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Das Europa der siebziger Jahre | APuZ 46/1967 | bpb.de

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APuZ 46/1967 Das Europa der siebziger Jahre

Das Europa der siebziger Jahre

Curt Gasteyger

Bestandsaufnahme europäischer Politik

Dieser Aufsatz ist kein Versuch in Prophetie.

Er kann auch nicht die Gesamtheit politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen erörtern, die Europa im kommenden Jahrzehnt wahrscheinlich durchmachen wird. Zweck dieses Aufsatzes ist vielmehr eine Bestandsaufnahme europäischer Politik und ihrer wichtigsten Tendenzen in den letzten zwei bis drei Jahren.

Sie soll ein besseres Bild vom künftigen Europa, seinen Problemen und seiner Stellung zwischen den Weltmächten ermöglichen helfen. Daß dieses Bild anders aussehen wird als das heutige, können wir jetzt schon sagen. Wir wissen aber auch, daß den zu erwartenden Entwicklungen durch die weltpolitische Konstellation Grenzen gesetzt sind: Europa wird in mancher Hinsicht weiterhin mehr das Objekt weltpolitischen Geschehens sein als eine selbständig handelnde Macht. Aber die Gangart der Veränderungen in Europa ist zusehends schneller geworden, und wenn etwas seine gegenwärtige politische Lage kennzeichnet, dann ist es das Tempo, mit dem sich diese Veränderungen in den letzten Jahren vollzogen haben. Sie könnten aber recht bald zu einem Stillstand kommen, wo sie zentrale Interessen der Weltmächte berühren oder an die nationale Souveränität und Eigenständigkeit stoßen.

Noch fehlt uns der Abstand, der uns die Unterscheidung von Ursache und Wirkung dieser Veränderungen erlauben würde. Bestimmt wäre es nützlich zu wissen, wie weit sich die Entwicklungen in den beiden Bündnissystemen aufeinander auswirken; nicht minder wichtig wäre es, die verschiedenen Ursachen der gegenwärtigen Entspannung möglichst genau identifizieren zu können. Wir wären dann viel besser in der Lage, zu erkennen, welches die bestimmenden Elemente sind, die Europas Entwicklung in den nächsten zehn Jahren beeinflussen werden. Wird eine weitere Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu erwarten sein? Werden die europäischen Staaten beiderseits des Eisernen Vorhanges noch stärker zu einer nationalen Interessenpolitik zurückkehren? Wird das Selbstbewußtsein der europäischen Länder noch wachsen, und werden sie gemeinsame Interessen entwickeln, die jenen der Groß-mächte entgegenlaufen könnten? Wird sich das Schrittmaß der westeuropäischen Integration weiter verlangsamen und damit vielleicht eine engere Zusammenarbeit mit Osteuropa erleichtern? Sehr wahrscheinlich werden alle diese Entwicklungen in der einen oder anderen Weise eintreten; sicher werden sie Europa und seine Stellung in der Welt verändern.

Bipolarität braucht heute nicht mehr zu heißen, daß alle kleineren Mächte dem politischen Gesetz der Weltmächte zu folgen haben. Die Welt ist differenzierter, die mittleren und kleineren Staaten sind selbständiger geworden. Selbst wenn sie niemals hoffen können, den Weltmächten ernsthafte Konkurrenz zu machen, so werden sie sich doch auf manchen Gebieten stärker behaupten und besser durchsetzen können. Was sich also in den nächsten fünf oder zehn Jahren bestimmt ändern wird, ist Europas Stellung gegenüber den beiden Weltmächten. Ebenso wird sich seine wirtschaftliche Position in der Welt ändern. Dies ist eine unvermeidliche Folge seiner eigenen wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung, die seinen Vorsprung gegenüber den meisten Entwicklungsländern weiterhin vergrößern wird. Selbst wenn der Weg zur politischen Einigung Europas immer noch weit und mühevoll ist (wenn es einen solchen Weg überhaupt gibt), so dürfte Europas Einfluß auf die Weltpolitik auch so eher zu-als abnehmen. Das wird nicht so sehr dem Verdienst Europas selbst, als vielmehr dem Zerfall des „bündnisfreien Blocks" und dem Prestigeverlust einiger seiner führenden Mitglieder zuzuschreiben sein.

Aussicht auf Milderung der Konfrontation der Weltmächte in Europa

In diesem Wandel wird die Einstellung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gegenüber Europa voraussichtlich das beständigste Element bleiben. Die wichtigste Folge des Zweiten Weltkrieges — das politisch-militärische Engagement der beiden Weltmächte in Europa — wird keine grundsätzliche Veränderung erfahren. Das schließt natürlich eine weitere Entspannung oder eine stärkere Annäherung zwischen Ost und West in Europa nicht aus. Zu einem renversement des alli- ances oder einer völligen Überwindung der europäischen Teilung wird es aber kaum kommen, obwohl viele gerade dies zu erwarten scheinen. Die künftigen Entwicklungen mögen zwar die politische, militärische, soziale und wirtschaftliche Konfrontation der beiden gegensätzlichen Systeme beeinflussen und mildern helfen, werden sie aber kaum völlig beseitigen. Daran wird sich zumindest nichts ändern, solange sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Herzen Europas gegenüberstehen und solange Europa selbst nicht in der Lage ist, an ihre Stelle zu treten. Wenn somit nur geringe oder gar keine Aussicht besteht, die Konfrontation der beiden Weltmächte in Europa abzubauen, so wächst doch die Aussicht, sie wenigstens auf der unteren Ebene, nämlich zwischen den west-und osteuropäischen Staaten, zu mildern.

Der vollständige Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Europa oder eine deutliche Verlagerung der sowjetischen Interessen von Europa nach Asien würde bei beiden Mächten eine politische Umorientierung voraussetzen, zu der sie auf absehbare Zeit nicht bereit sind. Ihr Interesse an Europa wird vielmehr fortbestehen. Damit werden sich beide Hälften Europas abfinden müssen, um so mehr, als sie daran kaum etwas zu ändern vermögen. Die Bereitschaft der Vereinigten Staaten — und potentiell auch der Sowjetunion —, ihre auf deutschem Boden stationierten Streitkräfte und Waffen abzubauen, bedeutet eben nicht, daß sie sich vollständig aus Mitteleuropa zurückziehen wollen, sondern lediglich, daß sie auf diese Weise ihre Präsenz weniger aufwendig, beidseits annehmbarer und damit dauerhafter gestalten wollen

Änderungen im amerikanischen Engagement

Von den beiden Weltmächten scheinen die Vereinigten Staaten eher geneigt zu sein, ihre Europapolitik zu überprüfen. Dies hat verschiedene Gründe. Einmal darf man nicht vergessen, daß von allem Anfang die militärische Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa immer nur als zeitlich begrenzt galt und die Stärke ihrer Streitkräfte nicht an eine bestimmte Zahl gebunden war. Zum zweiten sind die Vereinigten Staaten eine Weltmacht mit viel umfassenderen Verpflichtungen und Interessen, als sie die Sowjetunion jemals haben wird. Zudem stehen sie unter einem wachsenden innenpolitischen Druck, die Kosten ihres militärischen Engagements in Europa herabzusetzen. Drittens haben die Vereinigten Staaten den Versuch aufgegeben, mehr oder weniger die direkte Verantwortung für die politische und wirtschaftliche Einigung Europas zu übernehmen und ihren politischen Verbündeten jene Formen der Zusammenarbeit aufzudrängen, die sie für Europa, die atlantische Partnerschaft und nicht zuletzt auch für sich selbst am geeignetsten fänden. Diese Bemühungen schlugen fehl. Nach einigen Enttäuschungen gelangte Washington schließlich zur Einsicht, „daß die Bindung zwischen Amerika und Europa so stark gesichert ist, daß man die Gestaltung Europas den Europäern überlassen kann" und der Wunsch nach einem starken europäischen Partner sich eher realisiert, wenn der Weg dazu in Europa und nicht in Washington gefunden wird.

Die konsequente Unterstützung der europäischen Integration durch die Vereinigten Staaten war in gewisser Weise eine Funktion des Kalten Krieges und Teil westlicher Eindämmungspolitik. Ihre Dringlichkeit ließ nach mit der schrittweisen Stabilisierung der Ost-West-Beziehungen und dem fast Verschwinden einer offenen militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß das Interesse der Vereinigten Staaten an Europa nachgelassen hat. Daß sich dabei das Gewicht vom politisch-militärischen Gebiet heute mehr auf jenes einer noch engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit verlagert hat, dürfte eine natürliche und unvermeidliche Folge jüngster Entwicklungen auf beiden Seiten des Atlantiks sein. Auch der nur teilweise Erfolg der Kennedy-Runde wird diese Tendenz noch verstärken. Er bedeutet einen entscheidenden Schritt in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Kontingenten, der aber paradoxerweise einen entgegengesetzten politischen Effekt haben könnte, indem sich die europäischen Länder ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber den Vereinigten Staaten noch stärker bewußt werden — und sie entsprechend geltend machen. Im Blick auf die sich verschärfende Wirtschaftskonkurrenz zwischen den beiden Seiten, die ungelösten Währungsprobleme, die europäischen Befürchtungen hinsichtlich der wachsenden „technologischen Lücke" und den wirtschaftlichen Einfluß Amerikas in Europa ist es wohl möglich, daß die eigentlichen Belastungen der europäisch-amerikanischen Beziehungen mehr auf wirtschaftspolitischem als auf militärischem Gebiet entstehen können. Als Folge der Entspannung und der Hoffnung auf bessere Beziehungen mit der Sowjetunion hat auf beiden Seiten des Atlantiks das Interesse an der NATO und deren strategischen Problemen spürbar nachgelassen. Damit ist die seit Jahren wohl empfindlichste Stelle in den europäisch-amerikanischen Beziehungen aus dem direkten Schußfeld gerückt; dies wiederum mag einen stufenweisen Rückzug der amerikanischen Streitkräfte auf ein Minimum erleichtern helfen, ohne daß deswegen sogleich eine neue Vertrauenskrise diesseits oder jenseits des Atlantiks heraufbeschwört würde.

Was aber heißt ein „Minimum"? Zweifellos liegt ein solches „Minimum" in Zeiten der Spannung wesentlich höher als in Zeiten allgemeiner Entspannung und Stabilität. Ebenso stellt eine Strategie der abgestuften Verteidigung (flexible andere Forderungen

hinsichtlich der Höhe der Streitkräfte als eine Strategie der „massiven Vergeltung". Und eine negative Zahlungsbilanz verlangt — gleichviel ob zu Recht oder zu Unrecht — andere Prioritäten als eine positive. Im Gegensatz zu der starren und verhältnismäßig konsequenten sowjetischen Strategie hat die amerikanische Strategie verschiedene Wandlungen durchgemacht. Einige erfolgten mehr aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit als strategischer Notwendigkeit. In den Augen der europäischen Verbündeten schien sich die amerikanische Strategie Ende der fünfziger Jahre fast ausschließlich auf Atomwaffen abzustützen. Anfang der sechziger Jahre verlegte sich dann das Schwergewicht auf eine Verstärkung der herkömmlichen Streitkräfte, und jetzt vertritt man offenbar die Ansicht, daß die erhöhte Beweglichkeit sowie das globale Kräftegleichgewicht einen nennenswerten Truppenabbau rechtfertigen.

Eine solche Beurteilung der amerikanischen Strategie vereinfacht zu sehr. Theoretiker wie Thomas Schelling vertreten wohl zu Recht die Auffassung, daß lange Zeit zu großes Gewicht auf die mitteleuropäische Front und die Rolle der dort stehenden konventionellen Streitkräfte gelegt worden sei. In seinem vor kurzem erschienenen Buch Arms and Influence unterstreicht Schelling die entscheidende Rolle der Atomwaffen als Abschreckung gegen jede Form von bewaffneter Aggression. Jeder Krieg in Europa, ob mit konventionellen oder Atomwaffen geführt, wird nach Schelling letztlich stets durch die Drohung mit dem Einsatz atomarer Waffen beeinflußt. Das mag durchaus richtig sein und eine erhebliche Reduktion der Streitkräfte rechtfertigen. Diese These geht aber von der grundlegenden Annahme aus, daß die Vereinigten Staaten weiterhin politisch und militärisch in Europa in einem Maße engagiert bleiben, das allein diese letzte atomare Drohung als glaubwürdig erscheinen läßt. Ein solches Engagement ist jedoch nicht auf unabsehbare Zeit für selbstverständlidi zu nehmen. Soll es aber fortbestehen, dann allerdings muß sich Europa auch mit dem Fortdauern eines hohen Grades amerikanischer Einflußnahme auf die NATO-Strategie abfinden. Europa kann nun einmal nicht einerseits eine größere Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten fordern, zugleich aber seine Sicherheit aut amerikanische Atomwaffen gründen. Umgekehrt werden die Vereinigten Staaten den Europäern klarmachen müssen, welches ihre Strategie unter den Bedingungen einer fortdauernden Entspannung in den nächsten fünf oder zehn Jahren sein wird.

Das Nachlassen des amerikanischen Interesses an der Fortentwicklung einer Kriegsstrategie für die NATO ist zwar verständlich, trägt aber nicht zur Klärung dieser Frage bei. Es erklärt sich offenbar daraus, daß Kriege in Europa höchst unwahrscheinlich sind. Eine solche Beurteilung dürfte früher oder später wieder zu einer Neubelebung der Strategie abgestufter Verteidigung führen, die den Einsatz von Atomwaffen so lange wie möglich vermeidet und das Schwergewicht auf Krisen-beherrschung (crisis management) legt. Das würde auch eine eher politische als militärische Verwendung der ad-hoc-Bereitstellung von Eingreifreserven (contingency forces) bedeuten. Das alles mag eine erhebliche Reduktion der gegenwärtigen Truppenbestände rechtfertigen, beantwortet aber noch nicht die Frage, wie stark diese Bestände tatsächlich zu sein haben, um ihre militärische, politische und psychologische Abschreckungsfunktion und ihre Aufgabe als Garant der Stabilität in Europa glaubwürdig erfüllen zu können. Dies wird weitgehend von der genauen Umschreibung des amerikanischen Engagements in Europa und der Rolle abhängen, die diesem und der europäischen Sicherheit in der globalen Strategie der Vereinigten Staaten und dem Verhältnis zur Sowjetunion zugewiesen wird.

Kontinuität sowjetischer Europapolitik

Die Antwort auf diese Frage hängt nicht zuletzt vom Verhalten der Sowjetunion und ihrer künftigen Europapolitik ab. Diese hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nur wenig verändert, vor allem deshalb, weil sie auf klaren Vorstellungen vom künftigen Piatz der Sowjetunion im Nachkriegseuropa beruhte.

Für Stalin und auch seine Nachfolger bestand nie ein Zweifel daran, daß ihr Land politisch und militärisch die bedeutendste Macht Europas werden und bleiben müßte. Die Sowjetunion blieb somit im Grunde stets eine überwiegend auf Europa ausgerichtete Macht; im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hat sie auch immer versucht, die europäische Politik beidseits des Eisernen Vorhangs direkt oder indirekt zu beeinflussen. Aus naheliegenden Grtinden war für sie die Entwicklung in Westeuropa wichtiger, als es die Entwicklung in Osteuropa jemals für die Vereinigten Staaten sein könnte. Bereits Stalin zog es dabei vor, diesen Druck oder Einfluß auf bilateralem Wege auszuüben. Im Grunde genommen hat sich daran unter seinen Nachfolgern wenig geändert, und das tiefe Mißtrauen gegenüber jeder Form von „Supranationalität" wurde nie völlig überwunden. So gesehen war Chruschtschows Versuch, so etwas wie eine „supranationale Integration" innerhalb des COMECON zustande zu bringen, mehr eine Art spontaner Reaktion auf die bisher geleugneten Erfolge des Gemeinsamen Marktes als eine grundsätzliche Bekehrung zum Multilateralismus. Sein Versuch scheiterte nicht nur am Widerstand Rumäniens, sondern auch daran, daß die sowjetisch verstandene „Integration" den osteuropäischen Ländern wenig mehr als eine Verewigung der Vormachtstellung Rußlands anbot. Die zunehmende Differenzierung innerhalb der beiden Bündnissysteme scheint der sowjetischen Neigung zum Bilateralismus gerade gegenüber Frankreich und England entgegenzukommen. Allerdings hatte die Sowjetunion damit keineswegs beabsichtigt, daß sich auch ihre früheren „Satelliten" dieses Bilateralismus zum eigenen Vorteil bedienen könnten.

Die sowjetische Strategie in Europa erscheint gegenwärtig widersprüchlich. Wie Thomas Wolfe bemerkt hat sich „die militärische Macht der Sowjetunion weiter erhöht, obwohl die Gefahr ihres Einsatzes selbst nachgelassen hat". Das erklärt sich wohl nicht allein daher, daß die Sowjetunion übermäßig auf ihre Sicherheit bedacht ist, sondern auch daher, daß sie ihre militärische Macht an amerikanischen und nicht an europäischen Maßstäben mißt. Diese Macht ist deshalb viel größer, als sie eigentlich sein müßte, um einen potentiellen europäischen Gegner abzuschrekken. Aber gerade deshalb — von der geographischen Nähe der Sowjetunion ganz abgesehen — wird die sowjetische Einflußnahme gegenüber Westeuropa auf militärischem und politischem Gebiet weiterhin am größten, auf wirtschaftlichem Gebiet dagegen gering sein. Hält man sich die sowjetischen Nachkriegsziele in Europa vor Augen, dann ist leicht vorstellbar, daß die fortdauernde amerikanische Präsenz auf dem Kontinent die Hoffnungen der Sowjetführung enttäuschte. Diese wird aber die Stationierung amerikanischer Truppen kaum jemals für einen unabänderlichen Faktor in der europäischen Politik gehalten haben. Zwar dürfte Moskau nicht an einen baldigen und noch weniger an einen völligen Abzug dieser Truppen glauben; als Marxisten muß es für die Sowjets schwer vorstellbar sein, weshalb sich Amerika auf diese Weise der unmittelbaren Einflußnahme auf seinen wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partner begeben sollte. Sie selbst scheinen unentschieden zu sein, ob sie nun in der amerikanischen militärischen Präsenz in Europa einen Vorteil sehen sollen oder nicht. Geht man von ihrem allgemeinen Wunsch nach einer Verbesserung der zweiseitigen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten sowie von ihrer angeblichen oder tatsächlichen Furcht vor Deutschland aus, dann ist jedenfalls nicht auszuschließen, daß sie im Grunde Deutschland weiterhin unter einer gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Kontrolle halten möchten. Sie teilen die Befürchtungen vieler westlicher Länder vor Deutschland; diese richten sich aber weniger gegen ein „revanchistisches" als vielmehr gegen ein wirtschaftlich und politisch erstarktes Deutschland, dessen Armee nicht mehr länger durch die Eingliederung in ein Bündnissystem abgesichert wird — obwohl paradoxerweise die Sowjetunion alles unternimmt, eben dieses Bündnissystem aufzusplittern.

Ein schrittweiser Abzug der amerikanischen Truppen aus Deutschland hätte noch andere Folgen, mit denen die Sowjetunion zweifellos rechnen muß. Bisher hat die Stärke der ameB rikanisdien Streitkräfte in Europa der Sowjetunion einen willkommenen Vorwand geliefert, ihrerseits in Mitteldeutschland und Polen starke Streitkräfte zu unterhalten und darüber hinaus auf einen möglichst engen Zusammenhalt der Warschauer-Pakt-Mächte unter sowjetischer Führung zu drängen. Die sich lockernden Bindungen innerhalb der NATO und damit die größere Selbständigkeit der Bundeswehr könnte der Sowjetunion einen noch besseren Vorwand geben, ihre Kontrolle und ihre Streitkräfte im gleichen Umfang aufrechtzuerhalten. Umgekehrt könnten in Pankow Zweifel an der Glaubwürdigkeit sowjetischer Sicherheitsgarantien aufkommen, falls die Sowjetunion tatsächlich mit einem Abbau ihrer Truppen dort beginnen würde. Beide Seiten werden sich dann darüber zu einigen haben, welche Truppenstärke sie für eine glaubwürdige Abschreckung noch als genügend erachten. Die DDR könnte damit bald mit dem Dilemma konfrontiert werden, sich einmal einer solchen sowjetischen Garantie zu versichern, andererseits aber der Außenwelt den Beweis liefern, daß sie mit fortschreitender innenpolitischer Stabilisierung im Grunde nur noch das militärisch vertretbare Minimum sowjetischer Streitkräfte für Verteidigungszwecke benötigt. Unverhältnismäßig starke sowjetische Truppen in Ostdeutschland könnten sogar für ein Regime, das die „Liberalisierung" anstrebt, zu einer politischen Belastung werden. Schon heute dürften weit weniger als 20 sowjetische Divisionen ausreichen, um mit jeder innenpolitischen Krisensituation fertig zu werden. Ein teilweiser Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland hätte zweifellos auch politische und propagandistische Vorteile. Mit ihm könnte die Sowjetunion beweisen, daß sie sich einen solchen Abzug leisten kann, ohne ihren politischen und militärischen Status in diesem lebenswichtigen Gebiet zu gefährden. Außerdem würde das „Image" der DDR als eines innerlich gefestigten, auf eigenen Füßen stehenden Staates die erstrebte Auffrischung erfahren. Andererseits könnte der sowjetischen Führung ein solcher Truppenabzug als zu riskant und unsicher erscheinen, wenigstens solange er nicht als Gegenleistung für einen größeren amerikanischen Rückzug gerechtfertigt werden kann.

Aus naheliegenden Gründen ist somit die Sowjetunion an jeder weiterreichenden Veränderung der gegenwärtigen militärischen und politischen Lage in Europa weniger interessiert als die Vereinigten Staaten. Sie weiß genau, daß die osteuropäischen Länder für Neuerungen anfälliger sind als die westlichen Demokratien. Mit Recht weist Zbigniew Brzezinski darauf hin, daß „die versteckten Spannungen und Widersprüche, die den Osten belasten, nur in einer Atmosphäre internationaler Entspannung ans Licht treten und politisch bedeutsam werden können. Die kommunistischen Regimes bedürfen der Feindseligkeit und Spannung zur Aufrechterhaltung ihrer Einheit mehr als der pluralistische Westen" Daraus erklärt sich die Zurückhaltung der Sowjetunion gegen jede weitere Entwicklung in Europa, die zu mehr führen könnte als zu einer Bestätigung des jetzigen Status quo. Die Gründe für diese starre Haltung sind sowohl in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage als auch in langfristigen Überlegungen zu suchen.

Die Sowjetunion, China und die Vereinigten Staaten

Um bei der Gegenwart zu beginnen: Der Krieg in Vietnam, so peinlich er für die sowjetischen Führer auch sein mag, hat ihnen gewissermaßen einen Vorwand geliefert, sich gegen jede Annäherung an die Vereinigten Staaten zu wehren, sofern dafür nicht dringende und gebieterische Gründe sprechen. Dennoch wird das amerikanische Vorgehen in Vietnam wahrscheinlich nicht ohne Wirkung auf die sowjetische Politik bleiben. In Moskau ist man beunruhigt über das gewaltige Aufgebot amerikanischer Militärmacht, der auf sowjetischer Seite wohl kaum jemals etwas Ähnliches in so globalem Umfange gegenübergestellt werden kann. Nach Ansicht eines erfahrenen Beobachters sowjetischer Politik, Marshall Shulman, herrscht in weiten Kreisen Moskaus der Eindruck, daß die von den amerikanischen Truppen gesammelte Kampferfahrung sowie die Möglichkeit, neues militärisches Gerät auszuprobieren, nicht nur eine Nebenwirkung des Krieges, sondern geradezu ein wichtiger Grund für die amerikanische Präsenz in Vietnam seien Man kann nicht erwarten, daß die politische — oder gar die militärische — Führung in der Sowjetunion diese Beurteilung amerikanischer Motive von jener der allgemeinen Orientierung amerikanischer Außenpolitik trennt, Vietnam also lediglich als eine „Ausnahme" von der sonst auf Entspannung und Annäherung zum Osten ausgerichteten Politik Washingtons ansieht. Die jetzige sowjetische Reaktion auf die jüngsten amerikanischen Bemühungen um eine solche Entspannung braucht also nicht unbedingt eine Fehl-deutung der aus Washington kommenden Signale zu sein, wie Marshall Shulman vermutet. Sie kann vielmehr eine zu stark verallgemeinerte Übertragung der amerikanischen Kriegführung in Vietnam auf die amerikanische Außenpolitik schlechthin sein. Dennoch fragt es sich, ob nicht „die Absichten der Vereinigten Staaten ganz allgemein in der Sowjetunion in einem Zusammenhang gesehen werden, der die Bemühungen der amerikanischen Regierung um bessere Beziehungen zur Sowjetunion unterhöhlt". In zwei Jahrzehnten des Konfliktes und der Rivalität haben beide Mächte gelernt, daß es immer noch gemeinsame Interessensbereiche gibt, die nicht durch feindselige Handlungen auf anderen Gebieten berührt werden sollten.

Die Frage bleibt jedoch bestehen, welche Seite so kostspielige Unternehmen wie Kuba oder Vietnam leichter — das heißt ohne einen allzu großen Verlust an Prestige und Status — hinnehmen kann. Wenn der Vietnam-Krieg nicht mit einem demütigenden Rückzug der Vereinigten Staaten endet — was sehr unwahrscheinlich ist —, wird die Sowjetunion als erste ihre Stellung als Weltmacht genau zu überprüfen haben. Sie ist von ihrem großen Rivalen fast auf jeder Ebene der internationalen Politik übertroffen worden, sei es auf wirtschaftlichem, militärischem, politischem oder wissenschaftlichem Gebiet. Mehr als die Vereinigten Staaten hat sie erkennen müssen, daß die politischen und psychologischen Vorteile des Großmachtstatus im Atomzeitalter in keinem Verhältnis zu den damit verbundenen Verpflichtungen stehen. Der Gedanke, daß die Sowjetunion mithelfen soll, die politische und militärische Konfrontation in Asien zu stabilisieren, wenn Amerika dafür den Status quo in Europa (einschließlich der Teilung Deutschlands) akzeptiert, ist deshalb zumindest sehr fragwürdig. Die Sowjetunion, deren Einfluß auf Nordvietnam viel begrenzter ist, als allgemein angenommen wird, dürfte kaum jemals in der Lage sein, die Stabilität in Asien in einem Maße zu garantieren, wie sie es in Europa tun kann.

Hier spielen der sowjetische Konflikt mit China und die Entwicklungen dort eine Rolle. Nach Ansicht Richard Löwenthals hält Moskau die Konfrontation mit China für ein Problem auf lange Sicht, so unangenehm und beunruhigend Ereignisse wie die „Kulturrevolution" im Augenblick auch sein mögen Die Sowjetunion in ihrer Stellung als sowohl führender kommunistischer Staat wie klassische Großmacht wird aber durch den Aufstieg Chinas zur selbständigen Großmacht stärker gefährdet werden als die Vereinigten Staaten. Militärisch gesehen wird dieses China zunächst eine Gefahr für die Sowjetunion, lange bevor es die Vereinigten Staaten glaubhaft bedrohen kann. Politisch und ideologisch hat es den sowjetischen Führungsanspruch innerhalb und außerhalb der kommunistischen Welt wiederholt in Frage gestellt. Wirtschaftlich schließlich wird China zunächst ein Rivale für die Sowjetunion werden, bevor es sich ernsthaft mit den Vereinigten Staaten messen kann; und dementsprechend wird es auch in den Entwicklungsländern jenen Einfluß gewinnen, der sich auf eine solche Wirtschaftskapazität gründet.

Im Wettlauf mit den Vereinigten Staaten und mit China scheint also die Zeit gegen die Sowjetunion zu arbeiten. Für die Sowjetführung ist das eine ungewohnte Erfahrung. Während fast fünf Jahrzehnten lebte sie, entweder auf Grund ideologischer Überzeugung oder auf Grund einer fast ungebrochenen Ausdehnung sowjetischer Macht, im Glauben, Zeit und Geschichte auf ihrer Seite zu haben. Jetzt steht sie offenbar am Anfang einer neuen Phase, in der nicht nur Erfolge immer schwerer zu erringen sind, sondern bereits errungene Positionen abzubröckeln beginnen.

Die Sowjetunion, Osteuropa und Deutschland

Trotz dieser Entwicklungen wird das militärische und wirtschaftliche Übergewicht der Sowjetunion in Osteuropa weiterhin bestimmend bleiben, während umgekehrt die Stellung der Vereinigten Staaten in Westeuropa eine weitere Schwächung erfahren wird. Angesichts dieses fortbestehenden sowjetischen Übergewichts kann man sich fragen, bis zu welchem Punkt sich die gegenwärtigen Divergenzen in Osteuropa entwickeln werden beziehungsweise wie weit eine solche Entwicklung überhaupt zugelassen wird. Bei aller Genugtuung über die dortige „Liberalisierung“ darf nicht übersehen werden, daß alle osteuropäischen Länder immer noch von kommunistischen Parteien regiert werden. Deren machtpolitische Basis hat sich zweifellos stabilisiert, auch wenn keines dieser Regime sich jemals freien Wahlen ausgesetzt oder eine öffentliche Opposition zugelassen hat. Der Grad der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen „Liberalisierung" in den einzelnen Ländern ist unterschiedlich; doch ist bereits zweifelhaft, ob diese „Liberalisierung" jemals so weit gehen kann wie in Jugoslawien. Die scharfe sowjetische Kritik an den verschiedenen Reformen in Jugoslawien mag wieder abflauen, dennoch ist sie bezeichnend für die wachsende Sorge der Sowjets über die ansteckende Wirkung dieser Reformen in Osteuropa. Man sollte auch nicht vergessen, daß sich die „Liberalisierung" im sowjetischen Machtbereich bisher im wesentlichen auf wirtschaftlichem Gebiet abgespielt hat und daß sie darauf hinzielt, die Wirtschaftskapazität der osteuropäischen Länder im Rahmen des bestehenden politischen Systems zu erhöhen.

Dies wiederum hat —• besonders auch im Hinblick auf den sowjetisch-chinesischen Konflikt — die osteuropäischen Staaten veranlaßt, ihre Wirtschaftsbeziehungen sowohl zur Sowjetunion wie zum kapitalistischen Westen zu überprüfen. In keinem Land aber durfte diese „Liberalisierung" die Grundlage des politischen Systems, die Diktatur einer einzelnen Partei, in Frage stellen. Immer wenn ideologische Auseinandersetzungen oder Kontroversen um die Kulturpolitik an die unantastbare Position der Partei zu rühren schienen, wurden sie sehr rasch wieder unter Kontrolle gebracht. So wird die eigentlich interessante und viel-versprechende Entwicklung voraussichtlich innerhalb der herrschenden Parteien selbst stattfinden. Bereits hat sich die fortdauernde Erosion der kommunistischen Ideologie auf ihre bisher unbestrittene Monopolstellung aus-gewirkt. Dieser Prozeß wird andauern. Den Parteien dürfte es zunehmend schwerfallen, diese Monopolstellung aufrechtzuerhalten, ohne sie nicht auf eine breitere Unterstützung seitens der intellektuellen und technokratischen Elite zu gründen. Dies aber erscheint nur denkbar, wenn die Partei einem Prozeß der „Demokratisierung" zustimmt oder ihn wenigstens duldet, der die Bestellung der Parteispitzen durch eine breitere Auswahl und in freieren Wahlen auf allen Ebenen ermöglicht.

Das wiederum bedeutet, daß die Partei die Wünsche ihrer einfachen Mitglieder stärker berücksichtigen muß, wenn sie die Unterstützung breiterer Kreise gewinnen will. Eine solche Entwicklung wird noch gefördert durch den Einfluß, den einige kommunistische Parteien Westeuropas jetzt schon auf die osteuropäischen Länder ausüben.

Die Bemühungen um eine breitere politische Basis und eine aktivere Unterstützung seitens der Bevölkerung hängen eng zusammen mit der Entschlossenheit der meisten osteuropäischen Regime, die mannigfaltigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme ihrer Länder zu lösen, ohne dabei die Kontrolle über diesen vielschichtigen und schwierigen Prozeß zu verlieren oder ihre eigene Stellung zu gefährden. Auch sie sind demnach zur Einsicht gelangt, daß Evolution, nicht Revolution, der sicherere Weg ist und daß auch sie nur unter den Bedingungen einer verhältnismäßig stabilen internationalen Lage möglich ist. Da jede weiterreichende politische Veränderung für die ohnehin mit zahlreichen innenpolitischen Problemen belasteten Länder Osteuropas unvorhersehbare Risiken einschließen kann, sind sie nicht bereit, solchen Veränderungen in ihrer unmittelbaren Umgebung zuzustimmen. Ihnen alle liegt viel mehr an einer größeren wirtschaftlichen Unabhängigkeit von der Sowjetunion, während sie sich gleichzeitig damit abfinden, daß diese nach wie vor der einzige Garant ihrer Sicherheit und der Stabilität in Osteuropa ist. Unter diesen Umständen ist es unerheblich, ob sie diese Haltung aus eigener Entscheidung heraus oder auf Grund objektiver politischer und geographischer Verhältnisse einnehmen. Das ihnen allen gemeinsame Ziel bleibt das gleiche: nämlich eine Atempause zu gewinnen, die ihnen eine mit großer Vorsicht eingeleitete, aber ungestörte Entwicklung erlaubt. Diese gemeinsamen Ziele führen zu einer Übereinstimmung der Interessen, die mit ideologischem Zusammenhalt oder „sozialistischer Solidarität" wenig zu tun hat. Pekings Auftreten als konkurrierendes Zentrum kommunistischer Macht hat zweifellos die Emanzipation der meisten kommunistischen Regime aus ihrem bisherigen Satelliten-status beschleunigt. Aber dieser Prozeß könnte bald zum Stillstand kommen. Richard Löwenthal hat darauf hingewiesen, daß sich der zersetzende Einfluß Chinas auf das sowjetische Imperium in Europa weitgehend erschöpft hat, „nicht nur, weil die größere taktische Beweglichkeit, die Chruschtschows Nachfolger an den Tag legen, und die gegenwärtige extrem starre Haltung der chinesischen Führer den Osteuropäern kaum noch Raum lassen, den Konflikt weiter auszubeuten, sondern einfach deshalb, weil der ideologische Faktor für die Entwicklung der Beziehungen innerhalb des Blocks nicht mehr so wichtig ist." Der Warschauer Pakt wird darum in Zukunft nicht mehr so stark auf ideologischer Homogenität und erzwungener „Solidarität" beruhen, sondern sich allmählich zu einem klassischen Bündnis-system entwickeln, dessen Zusammenhalt sich hauptsächlich auf eine Interessengemeinschaft gründet. Das wird deutlich in einer kürzlichen Erklärung der KP Rumäniens; darin wird mit Nachdruck festgestellt: „Die Verschiedenheit bildet den unausweichlichen und unumstößlichen Rahmen für die Tätigkeit der kommunistischen Parteien. Einigkeit kann nur unter den Bedingungen dieser verschiedenen Situationen und Standpunkte erreicht, entwickelt und gefestigt werden." So wird offenbar die „Einigkeit in der Verschiedenheit" das dauerhaftere und vielleicht sogar einzig mögliche Prinzip für das weitere Fortbestehen des kommunistischen Systems bleiben. Wahrscheinlich ist eine Gemeinschaft dieser Art der niedrigste gemeinsame Nenner, auf den sich alle kommunistischen Führer Ost-europas einigen können. Jedenfalls ist die Tatsache, daß auch die Sowjetunion ihn akzeptiert hat und ihre Verbündeten nicht zu einer strengeren Gefolgschaft zwingt, Beweis für eine bemerkenswerte Wandlung in der sowjetischen Politik. Aber hätte sie überhaupt anders handeln können? Wahrscheinlich nicht. Zumindest gibt es mehr Beweise für als gegen diese Ansicht. Die Sowjetunion ist sich der Grenzen ihrer Macht selbst innerhalb ihres eigenen Einflußbereiches ebenso bewußt, wie sie umgekehrt weiß, daß ihre Unterstützung der osteuropäischen Regime weiterhin lebenswichtig ist. Ein stärker aufgelockertes kommunistisches Bündnissystem heißt nicht, daß darin die Stellung der Sowjetunion notwendigerweise weniger stark ist. Die Sowjetführer haben wahrscheinlich erkannt, daß der internationale Status ihres Landes als Großmacht wichtiger ist als seine ideologische Führungsposition im Weltkommunismus. Der Kommunismus hat schon lange aufgehört, ein einigendes Element zu sein, und die „kommunistische Solidarität" hat sich außenpolitisch oft genug mehr als Belastung denn als Vorteil erwiesen. Wenn deshalb unter Stalin die Ausdehnung des Kommunismus gleichbedeutend mit der Ausdehnung der Sowjetmacht war, so fand sich Chruschtschow bereit anzuerkennen, daß diese Ausdehnung auch durch selbständige Revolutionen erfolgen könne, solange diese mit den Interessen der Sowjetunion im Einklang stünden. Chruschtschows Nachfolger gingen noch einen Schritt weiter: Für sie ist jetzt sogar fraglich, ob eine solche Ausdehnung unbedingt für das Ansehen und die Interessen der Sowjetunion wichtig oder gar vorteilhaft sind. Darauf hat ihnen die Geschichte bereits eine negative Antwort erteilt.

Das alles mag nicht unbedingt relevant sein für Osteuropa, wo es weniger um Ausdehnung als um Stabilisierung und Erhaltung der kommunistischen Macht geht. In gewisser Hinsicht, wirkt es sich jedoch auch auf die sowjetische Politik in diesem Gebiet aus, insbesondere hinsichtlich der künftigen Entwicklung Mittel-deutschlands. Wie weit sich Osteuropa von der sowjetischen Gängelung emanzipieren wird, ist eine Frage; eine ganz andere ist, welche Stellung Ostdeutschland in einem „liberalisierteren" osteuropäischen Block einnehmen wird. Abgesehen von den oben erwähnten objektiven Schranken einer unbegrenzten Emanzipation könnte auch der Westen zur Einsicht gelangen, daß die Aussicht auf ein völliges Auseinanderfallen des sowjetischen Systems und die Rückkehr zu einem „balkanisierten" Osteuropa nicht unbedingt in seinem Interesse liegt. Außerdem würde ein so weitreichender Vorgang den Osten vor das Problem eines „emanzipierten" Mitteldeutschlands stellen, ebenso wie ein „emanzipiertes" Westdeutschland den Westen vor Probleme stellt.

Die verschiedenen Veränderungen in Osteuropa haben sich zweifellos auch auf die DDR ausgewirkt, wenn auch nicht immer so sichtbar. Die Entwicklung in der Bundesrepublik hat ihren Eindruck auf viele Ostdeutsche sicher nicht verfehlt. Bonns neue „Ostpolitik" hat nicht nur unmittelbare praktische Folgen gehabt wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien und den weiteren Aushau der Handelsbeziehungen mit Osteuropa. Solange es der Bundesrepublik gelingt, sich der Versuchung einer rein nationalen Politik zu entziehen, wird sie wesentlich dazu beitragen, die Furcht vor dem „deutschen Revanchismus" abzubauen oder gar völlig zu beseitigen; damit würde sie der kommunistischen Propaganda jenes Schreckgespenst nehmen, mit dem so oft. und so erfolgreich die Solidarität der osteuropäischen Länder neu heraufbeschworen wurde. Hat einmal die Bundesrepublik erst in aller Form auf jeden Zugang zu Atomwaffen verzichtet und ihre Ostpolitik erfolgreich fortgesetzt, dann dürfte es für die Sowjetunion zunehmend schwieriger werden, die westdeutsche „Aggressivität" als Vorwand für die Aufrechterhaltung der Block-solidarität zu benutzen — und die osteuropäischen Länder werden immer weniger bereit sein, ihn zu akzeptieren. Es wäre daher tragisch, wenn das Wiederaufleben des Nationalismus und vor allem rechtsradikaler Kräfte in der Bundesrepublik die Aufrichtigkeit der westdeutschen Politik in Frage stellten und diskreditierten. Eine solche Entwicklung würde manchen Kreisen in Osteuropa und in der Sowjetunion einen willkommenen Vorwand liefern, die ihnen bisher so nützliche KlischeeVorstellung vom „revanchistischen Deutschland" wieder neu zu beleben. Die politischen Veränderungen in Westdeutschland sind sichbarer und deutlicher, aber nicht unbedingt weitreichender als diejenigen in Mitteldeutschland. Beide Seiten haben wahrscheinlich ein wichtiges Element gemeinsam: eine wachsende Neigung zu stärkerer Selbstbehauptung und das Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Macht und ihres politischen Gewichts in dem jeweiligen Bündnis-system. Jeder Vergleich zwischen den beiden Teilen Deutschlands ist notwendigerweise irreführend, doch läßt sich sagen, daß diese zunehmende Selbstsicherheit sich auf die Beziehungen zu den beiden Weltmächten sowie zu den wichtigsten Verbündeten auswirkt. Sie führt West-wie Ostdeutschland — in verschiedener Weise und in verschiedenem Maße — weg von dem bisherigen Status nahezu bedingungsloser Gefolgschaft zu einer differenzierteren Stellung, von der aus sie beide einen nennenswerten Einfluß auf die sowjetische bzw. amerikanische Politik auszuüben vermögen. Dabei genießt selbstverständlich die Bundesrepublik viel größere Bewegungsfreiheit und hat größere Aussicht auf Erfolg als die DDR. Anders als diese kann sie die amerikanische Führungsmacht herausfordern, ohne damit ihre eigene Existenz zu gefährden oder in den Verdacht zu geraten, das Bündnis zu untergraben. Trotzdem scheint die Bundesrepublik sich allmählich von ihrer einseitigen Westorientierung umzustellen und sich stärker Osteuropa zuzuwenden. Das würde einer Rückkehr zur früheren Stellung Deutschlands in Mitteleuropa gleichkommen. Es ist wahrscheinlich die natürliche Reaktion auf eine Politik, die allzu lange ausschließlich auf den Westen ausgerichtet blieb.

Es ist eine der Folgen der widersinnigen Teilung Deutschlands, daß dieses neue Gefühl „mitteleuropäischer Identität" (Löwenthal) sich in Ost-und Westdeutschland genau entgegengesetzt auswirkt. Wo es im Westen neue Hoffnungen auf die Wiedervereinigung erweckt, scheint es im Osten die Aussichten auf die Wiedervereinigung noch weiter zu verringern. Das erklärt sich vor allem daraus, daß die Ostdeutschen zum erstenmal stolz auf die Leistungen ihres Landes sind. Zwar sind sie keine begeisterten Anhänger des jetzigen Regimes, doch scheint ihre offene Feindseligkeit gegen das Regime allmählich einer aktiveren Mitarbeit unter ihm Platz zu machen. Das hier im Entstehen begriffene ostdeutsche Nationalbewußtsein dürfte mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung wachsen, um so mehr, wenn es dem Regime gelingt, als Beweis dieses Selbstbewußtseins eine etwas größere Unabhängigkeit von Moskau zu manifestieren.

Mit der abnehmenden Anziehungskraft des westdeutschen Wirtschaftswunders entfällt ein wichtiger Grund für die Ostdeutschen, die Wiedervereinigung herbeizuwünschen. Der größere Abstand und auch die gewisse Ernüchterung, mit der sie Bonn betrachten, werden in Zukunft noch wachsen, wenn erst einmal eine Wachablösung oder vielmehr ein Generationswechsel in Ost-Berlin stattgefunden hat. Die Plätze von Ulbricht und seinen Gefolgsleuten aus der ersten Nachkriegszeit werden durch selbstbewußte jüngere Männer eingenommen werden, die zwar der Schulung und Überzeugung nach Kommunisten sind, aber größeres Verständnis für die Probleme der zweiten industriellen Revolution haben. Sie werden wahrscheinlich weniger Parteifunktionäre als Technokraten sein, sich weniger für die vielberufene, aber selten einträgliche internationale kommunistische Solidarität und die sture Bekämpfung des „Kapitalismus" als vielmehr für die Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft und das internationale Ansehen ihres Landes interessieren. Gerade weil das im Schatten einer düsteren Vergangenheit und hinter der unrühmlichen Berliner Mauer geschehen muß, werden sie versuchen, ihr Regime durch andere Mittel annehmbarer zu machen, annehmbarer sowohl für die Umwelt als für die eigene Bevölkerung.

Diese Entwicklung wird vielleicht eher zu einer Versteifung als zu einer Verringerung der Rivalität und Konkurrenz zwischen den beiden Teilen Deutschlands führen. Es hilft aber wenig, die DDR stets nur als Marionette der Sowjetunion hinzustellen, da dies sie kaum anspornen wird, eine selbständigere und hoffentlich unabhängigere Position gegenüber der Sowjetunion und deren osteuropäischen Verbündeten einzunehmen. Für ein Land, das in jeder Hinsicht von der sowjetischen Protektion abhängig war, stellt Entspannung wohl die größte Herausforderung dar. Sie wird es einem offenen Wettbewerb mit der Bundesrepublik und einem wachsenden Druck für eine vermehrte „Liberalisierung" durch die osteuropäischen Länder aussetzen. Die erste Reaktion auf eine solche Herausforderung ist, zunächst wieder Schutz bei der sowjetischen Vormacht zu suchen und sich erneut hinter der sicheren Verteidigungslinie offener Feindseligkeit gegenüber Bonn zu verschanzen. Genau das hat Pankow — mit dem Segen Moskaus — seit Beginn der neuen Phase westdeutscher Ostpolitik getan. Mit einem in aller Eile aufgezogenen Netz bilateraler „Freundschaftsverträge" sicherte sich die DDR die zögernde Unterstützung seiner kommunistischen Nachbarn vor dieser unerwarteten „Offensive". Es ist jedoch äußerst fraglich, ob solche von der Not des Augenblicks diktierten Aktionen die DDR auf die Dauer vor der Konkurrenz mit der Bundesrepublik absichern werden. Ihr Preis ist jedenfalls ein weiterer Prestigeverlust und möglicherweise eben jene Isolierung, die Pankow so sehr fürchtet. Es kann deswegen nicht dauernd diese negative Politik offener Feindschaft und Abwehr fortführen, wenn es sich nicht damit abfinden will, vor aller Welt mehr und mehr lediglich als sowjetisches „Protektorat" dazustehen. Genau diesen Eindruck aber möchte Pankow vermeiden. Wird es einmal dem scharfen Wind der internationalen Konkurrenz ausgesetzt, dann dürfte dies mehr als alles andere und jedenfalls mehr als seine Isolierung zu einer allmählichen Liberalisierung der DDR beitragen. Um diese Liberalisierung zu beschleunigen, braucht die DDR nicht formell anerkannt zu werden. Nach geltendem Völkerrecht erfolgt eine solche Anerkennung nach und nicht vor dem Nachweis, daß der betreffende Staat in der Lage ist, sich selbständig zu verwalten. Bonn sollte vielmehr deutlich machen, daß hinfort Stellung und Politik der DDR nach internationalen Maßstäben gemessen und entsprechend beurteilt werden. Praktisch bedeutet dies nichts anderes, als daß die Staatengemeinschaft weder die ostdeutsche Politik der Feindseligkeit gegenüber der Bundesrepublik noch die Unterdrückung der wichtigsten Grundrechte der eigenen Bürger hinzunehmen gewillt ist.

Ostpolitik der Bundesrepublik auf drei Ebenen

Die Bundesrepublik sieht sich also vor der schwierigen und heiklen Aufgabe, ihre Ost-politik auf drei Ebenen zugleich zu führen: gegenüber der Sowjetunion, gegenüber den osteuropäischen Staaten und gegenüber der DDR. Das erfordert ein vorsichtig abgestuftes Vorgehen, wenn nicht Mißtrauen und Abwehr auf der einen oder anderen Seite geweckt werden sollen. Nicht so sehr das Beharren auf „Rechtsstandpunkten" als ein besonderes Verständnis für die Schwierigkeiten und Befürchtungen dieser Länder wird hier weiterhelfen. In dieser Hinsicht zumindest ist das Zustande-kommen der „Großen Koalition" zu begrüßen. Nur sie verfügt über die genügend breite und starke Basis, von der aus man den radikaleren Forderungen nationalistischer Kreise wirksam entgegentreten kann; nur sie erlaubt eine Politik, die zwar das Fernziel der Wiedervereinigung nicht aus dem Auge verliert, aber den vielfältigen Erfordernissen militärischer Sicherheit, wirtschaftlicher Entwicklung und innerer und äußerer Stabilität zunächst Rechnung trägt.

Einer solchen Reihenfolge liegt nicht zuletzt die Einsicht zugrunde, daß keiner der westlichen Verbündeten gegenwärtig willens oder fähig ist, die Wiedervereinigung in absehbarer Zeit herbeizuführen. Sie begrüßen zwar Bonns beweglichere Politik gegenüber dem Osten, auch wenn sie selbst nicht in der Lage sind, dafür in Europa jene Bedingungen zu schaffen, unter denen diese Politik tatsächlich fruchtbar gemacht werden könnte. Im Blick darauf könnte sich denn auch die Bundesrepublik früher oder später versucht sehen, die Lösung der Deutschland-Frage mit der DDR direkt, also auf nationaler Ebene, herbeizuführen. Auf diese Möglichkeit wies vor kurzem die jugoslawische Zeitung Borba hin: „Die Bundesrepublik kann, wenn sie es wirklich will, ihren eigenen Frieden schließen mit Osteuropa und Europa im allgemeinen. Dafür braucht sie keinen Mittler und auch keinen Helfer." Es kann deshalb nicht verwundern, daß manche Deutsche zur Auffassung gelangt sind, daß die bisher angestrebte „internationale Lösung" der Deutschland-Frage gescheitert sei und diese nunmehr auf nationalem Wege gelöst werden sollte.

Genau dies hat die sowjetische Politik seit Jahren angestrebt. Moskau hat sich konsequent jedem Versuch des Westens widersetzt, Fortschritte auf dem Gebiet der Ost-West-Beziehungen und der europäischen Sicherheit (einschließlich von Rüstungskontrollmaßnahmen in Europa) mit gleichzeitigen oder nachfolgenden Fortschritten in der Deutschland-Frage zu verknüpfen. Diese Verknüpfung der deutschen mit der europäischen Frage wurde erstmals auf der Gipfelkonferenz von 1955 gelockert. In den folgenden Jahren wurde sie immer weiter gelöst, bis sie schließlich vom Westen Anfang der sechziger Jahre vollends aufgegeben wurde. Das bedeutet zweifellos eine folgenreiche Konzession gegenüber einem fortgesetzten sowjetischen Druck und einer scheinbar unwiderstehlichen Versuchung zur Entspannung um fast jeden Preis — eine Entspannung, die niemand wegen des ohnehin unlösbaren Deutschland-Problems ohne Not gefährden möchte. So kommt es, daß als Ergebnis dieses erfolgreichen sowjetischen Manövers nunmehr Deutschland, das heißt natürlich die Bundesrepublik, und nicht mehr die Sowjetunion, als Hauptverantwortlicher für die fortdauernde Spannung in Europa und dessen Teilung hingestellt wird. Damit kam die Bundesrepublik fast unvermeidlich unter Druck ihrer eigenen Verbündeten, ihre antikommunistische Politik endlidr aufzugeben und sich zu Konzessionen in „Nebenfragen" bereit zu erklären. Dabei wird geltend gemacht, daß solche Konzessionen wesentlich zur Wiedervereinigung (das im Grunde einzig wichtige Ziel deutscher Politik) beitragen oder doch die Aussichten darauf verbessern helfen würden. Vor allem aber könnten diese Konzessionen entscheidend zur Entspannung beitragen, die ohne eine solche westdeutsche Selbstbescheidung sonst kaum möglich sei. Das Ergebnis einer solchen Haltung heißt letzten Endes nichts anderes, als die Teilung Deutschlands erträglicher und schließlich auch für die Deutschen selbst annehmbarer zu machen.

Die Gefahren einer solchen Politik liegen auf der Hand. Die neue „Öffnung nach Osten", in der Absicht, damit die Aussichten für eine Wiedervereinigung zu verbessern, könnte die nationalistischen Strömungen verstärken, wenn sich herausstellt, daß diese Politik ganz im Gegenteil die Teilung Deutschlands festigen hilft. Denn wenn die Entspannung für irgend jemanden enge Grenzen hat, dann für Deutschland. Gerade deshalb erscheint es zumindest fraglich, ob sich Bonn bei seiner Ost-politik so stark auf die Unterstützung Frankreichs verlassen sollte. Nicht nur bleiben Frankreichs Möglichkeiten einer wirksamen Einflußnahme auf die Sowjetunion begrenzt; vielmehr kann man sich auch fragen, ob Frankreich tatsächlich der deutschen Wiedervereinigung den Vorrang vor seinem viel weiterreichenden Ziel einer allgemeinen Entspannung gibt. Bekanntlich vertritt Präsident de Gaulle die Auffassung, daß eine solche Entspannung (detente) einer Verständigung (entente) mit der Sowjetunion vorauszugehen habe. Wenn jedoch bereits diese detente an der Deutschland-Frage zu scheitern droht, dann kann man sich fragen, wie lange der französische Staatschef dies hinzunehmen gewillt ist. Wenn ihm die Entspannung eine Verständi- gung mit der Sowjetunion verspricht, indem er sich deren Auffassung von einer mehr oder weniger permanenten Teilung Deutschlands anschließt und als Gegenleistung dafür als Moskaus wichtigster Partner in Europa anerkannt wird — wird er dann einer solchen Versuchung auf die Dauer widerstehen können?

All dies könnte zu der wohl für alle Beteiligten — einschließlich Deutschlands — bedenklichsten Situation führen, daß nämlich Deutschland im Herzen Europas nationale Ziele abermals mit rein nationalen Methoden zu verfolgen sucht. Vielleicht bleibt ihm keine andere Wahl, sicher aber wird ihm dies zum Vorwurf gemacht werden. Die Bundesregierung wird sich somit einem wachsenden inneren und äußeren Druck ausgesetzt sehen; sie wird im Westen ebenso wie im Osten wegen jeder Neigung zu einer nationalistischen Politik getadelt werden; und gleichzeitig von der rechtsradikalen Opposition angeklagt werden, die nationalen Interessen dennoch nicht genügend zu vertreten. Für jede deutsche Regierung würde dies eine große Belastung bedeuten, und selbst eine Koalitionsregierung wird es immer schwieriger haben, sie ohne Verlust von Ansehen und Stabilität durchzustehen.

Innerhalb der NATO wird sich die Bundesrepublik bald mit einem weiteren Problem zu befassen haben. Wenn es richtig ist, daß (mit den Worten eines deutschen Politikers) „Integration der Lebensnerv der deutschen Außen-und Verteidigungspolitik" ist dann werden die Auflockerung des Bündnissystems und der schrittweise Abbau der alliierten Streitkräfte in Europa die Bundesrepublik vor die heikle Aufgabe stellen, Aufbau und Auftrag der Bundeswehr neu zu formulieren. Deren Stellung als größte konventionelle Streitmacht in Westeuropa könnte sich sonst mehr als psy-chologische Belastung denn als militärischer Vorteil erweisen. Der Gedanke, die Bundeswehr über ihren jetzigen Bestand von 12 Divisionen hinaus zu vergrößern, wurde längst fallengelassen. Umgekehrt gibt es bereits Bestrebungen, sie ebenfalls zu reduzieren (wobei 8 oder 9 Divisionen genannt werden). Für eine solche Maßnahme sprechen auch finanzielle Gründe. Wie überall steigen auch bei der Bundeswehr die Unterhaltskosten ständig an; das hat zur Folge, daß der zu ihrer Modernisierung und Neuausrüstung erforderliche Am teil am Verteidigungsbudget ständig kleiner wird. Das wiederum wirkt sich negativ auf den Ausgleich für die Stationierungskosten gegenüber den Vereinigten Staaten und Großbritannien und damit auf die Beziehungen zu diesen beiden Ländern aus. Der teilweise Abzug amerikanischer und britischer Truppen ist natürlich nur sehr bedingt eine Reaktion darauf; immerhin wird er wahrscheinlich früher oder später eine entsprechende Truppenreduktion auf deutscher Seite zur Folge haben. Sicher ist, daß jede Entscheidung über Organisation und Stärke der Bundeswehr weitreichende politische Konsequenzen haben wird. Eine der wichtigsten Aufgaben Bonns in naher Zukunft wird deswegen die Anpassung der Bundeswehr an die sich verändernden strategischen Konzeptionen und politischen Bedingungen in Europa und innerhalb der Allianz sein. Wenn die westliche Strategie glaubwürdig und zweckmäßig und die Bundeswehr in der NATO integriert bleiben soll (worüber sich alle einig sind), dann muß die Allianz jenes Mindestmaß an Integration bewahren, das diese beiden Funktionen zu erfüllen vermag. Mit anderen Worten: die NATO muß dem durchaus berechtigten Wunsch der Bundesrepublik nach Fortführung der Integration dadurch Rechnung tragen, daß sie eine genügend breite internationale Basis aufrechterhält, die der Bundeswehr ein Verbleiben darin ohne Diskriminierung erlaubt.

Französische Politik ohne glaubwürdige Alternative

Selbst Frankreich wäre grundsätzlich mit einer solchenUmschreibung der NATO-Aufgaben einverstanden, obwohl gerade seine Politik die Auflösung des Bündnisses beschleunigt, ohne dafür eine glaubwürdige Alternative anzubieten. De Gaulles Vision von einem mächtigeren und selbständigeren Europa gründet sich vorläufig mehr auf Hoffnungen als auf reale Möglichkeiten. Nationale Unabhängigkeit und Emanzipation von den Weltmächten ist an sich noch kein konkretes Aktionsprogramm. Bis heute waren denn auch Ziele und Ergebnisse der französischen Politik weitgehend negativ in ihren Wirkungen, so begrüßenswert manche unter ihnen auch sein mögen. Frankreichs Kritik an der NATO und sein späteres Ausscheiden aus deren integrierter Militärorganisation steht bis jetzt noch kein überzeugender Plan für ein europäisches Sicherheitssystem gegenüber. Das rührt nicht zuletzt daher, daß weder Frankreich noch England, so sehr sie sich ihrer neu geknüpften zweiseitigen Beziehungen zur Sowjetunion rühmen mögen, für diese jemals ein echter Ersatz für die amerikanische Macht auf europäischer oder gar weltpolitischer Ebene werden können. Der französische Plan, die force de trappe als Mittel zur Neuordnung des europäischen Staatensystems und Überwindung der Trennungslinie zwischen West und Ost einzusetzen, erscheint wenig überzeugend. Verglichen mit dem weiter wachsenden Rüstungspotential der beiden Weltmächte dürfte das Gewicht von Frankreichs Atomstreitmacht in den siebziger Jahren eher noch abnehmen. Dementsprechend dürfte seine Glaubwürdigkeit als atomare Schutzmacht in Europa (anstelle der Vereinigten Staaten) ebenfalls geringer werden, es sei denn, sie finde sich zu einer bilateralen Zusammenarbeit mit Großbritannien oder zu einer Integration im weiteren europäischen Rahmen bereit. Andernfalls wird sich Frankreich einem ähnlichen Dilemma gegenübersehen wie Großbritannien in den fünfziger Jahren. Die Ursache dieses Dilemmas sind die enormen Kosten und

Schwierigkeiten technologischer Entwicklungen, die einem Alleingang kleinerer Atommächte zunehmend engere Grenzen setzen.

Möglicherweise ist es Frankreich gelungen, seine führende Position auf dem Kontinent zu bewahren, indem es England von Europa fernhält. Deutschlands Aufstieg als politischer Rivale liegt in weiter Ferne und wird voraussichtlich durch dessen endgültigen Verzicht auf Atomwaffen für immer verhindert. So hat Raymond Aron nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, daß mutatis mutandis das deutsch-französische Verhältnis dem französisch-amerikanischen gar nicht so unähnlich ist. De Gaulle hat überzeugend bewiesen, daß ihm jede vermeintliche oder tatsächliche Unterordnung unter die amerikanische Führungsmacht unerträglich ist — und ähnlich dürfte einmal die Bundesrepublik gegenüber Frankreichs Führungsanspruch reagieren.

Manches spricht dafür, daß sich Frankreichs Außenpolitik nach de Gaulle kaum wesentlich ändern wird. Sicherlich wird der Gaullismus in seiner gegenwärtigen Form de Gaulle selbst nicht lange überleben; Frankreich könnte damit erneut in eine Periode größerer Instabilität zurückfallen. Das würde wahrscheinlich zur Folge haben, daß sich das Schwergewicht der französischen Politik mehr auf innere, vorwiegend wirtschaftliche und soziale Probleme verlagern und daß das kostspielige Nuklear-programm verlangsamt würde. Diese innenpolitischen Veränderungen brauchen jedoch nicht zu einem Kurswechsel in der Außenpolitik zu führen. Ein entscheidender Grund hierfür liegt wohl darin, daß nach de Gaulle die französische Linke an Einfluß gewinnen und deshalb weder die gegenwärtige Politik der Entspannung gegenüber Osteuropa aufgeben noch eine erneute Bindung an die Vereinigten Staaten und die NATO zulassen würde. Unabhängig davon aber wird das sich wandelnde Verhältnis Frankreichs zu England sicher zu einem immer wichtigeren Faktor in seiner künftigen Europapolitik werden.

Großbritannien und Europa

Das Europa der siebziger Jahre wird zweifellos anders aussehen, wenn einmal Großbritannien ein fester Bestandteil davon geworden ist. Vielleicht geht es dann nur noch um die Frage, in welcher Form und unter welchen Umständen dies zu geschehen hat. Bis vor kurzem hat sich England — mit Absicht oder weil ihm keine andere Wahl blieb — seine außenpolitischen Optionen offengehalten: Seine Präsenz in Asien ist nach wie vor, wenn auch in geringerem Ausmaße, erforderlich; daraus leitet sich wiederum das besondere Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ab. Im Blick darauf und nicht minder wegen Englands entscheidender Stellung innerhalb des Commonwealth zweifeln viele Kontinental-europäer am echten Willen Englands, dem Gemeinsamen Markt beizutreten und dessen Zielsetzung zu übernehmen. Solche Zweifel können und werden wieder auftauchen, solange sich England in jener schmerzhaften Phase des Übergangs von der „post-imperialistischen und prä-europäischen Ära" (nach einem Ausdruck der Londoner Times) in jene eines unzweideutigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bekenntnisses zu Europa befindet.

Sicher wird der Beitritt Englands zum Gemeinsamen Markt vorerst für alle Beteiligten mehr Probleme schaffen als lösen: So wird die britische Zahlungsbilanz starken Belastungen ausgesetzt werden, vor allem als Folge des Anschlusses an den europäischen Agrarmarkt; er wird weitreichende Auswirkungen auf das so mühsam errungene und immer noch empfindliche wirtschaftliche und politische Gleichgewicht zwischen den sechs bisherigen Mitgliedsländern haben; er wird die ohnehin geringen Aussichten auf eine politische Einigung Europas noch weiter verringern; und er wird die prekäre EFTA-Gemeinschaft möglicherweise endgültig spalten und dabei einige ihrer Mitglieder, besonders Portugal und die Schweiz, in eine schwierige Lage versetzen.

Dennoch sind die langfristigen wirtschaftlichen Vorteile eines Beitritts für England bereits heute abzusehen. Wichtiger als sie sind aber die politischen Folgen, die ein solcher Beitritt — oder sein abermaliges Scheitern — haben würde. Die außenpolitischen Optionen, über die England nach einer Ablehnung seines Beitrittsgesuches noch verfügen könnte, sind als Folge seines schrittweisen Rückzugs aus globalen Verpflichtungen immer geringer geworden. Eine echte Alternative zu Europa gibt es praktisch nicht mehr, es sei denn, man rechne mit der Wiederbelebung der ohnehin recht verschwommenen und unverbindlichen Konzeption einer atlantischen Freihandelszone. Umgekehrt könnte ein erfolgreicher Ausgang der Verhandlungen in Brüssel beitragen, Englands Verhältnis zu Europa und seine politische Rolle in der Welt neu zu definieren und dauerhafter festzulegen.

Europa in den siebziger Jahren ist kaum vorstellbar ohne ein Großbritannien, das stärker als bisher an den Kontinent gebunden ist. Durch seine Aufnahme entweder in die EWG oder in einen weiteren europäischen Rahmen würde Europa auf fast allen Gebieten —politisch, wirtschaftlich, technologisch — neue Dimensionen gewinnen. Nur auf diese Weise kann es hoffen, jenen Grad an Unabhängigkeit von den Weltmächten zu erlangen, den so viele Europäer anstreben. Die politische Organisation einer um England (und wahrscheinlich weiterer Länder) vergrößerten Europäischen Gemeinschaft wird voraussichtlich de Gaulles Vorstellung von einem „Europa der Vaterländer" näher kommen als der von einer selbst losen Föderation. Das bedeutet, daß die Aufnahme Großbritanniens und anderer Länder die innere politische Kohärenz der Gemeinschaft zunächst einmal und unvermeidlich auflockern wird. Viele mögen darin zunächst einen Vorteil sehen, zu einem Zeitpunkt, in dem eine stärkere Differenzierung innerhalb der beiden europäischen „Blöcke eine Annäherung zwischen Ost-und Westeuropa zu erleichtern scheint. Manche Länder werden deshalb lockere Formen des Zusammenschlusses einer weitgehend integrierten Gemeinschaft vorziehen, weil sie fürchten, daß die Osteuropäer eine solche „geschlossene" Gemeinschaft als wenig geeignet für eine weitere Annäherung und vielleicht sogar als Neuauflage einer Blockbildung ansehen könnten. Ob dies langfristig gesehen eine zutreffende Beurteilung osteuropäischen Verhaltens ist, bleibt zumindest eine offene Frage. Schließlich verdankt die EWG ihre Erfolge gerade jenem hohen Maß an Integration, das die Anziehungskraft gegenüber Osteuropa kaum geschmälert, wahrscheinlich sogar erhöht hat.

Außerdem wissen wir, daß alle osteuropäischen Länder eine wirtschaitliche Zusammenarbeit mit dem Westen anstreben, wobei sie sich wohl bewußt sind, daß die Aussicht auf eine politische Annäherung der beiden Systeme äußerst gering ist. Deshalb braucht sie der institutionelle Rahmen westeuropäischer Integration so lange nicht zu stören, als er den weiteren wirtschaftlichen Fortschritt ermöglicht und die Erweiterung der Handelsbeziehungen mit dem Osten nicht hindert. Es würde deshalb niemandem etwas nützen, wenn Westeuropa lediglich aus falscher Rücksicht auf den Osten sein Ziel einer möglichst engen Zusammenarbeit innerhalb einer erweiterten Europäischen Gemeinschaft aufgeben würde.

Neue Formen der Zusammenarbeit Westeuropas

Unabhängig von seinen Beziehungen zum Osten wird Westeuropa jedoch eine Antwort auf die schwierige Frage finden müssen, mit welcher Organisationsform die vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und technologischen Probleme des Jahrzehnts zu bewältigen sind. In der Theorie zumindest scheint es keinen Mittelweg zwischen einem Zusammenschluß der Nationalstaaten in eine umfassende einer und womöglich stabilere Gemeinschaft -seits und einer Wiederherstellung der politisch-militärischen Entscheidungsfreiheit der einzelnen Staaten anderseits zu geben. Nachdem die Länder Europas die katastrophalen Folgen einer Politik nationalen Alleingangs erfahren haben, supranationale Lösungen als Grundlage der europäischen Einigung aber ebenfalls gescheitert sind, stehen sie heute an einer Kreuzung, an der sie eine Entscheidung über den künftig einzuschlagenden Weg zu treffen haben.

Ein Wiedererwachen nationalistischer Strömungen erscheint fast unvermeidbar. Dennoch bietet die Rückkehr zum Nationalismus, keine befriedigende Antwort auf die große Zahl drängender Probleme, mit denen Europa in den kommenden Jahren in der einen oder anderen Weise fertig werden muß. Um nur die wichtigsten unter ihnen zu nennen: Wie soll das politische System in Europa gestaltet sein, das die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichen oder zumindest einen rivalisierenden Nationalismus seiner beiden Teile verhindern hilft? Kann eine solche Ordnung eine ausreichend feste Grundlage für die Bewahrung von Sicherheit und Stabilität in ganz Europa bilden, die vielleicht sogar die reform-bedürftigen Bündnissysteme zu stärken oder zu ersetzen vermag? Welche Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit wird Westeuropa entwickeln können, um seine militärisch-technologische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern? Wird Europa jemals in die Lage kommen, für seine eigene Sicherheit zu sorgen, ohne sich aul unabsehbare Zeit dem Schutz durch eine Großmacht anvertrauen zu müssen? Welche Rolle werden die britischen und französischen Atom-streitkräfte im kommenden Jahrzehnt spielen? Und was vor allem wird mit ihnen geschehen, wenn die Weltmächte einmal ein wirksames Raketenabwehrsystem aufgebaut haben werden? Europa wird sich diesen und ähnlichen Fragen früher oder später zuwenden müssen. Sie zu beantworten, ist nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes. Immerhin läßt sich eines jetzt schon mit einiger Sicherheit sagen: Ohne eine Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit ist die Bewältigung dieser Aufgaben kaum denkbar. Das läßt eine weitere Zersplitterung der Kräfte noch unrealistischer erscheinen. Möglicherweise werden wir jetzt den Preis dafür bezahlen müssen, das Schwergewicht zu einseitig auf die rein physische Sicherung gelegt und dabei die Schaffung eines umfassenderen politischen Systems vernachlässigt zu haben, das auch dann noch weiterbesteht, wenn einmal die Sicherheit gewährleistet ist. Ungleich den Weltmächten bedürfen Europa und vor allem Deutschland eines solchen Systems, ganz besonders dann, wenn sie sich von der Schutzgarantie dieser Mächte zu lösen suchen und zugleich mit den Risiken und Unsicherheiten einer Entspannung zwischen Ost und West konfrontiert werden.

Unterschiedliche Definitionen der Entspannung

Die Vielfalt der mit dem Begriff „Entspannung" verbundenen Deutungen verdeckt die von ihr eigentlich erhoffte Wirkung. Wenn Entspannung die bedingungslose Hinnahme des gegenwärtigen bedeutet — wie Status quo es die Sowjetunion und ihre Verbündeten Vorschlägen —, dann wären dagegen ernste Vorbehalte anzumelden. Der Westen seinerseits versteht unter Entspannung jene Lage, in der die politischen Bedingungen geschaffen werden, die schließlich zu einer Überwindung eben dieses Status quo führen sollen; diese Interpretation stößt wiederum bei den kommunistischen Staaten auf Widerstand. Sehr wahrscheinlich sind denn auch beide Definitionen entweder zu eng oder zu weit gefaßt. „Entspannung" dürfte wohl jene Situation umschreiben, in der das gegenseitige Mißtrauen gegenüber den aggressiven Absichten des andern einer grundsätzlichen Bereitschaft zur Zusammenarbeit Platz macht. Dies führt zu einer Entkrampfung der Beziehungen, die es den Regierungen leichter macht, abermals ihre eigenen Interessen den Erfordernissen gemeinsamer Verteidigung voranzustellen und sich somit der oft unbequemen Disziplin eines Bündnissystems zu entziehen. Unter solchen Umständen wird die Kommunikation zwischen einstmals gegnerischen Systemen wieder möglich und werden die Voraussetzungen für einen peacetul change, eine Wandlung durch Annäherung, geschaffen.

Aber wie weit kann und wird dieser Prozeß der Entspannung gehen? Ohne Zweifel haben sich die Beziehungen zwischen Ost-und Westeuropa merklich verbessert. Zwischen den Ländern auf beiden Seiten bestehen heute mehr kulturelle, wirtschaftliche, technische, wissenschaftliche und sogar politische Kontakte denn je zuvor. Die Kluft zwischen den beiden politischen Systemen ist aber nach wie vor tief, auch wenn sie nicht mehr unüberbrückbar erscheint.

Ein nicht minder großer Fortschritt ist das Verschwinden des offenen Mißtrauens, ja der Feindseligkeit zwischen den beiden Blöcken. Auf beiden Seiten scheint man den Versuch aufgegeben zu haben, den anderen zum eigenen politischen und wirtschaftlichen System bekehren zu wollen. All das schließt einen weiteren Wandel nicht aus, im Gegenteil: Gerade ein solcher Wandel bildet die Voraussetzung für eine echte Annäherung. Nicht überraschend, aber immerhin bemerkenswert ist die Feststellung, daß Osteuropa viel stärker vom Westen beeinflußt wurde als umgekehrt. Vor allem der Gemeinsame Markt übte eine besondere Anziehungskraft auf die Volksdemokratien aus; er erbrachte damit einen überzeu-genden Beweis für die Vorteile einer auf Freiwilligkeit und Gleichberechtigung beruhenden Integration. Aber so erfreulich dieser Einfluß des Westens auch sein mag, er kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß selbst ein noch so dichtes Netz von Wirtschaftsbeziehungen die eigentlich politischen Gegensätze nicht zu beseitigen vermag, selbst wenn es da und dort ihre Lösung erleichtern sollte. Das wichtigste Ergebnis der Entspannung ist die Über-windung jener doktrinären Starre, die bislang jeden Dialog zwischen den beiden Teilen Europas weitgehend unmöglich gemacht hat. Dies hat sicher auch dazu beigetragen, das bloße Nebeneinander in ein mehr positives Miteinander zu verwandeln. Dies trifft zunächst auf viele nichtpolitische Bereiche zu; es ist nicht auszuschließen, daß davon eines Tages auch die politischen Beziehungen selbst erfaßt werden, zumel, wenn die Länder Europas entdecken, daß sie bestimmte politische Interessen teilen, die sie entweder unabhängig von jenen der Großmächte oder notfalls sogar gegen sie durchsetzen sollten. Im Augenblick aber erscheint eine solche Aussicht in noch ferner, wenn auch nicht unerreichbarer Zukunft.

Die Entspannung hat Europa jedenfalls zum Bewußtsein gebracht, wie sehr sich das internationale Klima in den letzten Jahren gewandelt hat. Zwar stehen sich die beiden Weltmächte immer noch im Herzen Europas gegenüber, doch sehen sich West-und Osteuropa nicht mehr lediglich als Teile dieser Konfrontation. Das birgt neben Vorteilen auch Risiken in sich. Die Differenzierung, ja teilweise sogar Desintegration der Bündnissysteme hat diese zweifellos beweglicher gemacht, zugleich aber auch zerbrechlicher und anfälliger für gegenseitige Rivalitäten und Mißtrauen unter ihren Mitgliedern. Gelegentlich hat es sogar den Anschein, als ob manche Länder sich besser darauf verstünden, Beziehungen zu Staaten der andern Seite herzustellen, als jene mit den eigenen Verbündeten zu pflegen und weiterzuentwickeln. Ihre nachlassende Bereitschaft zur Integration scheint sie zu jenem Bilateralismus zurückzuführen, von dem man bereits glaubte, daß er als Grundlage für die Beziehungen innerhalb und außerhalb der Bündnissysteme längst überholt sei.

Für Westeuropa erhebt sich damit die Frage, ob derartige Vorstellungen tatsächlich der beste Weg sind, um zu einem neuen und besseren Verhältnis zu Osteuropa und den beiden Weltmächten zu gelangen. Man kann sich schwer vorstellen, wie erfolgreich der Versuch sein kann, „die osteuropäischen Staaten durch eine Erweiterung der Kontakte selbständiger zu machen und damit die Grundlage für eine europäische Ordnung zu schaffen" wenn der innere Zusammenhalt unter den westeuropäischen Ländern selbst weiter abnimmt. Eine gewisse politische Differenzierung unter ihnen mag vielleicht eine Annäherung zu Osteuropa erleichtern; es ist aber mehr als zweifelhaft, ob dies auch gegenüber der Sowjetunion zutrifft. Diese wird nicht zögern, die gegenwärtige Entspannung und gerade diese Aufsplitterung in Westeuropa zu ihren Gunsten auszunutzen. So ist es nicht ausgeschlossen, daß sie eine Erweiterung der EWG begrüßen würde, wenn damit die Aussicht bestünde, daß sich eine solchermaßen erweiterte Gemeinschaft von den Vereinigten Staaten absetzen würde und den Einfluß der Bundesrepublik besser neutralisieren könnte. Ebenso könnte die Sowjetunion den Beitritt Großbritanniens zur EWG als einen Vorgang begrüßen, der deren supranationalen Charakter schwächt, den Abbau englischer Präsenz in Übersee beschleunigt und das besonders enge Verhältnis zu den Vereinigten Staaten löst. Die sowjetische Zielsetzung einer Auflockerung der Europäischen Gemeinschaft läuft parallel zur Befürwortung genau jenes Bilateralismus, dem sich Westeuropa wieder zuzuwenden scheint; beides zusammen soll Ausstrahlungskraft und politische Wirkung der europäischen Integration vermindern. In-dem die Sowjetunion zudem Westeuropa zu einer größeren Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten ermutigt, hofft sie, ihren eigenen Einfluß dort zu verstärken und die einzelnen westeuropäischen Länder „in ein Verhältnis engerer Abhängigkeit oder sogar Unterordnung zu sich zu bringen und dadurch ihre eigene Machtposition gegenüber den Vereinigten Staaten zu verbessern" Daraus erklären sich die jüngsten sowjetischen Andeutungen über die Möglichkeit einer technologischen Zusammenarbeit mit Westeuropa und eines europäischen Sicherheitssystems unter Ausschluß der Vereinigten Staaten.

Noch keine Alternative zur Atlantischen Allianz

Westeuropa wird also im kommenden Jahrzehnt die Frage zu beantworten haben, ob es „die (Ost-West-) Kontakte so weit koordinieren und politisch fruchtbar machen kann, daß sie zur Stärkung eines selbständigen Europas anstatt zu seiner Aufsplitterung oder Unterordnung unter die sowjetische Ubermacht führen" (Marshall Shulman). Zugleich muß sich Europa darüber klarwerden, wieviel es tatsächlich von einer Annäherung an die Sowjetunion einerseits und einer weiteren Entfremdung von den Vereinigten Staaten andererseits gewinnen kann. Denn so oder so setzt eine größere Unabhängigkeit Europas ein Mindestmaß an Zusammenarbeit und gemeinsamen politischen Überzeugungen unter den europäischen Staaten voraus. Mit andern Worten: Politische Entspannung bedarf wahrscheinlich mindestens ebensosehr der Übereinstimmung über das anzustrebende Ziel wie eine Politik in Zeiten der Spannung; auch sie will in der einen oder andern Art „bewältigt" sein, soll sie für alle beteiligten Länder fruchtbar gemacht werden. „Detente manegement" im Sinne einer solchen Bewältigung der Entspannung ist darum kaum weniger komplex als „crisis management", das heißt, die entsprechende Kontrolle und Bewältigung von Krisen. Auch sie bedarf jenes institutionellen Rahmens oder jener multilateralen Absprachen, mit deren Hilfe sie erfolgreich gehandhabt werden kann.

Ganz unabhängig von dem wahrscheinlich nicht allzu hilfreichen Ausdruck des „detente management" bleibt die Tatsache bestehen, daß ein auf größere Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit in Außenpolitik und Strategie bedachtes Europa auch wirklich in der Lage sein sollte, die dafür erforderlichen Institutionen zu schaffen. Das setzt wahrscheinlich zunächst einmal eine klare Entscheidung darüber voraus, ob das jetzige Bündnissystem erhalten werden soll (wenn vielleicht auch in modifizierter Form) oder ob es nicht an der Zeit ist, es durch ein neues zu ergänzen oder zu ersetzen, das den Erfordernissen der Entspannungspolitik und größerer europäischer Unabhängigkeit besser Rechnung trägt. Andernfalls könnten ein schrittweiser Abbau des amerikanischen und die Fortdauer des sowjetischen Engagements in Europa zu einem Ungleichgewicht der Kräfte führen, das zwar Westeuropa eine größere Unabhängigkeit von Amerika verschaffen, es aber gleichzeitig der Möglichkeit stärkerer sowjetischer Einflußnahme aussetzen würde. Die wichtigste Aufgabe Europas in den siebziger Jahren wird deshalb darin bestehen, jene Formen der Zusammenarbeit zu finden und zu verwirklichen, die ein besser ausgeglichenes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ermöglichen und ein Gegengewicht gegen die enorme sowjetische Macht zu bilden vermögen, ohne eine weitere Verbesserung der Beziehungen zu Osteuropa auszuschließen.

Solange es zur Atlantischen Allianz keine glaubhafte und praktikable Alternative gibt, bietet sie trotz mancher Nachteile immer noch den besten Rahmen, um Lösungen für diese künftigen Aufgaben Europas zu finden. Die NATO sollte dann weniger als bloßes Instrument militärischer Integration und immer mehr für politische Konsultationen und Krisenbeherrschung eingesetzt werden. Auch bildet die NATO immer noch einen nützlichen Rahmen für künftige Verhandlungen über Rüstungskontrollmaßnahmen. Das wird um so eher der Fall sein, als eine Einigung auf ein allseits annehmbares „europäisches Sicherheitssystem" nicht in Sicht ist. Das bedeutet praktisch, daß die beiden Bündnissysteme vorläufig noch die besten Garanten für die Sicherheit in Europa und für mögliche Rüstungskontrollvereinbarungen bleiben. Der sowjetische Vorschlag für die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz enthält kaum mehr als einen reichlich verschwommenen Plan für eine internationale und bilaterale Zusammenarbeit in Europa auf der Basis des Status quo und einer dauernden Kontrolle des geteilten Deutschlands. Es handelt sich, mit anderen Worten, beim sowjetischen Vorschlag um wenig anderes als um eine Wiederauflage der von der Sowjetunion seit der Berliner Außenministerkonferenz von 1954 vorgelegten Vorschläge. Das zeigt, daß im Grunde genommen das „Repertoire" an politisch sinnvollen Modellen für eine europäische Friedensordnung wesentlich begrenzter ist, als die zahllosen Pläne für die europäische Sicherheit und die deutsche Wiedervereinigung vermuten ließen. Auch die Vereinigten Staaten haben bisher noch keinen überzeugenden Vorschlag für ein künftiges europäisches Sicherheitssystem unterbreitet.

Sicher ist lediglich, daß jede weitergehende Veränderung und Entspannung und jeder Fortschritt in Richtung auf neue Maßnahmen zur Rüstungsbeschränkung in Europa ohne die Mitwirkung und Zustimmung der beiden Weltmächte undenkbar sind. Dies ist der Grund, weshalb der vielbeschworene sowjetisch-amerikanische Bilateralismus gerade dort zustande kommt, wo sich die Interessen der beiden Mächte besonders nahekommen, nämlich in Europa. Dies birgt einige Risiken, die in Europa zu der Befürchtung führten, daß ein solcher Bilateralismus der Weltmächte auf Kosten europäischer Interessen gehen könnte. Das Mißtrauen, mit dem in Europa (beiderseits der Elbe) die Verhandlungen über den Atomsperrvertrag verfolgt werden, beweist, daß solche Befürchtungen nach wie vor lebendig sind. Es zeigt aber nicht minder deutlich, wie zerbrechlich das eben gewonnene europäische Selbstbewußtsein ist.

So bleibt die Atlantische Allianz vorläufig noch in dreierlei Hinsicht notwendig und wichtig: als wesentlicher Bestandteil der politischen und militärischen Stabilität und als Grundlage für vertraglich oder stillschweigend durchzuführende Maßnahmen der Rüstungsbeschränkung; als das immer noch wichtigste Instrument, mit dem Westeuropa die amerikanische Strategie und Politik zu beeinflussen vermag; und als internationaler Rahmen für Politik und Verteidigung der Bundesrepublik und deren Anpassung an die veränderte Lage in Europa, ohne daß damit die Rückkehr zu einer Politik des nationalen Alleingangs erforderlich wäre.

Aufgaben der siebziger Jahre

Das Westeuropa der siebziger Jahre wird sich demnach vier zentralen Aufgaben gegenübersehen: Es wird jene dauerhafte und glaubwürdige Verbindung zwischen der Deutschland-Frage und dem umfassenderen Problem der europäischen Sicherheit zu schaffen haben, die die beiden Weltmächte in eine für Deutsch-land und Europa zu begründende Neuordnung verantwortlich miteinbezieht; zweitens gilt es, ein ausgeglichenes Verhältnis Europas zu den beiden Mächten zu finden, in dem vor allem neue Formen der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten entwickelt werden, die die Verantwortung bei der Behandlung ge23 meinsamer Interessen besser ausgleichen und Amerikas Übergewicht in überwiegend europäischen Belangen verringern helfen; drittens gilt es, jene Bündnisformen zu erhalten, die Europa einen seinen Interessen angemessenen Einfluß auf die amerikanische Politik gewährleisten, gleichzeitig aber eine weitere Verbesserung der Beziehungen zu Osteuropa erlauben und die Sowjetunion von der unveränderten Glaubwürdigkeit westlicher Abwehrbereitschaft überzeugen; und viertens schließlich sind Formen europäischer Zusammenarbeit zu finden, die nicht von einem negativen Anti-Amerikanismus, sondern von dem Willen inspiriert sind, Europa eine genügend feste und dauerhafte Plattform zu verschaffen, auf der es seinem wachsenden Ehrgeiz und seinem erwachenden Selbstbewußtsein den ihnen gemäßen Ausdruck verleihen kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wilhelm Cornides, German Unification and the Power Balance, in: Survey (London), Januar 1966, Nr. 58, S. 144.

  2. Alastair Buchan, NATO-Krise und europäische Entspannung, in: Europa-Archiv 10/1967.

  3. NATO Letter (Paris), Dezember 1966, S. 22.

  4. Alternative to Partition, New York 1965, S. 121.

  5. American Militancy: The Soviet View, in: Survival (London), Februar 1967.

  6. China’s Impact on the Evolution of the Alliances in Europe, in: Western and Eastern Europe: The Changing Relationship, Adelphi Paper Nr. 33 (London, März 1967), S. 20— 29.

  7. Ebenda, S. 24.

  8. Scinteia (Bukarest), 28. Februar 1967.

  9. Vgl. Die Zeit, 20. Januar 1967.

  10. Vgl. George Bailey, Germany between two Alliances, in: Survival, Dezember 1966, S. 388.

  11. Vgl. Marshall D. Shulman, Europa oder Entspannung — Alternative der amerikanischen Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 21/67, vom 24. Mai 1967.

  12. Ebenda.

Weitere Inhalte

Curt Gasteyger, Dr. jur., Programmdirektor des Instituts für Strategische Studien und Herausgeber der Vierteljahreszeitsdirift „Disarmament". Veröffentlichungen u. a.: Die politische Homogenität als Faktor der Föderation, Berlin 1955; Perspektiven sowjetischer Politik, Köln-Berlin 1962; Die Sowjetunion, Krieg und Abrüstung (Hrsg.), 1963; Einigung und Spaltung Europas 1942— 65 (Hrsg.), Frankfurt 1965; Strategie und Abrüstungspolitik der Sowjetunion, in: Bilanz der Ära Chruschtschow, 1966.