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Kritik als utopische Aktion | APuZ 25/1969 | bpb.de

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APuZ 25/1969 Artikel 1 Manipulation -Kommunikation — Demokratie. Prolegomena zu einer Analyse von „Kapitalismus und Kommunikation' Neue Wege des politischen Engagements? Kritik als utopische Aktion

Kritik als utopische Aktion

Bruno Friedrich

Eine Bestandsaufnahme der Protestbewegung im Jahre 1969 kann von dem Versuch der Studentenopposition ausgehen, die These einer notwendigen revolutionären Praxis als Vorbedingung einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Für diesen Weg hat sich z. B. Dr. Reinhart Wolff (SDS) im Gespräch mit Professor Goldstücker (Die Zeit, Nr. 21/1969) entschieden. Die „bewußtseinsprivilegierte''Schicht der Studenten (Wolff) wird zur revolutionsprivilegierten Schicht. Ihr Auftrag: Initiativfunktionen zu entfalten; das in der Bundesrepublik nachzuvollziehende Beispiel: Frankreich im Mai 1968. Um die revolutionäre Praxis zu retten, riskiert der SDS einen wachsenden Rationalverlust seiner Revolutionstheorie, ignoriert er seine wachsende Isolierung an den Hochschulen. Es gab in der Bundesrepublik für die Revolutionstheorie zwei Höhepunkte der Verkündigung. Sie müssen hier genannt werden — sozusagen als Kontrastfüllung für ein Röntgen-bild der Protestbewegung im Jahr 1969.

Die Verkündigung der Revolutionsthese

Als Herbert Marcuse im Juli 1967 im überfüllten Auditorium maximum der Freien Universität, eingeladen vom AStA, zum Thema „Das Problem der Gewalt in der Opposition" sprach, gab er mit seinen Thesen vielen Studenten die Glaubensartikel eines Revolutions-Katechismus. Marcuses Vortrag im Juli 1967 bewirkte den ersten Höhepunkt einer zugleich theoretischen und praktischen Solidarisierung aller Kräfte der Studentenopposition: Nie zuvor und niemals nachher haben AStA’s, politische Studentengruppen und die breite Masse der nichtorganisierten Studenten gemeinsam mit oppositionellen Professoren und anderen oppositionellen Gruppen einen so hohen Grad der theoretischen Übereinstimmung in der For -mulierung des Zieles erreicht. Höhepunkte der praktischen Solidarisierung waren die Beisetzung Benno Ohnesorgs am 9. Juni 1967 und die Reaktion auf das Attentat gegen Rudi Dutschke am 11. April 1968. Dazwischen lag der Vortrag Marcuses.

Marcuse befriedigte zahlreiche Sehnsüchte der jungen Generation und lieferte einen Wortschatz, der es ermöglichte, gegenüber den Parteien, gegenüber jeder Art von Amtsautorität abgrundtiefe Verachtung theoretisch zu artikulieren. Eine Verachtung, die in der These gipfelt, daß dieses System der institutionalisierten Herrschaft nur noch wert sei, zerstört zu werden. Alle, die diese Krise sichtbar machen, sind Angehörige einer bewußtseinsprivilegierten Klasse. Ziel dieser Klasse ist die Krise des Systems. Die dabei möglicherweise notwendige Anwendung von Gewalt wird mit der These von der repressiven Toleranz begründet, die soweit gefaßt ist, daß jede Gewaltanwendung gegen das System als Akt der Notwehr deklariert werden kann: „So steht die Opposition von Anfang an im Felde der Gewalt. Recht steht gegen Recht, nicht nur als abstrakte Versicherung, sondern als Aktion" (Marcuse). War der sinnlose Tod des von einem Polizeibeamten getöteten Benno Ohnesorg, war das von einem „bewußtseinsmanipulierten", „rechtsorientierten", fast noch Halbwüchsigen durchgeführte Attentat nicht die praktische Bestätigung der These Marcuses, daß gegen die institutionalisierte Gewalt ein Widerstandsrecht der Opposition besteht?

Dies unterscheidet Marcuse von allen, die vor ihm als Soziologen, als liberale Publizisten, als Oppositionelle das bestehende Gesellschaftssystem kritisiert haben: Marcuse fordert die Aktion und gibt dafür eine theoretische Begründung. Der Aufruf Marcuses für die Aktion hatte missionarischen Charakter: Kampf für die Unterprivilegierten der Dritten Welt, der künftigen Massenbasis der Revolution. Marcuse erhob alle, die sich an der Aktion beteiligten, zur bewußtseinsprivilegierten Opposition und schuf die theoretische Voraussetzung dafür, daß auch die Sprößlinge reicher Eltern — den vom Konsum angekränkelten Arbeiter der modernen Industriegesellschaft verachtend — sich als dem revolutionären Salz der Erde zugehörig empfinden konnten. Das bei der jungen studentischen Gene-33 ration der Bundesrepublik Deutschland weit mehr als anderswo vorhandene nationale Vakuum wurde ausgefüllt durch ein Angebot internationaler Solidarität von globaler Größenordnung. Die Identifizierung mit der Dritten Welt, mit Mao, mit Castro, mit Guevara, gibt die Chance, das Problem der nationalen Identität zu ignorieren.

Daß Marcuse die Krise des Systems als Ziel setzte, sich dagegen ausschwieg über die nach der Krise durchzusetzende neue Ordnung, schuf für die Oppositionellen verschiedenster Richtung die Möglichkeit, konfliktgeladene Diskussionen über die Ziele auszuklammern. Doch mußte die Solidarisierung enden, sobald Kräfte auftraten, die andere Ziele als nur die Krise des Systems anstrebten. Marcuses Entscheidung für die Aktion als Nah-und Fernziel zugleich — Aktion als auslösender Faktor der Krise — ist auch Ursache für den wachsenden Rationalverlust des militanten Flügels der Studentenopposition, der immer häufiger den unmittelbaren „Erfolg" einer Gewalt-aktion, nicht aber ihren Sinn und ihr Ziel in den Mittelpunkt des revolutionären Kalküls rückt.

Zweiter Höhepunkt der revolutionären Prophezeihung in der Bundesrepublik wurde am 5. Mai 1968 ein Vortrag von Ernst Bloch. Das Geburtshaus von Marx erschien Bloch als der geeignete Ort, der 150. Geburtstag von Marx die richtige Stunde, neu zu vereinen oder wiederzuvereinigen, was in der Praxis sich bekämpft, aber doch den revolutionären Sozialismus als gemeinsame Plattform hat. Zum ersten-mal seit seiner Flucht aus Leipzig wieder ein eindeutiges Bekenntnis zum Sozialismus leninistischer Prägung: „Ja, bis lange in Stalin hinein war Marxismus einzig in der Sowjetunion zu Hause."

Das marxistische Ziel, Aufhebung des Proletariats als Verwirklichung der Philosophie, bedarf bei Bloch der Revolution. In den theoretischen Konsequenzen für die Praxis geht Ernst Bloch im Mai 1968 weiter als Marcuse. Bloch erweitert die von Marcuse vorgezeichnete revolutionäre Basis. Auf der gemeinsamen Plattform stehen Marx, Engels, Lenin, umgeben von Trotzki und Stalin, von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, von Togliatti und Bakunin; diese Plattform galt für die Jugoslawen, für den polnischen und ungarischen Frühling des Jahres 1956, für Berkely und die Neger Nordamerikas, für die Inder und die Indios, und jetzt fällt der tschechoslowakische Frühling mit jung-revolutionären Bewegungen im Westen zusammen.

Die den Sozialismus durch Reformen anstrebenden Sozialdemokraten übergießt Bloch mit Spott und Ironie, vorgetragen mit der traumhaften Sicherheit eines Philosophen, der sich immer auf dem rechten Weg gewußt hat, der die Krisen der eigenen Theorie immer wieder durch krasse Anpassung an die neue Wirklichkeit überwunden und dabei nie aufgehört hat, von konkreter Utopie zu sprechen. Blochs Vision der Einheit aller revolutionären Sozialisten ist eine große theoretische Leistung, deren begrenzter Wert für die Praxis nach dreieinhalb Monaten sichtbar wurde. Die Sowjets lehnten es ab, den von Bloch empfohlenen Fahrplan der Geschichte zu akzeptieren, sie verwandelten den Prager Frühling im August in die Konterrevolution von Prag.

Die Sterblichkeit der Revolutionsthese

Die außerparlamentarische Opposition hat den Versuch Ernst Blochs in Trier, allen revolutionären sozialistischen Kräften eine gemeinsame Basis anzubieten, nie ernsthaft diskutiert. Blochs Kraft zur Theorie bewirkt nicht das Zusammenwirken der von ihm zitierten politischen Kräfte in der Aktion. Seine zündende Sprache ist kein Blitz, der auch die Aktion entzündet. Als die Brüder Cohn-Bendit ihr Buch über die Mai-Juni-Revolution in Frankreich veröffentlichten, gaben sie ihm den Titel „Linksradikalismus — Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus".

Herbert Marcuse hat Theorie und Aktion der außerparlamentarischen Opposition stärker beeinflußt als Ernst Bloch. Seine Beschränkung auf die Vorbereitung der Krise des Systems gab allen heterogenen Kräften der Opposition eine gemeinsame Basis für die Aktion. Marcuse sprach in diesem Zusammenhang von einer notwendigen Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung: „Diese Aufklärungsarbeit ist eine entsetzlich mühsame, eine entsetzlich langsame, eine entsetzlich schwere." Die Prophezeihung eines langen Weges zur Befreiung des Bewußtseins hat dazu geführt, daß der Einfluß Marcuses beim militanten Flügel der Studentenoppositon schwindet. Eine anarchistische Minderheit erhofft sich von Gewalt-aktionen mehr als von der Befreiung des Bewußtseins außerhalb der Studentenopposition. Die Diskussion über die Anwendung von Gewalt und den Sinn der Anwendung von Gewalt hat innerhalb der Studentenopposition zu Auseinandersetzungen geführt. Die Mehrheit plädiert für eine Neuorientierung in der Zielsetzung der Aktion. Das revolutionäre Fernziel einer totalen Umstülpung der gesellschaftlichen Verhältnisse soll ersetzt werden durch reformistische Nahziele. 1968 schrieben Gabriel und Daniel Cohn-Bendit über die Mai-Unruhen in Frankreich: „Frankreich hat bewiesen, daß eine revolutionäre Veränderung in einer hochindustrialisierten Gesellschaft möglich ist." Als nach dem Referendum vom 27. April 1969 de Gaulle den Präsidentenstuhl verließ, verzichteten sowohl Kommunisten als auch Studenten auf die traditionelle Mai-Feier, um jeden revolutionären Windhauch anzuhalten — aus Angst, die Gaullisten könnten davon profitieren. Kurz: Die Mai-Erfahrungen des Jahres 1968 haben bei der französischen Linken das Gegenteil von dem bewirkt, was die Brüder Cohn-Bendit noch im Herbst erhofft hatten. Frankreich ist zu den klassischen Formen der demokratisch-parlamentarischen Auseinandersetzüng zurückgekehrt.

Die Sterblichkeit der Revolutionsthese ist in der Bundesrepublik gleichfalls evident. Der Fortschritt des SDS im Jahr 1969, verglichen mit den Positionen des Jahres 1967, besteht im Rückfall von der Revolte zum bloßen Aufruhr— einer Haltung, die Sartre in seinem Baudelaire-Essay präzise beschrieben hat: „Der Revolutionär will die Welt ändern; er überholt sie in Richtung auf-die Zukunft, in Richtung auf eine Wertskala, die er selbst erfindet.

Der Aufrührer aber sorgt dafür, daß die Mißstände, unter denen er zu leiden hat, bestehen bleiben, damit er sich gegen sie auflehnen kann. Immer trägt er Elemente des schlechten Gewissens und eine Art Schuldgefühl mit sich herum. Er will weder zerstören noch überwinden, sondern sich gegen die Ordnung wenden. Je mehr er sie angreift, desto mehr achtet er sie insgeheim; die Gesetze, die er öffentlich anficht, bewahrt er tief in seinem Herzen: würden sie verschwinden, so verschwände mit ihnen auch seine Daseinsberechtigung." Fern jeder Diskussion um die Ziele der Revolte und um die künftigen Normen der Gesellschaft reduzieren die militanten Gruppen des SDS ihre Überlegungen auf den Erfolg von Aktionen, deren Sinn von Außenstehenden kaum zu entziffern ist.

Sichtbarstes Zeichen eines einsetzenden Differenzierungsprozesses innerhalb der Studenten-opposition in der Bundesrepublik Deutschland ist der Streik der Ingenieurstudenten. Er setzt neue Maßstäbe. Sein Ziel ist nicht die revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ein begrenztes reformistisches Ziel: Aufwertung der eigenen Position innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Ein durchaus gesellschaftskonformer Streik, in Ziel und Methode vergleichbar mit den Arbeitskämpfen in der Wirtschaftsgesellschaft. Für manche mag es neu sein, daß nun auch in der Bundesrepublik die Akademiker den Streik als das in einer Demokratie angemessene Mittel empfinden, gegen die Benachteiligung einer Gruppe wirksam zu protestieren. Die wachsende Abhängigkeit des Berufs-weges vom Bildungsweg gibt dem Protest gegen Mängel des Bildungssystems den Rang einer logisch sich ergebenden Notwendigkeit. Es ist kein Zufall, daß ein Sprecher der IG Metall für den Streik der Ingenieurstudenten eine Solidaritätserklärung abgab.

Die neue These: Revolution durch Aktionseinheit der Reformisten

Zwischen beiden Positionen innerhalb der Studentenopposition — dem sich revolutionär verstehenden Aktionismus des SDS und dem reformistisch orientierten Streik der Ingenieurstudenten — gibt es den Versuch, das revolutionäre Ziel durch eine reformistische Praxis zu retten. Die Arbeit Horst Heimanns kann diesen Überlegungen zugerechnet werden. Heimann sucht Gründe für das Scheitern der Protestbewegung und nennt die fehlende Einheit von Theorie und Praxis. Die „liberale publizistische Opposition", Vorläufer der APO, habe nicht den Versuch unternommen, ihre als richtig erkannte politische Konzeption in die Praxis umzusetzen. Der Aktionismus der APO dagegen stehe unvermittelt neben der Theorie, was eine wechselseitige Qualitätsminderung von Aktion und Theorie bewirke. Um das revolutionäre Ziel zu retten, empfiehlt Heimann eine evolutionäre Praxis. Qualitative Ver35 änderungen sind nach Heimann revolutionär, doch seien diese qualitativen Veränderungen in der Industriegesellschaft nur auf evolutionärem Wege möglich. Dies meint, so folgert er, die dialektische Aufhebung des Gegensatzes von Revolution und Evolution.

Die Aktionseinheit der in den Parteien zwischen den Mehrheitsflügeln vorhandenen innerparteilichen Opposition mit der liberalen publizistischen Opposition und gleichzeitig mit der außerparlamentarischen Opposition sei wichtiger als neue Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Für künftige politische Veränderungen sei es daher ziemlich unwichtig, welche Partei bei den kommenden Wahlen dieMehrheit gewinnen werde. Entscheidend sei vielmehr, welche Flügel innerhalb der drei für die Regierungsbildung relevanten Parteien die Mehrheit gewinnen würden.

Heimanns Beweisführung enthält zahlreiche Feststellungen, Einschätzungen, Behauptungen, auch Vorurteile, die von ihm als a priori gültige Urteile eingeführt werden, Urteile und Begriffe, die abzuklopfen, auch aufzulösen sind, will man nicht aneinander vorbeireden. Wer ist denn „die APO"? Wer „die Parteien", wer „die junge Generation"? Wieso ist die junge Generaton „das stärkste demokratische Potential in unserer Gesellschaft?"

Kann das Urteil gewagt werden, daß die Oppositionsfaktoren der publizistischen und außerparlamentarischen Opposition, wenn sie sich nur mit den innerparteilichen Oppositionen verbinden, eine höhere Qualität erlangen? Wer dies behauptet — Heimann geht davon aus —, ohne die konkrete politische Position der innerparteilichen Opposition zu prüfen, dem geht es nicht um die kritische Überprüfung des politischen Ziels der Opposition, sondern um eine bloße verbesserte Aktionsfähigkeit, die es ermöglichen soll, das ursprüngliche Ziel doch noch erreichen, das heißt, die Qualitätsverbesserung ist reduziert zugunsten der Verbesserung der Aktionsfähigkeit. Durch die konstante Weigerung, das revolutionäre Ziel kritisch zu überprüfen, dagegen von einer Weiterung der Aktionsbasis alles zu erhoffen, endet die Kritik als utopische Aktion — und dies um so sicherer, je öfter die kritische Analyse der vorhandenen konkreten Bedingungen ersetzt wird durch die Einführung alles abdekkender Leerformeln.

Um konkret zu werden: Weder hat bis heute der Arbeitnehmerflügel der CDU erklärt, daß er in der Mitbestimmungsfrage für die Vorlage der Sozialdemokraten stimmen werde, noch haben sich die Hoffnungen derer erfüllt, die meinten, der SPD-Bezirk Hessen-Süd werde in der Deutschlandpolitik die Position der APO übernehmen. Diese beiden Beispiele aus CDU und SPD sind aber zwei der wenigen Beispiele, aus denen sich die Hoffnung eines Zusammenwirkens von innerparteilichen Minderheiten und außerparlamentarischer Opposition ableiten ließe. Die Parteien werden als freischwebende wertfreie Gebilde, unter sich jederzeit austauschbar, also als bloße Herrschaftsstrukturen ohne Bindung an bestimmte soziale Gruppen behandelt: als ob die Bundesrepublik ein Entwicklungsland wäre, dessen politische Strukturen der Formung durch jede beliebige Kraft offen daliegen. Es wird nicht genügend berücksichtigt, daß im Parteiensystem der Bundesrepublik jede innerparteiliche Opposition sich der Mehrheit der eigenen Partei enger verbunden fühlt als der innerparteilichen Opposition der Gegenpartei.

Wer apodiktisch feststellt: „Gegenwärtig haben die politischen Kräfte, die in den entscheidenden Institutionen der Parteiendemokratie über die Mehrheit verfügen, weitgehend den Gedanken aufgegeben, die Gesellschaft bewußt im Interesse fortschreitender Emanzipation zu verändern", — wer einen so umfassenden Vorwurf gegenüber der gesamten politischen Führung, die zugleich politische Repräsentanz der großen gesellschaftlichen Gruppen ist, ausspricht, muß diesen Vorwurf näher begründen; denn Heimann fällt hier Urteile, setzt, indem er „die Parteien" als in sich nicht unterscheidbare Gruppierungen einführt, neue Fundamentalpositionen, die in ihrer übergreifenden Totalität die zum Teil überwundenen, zum Teil noch gültigen Weltanschauungspositionen nationalistischer, religiöser oder sozialistischer Prägung weit überbieten. Doch nur verbal, da eine den von der APO eingeführten ideologischen Begriffen und ihrem totalen Anspruch adäquate Gesellschaft nicht vorhanden ist. Und dies ist wohl auch die wichtigste Ursache des Scheiterns der APO.

Der Ausfall der konkreten Bedingungen in der Analyse — Bedingungen, unter denen z. B. die gesellschaftlichen Gruppen existieren, oder die Fähigkeit, die Funktion der Institution vorurteilslos zu prüfen — produziert Fehlurteile: Man vermißt bei Heimann einen Hinweis auf die technologischen Probleme der Gesellschaft. Nicht gesehen wird die Konsumgesellschaft, obwohl Konsumwünsche und Konsumangebot das Wählerverhalten, also die Machtverteilung im Staat, wesentlich mitbestimmen. Nicht gesehen werden die gesellschaftlichen Gruppen und die einflußreichen Interessengruppen: Gewerkschaften, Kirchen, Arbeitgeberverbände, Landwirtschaft. Nicht gesehen wird das Problem der nationalen Identität und Individualität, obwohl feststeht, daß noch über Jahrzehnte hinweg das nationale Selbstverständnis der einzelnen Staaten und Völker die internationalen Beziehungen entscheidend prägen wird. Es ist ein Irrtum zu meinen, die Gesellschaft könne am ehesten von denen revolutionär verändert werden, die sich vor anderen fähig fühlen, die Bedingungen des politischen Zusammenlebens nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es ist sicher richtig, daß die liberale publizistische Opposition nicht den Versuch unternommen hat, ihre „als richtig erkannte Konzeption in die Praxis umzusetzen". Hier wird der liberalen Publizistik eine Aufgabe zugemessen, die sie erfüllen die nicht kann, ja, ihrem Selbstverständnis zutiefst widerspricht.

Die „politische Praxis" des Publizisten ist das geschriebene Wort. Das Wort ist ihm Waffe, er begnügt sich, Aktionen auszulösen. Dem liberalen Publizisten mag der Gedanke schmeicheln, durch sein Wort die Spontaneität der Aktion bewirkt zu haben. Aber er verachtet die Organisationspraxis der Aktion als Bürokratie, denn der moderne Pilatus wäscht seine Hände in Tinte und bleibt liberal. Die liberale Publizistik, dieser Nachweis kann unschwer erbracht werden, war und ist häufig Träger des in der Bundesrepublik weit verbreiteten Antiparteienaffektes: Ehrenamtliche Parteifunktionäre, die sich ohne jede Aussicht auf eine Pfründe für die Demokratie engagieren, werden von ihr weit hämischer behandelt als hochbezahlte Lobbyisten.

Liberale publizistische Opposition und außer-parlamentarische Opposition haben gemeinsam, daß sie die Wirkung des Wortes in der technologischen Gesellschaft überschätzen. Der Glaube an die Wirkung des Wortes als Waffe entfaltete sich in den Aktionen der APO zum Glauben an die durch das revolutionär getönte Wort kurzfristig auszulösende revolutionäre Spontaneität der Massen. Immer wieder werden die Mai-Ereignisse in Frankreich beschwo -ren. Ein verspäteter Luxemburgismus, der meint, man könne sich die Analysen des Scheiterns der Räterevolution am Ende des Ersten Weltkrieges dadurch ersparen, daß man kurzerhand die Sozialdemokraten als Arbeiter-verräter deklariert, ist ein Klischee, das des Vorzuges ermangelt, neu zu sein.

Statt neuer Thesen: realistisches Engagement für die Reform

Der Hartnäckigkeit, mit der von der außerparlamentarischen Opposition konkrete Sozial-strukturen und konkrete Machtverhältnisse unserer Gesellschaft, dazu Bedingungen des Zusammenlebens der Völker und Staaten ignoriert werden, entspricht nur noch die faszinierende Wirkung des Wortes Revolution, dem man sich nicht minder unkritisch ausliefert. Sicherlich ist die faszinierende Wirkung des Wortes Revolution in Deutschland mit darauf zurückzuführen, daß die Deutschen im Gegensatz zu anderen Völkern eine geglückte Revolution nicht vorweisen können, vielleicht darauf zurückzuführen, daß man in der Bundesrepublik die Geburt der ersten deutschen Republik behandelt hat wie einen Fehltritt der Nation. Doch wird die Faszination der Wirkung des Wortes Revolution auf die Dauer die Diskussion um eine mögliche Einheit von Theorie und Praxis der Reform nicht verdrängen können. Der Schritt von der revolutionären Theorie zur reformistischen Praxis wird in der Regel rasch vollzogen, wenn die Machtverhältnisse das revolutionäre Ziel in die Ferne rücken. Die Reform als Nahziel wird leichter akzeptiert, wenn das Nahziel den Glauben an das revolutionäre Endziel nicht ausschließt. Dagegen ist der Schritt von der reformistischen Praxis zur Theorie der Reform vielen, die zwar die Reform praktizieren, aber des Glaubens an die Revolution nicht entraten wollen, purer Verrat.

Noch versperrt das Starren auf das Ziel einer revolutionären Emanzipation der jungen Generation den Blick auf Aktionen, die eine fortschreitende Emanzipation des Menschen durch Reformen zu bewirken imstande sind. Was die junge Generation von der älteren unterscheidet, ist aber nicht primär das Bedürfnis nach Revolution, sondern nach mehr Aktion und Beteiligung. Die Frage muß gestellt werden, ob als politisches Wohlverhalten mißverstandene politische Passivität in der Bundesrepublik bei den Trägern der Staatsautorität so hoch in Kurs geriet, daß der erste laute Schrei einer Studentenopposition nach Aktion als systemgefährdende Revolution empfunden werden konnte. Ist die Öffentlichkeit wirklich willens zu unterscheiden zwischen Aktionen, die eine Reform anstreben, und Aktionen revolutionärer Zielsetzung? Sind nicht alle, die innerhalb der Studentenopposition für die Reform demonstrieren, letzten Endes zur Resignation verdammt, weil zur Reform unfähige Politiker und eine zur Differenzierung zwischen Revolution und aktivem Reformwillen unfähig gewordene Öffentlichkeit den Wunsch nach Reform als Hang zur Revolution diskreditieren und jeden Protest am liebsten durch neue Rechtsmittel zum Schutze der Staatsautorität beantworten?

Die Parteien, die in Diskussionen mit der jungen Generation nur zu gern ihren Reformeifer hervorheben, sollten, wenn sie sich schon als politische Integrationsfaktoren der Gesellschaft verstehen, endlich zugeben, daß eine Reform der Gesellschaft auch die innere Reform der Parteien zur Voraussetzung hat. Wann beginnt diese Parteienreform?

Heimann bietet einen durchaus realistischen Ansatz, wenn er dazu auffordert, das anstrengende organisatorische Engagement in den Parteien zu akzeptieren, damit auch das geistige Engagement die Parteienwirklichkeit mehr bestimmen kann als bisher. Die Parteien sollten einer Generation entgegenkommen, die im Jahre 1969 dem demokratischen Dialog in ihrer Mehrheit durchaus offen ist. Die Krise der Revolutionstheorie, das Scheitern der revolutionär verstandenen Aktionen der Studentenopposition, gibt der demokratischen Aktion eine Chance. Doch bedeutet demokratische Aktion nicht das Aufzeigen eines Ziels durch eine vorgegebene demokratische Staats-autorität. Die fortschreitende Demokratisierung der Gesellschaft kann nicht als obrigkeitsstaatliche Aktion durch die Staatsautorität verordnet werden. Demokratische Aktion als Angebot an die junge Generation hat zur Voraussetzung die Teilhabe aller bei der Formulierung der konkreten Reformziele. Die Teilhabe aller bezeichnen manche als Utopie. Sie wäre weniger Utopie, hätten wir den Mut, unser Bildungssystem entschiedener und entschlossener zu reformieren.

Es genügt nicht, die Zukunft technologisch zu projektieren. Eine Gesellschaft, deren Stolz es ist, alljährlich ein Dutzend neuer Auto-modelle zu konsumieren, die dazu neigt, die Freiheit des Gaspedals auf der Landstraße hoch einzuschätzen, sollte den Ehrgeiz haben, auch den Fortschritt der demokratischen Institutionen zu projektieren. Dabei geht es um den ständigen Konflikt von Organisation und Demokratie, von Institution und Demokratie.

Nicht die Beseitigung der Institutionen führt zu mehr Freiheit, zu mehr Gerechtigkeit, vielmehr gibt die Demokratisierung der Institution der Freiheit und Gerechtigkeit eine Chance.

Auch die Reform bedarf der Aktion: Das heißt, Reformen gibt es nur, wenn die zu ihrer Durchführung erforderliche Macht organisiert wird.

Der Beitrag Heimanns ist ein sichtbares Zeichen dafür, daß die Krise der Revolutionstheorie, daß die Krise der Praxis der APO eine Hinwendung zur Parteiendemokratie bewirkt. Das dabei von Heimann propagierte Bündnis der liberalen publizistischen Opposition und der außerparlamentarischen Opposition mit der innerparteilichen Opposition ist, so unbequem den Parteien die dadurch entstehenden innerparteilichen Konflikte auch sein mögen, letzten Endes eine Entscheidung für die Parteiendemokratie. Diese Grundsatzentscheidung für die Parteiendemokratie ist wichtiger als die noch vorhandene Fehleinschätzung der innerparteilichen Entscheidungspraxis. Eine sich parteipolitisch engagierende junge Generation würde bald herausfinden, daß die innerparteilichen Strukturen der Parteien der Bundesrepublik weit weniger verkrustet sind, als ihre im Antiparteienaffekt verharrenden Kritiker vermuten.

Eine diese Parteienwirklichkeit begreifende und zur Reform der Gesellschaft entschlossene junge Generation könnte rasch auf die Entwicklung der inneren Strukturen der Bundesrepublik, auf ihr Verhältnis zur DDR, auf die Beziehungen zu unseren Nachbarn und auf die Beziehungen zu den Staaten der Dritten Welt Einfluß nehmen, wobei dieser jungen Generation die Erfahrung nicht vorenthalten werden wird, daß der Gewinn der Mehrheit, sowohl im Parlament als auch in den Parteien, sehr häufig abhängig ist von der Fähigkeit zum demokratischen Kompromiß.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Bruno Friedrich, geb. 31. Mai 1927 in Helmbrechts/Frankenwald, Ausbildung im Lehrerseminar Coburg, Redakteur, 1960— 1962 persönlicher Referent des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Waldemar von Knoeringen, 1962— 1965 Referent für politische Bildung, seit 1965 Direktor der Gesellschaft für politische Bildung, Herausgeber des DDR-Report, Veröffentlichungen zur Parteientheorie.