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Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten | APuZ 36/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 36/1968 Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten Marxistische Positionen und linke Studentenopposition in der Bundesrepublik I. Der Marxismus in Deutschland

Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten

Erwin K. Scheuch

1. Gibt es eine „Revolte der Studenten"?

Walter Büchner: Marxistische Positionen und linke in der Bundesrepublik Studentenopposition S. 27

Die Soziologen hatten bisher nicht sehr viel Erfolg mit Erklärungen einer Protestbewegung, die sich wesentlich als eine Art von angewandter Soziologie versteht. Prognosen einer solchen Bewegung sucht man vergeblich in der sozialwissenschaftlichen Literatur über Studenten und Hochschulen, selbst wenn die entsprechenden Veröffentlichungen das Erscheinungsdatum 1965 oder 1966 tragen. Noch Anfang 1967 herrschte die These von der politischen Uninteressiertheit und Passivität der Studenten vor

Inzwischen sind in denjenigen Ländern, die in erster Linie Schauplatz von Protestbewegungen im Namen der Studenten waren, zahlreiche Analysen erschienen, die den Vorteil rückschauender Betrachtungen haben. Sozialwissenschaftler in der Bundesrepublik und in Frankreich betonen in ihren Erklärungen den Zustand der Universitäten, das Ungenügen politischer Instanzen und vor allem die von Studenten vorgetragenen Ideen als ursächlich für den sogenannten studentischen Protest Demgegenüber untersuchen amerikanische und englische Sozialwissenschaftler eher die soziale Herkunft der in den Protestbewegungen aktivsten Studenten und deren Persönlichkeitsstruktur In dieser Unterschiedlichkeit des Ansatzes spiegelt sich teilweise die verschiedene Ausprägung des „studentischen Pro-tests": Dieser ist in England und in den USA weniger als in Frankreich oder der Bundesrepublik mit der Berufung auf marxistische Theoreme verbunden. Zum Teil werden in dieser unterschiedlichen Akzentuierung von Erklärungen jedoch lediglich verschiedene intellektuelle Traditionen fortgesetzt. Der in der Öffentlichkeit Deutschlands und Frankreichs beachtete Teil der Soziologie verstand sich als eine Geisteswissenschaft, die ideellen Phänomenen immer schon eine größere Beachtung schenkte

In allen westlichen Ländern, in denen der „studentische" Protest nahezu institutionalisiert scheint, ist auffällig, daß die Analysen ungewöhnlich engagiert zu sein pflegen und nicht dasjenige Maß an Distanz gegenüber dem Erklärungsobjekt besitzen, das die Soziologie sonst ihren Gegenständen entgegenbringt. Da Soziologen in ihrem Lebensbereich durch diese Bewegungen unmittelbar tangiert zu sein pflegen, ist dieses Engagement verständlich. Zudem beruft sich diese Bewegung auf die Soziologie, verwendet einen Ausschnitt aus deren Fachsprache (allerdings in oft veränderter Bedeutung) und stellt selbst Ansprüche an die Soziologie als eine wissenschaftliche Disziplin bis hin zu der Forderung, diese möge sich als Hilfswissenschaft für Revolutionäre verstehen. Die Protestbewegung unter den Studenten ist nicht die einzige Bewegung, die für Sozialwissenschaftler überraschend kam. Weder in den USA noch in der Bundesrepublik wurde der relative Erfolg solcher rechten Bewegungen wie der NPD oder der „dritten Partei" um den Ex-Gouverneur Wallace vorausgesehen. Rechte Gruppierungen gab es selbstverständlich in beiden Gesellschaften immer, aber in ihren sektiererischen Ausprägungen gingen diese in den letzten Jahren eher zurück Dagegen gewannen rechte politische Parteien mit einem viel diffuseren Programm als die eigentlichen Kerngruppen der Rechten überraschend schnell einen erheblichen Zulauf. Dabei ist bemerkenswert und für die spätere Analyse des „studentischen" Protests wichtig, daß die Mehrzahl aller Wähler oder Anhänger dieser Rechtsparteien mit deren politischen Programm nur teilweise übereinstimmt und/oder in diese Parteien die eigenen Wünsche hineinliest. Diese Rechtsbewegungen haben nicht sehr viele Menschen zu neuer Denkweise konvertiert, sondern ein vorhandenes Potential an Unzufriedenheit mobilisieren können

In allen hochentwickelten Industriestaaten des Westens ist seit einigen Jahren eine rasche Zunahme von Protestbewegungen zu registrieren. In der Bevölkerung allgemein, insbeson -dere aber bei unteren Schichten, drückt sich dieses als „Unbehagen" apostrophierte Gefühl vornehmlich in politisch „rechten" Bewegungen aus: neben der NPD in der Bundesrepublik und der heterogenen Partei von Wallace in den USA sind hier die Wahlerfolge der partikularistischen Parteien in England und Kanada (z. B. „Scottish Nationalists") zu erwähnen, aber auch der letzte Wahlerfolg der Gaullisten. Hauptleidtragende dieser Erfolge von Rechtsbewegungen, die von ihren Wählern als Parteien des „Volkes" gegen Institutionen und Funktionäre wahrgenommen werden, sind gewöhnlich die demokratischen Linksparteien. Die jeweils von den Rechtsparteien hervorgehobenen Themen sind national spezifisch, aber ihre Anhängerschaft scheint nach sozialer Lage und dem Typ der Erwartungen an die politischen Instanzen sehr ähnlich zu sein. „Linke" Bewegungen, insbesondere dann, wenn sie sich als außerhalb des politischen Systems stehend verstehen, sind in Thematik und in der Weise ihres Vorgehens einander, wie schon immer international manifest, sehr viel ähnlicher. In der „studentischen" Protest-bewegung wurden die extremen Gruppen der Bundesrepublik unmittelbar durch die von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelten Techniken des Widerstandes beeinflußt. Teile des SDS versuchten ihrerseits, englische und französische Studenten zu aktivem Widerstand in ihren Gesellschaften zu ermuntern. Dennoch dürfen über den dominanten Gemeinsamkeiten dieser extremistischen Gruppen wichtige nationale Verschiedenheiten nicht übersehen werden.

Von den verschiedenen Ausdrucksformen des Unbehagens an der Politik in den Gesellschaften, die einen durchschnittlichen Lebensstandard und ein Maß an sozialer Sicherheit erreichten wie auch nicht annähernd irgendeine andere Gesellschaftsform der Gegenwart oder der Vergangenheit, sind von die Gruppen Studenten getragenen Proteste die spektakulärsten. Es sind zugleich aber auch Ausdrucksformen von Unbehagen, die für die Soziologie am schwierigsten zu erklären sind. Dies ergibt sich aus einer differenzierteren Bestimmung dessen, was Erklärungsgegenstand sein muß.

Träger des permanenten Protests unter den Studenten sind — auf die Gesamtzahl der Studenten bezogen — extrem kleine Gruppen. Der SDS dürfte heute in der Bundesrepublik nicht mehr als etwa 2500 Mitglieder haben — also weniger als traditionelle Studentenverbindungen. In den USA wird die Zahl derjenigen Studenten, die Mitglieder von vergleichbaren extremistischen Studentengruppen sind, auf etwa 6000 bis 8000 Mitglieder geschätzt. Die in der Öffentlichkeit stark beachteten Proteste wurden durchweg von sehr kleinen Gruppen organisiert. Dies gilt sowohl für die Unruhen der Ostertage in der Bundesrepublik wie für die Besetzung der Columbia University in New York wie auch für die Unruhen in Nanterre bei Paris, aus denen sich die allgemeine Revolte in Frankreich entwickelte. Revolten werden immer von kleinen Minderheiten organisiert. Insofern ist die Feststellung, die Aktivisten des „studentischen" Protestes seien sehr kleine Gruppen, noch keine ungewöhnliche Diagnose. Ungewöhnlich ist jedoch die insgesamt geringe Zahl und die mindestens ebenso wichtige Tatsache, daß sich diese Extremgruppen nicht erst der Solidarität größerer Gruppen versichern, sondern ihr Vertrauen darauf setzen, im Akt der Konfrontation mit Autoritäten würden sich die Anhänger schon einstellen. Daß diese Taktik zum Teil erfolgreich war, ist der zweite erklärungsbedürftige Sachverhalt. Nach neueren Untersuchungen ist der Personenkreis, der sich bisher für verschiedene Anlässe von Protesten vorübergehend mobilisieren ließ, auf ca. 36 0/0 der Studenten der Bundesrepublik anzusetzen — also auf etwa 90 000 Studenten Hinzu kommen noch Jugendliche in anderen Soziallagen: an erster Stelle Oberschüler und an zweiter Stelle junge unverheiratete Arbeiter. Bei einigen Anlässen — insbesondere während der Unruhen der Ostertage 1968 — bestand ein erheblicher Teil der protestierenden Personen nicht aus Studenten. Gleiches wird auch aus den USA berichtet —etwa für die späteren Abschnitte des Bürgerkriegs auf dem Gelände der Columbia University in New York. Dennoch bleibt die Wirksamkeit der Proteste im Namen der Studenten davon abhängig, daß Studenten ein wesentlicher Teil desjenigen Personenkreises sind, der sich in Situationen der Konfrontation mit Autoritäten begibt.

Ein wesentlicher Aspekt des Phänomens, das als Protest der Studenten registriert wird, ist die Ausrichtung erheblicher Teile der in anderen politischen Gruppen organisierten Studenten an den Verhaltensweisen der extremsten Minderheit. Offizielle Vertreter solcher Studentengruppen wie des „Sozialdemokratischen Hochschulbundes" (SHB), der „Humanistischen Studentenunion" (HSU) oder des „Liberalen Studentenbundes" (LSD) bedienen sich heute — ohne unter den Mitgliedern ihrer Gruppen nennenswerten Widerstand zu finden — der Sprache, der Theoreme und einiger Aktionsformen des SDS Die Tendenz zur Polarisierung der politischen Minderheiten unter den Studenten ist ein dritter erklärungsbedürftiger Sachverhalt. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, warum diese anderen Studentengruppen ein so geringes Gefühl für eigene Identität entwickeln, daß sie sich nun wesentlich in differenziellen Reaktionen auf den SDS selbst definieren.

Der wichtigste Teil desjenigen Komplexes, der als „studentischer Protest" gilt, ist jedoch die unterschiedliche Reaktion der Erwachsenen. Hier verstellt die Lehre der protestierenden Gruppen diesen selbst und auch deren Kritikern den Blick für die tatsächlichen Reaktionen. Der SDS und die mit ihm Sympathisierenden fühlen sich als eine zugleich mißverstandene und verfolgte Minderheit, denen es aber irgendwann einmal gelingen muß, die auf Miß-Verständnis oder falschem Bewußtsein beruhende Feindschaft der Arbeiter in Freundschaft zu überführen. Vom Selbstverständnis her muß die Reaktion der Arbeiter zu der wichtigsten Frage werden. Für eine Erklärung des Protests als einer sozialen Bewegung ist jedoch die Reaktion des „gebildeten Bürgertums" — also von Menschen in qualifizierten Berufen mit akademischer Bildung — sehr viel aufschlußreicher. Gerade in Bevölkerungs-gruppen mit überdurchschnittlich hoher Information und mit vorwiegend konservativem Wählerverhalten ist die Deutung dieses Protestes besonders umstritten und sind die Reaktionen gegensätzlicher als in der Bevölkerung allgemein. Und gerade hier finden die extremistischen Studentengruppen ihre wirksamsten Verbündeten.

Die Zahl der Beteiligten macht die sich als „Protest der Studenten" verstehende Bewegung noch nicht zu einem gesellschaftlich belangvollen Vorgang — die Mai-Unruhen in Frankreich teilweise ausgenommen. Belangvoll wird diese Bewegung durch die Formen ihres Kampfes (oder besser: die Technik ihrer Konfrontation!) und durch die Konzentration in einigen Gruppen und an einigen Orten. 100 000 Rechtsextreme über ein Land wie die Bundesrepublik verstreut sind zunächst eine bloße quantite negligeable; 10 000 zur direkten Konfrontation bereite Studenten in vier großen Städten (vornehmlich Berlin, Hamburg, München und Frankfurt) konzentriert, sind ein beachtenswertes Phänomen. Sie werden zu einem politischen Faktum von einiger Bedeutung, wenn Massenmedien und politische Instanzen sich mit diesen Bewegungen so ausführlich wie mit anderen politischen Streitfragen auseinandersetzen. Verfügen diese extremen Gruppen über legitime Apparate — wie die Sach-und Geldmittel der Allgemeinen Studentenausschüsse — und werden sie von Erwachsenen als Diskussionspartner in Situationen mit hohem Prestige akzeptiert (wie Akademien und Podiumsgespräche) sowie durch Rat und mit Geld gegen einen Teil der Folgen ihrer Handlungen abgesichert, so kann ein numerisch wenig bedeutsamer Protest als soziales Phänomen wichtig werden.

Die extremistischen Studentengruppen selbst führen ihre relative Bedeutung nicht auf ihren sozialen Standort zurück, sondern auf die Wirksamkeit ihrer Demonstrationsformen und die Kraft ihrer Ideen. Tatsächlich sind die Formen der Demonstration, und nicht zuletzt der Aufbau einer ganzen Subkultur des Protests als Protest, wichtig für die Kontinuität von Gruppen, die weder organisatorisch noch ideologisch ausreichende Voraussetzungen für kontinuierliche Aktionen besitzen. Form und Ausmaß der Protestaktionen werden entsprechend durch Reaktionen anderer Studenten, der Behörden und der allgemeineren Öffentlichkeit stärker beeinflußt als durch irgendwelche Deduktionen aus Theoriensystemen. Zwar verstehen sich die extremistischen Studentengruppen als eine aufgeklärte Minderheit, die eine theoretisch begründete Einheit von Theorie und Praxis verwirklicht. In der Thematik und in der sozialen Zusammensetzung der vorwiegend aufeinander reagierenden Gruppen handelt es sich jedoch um einen Dialog des humanistisch gebildeten Bürgertums mit sich selbst und nicht um neue Ideen einer um Emanzipation kämpfenden sozialen Gruppe.

Es ist in der Bundesrepublik und Frankreich üblich, den Inhalt der von extremistischen Gruppen vertretenen Vorstellungen als Ausgangspunkt von Analysen zu wählen Ich selbst neige dazu, in Ideen Epiphänomene zu sehen — also Inhalte, die sich dann einstellen, wenn die strukturellen Vorbedingungen gegeben sind. Im vorliegenden Fall muß den Ideen eine etwas größere Bedeutung für den Ablauf der Bewegung eingeräumt werden. Dennoch ist es für die Erklärung des sogenannten studentischen Protests unsinnig, die vom SDS vorgebrachten Argumente ernsthaft als Aussagen über die Gesellschaft zu diskutieren. Insofern diese Ideen überhaupt „wahrheitsfähig“ sind, also durch Konfrontation mit Fakten als richtig oder falsch beurteilt werden können, handelt es sich um alte Bekannte aus der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die zum großen Teil für andere gesellschaftliche Situationen formuliert wurdeh. Diese Gedanken sind ganz überwiegend längst ausdiskutiert und erscheinen den jetzigen Studenten nur aus biologischen Gründen als neuartig. Nach dem eigenen Selbstverständnis des SDS sind dessen Ideensysteme auf unmittelbares Umsetzen in Handlungen ausgerichtet. In der Kombination von Aussagen über eine vorgebliche Wirklichkeit und von (zum Teil nur latenten) Wertungen und Elementen eines provokatorisch gemeinten modernen Kunstgewerbes (Pop-Art) entsteht jedoch ein synkretistisches Ideengebäude, dessen latente Funktion die Absicherung gegen die Kritik von „Außenseitern" ist. Erklärungsobjekt für das Phänomen, das als „Revolte der Studenten" bezeichnet wird, ist zunächst die Minorität der sich zu extremistischen Gruppen bekennenden Studenten. Ein zweites Erklärungsobjekt ist die Bereitschaft erheblicher Teile der Studenten verschiedener Länder — auf dem europäischen Kontinent umfangreichere Gruppen als in England oder den USA —, sich mit dem Protest der extremistischen Gruppen vorübergehend auch dann zu identifizieren, wenn die Ziele dieser extremistischen Gruppen nur zum Teil oder gar nicht bejaht werden. Das wichtigste Erklärungsobjekt ist jedoch die Reaktion der interessierten Teile der Bevölkerung. Die beiden letzteren Erklärungsobjekte können überwiegend 'mit den Theoremen und Techniken analysiert werden, die sich bei der Erklärung des Wählerverhaltens als eines politischen Verhaltens aus nicht-politischen Gründen bewährt haben. Das erste Erklärungsobjekt ist selbst mit Kombination von Theoremen und Techniken der Soziologie und der Sozialpsychologie nur teilweise erfaßbar, die sich eben zur Erklärung von diffusen Massenbewegungen besser eignen als zur Analyse qualifizierter Minoritäten.

Notwendig ist hier insbesondere die gemeinsame Anwendung von Erkenntnissen aus der Soziologie der Jugend und der Soziologie von Sekten.

Was sich selbst als „Revolte der Studenten" versteht und auch so in der Öffentlichkeit verstanden wird, ist bei genauerer Betrachtung ein Phänomen, in dem sich indirekt und unter spezifischen politischen Bedingungen einige Spannungen in Industriegesellschaften ausdrücken. Wie auch sonst bei der Analyse von Bewegungen besteht dabei kein Grund, die Akteure einfach beim Worte zu nehmen und ihr eigenes Selbstverständnis für eine Analyse von Gründen zu halten. Protestverhalten und dessen Deutung sie wie auch sonst bei der Analyse sozialer Phänomene zunächst nur Rohmaterial, dessen symptomatische Bedeutung zu erschließen ist. Für die jeweiligen Akteure — seien es nun die Gläubigen einer Kirche oder die Mitglieder einer Familie — ist diese Distanz der Betrachtung beleidigend. Es besteht aber kein Grund, warum nicht auch gegenüber der „studentischen" Protestbewegung eine solche distanzierte Perspektive gewählt werden sollte.

2. Situation und Charakter der extremistischen Minoritäten

Inhalt 1. Gibt es eine „Revolte der Studenten"? 2. Situation und Charakter der extremistischen Minoritäten 3. Die Mobilisierbarkeit von Jugendlichen für den „studentischen" Protest 4. Die Reaktion der Bevölkerung 5. Der Protest als Kulturrevolution a) Der personelle Wandel in den Kerntruppen des Protests b) Charakter der Aktivisten in der gegenwärtigen Phase des Protests c) Der Protest als eine Spiegelung von Strukturproblemen des Bürgertums d) Zum Charakter der Subkultur des Protests

a) Der personelle Wandel in den Kerntruppen des Protests In den ersten Aktionen verstanden sich die extremistischen Gruppen der Studenten in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Ländern als Reformer des Erziehungswesens, speziell als Reformer der Universität. Hierzu wurden Anfang des sechziger Jahre eine Anzahl Schriften des SDS und ihm nahe stehender Personen veröffentlicht, in denen verschiedene tiefgreifende Reformen der Struktur der Universität gefordert wurden Daß die Universitäten zu reformieren waren, ist nun keine ganz neue Einsicht Zum damaligen Zeit-punkt wurden auch schon eine Anzahl Strukturreformen eingeleitet oder begannen sich allmählich auszuwirken (wie Parallellehrstühle und Pauschalierung des Hörgeldes). Die Forderungen des SDS waren jedoch anderer Art: Die Universität sollte nicht reformiert werden, um ihre Funktionen effizienter zu erfüllen, sondern sollte eine von vielen denkbaren Funktionen als die oberste Funktion anerkennen: Ausbildung der Studenten in dem, was der SDS unter kritischer Schauweise versteht, nämlich Neomarxismus. Effizienz der Ausbildung oder Steigerung in der Produktion neuen Wissens sollten sich diesem Ziel unterordnen, was sich organisatorisch in der Ablehnung solcher Reformen wie Zwischenprüfung und befristetem Studium ausdrückte. Mit der um 1965 endlich weithin akzeptierten Forderung nach Universitätsreform verband der SDS also andere Inhalte, welche die bis dahin als Reformen geltenden Veränderungen als „Instrumente der Repression" bestimmten.

Die anfängliche Konzentration des SDS auf Fragen der Hochschulreform ist wichtig für die Reaktion der Bevölkerung und größerer Teile der Studentenschaft auf den SDS. Mit der Forderung nach Reform befand sich der SDS in Übereinstimmung mit verbreiteten Meinungen und wurde auch dann nicht als revolutionäre Bewegung wahrgenommen, als in Wahrheit seine Ziele mit den üblicherweise mit Reform verbundenen Vorstellungen wenig gemein hatten. Damit war eine der Vorbedingungen für einen Anfangserfolg von revolutionären Bewegungen gegeben: die angegriffenen Institutionen haben sich selbst bereits in Frage gestellt und werden nur mit Selbstzweifeln verteidigt. Inzwischen war der SDS ideologisch schon längst zu weiteren Forderungen übergangen und hatte als Vorbedingung für eine wirkliche Universitätsreform die Zerstörung der herrschenden Gesellschaftsordnung gefordert. Da dies mit den Worten, eine wirklich demokratische Universität könne nur in einer wirklich demokratischen Gesellschaft existieren, ausgedrückt wurde, waren diese Forderungen nicht manifest kontrovers. Wer ist schon gegen Mutterschaft, Tugend oder Demokratisierung? Nur wurde auch hier wieder übersehen, daß der SDS mit dem allgemein akzeptierten Wort „Demokratisierung" einen spezifischen und abweichenden Inhalt meinte: die Einführung irgendeiner Form eines sozialistischen Systems, mit dem Endziel einer kommunistischen Gesellschaft. Die Wahl der Worte gab jedoch vielen Studenten und Gesellschaftskritikern die Möglichkeit, mit den Zielen des SDS zu sympathisieren, auch wenn in den inhaltlichen Vorstellungen eigentlich Dissens bestand.

Und noch ein drittes Element ist für die anfängliche Sympathie gegenüber dem SDS hervorzuheben: die Forderung nach „Drittelparität" als Instrument der Demokratisierung, über diese Forderung wurde in der Folgezeit oft ernsthaft diskutiert, obgleich sie vom SDS nur als Mittel, nicht aber als Inhalt der Reformbemühungen verstanden wurde. Drittel-parität ist in der Bundesrepublik in der Form des Betriebsverfassungsgesetzes („Mitbestimmung") als eine Form der Kooperation zwischen Ungleichen eingeführt und stößt inzwischen nicht mehr auf sehr viel Kritik; warum sollte dies nicht auch für die Universitäten eine praktikable Form sein, Spannungen zu bewältigen? Diese Forderung nach Drittelparität ist ein deutsches Spezifikum und wurde, da diese Formulierung an bereits bekannten Regeln orientiert war, zu einer populären Forderung: Drittelparität = progressiv. Mit dieser Forderung war dem SDS ein wichtiges Instrument für jede erfolgreiche Revolte zugefallen, eine plausibel klingende Formulierung („Alle Macht den Räten"), die sich gegenüber Inhalten und Zwecken in Diskussionen als zum Fetisch verselbständigtes Wort benutzen läßt.

Wirklichen Erfolg bei Studenten und Linksintellektuellen hatte der SDS jedoch erst, als er eine Anzahl kontroverser Entscheidungen von Behörden zum Anlaß für die Anwendung moderner Formen des zivilen Widerstandes wählte. Entscheidungen der Art wie die Verweigerung eines Hörsaales für den Journalisten Kuby oder die vorübergehende Verwandlung der Bundesrepublik in einen Duodezstaat anläßlich des Schahbesuchs im Sommer 1967 hatten auch früher schon heftige Kritik gefunden. Der SDS gab jedoch diesen kritischen Einstellungen sozial wirksame Ausdrucksformen. Sit-in, teach-in und Formen der Demonstration wie die „Spaziergangdemonstration" vermochten in ganz anderem Ausmaß Personen zu mobilisieren als die intellektuelle Kritik an anstößigen Vorgängen.

Bei den Demonstrationen anläßlich des Schah-besuchs wurde der Student Benno Ohnesorg unter Umständen erschossen, die praktisch von keiner ernst zu nehmenden Person des öffentlichen Lebens außerhalb Berlins für gerechtfertigt gehalten wurden. Niemals vorher und niemals seither kam es zu einer so umfangreichen spontanen Solidarisierung weiter Gruppen mit protestierenden politischen Gruppen der Studenten. Die Protestbewegung der politischen Studentengruppen hatte einen Märtyrer erhalten, obgleich Ohensorg diesen Gruppen nicht angehörte. Diesen Vorfall nutzte der SDS in der Folgezeit, um in Konfrontationen mit der Polizei deren Härte aufzuzeigen und damit einer manifest friedfertigen Gesellschaft deren „latenten Faschismus" nachzuweisen. Es wurde zur expliziten Taktik, kontroverse Objekte (wie den Springer-Verlag) oder kontroverse Situationen zu finden, für noch nicht im Sinne der extremistischen Gruppen „politisierte" Studenten und Jugendliche mobilisiert werden konnten. Führte die Mobilisierung zum gewaltsamen Konflikt mit der Polizei, so konnte dann anschließend den Objekten polizeilichen Einschreitens dieses Einschreiten im Sinne des SDS als Bestätigung politischer Theorien gedeutet werden. Indem der SDS bewußt Regeln verletzte, sollte die möglichst gewaltsame Gegenreaktion der Polizei provoziert werden. Gegenüber dieser Art von Demonstrations-Jiu-Jitsu erwiesen sich in voraussagbarer Weise die Behörden als wenig flexibel.

Zugunsten dieser Art der Selbstdarstellung, die vornehmlich in Berlin ausgebildet und dann erst auf andere Universitätsstädte übertragen wurde, verringerte sich der Akzent auf der Art von Tätigkeit, die nach der eigenen Ideologie an sich im Vordergrund stehen mußte: die sogenannte Basisarbeit mit Arbeitern, also den Versuch der Bekehrung von Arbeitern zu einem kämpferischen Marxismus. An sich hätte in langer „Aufklärungsarbeit" hier ein Konsens hergestellt werden müssen, der sich dann in späteren gemeinsamen Aktionen zu bewähren hatte. In dieser Weise hatte sich der SDS nach seiner Trennung von der SPD jahrelang ohne besonderen Erfolg bemüht und bemühen sich einige SDS-Gruppen (wie die der Kölner Universität) auch heute noch. Der Aktivismus des Berliner SDS erwies sich jedoch als sozial erfolgreicher, und dieser Erfolg (oder genauer: Anfangserfolg) war als Argument stärker als theoretische Erwägungen oder Bezugnahmen auf Lehren des Leninismus oder des Neomarxismus der Version Adornos. Durch Fortsetzung der direkten Aktionen sorgt jetzt jedoch der SDS dafür, daß Mißverständnisse unter den Studenten und in der Öffentlichkeit über die Ziele seiner Aktionen verringert werden. Dies hat — wie noch zu zeigen sein wird — eine Polarisierung der Einstellungen zum SDS mit einer überproportionalen Zunahme negativer Einstellungen zur Folge. Der latente Dissens wird durch fortgesetzte Aktionen jetzt teilweise manifest, und es wird deutlich, daß es sich beim SDS nicht um die reformfreudigste Gruppe innerhalb der reform-bedürftigen Institution Hochschule handelt, sondern um eine antiparlamentarische und quasi-revolutionäre Gruppe.

Analoge Mißverständnisse über den Charakter extremistischer Studentengruppen sind auch für die frühen Phasen dessen, was als studentischer Protest gilt, in anderen Gesellschaften ebenfalls charakteristisch. Zu Beginn konzentrierten sich die extremen Studentengruppen in den USA (SDS, du Bois Club) auf Fragen der Gleichberechtigung der Negerbevölkerung und auf die Redefreiheit an Universitäten In diesen Fragen konnten die protestierenden Studenten der Solidarität der amerikanischen Intellektuellen und weiter Teile des Bürgertums sicher sein. Inzwischen ist deutlich geworden, daß die unterschiedlichsten Themen als Ansatzpunkte für Proteste gewählt werden, vom Widerstand gegen die Wehrpflicht und gegen den Krieg in Vietnam bis zu den Preisen für Mensa-Essen, der Rekrutierung von Nachwuchs für bestimmte Firmen (wie der des Napalm-Produzenten Dow Chemicals) und zu den Bauplänen der Universitäten (wie in Columbia). Auch in den USA ist damit der Widerstand gegen Proteste gewachsen. Zugleich entstand aber eine jugendliche Subkultur des permanenten Protests, die zum erheblichen Teil den Zielen des amerikanischen SDS und anderer marxistischer Gruppen gleichgültig gegenüber steht.

Am dramatischsten war der Umschwung in der Definition dessen, was als Protest der Studenten begann, in Frankreich. Zu Beginn der Unruhen in Nanterre und an der Sorbonne wurden die Demonstrationen als Widerstand gegen ein äußerst reformbedürftiges Universitäts-System verstanden. Mit Fortschreiten der Revolte änderte sich die Definition: Der Protest wurde zunehmend als Umsturzversuch einer extrem linken Minderheit gesehen und deshalb zunehmend abgelehnt

Politisch extreme Studentengruppen befanden sich noch vor wenigen Jahren in allen westlichen Ländern in der Situation von Sekten. Die Erfolge verschiedener Aktionen in der Öffentlichkeit wurden dann charakteristischer-weise durch Personen und Gruppen erzielt, die gegenüber den um theoretische Begründung einer extremen Position bemühten Personengruppen eine periphere Stellung hatten Solche Personen benutzten zwar die Deutungssysteme der extremen Gruppen, waren aber nicht primär an weiterer Erkenntnis als vielmehr an Experimenten mit den bereit-liegenden Ideen interessiert. Mit dieser Hin-wendung zur Aktion änderte sich die Zusammensetzung der extremen Studentengruppen, der Typ der für die Außenwelt erkennbaren Führer und der Typus der Mitläufer. Ebenso schnell vollzog sich bei politischen Studenten-gruppen mit ursprünglich parlamentarisch-demokratischer Ausrichtung die Hinwendung zu den von Aktivisten vertretenen Auffassungen. In diesen Studentengruppen, zu denen in der Bundesrepublik vor allem der SHB, der LSD und die HSU gehören, erfolgte wirklich eine Konversion der theoretischen Orientierung. Für eine Analyse der Protestbewegungen können die hier erwähnten Gruppen alle als „Aktivisten des Protests" zusammengefaßt betrachtet werden. b) Charakter der Aktivisten in der gegenwärtigen Phase des Protests Die aus verschiedenen Ländern vorliegenden Informationen, die allerdings nur für die USA den Charakter systematisch gesammelter Daten haben, stimmen in der Charakterisierung der Aktivisten weitgehend überein. Unter ihnen sind Jugendliche aus Familien mit wirtschaftlich und sozial überdurchschnittlichem Status der Normalfall von Anhängern und die Regel als Organisatoren von Konfrontationen. Ein Jugendlicher fühlt sich dann am stärksten zu Protestbewegungen hingezogen, wenn er in Familien mit „progressivem" Erziehungsstil aufwuchs. In solchen Familien wird das Kind sehr früh ermutigt, eigene Wünsche vorzubringen, einen eigenen Ausdrucksstil zu entwik-keln und eigene Ansichten zu vertreten. Der Protest ist am wahrscheinlichsten, wenn dieser Erziehungsstil verbunden ist mit einer starken Betonung universalistischer Werte im Elternhaus: etwa Pietismus oder „idealistischer" Nationalsozialismus oder Trotzkismus. Die konkret von den Eltern als idealistische Prinzipien geglaubten Werte scheinen für die spätere Entwicklung zum Aktivisten — wie zu erwarten — relativ belanglos, vorausgesetzt, es wird eine kritische Distanz zur Industriegesellschaft des westlichen Typs trainiert. Wichtig scheint ferner die Kombination: erfolgreicher Vater mit Selbstzweifeln und energische bis dominierende Mutter. Die relative Stärke der vier hier erwähnten Faktoren, welche die Chance eines radikalen Protests weitgehend bestimmen, ist noch nicht bekannt

Eine solche Familienkonstellation wie die soeben durch vier Faktoren umschriebene scheint charakteristische Probleme bei der Ablösung vom Elternhaus und bei der Entwicklung der Person zur Folge zu haben. Eine Ablösung des Jugendlichen, die einer vorübergehenden Vereinzelung gleichkäme, wird als schwerer erträglich empfunden. Bei Familien mit geringerem sozialen Status werden entsprechend heute schon sehr frühzeitig sehr enge Paarbeziehungen als Ersatz für die „Nestwärme" der Familie aufgebaut. Speziell für Studenten bieten sich Gruppen mit intensiven Beziehungen zwischen den Mitgliedern und gemeinsamer ideeller Ausrichtung als ein Gemeinschaftsersatz für die Familie an. Früher pflegten traditionelle Studentenverbindungen mit ihrem Bruderschaftsritual diese Funktion einer Ersatz-Familie zu übernehmen; heute finden sich weitgehend die nach sozialer Herkunft gleichen Kreise in politischen Studentengruppen mit aktivistischer Zielsetzung zusammen.

Nicht die Bereitschaft, sich extremen Gruppen (extrem in Gesinnung oder extrem in den Ritualien) anzuschließen, ist ein zu erklärendes Spezifikum, sondern die Wahl linksextremer Erklärungsschemata für die Welt.

Vor dem Versuch einer Antwort ist noch eine Schwierigkeit der Persönlichkeitsentwicklung zu erwähnen, die heute ausgeprägter als früher ist. Die erwähnte Familienkonstellation prämiert eine frühe Ausbildung des „Ich" (im Sinne der Tiefenpsychologie), bietet aber in einer Hinsicht dafür schlechte Vorbedingungen. Diese Ausbildung des Ichs erfolgt eher in der Form der Indoktrination und anschließend der Selbstindoktrination, nicht aber in dem Sinne der am Widerstand der Umwelt über sich selbst gewonnenen Erfahrungen. Gerade in Familien mit „progressivem" Erziehungsstil wird das Testen der Realität als ein Aspekt der Entwicklung des Ichs auf die Zeit nach der Ablösung aus der Familie verschoben. An sich bietet das Studium als Existenz-form für einen vielseitigen Test der eigenen Möglichkeiten schlechtere Bedingungen als die Berufswelt. Die Konfrontation mit dem, was die Aktivisten selbst (eigentlich paradoxerweise) als Autoritäten verstehen, kann als funktionales Äguivalent — wenngleich ein nur ziemlich begrenzt taugliches — zu den Situationen der Bewährung im Berufsleben verstanden werden. Nicht zuletzt ist Furchtlosigkeit vor dem Polizeiknüppel eine Art Fortführung der Pflichtmensur.

Nach Forschungsergebnissen aus den USA sind für die hier umschriebenen Kreise von Jugendlichen die Formen und Inhalte des Protestes teilweise austauschbar. In den Vereinigten Staaten ist eine bewußte Zurückweisung der dort fetischartigen Maßstäbe für körperliche Reinlichkeit ein ebensolcher Affront der Gesellschaft wie das Verbrennen eines Stellungsbefehls oder der Gebrauch kommunistischer Redewendungen. Für Eltern der oberen Mittelschicht ist es genauso schockierend, wenn sich die Tochter als Negativ-Ideal, das heißt als bloße Umkehrung des positiven Ideals, mit einem möglichst negroid aussehenden Neger verbindet, als wenn sie in einer Kommune ostentativ freie Sitten vorlebt. Gerade aus Berkeley wird ein häutiges Überwechseln von Hippie-Existenz mit dem Gebrauch milder Rauschgifte zu den politischen Protestbewegungen und umgekehrt berichtet. Je weniger in einer Kultur hedonistische und individualistische Werte akzeptiert werden, um so schärfer pflegen sich jedoch die politischen Aktivisten von Hippies zu distanzieren. Der Inhalt der Kritik an den modernen Industriegesellschaften ist allerdings bei beiden Protestgruppen nicht sehr verschieden: in beiden Fällen wird die Gesellschaft mit Wertungen der Kulturkritik konfrontiert und beschlossen, daß man sich in dieses „System" nicht ein-passen werde

In den zwanziger und dreißiger Jahren war es unter Jugendlichen — und speziell Studenten — weit verbreitet, gegen die jeweilige Gesellschaft mit linksextremen und mit rechtsextremen Ideologien zu protestieren, wobei rechtsextreme Ideologien sich in vielen Ländern als für Studenten attraktiver erwiesen. Der Rechtsextremismus ist heute jedoch durch seine Verwirklichung in 'verschiedenen Ländern intellektuell vorerst diskreditiert, bietet sich also erst wieder für Jugendliche mit weitergehender Bildung an, wenn linke Rethorik zur Konvention geworden sein sollte oder wenn in etwa fünf bis acht Jahren keine Eindrücke mehr „aus erster Hand" von Alteren bezogen werden können.

Merkwürdig bleibt zunächst, daß der Links-extremismus nicht ebenfalls durch die bisherigen Formen seiner Realisierung diskreditiert ist. Hier legen die Aktivisten jedoch Wert auf die Aussage, die von ihnen angestrebten Formen einer sozialistischen Gesellschaft würden den Terror des Stalinismus oder die Unzu-träglichkeiten der heutigen sozialistischen Staaten nicht aufweisen. Ginge es hier um die Analyse politischer Konzeptionen, so wäre die Feststellung verwunderlich, warum diese extremistischen Gruppen keine ausgebildete Theorie des Fehischlagens von Sozialisierungen entwickeln, denn nicht die Wiederholung bekannter Kritiken an den sogenannten kapitalistischen Wirtschaftssystemen, sondern eine Theorie des Sozialismus im Stadium der Verwirklichung (nicht der Durchsetzung!) schiene angesichts nicht akzeptabler Vorbilder vordringlich. Hier geht es jedoch um die Analyse einer Bewegung, und für diese sind die Entwicklungen in einigen ökonomisch und technisch unterentwickelten Staaten ohne jegliche Relevanz für das Funktionieren von hoch differenzierten Industriegesellschaften und die Theorie direkter Aktionen von größerer emotionaler Relevanz; die intellektuelle Relevanz ist demgegenüber von geringer Bedeutung. c) Der Protest als eine Spiegelung von Struk-

turproblemen des Bürgertums Hier spätestens stellt sich die Frage, wie „links" eigentlich eine Bewegung der Söhne und Töchter des gehobenen Bürgertums ist, die sich gegenüber den Ansätzen in den politischen Sekten vornehmlich an Begründungen für direkte Aktionen interessiert zeigt. „Links" sind zweifellos die Mehrzahl der zitierten Schriftsteller, die vorgebliche Sorge um die Arbeiter, die Forderung nach Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und die schon Formen des nationalen Vorurteils aufweisenden anti-amerikanischen Äußerungen. Eine Reihe von Äußerungen, die von den Aktivisten für „links" gehalten werden, sind jedoch keinesfalls spezifisch für Bewegungen der unteren Schichten. Hierhin gehören die Kritik des „Establishments" (früher: Bonzen und Kapitalisten), die Kritik des Konsums, die Forderung nach Parteilichkeit als Voraussetzung für Wissenschaft, die hündischen Elemente des eigenen Lebensstils und die Rechtfertigung aller Mittel im Dienste eines guten Zweckes Bei einer gegenüber dem gebrauchten Vokabular distanzierten Analyse der Aussagen über Arbeiter erweist sich, daß es nicht um konkret auffindbare Arbeiter und deren Bedürfnisse geht, sondern um einen erst noch von Studenten zu erziehenden Arbeiter.

In den Schriften der Neomarxisten sind die Arbeiter als revolutionäre Klasse gewöhnlich abgeschrieben worden. Arbeiter erweisen sich hier und heute an der Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen interessiert, an der Vergrößerung von Wahlmöglichkeiten in ihrem Alltag, an besseren Aufstiegschancen und an sicheren Arbeitsplätzen mit einem menschlichen Betriebsklima. Auch nach den uns aus den sogenannten sozialistischen Ländern vorliegenden spärlichen Untersuchungen scheint sich zu bestätigen, was der nicht systematisch kontrollierte Eindruck nahelegt: daß bisher noch kein System erfunden ist, welches die heute existierenden Bedürfnisse von Arbeitnehmern mit mittleren und geringeren Stellungen besser befriedigt als die gemischt-wirtschaftlichen Systeme westlicher Industrie-gesellschaften. Dementsprechend schwanken die linken Studentengruppen auch, ob sie nun das Bewußtsein der Arbeiter dahingehend verändern sollten, daß er seine Interessen nicht mehr auf den Erwerb eines Autos und eines kleinen Eigenheimes richten möge, oder ob sie die Arbeiter zugunsten der Intellektuellen und Techniker als revolutionäres Subjekt abschreiben sollten. Jedenfalls wird als selbstverständlich unterstellt, daß die eigene Bedürfnisstruktur höherwertiger ist, und es wird nicht überlegt, inwiefern diese eigene Bedürfnisstruktur nur vorübergehend und selbst Produkt einer bestimmten Soziallage ist.

Ob es sich bei den Aktivisten wirklich um eine linke Bewegung im Sinne einer Förderung unserer sozialen Schichten handelt, wird vollends fragwürdig, wenn die Reaktion der Elternhäuser von Aktivisten und generell der Angehörigen der „oberen Mittelschicht" (früher: gehobenes Bürgertum) auf die Themen des sogenannten studentischen Protests analysiert wird. Umfragen geben hier nur Hinweise, und Fallstudien liegen nur aus den Vereinigten Staaten vor. Hiernach ist die Reaktion der oberen Schichten auf den „studentischen" Protest durchaus ambivalent. Abgelehnt werden die sozialistischen Modelle, und mit Entsetzen werden die Formen der Selbstdarstellung der Aktivisten registriert. In ihrer Kritik an den herrschenden Zuständen findet sich jedoch ein weites Maß an Zustimmung.

Eltern wie studierende Kinder sind oft der gleichen Meinung: Es gilt, den ganzen Menschen gegenüber der Unpersönlichkeit der Zwänge wieder herzustellen; die Faszination mit dem Wohlstand ist eine Vergeudung menschlicher Möglichkeiten; der Leistungsdruck auf Menschen wird unerträglich; die Institutionen verselbständigen sich gegenüber ihren Zwecken; der autonome Mensch, der sich dennoch freiwillig an den Zielen der Gemeinschaft orientiert, ist das Ziel der Geschichte.

Wegen der auch für Sozialwissenschaftler oft in ihrer Bedeutung schwer verständlichen Sprache der Aktivisten wird häufig übersehen, daß die in deren Äußerungen enthaltenen (oder implizierten) Beschreibungen der Gegenwart eine einseitige Version durchaus konventioneller Kritik an unserer Gegenwart, ja an den sehr alten Begleiterscheinungen westlicher Industriegesellschaften darstellen. Es klingt originell, „Fachidiot" zu sagen, und ist doch nichts anderes als eine Wiederholung der besser von Nietzsche formulierten Vorwürfe gegen den „Bildungsphilister"; es klingt originell von „Repression" und „Präformierung" zu reden, und ist doch nichts anderes als eine Wiederholung der Kulturkritik der zwanziger Jahre über die Allgegenwart gesellschaftlicher Zwänge; der mit „Manipulation" gemeinte Sachverhalt der Verbiegung des Bewußtseins dergestalt, daß es eigene Erfahrungen nicht mehr nutzen kann, ist ebenfalls ein Vorwurf recht ehrwürdigen Alters. Aktivisten meinen mit der Bezeichnung „antiautoritär" eine zeitgemäße Kennzeichnung ihrer Haltung gefunden zu haben und übersehen, daß sich so bereits die Anarcho-Syndikalisten der lateinischen Länder vor etwa hundert Jahren nannten. In der Kultur-und Gesellschaftskritik der Aktivisten unter den Studenten werden im wesentlichen nur bekannte Themen des humanistischen Protests im Bürgertum gegen die Kosten der Industriegesellschaft wieder aufgegriffen. Nicht so sehr der Sozialismus als theoretisches Gebäude, vielmehr der Neomarxismus und speziell der Anarchismus faszinieren die den politischen Sekten in den letzten Jahren hinzugewachsenen Aktivisten. Für sie erfand bereits in den zwanziger Jahren Eisner die Bezeichnung „Bürger im Marxpelz".

In den Erscheinungsformen ist der Protest der Aktivisten zunächst sehr unbürgerlich. Dies gilt bei näherer Betrachtung nicht mehr. Die Präokkupation mit Verfassungsentwürfen und der Verbriefung von Rechten statt der allmählichen Veränderung der bloßen Verfassungs-Wirklichkeit entspricht recht gut dem Akzent auf formellen Kontraktbeziehungen in den bürgerlichen Gesellschaften. Für das soge-nannte „politische Mandat" wird vor Gerichte gezogen und gegen vermutete Rechtsübertretungen von Polizisten und Universitätsinstanzen wird auch dann prozessiert, wenn selbst theoretisch laut verkündet wird, die Funktion von Regeln sei es, Studenten Gelegenheit zu geben, sie zu brechen. In der Wahl des Kampfes der Objekte orientieren sich die Aktivisten eher an den Respektssymbolen ihres Elternhauses als an wirklichen Machtzentren. Universitätsritual anzugreifen statt es schlichtweg als irrelevant zu empfinden, zeigt Respekt vor der Bedeutung traditioneller Instanzen. Lutherische Gottesdienste zu stören und die lutherische Kirche zu politischen Stellungnahmen herauszufordern, ist angesichts der bereits weit fortgeschrittenen Selbstaufgabe der evangelischen Kirche als organisierter Relegion kein besonders originelles Verhalten. Mit Obszönitäten schockieren zu wollen — was ein nicht unerheblicher Teil der Selbstdarstellung aktivistischer Studenten ist —, zeigt im Akt der Konfrontation einen Respekt vor der Bedeutung offizieller Normen. So wählen die bürgerlichen Aktivisten ein Kartenhaus der bürgerlichen Gesellschaft nach dem anderen als Angriffsobjekt und betrachten es als Erfolg, wenn diese Kartenhäuser schwanken. Und nicht zuletzt haben gerade die Aktivisten unter den Studenten ein hochentwickeltes Gefühl für Techniken der Reklame. Heutzutage kommt man als bürgererschreckender Student bei einiger Berücksichtigung der Bedürfnisse von Massenmedien nach Unterhaltungsstoff leichter zu Ruhm als ein Filmsternchen mit Mut zu Nuditäten.

Rekrutierung und Verhalten der Aktivisten des „studentischen" Protests werden verständlicher, wenn dieser Protest in seinen „antiautoritären" Ausdrucksformen als eine Dramatisierung von Ambivalenzen in Teilen des Bürgertums verstanden wird. Dieses Bürgertum kann heute die Existenz und Funktions-fähigkeit von Industriegesellschaften als eine Selbstverständlichkeit verstehen. Die Bedürfnisstruktur dieser Teile des Bürgertums verselbständigt sich gegenüber den Bedürfnissen der Vergangenheit. Die entwickelten Industriegesellschaften haben verwirklicht: Systeme der sozialen Sicherheit, weitgehende Freisetzung von bis dahin in der Geschichte als selbstverständlich unterstellten Zwängen der materiellen Not und der Verbreitung von Siechtum, zunehmende Freisetzung und Bildung wenigstens für diejenigen, denen das Elternhaus dafür die Motivation vermittelte. Und die westlichen Industriegesellschaften mit gemischtwirtschaftlichen Systemen produzieren diese Werte auf die umfänglichste Weise. Für Angehörige der oberen Mittelschichten erscheinen diese Gesellschaften als „Gesellschaften des Überflusses", die sich jetzt anderen Zielen als nur der Erhöhung von Versorgung mit individuellen Gütern zuwenden könnten und sollten In dieser Situation und für diese Schichten — nicht für die Bevölkerung insgesamt! — sind die zusätzlichen Belohnungen relativ zu den zusätzlichen Kosten, die das Leben in diesen Gesellschaften den Individuen ebenfalls auferlegt, weniger attraktiv geworden

Noch zwei weitere strukturelle Veränderungen sind anzuführen, die vornehmlich weite Teile des „gebildeten Bürgertums" treffen. Arbeit in dem Sinne, daß unterschiedlicher Erfüllung von Aufgaben eindeutig eine unterschiedliche Wirkung zugerechnet werden kann, wird zum knappen Gut gerade bei gehobenen Positionen — aber unterhalb der verantwortlichen Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Arbeit bedeutet in diesen Positionen, die weitgehend von Akademikern ausgefüllt werden, Manipulation von Symbolen für Sachen. Ein Gefühl der „Uneigentlichkeit" der Existenz scheint eine verbreitete Folge dieser strukturellen Änderungen.

Vielleicht ist jedoch die wichtigste der strukturellen Veränderungen für Angehörige der oberen Mittelschicht und eines Teiles der Oberschicht, daß ganze Teile dessen, was herkömmlich als Bildung verstanden und als Qualifikation für bevorzugte Teilnahme am Meinungsbildungs-und -entscheidungsprozeß in der Gesellschaft gewertet wurde, obsolet werden. Für einen immer größeren Bereich des menschlichen Lebens werden die zu beurteilenden Sachverhalte als technische Fragen definiert — zum Teil durchaus zu Unrecht. Ist aber ein Problem wie Wohnungsbau oder Strukturpolitik der Wirtschaft, wie Universitätsreform oder Konzentration der Presse als technisches Problem definiert, so sind „gebildete" Menschen nur noch Publikum für die Diskussion zwischen Experten.

Auf diese strukturellen Wandlungen erfolgen eine Reihe charakteristischer Reaktionen, die schon lange vor dem „studentischen" Protest zu Hauptthemen der zeitgenössischen intellektuellen Diskussion und der Kunst (vornehmlich der Literatur) wurden. Der „Uneigentlichkeit" der Existenz im Produktionsprozeß wird Suche nach Unmittelbarkeit des Lebens entgegengesetzt. Da probieren Menschen bei Frisch versuchsweise verschiedene Rollen an, die alle nur Bekleidung bleiben, oder da werden verschiedene Quellen für starke Gefühls-erlebnisse spezifiziert. Bei Herbert Marcuse mündet dies in eine Denunziation der Technik, wenn er etwa in seinem „eindimensionalen Menschen" darüber klagt, Geschlechtsverkehr im Auto sei Geschlechtsverkehr auf einer Wiese an Qualität unterlegen; und Adorno beklagt in Minima Moralia, daß maschinen-produzierte Türen und Fenster sich anders an-fühlen als handgefertigte. Entsprechend ist ein Kernstück der Adorno’schen Lehre die Vorstellung von der totalen Vermittlung des Lebens in Industriegesellschaften, das heißt der Distanz der Erfahrungen zu der „Wirklichkeit" gesellschaftlicher Existenz als Konse-guenz der Apparate.

Gerade die anarchistischen Gruppen der Aktivisten sind der Ansicht, daß nun erstmalig in der menschlichen Existenz die Vorbedingungen für ein Reich der Fülle gegeben sind und daß eine weitere Akzentuierung des Leistungsprinzips nicht mehr notwendig sei. Jetzt könne man anderen Werten den Vorrang geben, etwa der Selbstverwirklichung des Menschen den Vorrang vor der Effizienz des Arbeitsoder Studienprozesses. Die älteren Mentoren der protestierenden Studenten haben diese Vorstellung schon früher vertreten, und so findet sich im bürgerlichen Marxismus von Adorno die Auffassung, nur die Herrschaft der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte verhindere uns, aus dem Reiche der Notwendigkeiten in das Reich der Freiheit einzutreten. Es sei hinzugefügt, daß das Gefühl des Lebens in Situationen relativen Überflusses von großen Teilen der Bevölkerung aus guten Gründen nicht geteilt wird; übrigens auch nicht von der Wirtschaftswissenschaft.

Die Entwertung traditioneller Bildung zugunsten technokratischen Wissens ist durch Moralisierung von Themen zu überwinden. Für moralische Fragen sind offensichtlich alle Menschen in gleicher Weise zur Entscheidung qualifiziert. Speziell im Bereich des Politischen versuchen entsprechende Kritiker mit einer allgemeinen akademischen Bildung, möglichst alle Streitfragen in moralische Fragen umzuwandeln. Unterschwellig — also von den Beteiligten selbst nicht auf diese Weise verstanden — kann dies als ein Kampf zwischen zwei Arten von Qualifikationen um die Vorherrschaft angesehen werden — oder wie C. -P. Snow es formuliert: als Kampf zweier Kulturen. Demgemäß sind studentische Revolten nicht an Politik als Zuweisung knapper Ressourcen nach Wertentscheidungen oder allgemeinen Präferenzskalen orientiert, und an Teilnahme an der Politik als Verwaltung von Institutionen sind studentische Aktivisten erst recht nicht interessiert. Bei allem Gerede über das Zunehmen des Interesses „der Jugend" an politischen Fragen hat dies nicht die Form der normalen Beteiligung an Politik. An den Möglichkeiten der demokratischen Selbstverwaltung sind beispielsweise die heutigen Studenten nicht mehr interessiert als ihre Vorgänger vor 10 oder 15 Jahren. Interesse an Politik heißt hier Suche nach mora-lisierungsfähigen Themen.

Was sich als Revolte der Studenten versteht, ist inhaltlich in Wirklichkeit-eine Kultur-revolution mit Themen, die vorwiegend der Situation gehobener Gesellschaftschichten angemessen sind, mit den Theoremen vorwiegend der zwanziger Jahre und mit der Ausdrucksform des heutigen, als Bürgerschreck gemeinten Kunstgewerbes. In dieser Zerrspiegelung der bekannten Themen einer Malaise an gesellschaftlicher Existenz als solcher erscheinen die Aktivisten dem Bürgertum als zugleich abstoßend und interessant. Die Relevanz des Protests für die eigene erwachsene Person kann abgeschwächt werden mit dem Hinweis, daß hier Teilwahrheiten vertreten würden, daß man aber selbst sehr wohl um seine Verantwortung und um positive Werte des gegenwärtigen Lebens im relativen Wohlstand und mit Familie wisse. Demgegenüber reagiert dann „die studentische Jugend" mit: „Die Konsumtüchtigkeit und die Besitztums-manie ihrer Väter öden sie an. Es ekelt ihnen vor der Verlogenheit deren, die ihre Vorbilder sein sollten." Insofern also nichts Neues an der Front der heutigen Kulturrevolution.

Neu und von möglicher Relevanz ist die Intensität der bürgerlichen Malaise, die sich im Protest ihrer studentischen Kinder ausdrückt. Die konventionelle Weisheit sieht Gesellschaften als Sozialsysteme bei sozialen Katastrophen als gefährdet an. Die heutigen Proteste und das Ansteigen des allgemeinen so-genannten Unbehagens ereignen sich aber in Situationen, die keinesfalls manifest krisenhaft sind. Gerade in dieser Windstille werden Forderungen erhoben, die mit den üblichen materiellen Belohnungen nicht pazifiziert werden können. Im Verständnis der Politiker wird das System der liberalen Demokratie in erster Linie durch das Unmaß materieller Forderungen von allen Seiten, insbesondere durch organisierte Interessen, gefährdet; diese Forderungen und die sich aus ihnen ergebenden Gegensätze sind jedoch durch materielle Belohnungen zu befriedigen. In der bürgerlichen Kulturrevolution wollen Individuen jedoch dem Daseinsdruck entrinnen und nicht zuletzt alle Formen der Gefährdung der einmal erreichten Position durch pauschale Verurteilung des Leistungsprinzips als Zuweisungssystem abbauen. Es kann hier nicht entschieden werden, ob hier eine soziale Gruppe für einige Zeit stellvertretend durch ihre ungebärdigen Kinder eine Abschiedsvorstellung gibt oder ob hier im eigenen Interesse die Gesellschaft „umfunktioniert" wird; das erstere ist allerdings wahrscheinlicher. Sicherlich wird dieser Machtkampf, der sich als Konfrontation der Gesellschaft mit einer höherwertigen Moral ausgibt nicht in erster Linie durch innenpolitische Prozesse entschieden.

Möglich ist zwar, daß sich diese stellvertretenden Konflikte nur so lange manifestieren, bis wieder ernsthafte politische Streitfragen auf-treten; wahrscheinlicher ist es meiner Ansicht nach, daß die Bedeutung des „studentischen" Protestes sein Charakter als Indiz für eine in Zukunft bedeutsame Spannungslinie in den Gesellschaften mit relativem Überfluß ist. d) Zum Charakter der Subkultur des Protests Einer der für distanzierte Beobachter — beispielsweise ausländische Betrachter — verblüffendsten Aspekte der gegenwärtigen Revolte studentischer Aktivisten ist deren Feindschaft gegen den Liberalismus und jeglicher Form von Pluralismus und Toleranz für abweichende Auffassungen. Viele der Themen dieser Revolte sind liberalen Forderungen mindestens verwandt, so daß eher ein Bündnis mit Liberalen zu erwarten wäre, bedeuteten Worte wirklich das, was sie im alltäglichen Gebrauch sonst bedeuten.

Da wird jedoch von Marburger Studenten die Entfernung von Professoren aus dem Amt gefordert, die sich gegen Forderungen der studentischen Aktivisten wenden; Frankfurter Soziologie-Studenten forderten den Ausschluß des Rektors Ruegg aus der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, weil er ihr Verhalten mit dem von faschistischen Gruppen verglich; der Verbandsvorsitzende des SDS Wolff will nach seiner Darstellung in „Die Zeit" nur noch Wissenschaft erlauben, die auf der Grundlage marxistischer Anschauungen betrieben wird In der Anwendung physischer Gewalt waren die Aktivisten an Hochschulen der Bundesrepublik bisher noch zurückhaltend; an Intoleranz gegenüber abweichenden Ansichten übertreffen sie die Studierenden in den USA, Frankreich und England. Niederschreien abweichender Meinungen, lügnerische Behauptungen, Brechen von Vertrauensverhältnissen, Hetze gegen einzelne zu Haßfiguren stilisierte Personen — all dies gehört auch zum „studentischen Protest".

In vielen Diskussionen scheinen Aktivisten eher besorgt, ja nur Gründe zum Abbruch des Gesprächs zu finden, als darum bemüht, ihre Kontrahenten zu verstehen. An Bereitschaft zur bedenkenlosen Manipulation übertreffen Studentenzeitungen viele von ihnen bekämpfte Zeitungen. Die häufigsten Diskussionen über die Situationen, in denen Gewaltanwendung durch Studenten gerechtfertigt sei, klingen wie Suche nach Gründen für die Anwendung eigener Gewalt. Todesopfer durch Studenten werden von einigen Aktivisten nicht als moralische Belastung verstanden (siehe die Äußerung des APO-Vertreters Mahler, der die Todesopfer mit platzenden Autoreifen als Alltagsrisiko vergleicht). Keine der Redewendungen von Marcuse wurde unter Aktivisten so populär, wie die von der „repressiven Toleranz", der die Revolutionäre die offene Intoleranz entgegenzusetzen hätten.

Angesichts der Erscheinungsformen ist es verständlich, wenn Außenseiter oder Betroffene emotional reagieren oder wenn die Kritik der Protestbewegung auf die moralische und menschliche Minderwertigkeit einiger ihrer Vertreter verweist. Sicherlich besteht ein riesiger Unterschied zwischen moralischem Anspruch und der Protestbewegung als einer Realität; aber dies ist für die Wirksamkeit nicht entscheidend. Für extremistische Bewegungen ist allgemein charakteristisch, daß sie überproportional Personen anziehen, die sozial oder nach ihrer Persönlichkeitsstruktur marginal sind. Vielleicht ist dieser Prozentsatz abweichender Personen unter den Aktivisten dieser Bewegung besonders hoch, aber dies kann als Kritik lediglich die gesellschaftliche Wirksamkeit dieser Gruppen beeinflussen, nicht die Kerngruppen selbst. Wie üblich fühlen sich auch hier die Träger der Protest-bewegung durch die Berufung auf anerkannt höherwertige Ziele zu abweichendem Verhalten und zur Verletzung ziviler Formen menschlichen Zusammenlebens als Dienst an der guten Sache gerechtfertigt.

Erwägenswert ist jedoch die Frage von Habermas, ob wir es hier mit einer Form von linkem Faschismus zu tun haben. Mir selbst scheint, daß eine Zustimmung einer solchen Ausweitung des Begriffs Faschismus gleichkäme, daß er den Rest an Nutzen zur Kennzeichnung von sozialen Bewegungen verliert, den er noch hat Eher ist die Kennzeichnung „autoritär" angebracht. Ein Teil dieses autoritären Charakters einer Protestbewegung, die sich als Dienst an antiautoritären Zielen versteht, erklärt sich aus dem üblichen moralischen Rigorismus der Jugend; Jugend ist Moral, sagt beispielsweise Piaget. Der autoritäre Charakter, den die Bewegung der sich „antiautoritär" Nennenden gegenüber den ihr nicht Angehörigen demonstriert, erklärt sich jedoch auch aus dem defensiven Charakter dieser Bewegungen als Verteidigungsbewegung des gebildeten Bürgertums. Beide Faktoren ergeben in der Kumulation eine Barbarisierung des Alltags in all den Bereichen, auf welche diese Gruppen Einfluß nehmen können.

Für eine Sekte ist die Erzeugung von Antagonismus durchaus funktional. Aktive Gegnerschaft verstärkt ceteris paribus den internen Zusammenhalt, während Nichtbeachtung oder Verachtung interne Selbstzerfleischung begünstigt Will eine solche Sekte, wie sie von den Aktivisten noch dargestellt wird, jedoch die für die eigene Existenz riskante Situation der Isolierung vermeiden, bedarf sie der Zustimmung eines relevanten Publikums. Dies sind zunächst die Studenten allgemein und in zweiter Linie Jugendliche als eine neue soziale Schicht. Dies ist real ein praktikables Ziel, und manche irrational scheinenden Handlungen erscheinen unter dieser Perspektive funktional. Habermas kritisiert den Realitätsverlust bei den Aktivisten des Protests, und dies ist zum Teil eine verständliche Diagnose. Im Vergleich zu einem 24jährigen Arbeiter ist allerdings ein 24jähriger Student ein Analphabet der Realität.

An einer Universität eine Inschrift mit den Worten „Karl-Marx-Universität" anzubringen ist selbstverständlich etwas anderes als die Umgestaltung einer Universität. Beides miteinander zu verwechseln entspricht tatsächlich, wie Habermas anmerkt, den Kriterien für Wahnvorstellungen als einer Verwechslung von Realität und Symbol. Der geringe Realitätsgehalt der „studentischen" Protestbewegung, ihre eher symbolische und verzerrte Wiedergabe realer Themen, ist jedoch angesichts der tragenden Gruppen weder verwunderlich noch bedeutsam für den Versuch, eine Art von Jugendkultur des Protests mit intellektuellem Prestige zu versehen. Auf letzteres kommt es den Aktivisten in erster Linie an.

Der Institutionalisierung einer Jugendkultur des Protestes dienen auch Pop-Art, Obzönitä-ten und Privat] argon — vorausgesetzt, die Älteren reagieren schockiert. Eine Bewegung, die ambitioniert eine allgemeine Bewegung der Jugend zu werden, muß Symbole finden, welche Altersgruppen voneinander trennen. Eine solche Bewegung benötigt auch eine Ideologie, welche die Höherwertigkeit jugendlicher Existenz und speziell der Aussagen von Stu--deuten postuliert und damit Kritik von Außen-stehenden a priori abwertet. Die Behauptung eines privilegierten Zugangs zu Wahrheit ist für Sekten notwendig, wollen sie gegen sachliche Argumente abgeschirmt sein. Welches Prestige dieser eigene Stil gewinnt, hängt nicht zuletzt von den Massenmedien und der Reaktion akzeptierter Autoritäten ab.

Nähme man diese Bewegung unter Studenten bei ihren Worten, so wäre zunächst nicht einzusehen, warum diese Aktivisten für sich die Bezeichnung Soziologen oder für ihre Aussagen die Kennzeichnung wissenschaftlich in Anspruch nehmen möchten In Anbetracht der Kritik an der „bürgerlichen Wissenschaft" könnte es doch ausreichen, sich als Neomarxisten zu bezeichnen (obgleich die Bezeichnung „Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft" genauer wäre). Angesichts des Prestiges der Wissenschaft im Bürgertum ist es jedoch folgerichtig, für sich selbst irgendeine Wissenschaftsbezeichnung zu usurpieren. Hier liegen offensichtliche Analogien zu der Geschäftsleute-Religion „Christian Science" vor. Die Bedeutung einer solchen Prestige-Bezeichnung für den Kampf um Macht hat bereits Pareto gekennzeichnet: „Der Zweck der Derivationen (— Begründungen, Ideologien) ist dem Bewußtsein dessen, der etwas beweisen will, fast stets gegenwärtig, wenn er auch häufig von dem, der die Schlußfolgerung der Derivation bejaht, nicht registriert wird. Wenn der Zweck eine bestimmte Richtschnur ist, die man rechtfertigen will, so bemüht man sich, sie mit bestimmten Residuen (= Gefühlen), mit mehr oder weniger logischen Überlegungen zu verknüpfen, und ist bestrebt, hauptsächlich das Bedürfnis nach logischen Begründungen derer, die überzeugt werden sollen, zu befriedigen. . . übrigens kann es auch in diesem Falle, wenn die irrigen Prämissen durch andere ersetzt werden, sich ergeben, daß die Schlußfolgerung Bestand behält. Hingegen werden in den nicht wissenschaftlichen Überlegungen die fallen-gelassenen Prämissen gewöhnlich durch andere ersetzt. Es ist eigentlich die Ausnahme, daß ein solcher Ersatz nicht stattfindet . . . beim wissenschaftlichen Denken entfällt die Schlußfolgerung, wenn man beweisen kann, daß sie nicht logisch aus den Prämissen folgt. Dagegen tritt beim nichtwissenschaftlichen Denken, kaum daß man eine Form der Derivation (= Begründung) zerstört hat, eine neue an ihre Stelle.

Das einfache Volk ist von seinem christlichen Katechismus überzeugt, nicht von subtilen theologischen Untersuchungen. Diese erzielen lediglich eine indirekte Wirkung, d. h. das Volk bewundert sie, ohne sie zu verstehen, und diese Bewunderung verleiht ihnen Autorität, die sich auf die Schlußfolgerung ausdehnt."

Die Berufung auf intellektuelle Stammväter wie Karl Marx oder auf eine Disziplin wie Soziologie hat diese Funktion, den Aktivisten ein Prestige zu verleihen, das sie als Personen und aufgrund ihrer Erfahrungen nicht hätten. Ob dieses geborgte Prestige erfolgreich geltend gemacht werden kann, hängt weitgehend von der Reaktion von Personen und Institutionen mit „etablierter" Stellung ab. Darin liegt die Bedeutung der Versuche von Aktivisten, von älteren Philosophen wie J. P. Sartre, H. Marcuse, Th. W. Adorno, B. Russell, oder E. Bloch anerkannt zu werden und Institutionen mit Prestige, aber begrenzter gesellschaftlicher Relevanz (wie einige sozialwissenschaftliche Universitätsinstitute) „umzufunktionieren" in Operationsbasen.

3. Die Mobilisierbarkeit von Jugendlichen für den „studentischen" Protest

Ein Grund für die begrenzte Bedeutung welche die Aktivisten (im Gegensatz zu den Sektierern der ersten Stunde) heute haben, ist die Ambivalenz eines Teils der Intellektuellen und insbesondere des gebildeten Bürgertums gegenüber den Themen dieser Gruppen. Bedeutsam für die Abschirmung gegenüber Folgen von Provokationen ist die soziale Herkunft: diese Aktivisten kommen zu einem erheblichen Prozentsatz aus angesehenen Familien. Diese Kombination von Eigenschaften macht es gerade für das von den Aktivisten so sehr geschmähte Establishment schwierig, zu einer einheitlichen Einstellung zu kommen. Ihre aktuelle Bedeutung erhalten die Aktivisten jedoch aufgrund struktureller Wandlungen in der Situation der Jugend. Diese Wandlungen lassen in allen entwickelten Industrie-gesellschaften den Übergang vom Status Jugendlicher zum Status Erwachsener immer krisenhafter werden — je höher der Lebensstandard eines Landes, um so krisenhafter.

Weltweit scheint heute in den Industriegesellschaften mit den verschiedensten politischen Organisationsformen die Sozialisierung in die Rolle „Erwachsener" immer häufiger zu mißlingen. In der Zeit seit Ende des Koreakrieges ereigneten sich verschiedene Protestwellen, die jeweils zu ihrer Zeit stark beachtet, aber nach Abklingen ebenso schnell vergessen wurden. Ende der fünfziger Jahre kam es beispielsweise in der Bundesrepublik zu Konfrontationen zwischen Jugendlichen und Polizei, die unter dem Namen „Halbstarkenkrawalle" ziemliche Erregung verursachten und bis heute nicht zureichend erklärt wurden. Anläßlich eines Auftretens von Bill Haley im Berliner Sportpalast im Jahre 1958 gab es einen Massenkrawall, für den sich Jugendliche mit Knüppeln bewaffnet hatten Man sprach zu dieser Zeit von „Rebeis without a cause" — von Rebellen ohne Ziel. Diesen Affekten ist jetzt eine Zielrichtung gegeben worden. Nicht die Affekte sind neu, sondern deren politisch klingende Ausrichtung durch die Aktivisten.

In der sozialwissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Berichte über die Distanz Jugendlicher zu ihrer Umwelt und den geringen Enthusiasmus gegenüber der Erwartung, den Status Jugendlicher aufgeben zu müssen. Gelegentlich wird aus solchen Befunden der Schluß gezogen, Jugendliche seien die eigentlich „entfremdete" Gruppe in unseren Gesellschaften Jugend war schon immer in den letzten 150 Jahren eine Situation mit starken Spannungen und unsicherer Selbst-definition. Zunehmend seit der Jahrhundertwende wird zunächst der Selbstwert der Existenz des Jugendlichen betont und schließlich der Jugendliche als der noch nicht „gesellschaftlich Verdorbene" dieser Zeit glorifiziert. Damit geht eine Tendenz zur Ausbildung einer eigenen Jugendkultur einher, die sich durch eigene Sprache, Kleidung, Musik und Ritualen zu einer Freizeitkultur sui generis gegenüber der Erwachsenenwelt verselbständigt.

So sehr Jugend als Zustand glorifiziert wird: Konkret sind Jugendliche mit der Kombination altersspezifischer Eigenschaften heute in den hoch differenzierten Gesellschaften in erster Linie als Konsumenten nützlich, und hier wiederum als die am leichtesten mobilisierbare Gruppe für neue Konsumstile und -rich-tungen. Die Verselbständigung der Jugend ist entsprechend überall von mäßig starken Gefühlen der Malaise begleitet.

Wird von Jugendlichen allgemein gesprochen, so liegt es nahe, diese Entwicklung zu dramatisieren. Die Verselbständigung der Jugend-kultur gegenüber der Welt der Erwachsenen ist nur für einige Verhaltensbereiche und in einigen Teilgruppen weit fortgeschritten. Sonst reproduzieren sich innerhalb der Altersgruppen 16— 25 Jahre die Unterschiede der Elternhäuser auch bei den Jugendlichen selbst. Dies galt bisher auch für Ansichten über Politik. Erst mit der Definition bestimmter Themen und Ansichten als „Ansichten der Jugend" bildet sich eine Anti-Politik heraus analog der Ausbildung eines bestimmten Musik-geschmacks als „Musik der Jugend" oder eines von der Pop-Art beeinflußten Kleidungsstils als Uniform der Jugend. Sobald irgendein Bereich für expressives Verhalten als charakteristischer Ausdruck der Jugend hingestellt werden kann, wird er funktional für die Selbstdarstellung der Jugend — wie Miniröcke oder Beatmusik. Einige wie Sozialismus klingende Aussagen und einige provokante Verhaltensweisen werden nun von den Aktivisten und mit Hilfe der Massenmedien als Themen der Jugendkultur stilisiert. Anti-Vietnam-Proteste haben für viele Beteiligte den gleichen politischen Gehalt wie Schockfarben oder eine abweichende Haartracht: nämlich keinen.

IFAK ermittelte Anfang 1968, daß 650/0 aller Berufsschüler und sogar 74 % aller Studenten Proteste als Ausdrucksform für Ansichten der Jugendlichen bejahten. Tatsächlich nimmt an Demonstrationen nur eine Minderheit teil — vielleicht 3— 5 % der Jugendlichen im Verlauf von zwei Jahren Aber der Protest als Form der Selbstdarstellung beginnt Teil der Jugend-kultur zu werden. Ob er dies wirklich wird, das ist weitgehend eine Frage der effektiveren Propaganda, da es sich hier nicht um politisch gemeintes Verhalten handelt, das nach einer Ausdrucksform sucht, sondern um eine Ausdrucksform, der ein Inhalt gegeben wird.

Viel weiter fortgeschritten ist die Institutionalisierung des Protests unter den Studenten, und hier beginnt sich auch allmählich das Denken an das neue Verhalten anzupassen Ein Beispiel findet sich in einer Befragung von Studenten während des Wintersemesters 1967/68 „Wenn Sie an die gegenwärtige weltpolitische Lage denken, welche Länder würden Sie dann als Diktatur bezeichnen?" hieß die Fragestellung. Mit dem Wort Diktatur assozierten spontan 40 % aller Jugendlichen, aber nur 23 % der Studenten die UdSSR; 33 °/o aller Jugendlichen, aber nur 26 % der Studenten, die DDR. Demgegenüber nannten 72 °/o aller Studenten spontan Spanien, aber lediglich 34 % der Jugendlichen allgemein. Griechenland wurde spontan von 60 % aller Studenten, aber nur von 26 0/0 aller Jugendlichen als Diktatur genannt. Heute sehen die Studenten zu einem erheblichen Teil die Länder der „westlichen“ Welt kritischer als die des Ostblocks, während für die Jugend allgemein noch das Umgekehrte gilt.

Wiederum muß davor gewarnt werden, solche Schwerpunkte in den Unterschieden des Denkens und Verhaltens verschiedener Gruppen zu verabsolutieren. In der großen Mehrzahl aller Fragestellungen gab die ganz überwiegende Zahl aller Studenten recht konventionelle Antworten — jeweils gemessen an den entsprechenden Untergruppen der Älteren. Studenten meinen, Führungspositionen in Wirtschaft, Kultur und Politik seien am besten mit Akademikern besetzt, bejahen eine besondere Verpflichtung des Akademikers, ein Vorbild zu sein, rechnen sich überwiegend zur Mittelschicht oder zum Mittelstand (!), bejahen ganz überwiegend die parlamentarische Demokratie, denken bei der Verteidigung von bürgerlichen Freiheiten an juristische Möglichkeiten (nur lO°/o erwähnten spontan Demonstrationen) und wenden sich noch stärker als die Bevölkerung allgemein gegen die Anwendung von Gewalt bei Konflikten Politik wird in sehr hohem Maße als wichtig für die eigene Existenz empfunden — aber selbst dies entspricht nur der sehr viel stärkeren Politisierung der Elternhäuser von Studenten im Vergleich zur Bevölkerung allgemein. Die Richtung der politischen Orientierung ist jedoch anders: man versteht sich mehrheitlich als „links" und ist in der Parteipräferenz linker als die Bevölkerung oder Jugendliche vergleichbaren Alters Und Studenten erklären sich auch bereiter, sich durch Mitgliedschaft in Parteien aktiv zu engagieren.

Wie sich diese Bereitschaft zum Engagement an Politik in einem Augenblick auswirkt, in dem Politik durch Berufspolitiker wenig interessant geworden ist, bleibt abzuwarten. Gäbe es eine größere Tradition der Selbstverwaltung in Deutschland und gut organisierte studentische Gruppen, die sich an den Universitäten als Interessenvertreter analog den Gewerkschaften verstünden, so könnte sich diese Bereitschaft zum Engagement in einer Demokratisierung der Hochschule ausdrücken. Die Möglichkeiten zum Engagement in der „Berufspolitik" erscheinen gegenwärtig nicht sehr attraktiv. In dieser Situation hat eine relativ kleine Gruppe von Aktivisten, die als einzige eine Lehre anbietet, die eine jeg-liehe Erscheinung in der Gesellschaft als Teil eines „Systems" versteht und in den Formen Verhaltensweisen anbietet, welche die Generationen trennen, zunächst einen gewissen Vorsprung vor anderen Gruppen. Jedenfalls besteht sonst teilweise ein Vakuum, das durch bloß diskutierende Beteiligung nicht zureichend ausgefüllt wird.

Eine Untersuchung der von Studenten bejahten allgemeinen Werte zeigt eine ziemliche Widersprüchlichkeit. In Übereinstimmung mit den Jugendlichen allgemein sind Aufstiegs-wünsche — aber nur relativ begrenzten Umfangs! —-vorhanden, wird Beruf bejaht und ist die Risikofreudigkeit begrenzt Wirtschaftliche Fragen interessieren weniger als unter Jugendlichen sonst oder in der Bevölkerung allgemein; demgegenüber ist das Interesse an überindividuell bedeutsamen Fragen größer Etwa die Hälfte empfindet das Studium nicht als eine besonders glückliche Zeit in ihrem Leben; überwiegend werden die konkreten Verhältnisse an der Universität mit temperiertem Mißfallen beurteilt Auf dieser Ebene der Betrachtung ist keine hohe Ideologisierung der eigenen Existenz, der Vorstellungen über Gesellschaft oder politischer Fragen zu beobachten. In einer von den einzelnen Indizien abgelösten Interpretation der Befunde kann die Gefühlslage der ganz überwiegenden Mehrheit als die von „temperiert interessierten Berufstätigen" mit großem Interesse an solchen öffentlichen Angelegenheiten gekennzeichnet werden, die sich mit Wertungen verbinden lassen.

Die Mobilisierbarkeit der Studenten durch Aktivisten beruht eindeutig nicht auf einer weitgehenden Übereinstimmung der Vorstellungen mit denen der extremistischen Studentengruppen. Wenn Übereinstimmung vorliegt, dann ist diese im Bereich der eigentlich politischen Ideologie noch am geringsten und sehr viel größer in den allgemeinen Wertungen und in der geringen Zufriedenheit mit dem Leben. Gegenwärtig scheint sehr vielen Studenten das Leben keine große Freude zu machen — ohne daß sich dies zu einer ausgesprochenen Malaise verfestigt hätte. Mobilisierbarkeit nennenswerter Teile der Studentenschaft hängt innerhalb struktureller Bedingungen nicht von ideologischen Konversionen ab, sondern von der Wahl der „richtigen" Themen, von einer emotional bedeutsamen Form für Protest und ganz besonders von der Möglichkeit, diesen Protest als Protest „der" Studentenschaft erscheinen zu lassen.

Bereits diese Faktoren können Aktivisten nur begrenzt kontrollieren. Durch Aktivismus, speziell durch Erfindungsreichtum in den Formen von Protest und Konfrontation, können die Aktivisten die an sich bestehende Gleichgültigkeit gegenüber ihren Zielen und Lebensformen vorübergehend überwinden. Wird diese Schraube überdreht, so sind an sich auch die Bedingungen für eine Gegenbewegung gegeben. Im langfristigen Trend ist aber zu erwarten, daß Studenten mobilisierbarer für Proteste gegen den Status quo im öffentlichen Bereich als in den letzten Jahrzehnten bleiben werden. Dies ergibt sich aus Veränderungen in der Situation der Jugend in hochentwickelten Industrieländern heute und aus Besonderheiten der Situation des angehenden Akademikers. Wichtig für die Kritikbereitschaft an der gegenwärtigen Gesellschaft ist die Tatsache, daß die Jugendlichen in einen Zustand relativen Wohlstands hineingeboren wurden. Maßstab ist nicht mehr die frühere, schlechtere Zeit; Maßstab sind die denkmöglichen besseren Zustände. Entsprechend ist auch für die jungen Menschen die Angst vor den Konsequenzen des Zerbrechens von Ordnung sehr viel geringer als im Rest der Bevölkerung — und dies ist vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen den Generationen.

Hinzu kommt, daß Jugend heute im Vergleich zum späteren Status als junger Erwachsener mit relativ hoher Konsumkraft und hohem Grad an persönlicher Freiheit verbunden ist. Übergang in den Status des Erwachsenen bedeutet heute für Jugendliche der Mittel-und Oberschichten einen vorübergehenden Verlust an Status, an Konsumkraft und nicht zuletzt an Freiheit. Es ist fraglich, ob die mit dem Übergang in den Status Erwachsener verbundenen Belohnungen, wie die emotionalen und sachlichen Vorteile aus der Rolle Ehegatte, als wirklich ausreichende Kompensation angesehen werden. Diese Ambivalenz gegenüber der eigenen Zukunft wird durch die Risiken beim Übergang in die Berufswelt für diejenigen noch verstärkt, die wie die Studenten relativ spät ihre Karriere beginnen. Das Er-gebnis ist eine gewisse Existenzangst, die sich speziell unter den Aktivisten des Protests bis zu extremen Formen steigern kann.

Diese Faktoren sind für Studenten bedeutsamer als für Jugendliche allgemein. Hinzu kommen nun die Bedingungen des Studiums an den heutigen Massenuniversitäten. Die Lehrintensität ist an den Massenfächern und den rasch wachsenden Fächern besonders gering; und diese Fächer (Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Politologie) sind diejenigen, an denen Protest-bewegungen auf größere Sympathie stoßen. Hinzu kommen noch zwei weitere Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß sich die Mobilisierbarkeit der Studenten in bestimmten Fächern erhöht: Je weniger in Fach auf eine bestimmte Berufstätigkeit hin angelegt ist, je mehr es also die Strukturierung der Existenz nach Abschluß des Studiums offenläßt, um so größer ist in allen Industrieländern die Mobilisierbarkeit dieser Studenten; je peripherer die einem Fach immanenten Wertungen für das effiziente Funktionieren von Industriegesellschaften sind, um so größer die Mobilisierbarkeit der Studenten. Selbstauswahl der Studenten dieser Fächer und die Wirkung der Fächer selbst scheinen dabei eine kumulative Wirkung zu besitzen

Bisher wurden einige Faktoren des Status Jugendlicher und der Existenz an Universitäten erwähnt, die mit der Bereitschaft verbunden sind, sich für Proteste im Namen der Studenten mobilisieren zu lassen. Hinzu kommen spezifische Situationen in der Politik. Bedeutsam ist hier die Art der Organisation politischer Streitfragen in entwickelten Industriegesellschaften des Westens. In all diesen Ländern sind die vermittelnden Instanzen in der emotionalen Anbindung ihrer Mitglieder weniger effektiv geworden, als sie es früher waren (z. B. Kirchen, Gewerkschaften). Das Aushandeln von Streitfragen bietet weniger Möglichkeiten, sich mit Positionen rückhaltlos zu identifizieren. Die wichtigsten sozialen Probleme und Konflikte (z. B. regionale Strukturpolitik, Strukturpolitik der Wirtschaft, Fragen der militärischen Sicherheit, speziell in den USA die Probleme der Integration der Negerbevölkerung) führen zu Koalitionen quer durch die Parteien oder werden technokratisch behandelt. Damit ist ein Markt für solche Gruppen gegeben, die Einzelfragen her-voiheben und als Probleme formulieren, an denen sich die Menschen in „gute" und „böse" unterscheiden lassen. Politik als Entscheidungen nach Präferenzsystemen innerhalb eines gegebenen Rahmens und Politik als unbedingtes moralisches Engegement mit bestimmten Positionen lösen sich voneinander.

An sich böten auch die hoch differenzierten Gesellschaften für ein solches Engagement noch Ausdrucksformen, die nicht Gesellschaft insgesamt in Frage stellen — nämlich in der Form einer qualifizierten öffentlichen Meinung, die als Ombudsman Widersprüche zwischen Selbstanspruch und konkretem Verhalten von politischen Instanzen und von Behörden aufgreift. Erklärungsbedürftig bleibt, warum Studenten für diese Funktion nicht recht mobilisierbar sind und sich eher für Konfrontationen mit absolutistischem Anspruch aktivieren lassen. Die wahrscheinlichste Erklärung ist die Temperiertheit des öffentlichen Lebens und seiner Streitfragen. Studenten erfüllen in diesem Augenblick eine Ersatzfunktion: Weltanschauungspolitik im Goldfischglas der Universität.

4. Die Reaktion der Bevölkerung

Die Aktivisten unter den Studenten stellen die Bevölkerung als eine undifferenzierte, träge und im wesentlichen den Studenten feindliche Masse dar Das Bild einer „aufgeklärten" Minderheit der Studenten trifft schon für diese selbst nicht zu; die Reaktionsweisen und die Einstellungen sind unter den Studierenden durchaus unterschiedlich. Erst recht gilt diese Differenzierung für die Reaktionen der Bevölkerung.

Für die Aktivisten sind Darstellungen über die Reaktionen der Bevölkerung aus zwei Gründen wichtig: Darstellung der Erwachsenen als grundsätzlich unverständig dient der Herstellung von Solidarität unter Jugendlichen als einer neuen „Schicht"; und die Reaktionen von qualifizierten Minderheiten unter den Erwachsenen sind entscheidend für die Wirksamkeit der Aktivisten selbst. Prestigefiguren oder -institutionen werden als Beweis benötigt, daß es sich hier um ernst zu nehmende Gruppen handelt. Demgegenüber wird Kritik bei den Gruppen, die wie der SDS die eigene Bedeutung aus der Richtigkeit ihrer Welterklärung ableiten, auch dann als Schädigung empfunden, wenn sie von einem in der theoretischen Orientierung dem SDS so nahestehenden Soziologen wie Habermas kommt. Gerade die extremistischen Gruppen beachten mit größter Aufmerksamkeit die Massenmedien und versuchen sich als die Sprecher der „studentischen Jugend" hinzustellen. Diese public relations Techniken waren bisher von einigem Erfolg, um als Gruppe überhaupt bemerkt zu werden. Es dürfte kaum eine Personengruppe in der Bundesrepublik geben, die mit einer so geringen Mitgliedschaft ein solches Maß an öffentlicher Beachtung fand wie der SDS. Allerdings geschah dies auch unter Mithilfe konservativer Kreise, die durch Darstellung kritischer Einstellungen in ihrer extremistischen Form, einschließlich der Hervorhebung des Exotismus von Kommunarden, Kritik und Reformbemühungen diskreditiert.

Das manipulative Interesse an den Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Proteste unter den Studenten verstellt den Blick für die Vielfalt der Einstellungen, die bei aller Vielfalt dennoch einigen einfachen Determinanten folgt.

Zunächst ist die große Aufmerksamkeit der allgemeinen Öffentlichkeit für die Aktionen der Studenten festzustellen. Schon vor den Osterunruhen gaben 74 °/o der Bevölkerung an, diesen Vorgängen zu folgen, und zwar in erster Linie deren Darstellung im Fernsehen Die Unterschiede nach Schulbildung waren hierbei stark ausgeprägt, und am wenigsten Interesse für diese Vorgänge bekundeten die Gruppen, die mit den Studenten in ihrer sozialen Lage auch am wenigsten gemein haben: Volksschüler, Arbeiter und Landwirte.

Die Osterunruhen haben die Aufmerksamkeit noch weiter gesteigert, aber dennoch bleibt als zweite Voraussetzung für die Reaktion in der Öffentlichkeit hervorzuheben, daß der Informationsgrad über den Inhalt der Proteste relativ niedrig ist. Selbst die Osterunruhen wurden von 33 °/o als Demonstrationen für Hochschulfragen verstanden, während 40 % überhaupt keine Angaben über Absichten und Ziele machen konnten; nur kleine Minderheiten brachten die Demonstrationen der Ostertage in Verbindung mit allgemein politischen Zielen wie Protesten gegen Notstandsgesetze oder gegen den Springerkonzern Große Aufmerksamkeit bei geringer Information: Diese Kombination von Faktoren deutet darauf hin, daß die Einstellung der Öffentlichkeit sich erst zu strukturieren beginnt. Würde der SDS weiter die Zielsetzungen und den Stil der Konfrontationen bestimmen, so läßt sich voraussagen, daß erst dann eintreten wird, was in der Darstellung der extremistischen Gruppen heute schon die Einstellung der „Erwachsenen" sein soll: überwiegend Feindschaft. So lange der Protest nämlich als auf Reformen der Hochschulen gerichtet angesehen wurde, herrscht eine milde Sympathie vor. Diese kann als Ergebnis zweier Faktoren verstanden werden: Zunächst darf in pluralistischen Gesellschaften ein jeder innerhalb seines Teilbereichs mit erheblicher Autonomie gegenüber öffentlicher Kritik aktiv werden; unter Akademikern selbst herrscht zudem die Vorstellung von der Reformbedürftigkeit der Hochschulen vor Wird der aktive Protest jedoch mit Versuchen zur allgemeinen Veränderung der Gesellschaft in Verbindung gebracht, so steigt die Ablehnung. Daß sich die Vorstellung, bei den Protestaktionen ginge es vornehmlich um Hochschulfragen, entgegen den erklärten Zielen der Aktivisten so lange halten kann, erklärt sich wohl teilweise daraus, daß die alternative Vorstellung einer Umwälzung der Gesellschaft durch Studenten zunächst einmal als zu weit hergeholt anmuten muß.

Die Osterunruhen führten zu einem nennenswerten Verlust an Sympathien für die Proteste im Namen der Studenten. Vor den Osterunruhen 1968 waren in der Bevölkerung etwa drei gleich große Gruppen von Einstellungen zu beobachten: Proteste als ein zu begrüßender „frischer Wind" in unserer Gesellschaft (33 %), als eine Gefahr (32 0/o) oder als ein Phänomen, das man noch nicht eindeutig mit einer dieser Alternativen verbinden konnte oder wollte (35%). Nach den Osterunruhen war die Zahl derjenigen, die in diesen Protesten eine gefährliche Entwicklung sahen, um 12 % auf 44 % angestiegen. Zugleich stieg diejenige, die Proteste als „frischen Wind" begrüßten nur um 6 % auf 39 %. Der noch verbleibende Anteil von 17 % Unentschiedenen dürfte sich zunächst weitet im Verhältnis von etwa 2 : 1 zugunsten der Definition „Gefahr" aufteilen. Dabei ist dann noch zu berücksichtigen, daß die günstigen Beurteilungen des studentischen Protests verbunden sind mit dessen Wahrnehmung als eine Reformbewegung vornehmlich für hochschulpolitische Fragen. Eine weitere Radikalisierung der Studenten im Sinne des SDS würde also einen weiteren Verlust des Vorschusses an gutem Willen gegenüber Reform-

bewegungen der Studenten bedeuten.

Diese weitere Verschärfung der Reaktionen läßt sich auch an den Antworten auf die Frage nach dem Vorgehen der Polizei ablesen. Nur 17 % der Befragten hielten dies für zu scharf — insbesondere Personen zwischen 16 bis 30 Jahren, während 34% die Schärfe der Reaktionen „gerade richtig" fand und 32 % ein schärferes Vorgehen forderten. Schärferes Vorgehen heißt in erster Linie Aktionen gegen Organisatoren des Protests und in zweiter Linie gegen den SDS als Organisation. Diese Einengung der Objekte für Gegenaktionen wird verständlich aus der Wahrnehmung, die Proteste seien wesentlich Proteste von Teilen der Studenten gewesen (53%), nicht der Studenten allgemein oder etwa der gesamten Jugend (6 %). Außerdem wird geglaubt, daß sich die Mehrheit der Protestierenden zur Gewaltlosigkeit bekennen und nur durch „Rädelsführer" mißbraucht würden. Je expliziter die Gegensätze innerhalb der Studentenschaft über die Ziele und den Stil von Protesten werden, um so leichter wird es für die Öffentlichkeit sein, den an sich ganz überwiegend negativen Affekten gegenüber Störungen des Alltags und die überwiegend positive Haltung zu Studenten miteinander zu vereinbaren und nun ohne Gegendruck-Situation (cross pressure) die negativen Affekte in Förderungen nach scharfem Vorgehen gegen die Aktivisten des Protests umzusetzen.

Innerhalb verschiedener Untergruppen der Bevölkerung ist die Einstellung zu den Protesten im Namen der Studenten noch weiter differenziert. Die stärksten Unterschiede ergeben sich nach Alter: Auf weitgehende Zustimmung können die Protestierenden nur bei Personen bis 21 Jahren zählen, auf erhebliche Sympathie dann auch noch bei den 21— 30jährigen. Diese unterschiedliche Reaktion nach Altersgruppen ist am ausgeprägtesten bei Fragen, die sich auf die Definition des Protests nach Zielen oder ihn tragenden Gruppen beziehen; in Urteilen über die Behandlung des Protests werden die Altersdifferenzen geringer. Dies stimmt überein mit der vorher verschiedentlich erwähnten Diagnose, die Proteste hätten die latente Funktion einer Selbstdarstellung der Besonderheit von Jugend. Einem möglichen Umsturz der Gesellschaft stehen die Jugendlichen nicht viel freundlicher gegenüber als die Erwachsenen allgemein; für die Jugendlichen scheint es eher um die Demonstration ihrer Besonder-heit innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu gehen. (Von dieser Diagnose sind erhebliche Minderheiten der Studenten auszunehmen; ihnen geht es tatsächlich um grundlegende Veränderungen.)

Je weniger verschiedene Gruppen der Bevölkerung sich nach sozialer Lage von der Zusammensetzung der Studenten nach sozialer Herkunft unterscheiden, um so größer ist die Sympathie für die Protestbewegungen. Es mag für das Selbstverständnis der Aktivisten verwunderlich sein, daß sie mit ihrer marxistisch klingenden Rethorik und mit ihrem Selbstverständnis als Interessenvertreter der Arbeiter (nota bene der „wahren" Interessen statt der hic et nunc empfundenen) bei Menschen in „bürgerlichen" Situationen die meiste Sympathie finden. Akademiker stehen den Protesten sehr, sehr viel positiver gegenüber als Angehörige anderer Bildungsgruppen, und Menschen mit qualifizierten Berufen in unselbständiger Stellung sympathisieren sehr viel stärker mit protestierenden Studenten als andere Berufsgruppen. Dies gilt insbesondere für Protest als expressives Phänomen; Proteste als Mittel zur Umgestaltung gut funktionierender Industriegesellschaften zu noch nicht spezifizierten Formen kommunistischer Gemeinwesen sind auch für Angehörige qualifizierter Berufe nicht akzeptabel.

Auch heute noch verbinden sich unterschiedliche Reaktionen auf die Proteste im Namen der Studenten nicht auf eindeutige Weise mit der Bevorzugung von Parteien. Dies ist verständlich angesichts der Tatsache, daß innerhalb der Parteien selbst jeweils Dissens über die Beurteilung der Kulturrevolte der Jugendlichen besteht. Vor den Osterunruhen war eine positivere Einstellung zum Protest noch am ehesten unter Wählern der FDP zu finden, während sich Wähler der CDU/CSU, SPD und NPD nur graduell unterschieden; NPD-Wähler tendierten damals sogar zu einer größeren Sympathie für Genossen im Protest. Die unterschiedliche Reaktion von FDP-Wählern erklärte sich leicht aus der hohen Zahl von Akademikern unter den Anhängern der FDP und als Folge der Sympathie einer jeden Oppositionspartei mit anderen Ausdrucksformen von Opposition. Inzwischen beginnen sich eindeutigere Unterschiede nach den politischen Positionen der Parteien abzuzeichnen.

Im Sommer forderten bereits 55 % der NPD-Wähler ein schärferes Durchgreifen (Durchschnitt der anderen Wählergruppen um 32 °/o), wogegen 29 °/o der FDP-Wähler (Durchschnitt der anderen Wählergruppen um 15%) das Vorgehen der Polizei als zu scharf tadelten. Die Wähler der FDP und der NPD sind heute in ihren Reaktionen auf den Protest im Namen der Studenten am weitesten voneinander entfernt, während die Wähler der beiden großen Parteien sich hier am ähnlichsten sind. Allerdings muß diese Beschreibung vor dem Hintergrund der Häufigkeiten von Einstellung gedeutet werden: es ist einfach für die NPD als Partei, „mehr Härte" zu einem Thema zu machen; es ist sehr viel schwieriger für die FDP, etwa größere Nachgiebigkeit zu fordern, da ja auch unter ihren Anhängern die Kritiker des Verhaltens der Polizei eine Minderheit bleiben. Insofern die FDP immer noch eine Partei des gebildeten Bürgertums ist, wird sie von den Ambivalenzen im Bürgertum gegenüber den studentischen Protestbewegungen am stärksten betroffen.

Die weitere Entwicklung der Einstellungen ist noch im Fluß. Dies ergibt sich auch aus einer Prüfung der Konsistenz von Antworten. Nur etwa die Hälfte aller Menschen wies in diesem Frühjahr konsistente Einstellungen gegenüber dieser Kulturrevolution der Privilegierten auf: entweder indem durchweg negative oder einheitlich positive Aussagen über den Protest im Namen der Studenten gemacht wurden. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist noch fähig, je nach Definition des Protests diesen unterschiedlich zu beurteilen. Verschiedene Indizien deuten jedoch darauf hin, daß die ersten Überraschungserfolge eines farbigen Protests im Namen der Studenten in einer grauen politischen Landschaft vorüber sind. Schärfere Konfrontationen sind nur dann zu erwarten, wenn sich größere Anteile der Studentenschaft als bisher mit den extremistischen Gruppen solidarisieren sollten; das Gegenteil ist wahrscheinlicher. Eher könnten die Aktivisten den Protest als Jugendbewegung stilisieren. Eine solche Entwicklung würde die Distanz von Teilen der Jugend gegenüber der Welt der Erwachsenen vergrößern, bei anhaltender Erfolglosigkeit aber eher zu deren Formen abweichenden Verhaltens als zu politisch stabiler Radikalisierung führen.

5. Der Protest als Kulturrevolution

Sollte der Protest als Form des Selbst-ausdrucks Jugendlicher institutionalisiert werden — was allerdings weitgehend von dem Weiterbestehen relativer Entspannung in der internationalen Politik abhängt —, so wird er von einer politischen Bewegung zu einem der vielen sozialen Probleme unter anderen Problemen werden. Seine größere Bedeutung hat er jedoch wahrscheinlich als Indiz für Spannungen in der Welt der Erwachsenen selbst.

Mir scheint die sogenannte studentische Revolte ein Oberflächenphänomen zu sein, dessen manifeste Ziele nur Ansatz und nicht Ursache sind. In dieser Protestbewegung scheint sich zum wiederholten Male eine Diagnose von Max Weber zu bestätigen. Die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft und die steigende Bedeutung technischen Wissens (im Sinne der Qualifikation zu Aussagen: „richtig" oder „falsch") wird als Prozeß der Entzauberung empfunden. Rationalisierung des Lebens außerhalb der Intimgruppen und zunehmende Komplexität des Lebens verursachen immer wieder Gegenrevolten. In ihnen wird Unmittelbarkeit der Erfahrungen verwirklicht — und diese Chance der Emotionalisierung (und nicht die konkreten Ziele) ist die bedeutsamste Funktion solcher Gegenrevolten für die Beteiligten.

Die Mißverständnisse über den Charakter dieser Proteste im Namen der Studenten werden durch die marxistische Rethorik verursacht — und diese Mißverständnisse werden verstärkt dadurch, daß sie von Akteuren und von einem relevanten Publikum geteilt werden. Orientieren sich die Urteile jedoch an konkreten Verhaltensakten, wird die soziale Situation der Akteure berücksichtigt und nimmt man verbales Verhalten zunächst nur als Rohmaterial, verhält man sich also als Sozialwissenschaftler anstatt als Geistesgeschichtler, so wird diese Bewegung als eine der Gegen-revolten zu der Entzauberung und Technisierung der Welt verständlich. Daß diese Gegen-revolte Jugendliche und insbesondere Studenten als Träger hat, ist indirekter Ausdruck für die Stärke integrativer Faktoren bei denjenigen, welche die Inhalte für diese Proteste bereitstellen: erwachsene Intellektuelle und generell das „gebildete Bürgertum". Es ist unwahrscheinlich, daß diese Industriegesellschaften mit dem Knall einer Revolution enden; wenn überhaupt, so wäre ihr Ende das Wimmern einer zunehmenden Malaise.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Apathie und Konformität verbunden mit politischem Desinteresse war der Befund über die Bewußtseinshaltung der Studenten in der bisher bekanntesten empirischen Untersuchung: Habermas, v. Friedeburg, Oehler u. Weitz, Student und Politik, Neuwied 1961. Eine entsprechende Schlußfolgerung bringt auch „Der Spiegel" in einer Titelgeschichte vom 19. Juni 1967; in dieser Titelgeschichte werden die Ergebnisse einer Umfrage des Instituts für Demoskopie „Der deutsche Student" verwertet.

  2. Das trifft insbesondere für die Literatur der „Linken" selbst zu, welche Einsichten der Studenten analog einem religiösen Konversionserlebnis als kausal für den Protest betont. Siehe u. a. die Zeitschrift „Neue Kritik" oder Hager, Die Rebellen von Berlin, Köln 1967

  3. Vgl. Lipset/Wolin, The Berkeley Student Revolt, Garden City 1965; Lipset, Students and Politics in a Comparative Perspective, in: Daedalus, Winter 1968; Gales, A Campus Revolution, in: The British Journal of Sociology, März 1966; Sonderheft des „Journal of Social Issues", Juli 1967.

  4. Dies gilt insbesondere für die beiden in der deutschen Öffentlichkeit erfolgreichsten „Schulen" der Soziologie: einer eher phänomenologisch-philosophischen Richtung um Schelsky und den Neomarxismus um Adorno. Es ist fraglich, ob es sich hier um Soziologie im Sinne einer Einzelwissenschaft oder um eine Fortsetzung des Erkenntnis-programms von Theologie und Philosophie mit anderen Worten handelt; vgl. Scheuch, Produziert die Soziologie Revolutionäre?, in: Der Volkswirt Nr. 18, 1968. Allerdings erscheint auch in den Schriften von Dahrendorf die Gesellschaft wesentlich als ein Geflecht von Normen, und Konflikt ist Konflikt über ideelle Ausrichtungen. Die angelsächsische Soziologie bevorzugt demgegenüber eine materialistisch-deterministische Betrachtungsweise.

  5. Siehe hierzu: Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik 1965 und Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik 1967, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 11/66 v. 16. 3. 1966 und B 15/68 v. 10. 4. 1968.

  6. Siehe hierzu Scheuch u. Klingemann (Hrsg.), Materialien zum Phänomen des Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik, Köln 1966; Scheuch, Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, Tübingen 1967; Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Publics, in: Apter (Hrsg.), Ideology and Discontent, New York 1964.

  7. Diese Angaben gehen zurück auf eine Umfrage von INFRATEST im Dezember 1967, die im Auftrage von Prof. Wildenmann (Mannheim) durchge-führt wurde.

  8. Siehe hierzu das von der Humanistischen Studentenunion auf der 4. Delegiertenversammlung am 9. /10. Dez. 1967 verabschiedete „Gesamtprogramm", das Pluralismus ablehnt, ein nur am gesellschaftlichen Schaden einer Handlung orientiertes Strafrecht fordert und mit Ausnahme von unverstandenen Teilen der Lehre Freuds („Primat der Genitalität über Partialtriebe") ein wirres Konglomerat kommunistischer Lehren bringt. Der jetzige Vorsitzende des Verbandes Deutscher Studentenschaft, Ehmann, bezeichnete die DDR als einen Staat, der bessere Vorbedingungen für eine Verwirklichung menschlicher Freiheit geschaffen habe als die Bundesrepublik.

  9. Dies ergibt sich aus zwei Umfragen des EMNID-Instituts unmittelbar vor und unmittelbar nach den Ostertagen 1968. Die Ergebnisse sind zum Teil in den „EMNID-Informationen" abgedruckt.

  10. Als Quelle vergleiche Ahlberg, Die politische Konzeption des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 20/68 v. 15. 5. 1968, und in: Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1968; Schönbohm, Runge und Radunski, Studenten zwischen Reform und Revolution, Mainz 1968.

  11. Die wichtigste der Selbstdarstellungen ist Leibfried (Hrsg.), Wider die Untertanenfabrik, Köln 1967.

  12. Daß die deutsche Universität reformbedürftig sei, fand schon mit der Wiedereröffnung der Universitäten seinen Niederschlag in verschiedenen Hochschulplänen, wie etwa den Wilhelmshavener ReformVorschlägen von 1948, Diesen Reformbemühungen nach Kriegsende ist auch die auf dem Papier der Verfassungen recht weitgehende Mitwirkung der Organe der Studentenschaft an der hochschulinternen Willensbildung zu verdanken. Die Verfassungswirklichkeit auch der Hochschulen wird selbstverständlich nur teilweise durch geschriebene Dokumente bestimmt. Die wichtigsten Veränderun-

  13. Siehe hierzu Lipset und Wolin, a. a. O.

  14. Nach Umfragen des Instituts IFOP zu Beginn und nach den Mai-Revolten in Frankreich.

  15. Rudi Dutschke stieß bekanntlich erst spät zum SDS und funktionierte diesen in einen anarchistischen Konfrontationsverband um. Cohn-Bendit war nur wenige Monate vor seiner wichtigen Rolle in den Mai-Revolten Frankreichs an marxistischen Ideen nicht besonders interessiert. M. Savio als entscheidender Führer des Protestes in Berkeley ist sicherlich kein sozialistischer Theoretiker, sondern ein begabter Demagoge. Das gleiche gilt für die führende Figur des Bürgerkriegs um die Columbia University, M. Rudd.

  16. Siehe hierzu insbesondere die Untersuchungen von Flacks in „Journal of Social Issues", a. a. O.

  17. In den Schriften von Herbert Marcuse sind Konzeptionen der Lehre Freuds mit marxistischen Theoremen verbunden. Es ist bezeichnend, daß der freudianische Aspekt der Lehren von Marcuse in der Bundesrepublik relativ weniger beachtet wird.

  18. Die enge Verwandtschaft der Themen des heutigen „studentischen" Protests mit den Themen der Jugendbewegung zeigt auch Krämer-Badoni, Die zweite Jugendbewegung, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 44/67 v. 1. 11. 1967. Krämer-Badoni verweist auch auf verschiedene Versuche, in den zwanziger Jahren eine Verbindung zwischen bürgerlicher Jugendbewegung und linksextremen Gruppen herzustellen. Die Glorifizierung der Jugend als Quelle für Wahrheiten, die den Älteren nicht zugänglich sein können, ist heute ebenso ein Thema wie damals.

  19. Die Existenz relativen Überflusses und dessen schlechte Nutzung ist in der amerikanischen Kulturkritik ein dominantes Thema geworden. Inbe-sondere Galbraith und Riesman haben die Forderung popularisiert, nun sollten in vermehrtem Maße Kollektivgüter produziert werden. Angehörige der oberen Mittelschicht und der Oberschicht propagierten entsprechend die für die USA neue Vorstellung, in erheblichem Umfange kulturelle Aktivitäten mit Steuergeldern zu unterstützen — eine Forderung, die bei Vertretern der unteren Schichten dort auf erheblichen Widerstand stößt.

  20. Eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Form von „Freisetzung" wie auch mit den beiden in den folgenden Absätzen erwähnten Formen struktureller Wandlungen findet sich in Scheuch: Soziologie der Freizeit, in: König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band II, Stuttgart 1968.

  21. Zitat aus dem Mitteilungsblatt der Wiso-Stu-denten der Universität zu Köln, vom 8. 2. 1968.

  22. Vgl. Brzezinski, Revolution and Counterrevolution, New Republic, 1. Juni 1968.

  23. „Links“ gilt als moralisch höherwertig — genauer: das verbale Bekenntnis zu linken Symbolen. Selbst „Rechte" sind sich darin oft mit „Linken" einig und beanspruchen lediglich für sich selbst ein höheres Maß an Einsichten in Realitäten. Aus diesem Gefühl inhärent moralischer Höherwertigkeit gewinnen „linke" Bewegungen ebenso wie faschistische Bewegungen Stoßkraft. In der Praxis werden die'Affekte zu einer besonderen Art von Philistertum.

  24. K. D. Wolff und F. Wolff, Revolutionärer Realismus, in: Die Zeit, 19. Januar 1968, S. 3.

  25. Bei der studentischen Linken wird „Faschismus" als Bezeichnung für all das benutzt, was der Durchsetzung objektiver und vernünftiger Forderungen widersteht, und insbesondere, was dem Umbau der Gesellschaft zu einer Stätte der Selbstverwirklichung bzw. Emanzipation des Menschen entgegentritt. Diese Worte haben aber, wenn sie von der studentischen Linken ausgesprochen werden, eine spezielle Bedeutung — nämlich die des Kommunismus. Damit reduziert sich dje Bedeutung der Bezeichnung „Faschist“ auf die Kennzeichnung: „Diese Person ist gegen uns“. Entsprechend kamen die Kommunisten dazu, die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ zu bezeichnen.

  26. Übrigens beginnt dann mit der Übernahme von Macht durch Sekten eine neue Phase der Selbstzerfleischung. Hier wird nur postuliert, daß die an sich auf Purismus bedachten Sekten in der Phase der Expansion inneren Dissens zurückzustellen pflegen.

  27. Sozialwissenschaftler, die der Internationale des studentischen Protestes zustimmen, gibt es in nennenswerter Zahl nur in Frankreich. Dies mag sich aus der Plötzlichkeit der Revolte in Frankreich erklären, welche den Betrachtern zunächst die Gelegenheit gab, in sie hineinzulesen, was man hineinlesen wollte. Sonst gehören als „links" geltende Sozialwissenschaftler eher zu den schärfsten Kritikern der Protestbewegung im Namen der Studenten. Die breiteste Unterstützung finden diese Gruppen in erster Linie wohl durch Pädagogen als Vertreter anti-industrieller und bürgerlicher Bildungsideale.

  28. Diese Zahlen sind aus der von Prof. Wilden-mann bei INFRATEST in Auftrag gegebenen Erhebung abgeleitet.

  29. Uber die Institutionalisierung des Protests gibt die Reaktion auf die folgende Frage der in Anmerkung 28 erwähnten INFRATEST-Erhebung Aufschluß: „Der Bürger verliert das Recht zu Streiks und Demonstrationen, wenn er damit die öffentliche Ordnung gefährdet". Auf diesen Grundreiz antworteten mit Zustimmung 67 % eines Querschnitts der Bevölkerung, 74 % eines Querschnitts von Jugendlichen, aber nur 46 °/o eines Querschnitts der Studenten.

  30. Nach der in Anmerkung 28 erwähnten INFRA-TEST-Erhebung.

  31. Nach der in Anmerkung 28 erwähnten INFRA-TEST-Erhebung.

  32. Nicht so sehr im Grade des Interesses an Politik oder in den allgemeinen Vorstellungen über Demokratie bestehen zwischen den Studenten und ihren Elternhäusern Unterschiede, als in der Bewertung „rechter" und faschistischer Bewegungen. 28°/o der Studenten, aber nur 17% der jugendlichen allgemein bezeichneten ihren Vater als einen Anhänger des Nationalsozialismus.

  33. Nach einer Erhebung an der Universität zu Köln Ende des Wintersemesters 1968. Die Angaben sind bisher unveröffentlicht.

  34. Aussagen aufgrund der INFRATEST-Erhebung; vgl. Anmerkung 28.

  35. Aussagen aufgrund der Kölner Erhebung; vgl. Anmerkung 33.

  36. Entgegen verbreiteten Vorstellungen scheinen mir entsprechende amerikanische Untersuchungen dahin gehend zu interpretieren, daß die indoktrinierende Wirkung eines Faches nicht sehr hoch angesetzt werden kann und daß solche eventuellen Wirkungen nach Beendigung des Universitätsstudiums schon in den ersten fünf Jahren rasch abklingen. Die Wirkung eines Faches scheint vornehmlich darin zu bestehen, die per Selbstauswahl der Studenten für ein Fach bereits vorhandenen Einstellungen entweder wesentlich zu verstärken oder zu inhibieren.

  37. Ein Musterbeispiel sind viele Kommentare des Berichts über Studentenerhebungen des INFAS-Instituts im Jahre 1967. Die ersten Kommentare sollen denn auch von einem mit dem SDS sympathisierenden Mitarbeiter verfaßt worden sein, der die politisch engagierten Studenten als von unverständigen Erwachsenen umstellt sieht. Die Tabellen des Berichts sind dagegen nützlich zu lesen: Student und Politik, „politogramm", Godesberg, April 1968.

  38. Diese Angaben gehen zurück auf eine Erhebung des EMNID-Instituts unmittelbar vor den Osterunruhen.

  39. Aufgrund einer Umfrage des EMNID-Instituts kurz nach den Osterunruhen.

  40. Diese überwiegend kritische Einstellung der ehemaligen Absolventen zur Hochschule richtet sich jedoch ganz überwiegend nur auf die bessere Organisation der Studienabläufe und auf ein autoritäres Verhalten der Professoren. Die Kritik ist also Wesentlich weniger grundsätzlich als diejenige der politischen Hochschulgruppen, und ich interpretiere die Ergebnisse dahingehend, daß bei aller Zustimmung der Akademiker zur Forderung nach einer Reform der Hochschule der latente Dissens zu den Forderungen der politischen Hochschulgruppen erheblich ist.

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Erwin Kurt Scheuch, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirt, B. A., Professor für Soziologie der Universität zu Köln und Direktor des Instituts für vergleichende Sozialforschung, geb. 9. Juni 1928 in Köln; Studium der Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Statistik in Köln, der Soziologie und Psychologie in den USA (University of Connecticut), 1961 Privatdozent für Soziologie in Köln, 1962— 1964 Dozent für Sozialpsychologie an der Harvard University in Cambridge (Mass.).