften werden als ungültig erklärt Reduzierung des Hoflandes Reorganisierung des Rechtswesens (Dorfgerichte)

Austritt aus dem Warschauer Pakt Auflösung der Handwerkerkooperativen Beschluß der Schulreform

Fussnoten

Weitere Inhalte

Otto Rudolf Ließ, Dr. phil., geboren 1914 in Wien, Studium in Bukarest, Riga, Königsberg, Leipzig, Tübingen und Berlin, Publizist und Mitarbeiter wissenschaftlicher Institute. Robert Schwanke, Dr. phil. et jur., geb. 1910, wissenschaftlicher Mitarbeiter am österreichischen Ost-und Südosteuropa-Institut Wien.