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Zum politischen Engagement der Studenten | APuZ 44/1967 | bpb.de

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APuZ 44/1967 Die Zweite Jugendbewegung Zum politischen Engagement der Studenten

Zum politischen Engagement der Studenten

Richard Löwenthal

Das Thema, das mir gestellt worden ist, lautet: Die Krise des politischen Engagements der Studentenschaft und die Möglichkeit ihrer Lösung. Meine Formulierung lautet: Das Anwachsen des kritischen politischen Engagements der Studentenschaft und die Möglichkeit einer Fruchtbarmachung. Mit anderen Worten: die Tatsache, daß es eine rasch zunehmende Politisierung in der Studentenschaft gibt, sehe ich an sich nicht als eine Krise an, sondern als ein Positivum, als ein Erwachen zur stärkeren politischen Beteiligung. Ich weiß natürlich auch und erlebe es in jüngster Zeit ständig, daß es krisenhafte Formen dieses Engagements gibt und daß nicht alle Formen dieses Engagements im demokratischen Sinne fruchtbar sind. Aber ich sehe diese krisenhaften Formen als eine Teilerscheinung, als eine unter Umständen bedenkliche Teilerscheinung einer im ganzen positiven und fruchtbaren Bewegung. Wenn ich frage, woher diese Entwicklung des Anwachsens des Engagements der Studentenschaft kommt, so glaube ich, daß man im großen und ganzen drei Wurzeln unterscheiden kann:

im Verhältnis der Studenten zur Gesellschaft; im Verhältnis zum Staat und zum politischen Leben;

im Verhältnis zur Hochschule selbst.

Wenn ich beim allgemeinen Bild der Gesellschaft anfange, so kann man es vielleicht am besten mit dem kontrastieren, was die Studentengeneration vorfand, die vor 20 Jahren aus dem Krieg zurückkam und auch noch die Studentengeneration der ersten darauffolgenden Jahre. Damals war die Gesellschaft sozusagen aus den Fugen geraten; es handelte sich darum, aus dem Chaos eine Ordnung neu aufzubauen oder wiederaufzubauen — nach dem Erlebnis der Katastrophe und angesichts der Gefahr einer neuen Katastrophe, nämlich der totalen Stalinisierung Deutschlands, wieder eine lebensfähige Ordnung zu schaffen. Die Grundtendenz der jungen Menschen jener Zeit und noch lange Zeit nachher, ob sie nun politisch aktiv waren oder nicht, war zunächst einmal, wieder eine Lebensmöglichkeit zu finden, eine gesicherte Sphäre nicht nur im materiellen Sinne, nicht nur im Sinne des Sattessens und des Daches über dem Kopf, sondern auch im Sinne der Sicherheit der Person, der Sicherheit der Meinungsfreiheit, der Sicherheit der Privatsphäre. Es ging um eine Rechtsordnung.

Die Generation, zu der unsere heutigen Studenten gehören — und das schon seit einigen Jahren —, wächst in eine völlig andere Gesellschaft hinein. Die Katastrophen der Vergangenheit sind etwas, was sie aus Büchern lesen; sie haben weder Hitler noch Stalin erlebt. Sie wachsen hinein in eine gefestigte, in eine allzu gefestigte und in eine allzu selbst-zufriedene Gesellschaft; in eine Gesellschaft, in der die Ordnungen selbst sich als selbstverständlich nehmen und als selbstverständlich genommen werden wollen, in eine Gesellschaft, die in der Zufriedenheit mit ihrem Wohlstand, mit ihrem Ausmaß an Sicherheit für alle, das keineswegs vollkommen, aber in der Tat beträchtlich ist, zu erstarren droht und die sich angesichts der Faszination des. materiellen Wohlstands und des Güterstroms viel zu wenig für das interessiert, was man ökonomisch Sozialkonsum oder auch Zukunftsgüter nennen kann und worunter die Bildungsgüter die zukunftswichtigsten sind. Sie wachsen, mit anderen Worten, in eine Gesellschaft hinein, von der sie den hervorragenden Eindruck haben, daß sie sich für Ideen im allgemeinen, für Bildung, für geistige Entwicklung im besonderen, viel zu wenig interessiert und daß sie daher diese Dinge auch materiell viel zu wenig honoriert, weil sie zu wenig bereit ist, an Interesse und an Geld dafür auf-zuwenden.

Gehen wir von der Gesellschaft auf den Staat über. Der Staat erscheint im wesentlichen als ein fertiges, mehr und mehr sich einengendes Zweiparteiensystem, als ein System, in dem auf Grund der Gesetzmäßigkeit des demokratischen Rechtsstaates die Parteien eine Tendenz zeigen, sich im Wettbewerb um den schwankenden mittleren Wähler aneinander anzunähern und daher ihre grundsätzlichen Unterschiede im Laufe der Jahre mehr und mehr verwischen, als ein System, in dem daher immer weniger um große Ideen und immer mehr um marginale Probleme gerungen wird, in dem es schwer ist, die große leitende, den Einsatz lohnende Idee zu entdecken, und in dem, was noch gefährlicher ist, neu auftauchende Bedürfnisse und die Gruppen, die ihnen Ausdruck geben und die zunächst notwendig Minderheiten sind, es immer schwerer haben, die Aufmerksamkeit der entscheidenden Machtfaktoren zu finden.

Die Situation in diesem Staat ist ja nicht so, wie es von den Extremisten immer wieder dargestellt wird, daß die marginalen Minderheiten unterdrückt werden; sie ist nur so, und das ist nicht weniger frustrierend, daß diese Minderheiten sich frei ausdrücken können und trotzdem kein Gehör finden. Sie haben, mit anderen Worten, alle rechtlichen Möglichkeiten und sehr geringe reale Durchsetzungschancen. Hier sitzt eine im Mechanismus unserer Politik angelegte Gefahr für die Entwicklungsfähigkeit unserer Demokratie, und selbstverständlich sind diejenigen, die sich in einer Minderheitssituation befinden, und das sind im Zusammenhang des Bildungsproblems die Studenten, für diese Gefahr besonders empfindlich. Die Wirklichkeit dieser Demokratie mit ihrer Selbstzufriedenheit, mit ihren Angleichungsund Erstarrungstendenzen kontrastiert überdies schroff mit dem rezipierten Idealbild der Demokratie. Und dieser Kontrast wird noch stärker, wenn man an die großen politischen Fragen, an die großen nationalen Fragen herangeht. Junge Menschen, die den Höhepunkt des Kalten Krieges, die Entstehung der deutschen Teilung, die Berliner Blockade und anderes nicht miterlebt haben, sind besonders empfindlich für das, was etwa in der allgemeinen Auslegung des Begriffs deutsche Wiedervereinigung zum Ausdruck kommt. Sie empfinden es als den Ausdruck einer Art von Lebenslüge unseres Staates: die Vorstellung, daß die Wiedervereinigung der Deutschen das erste Anliegen deutscher Politik wäre, während sie es ganz zweifellos während des größten Teils des Bestandes der Bundes-republick nicht in der Wirklichkeit gewesen ist; der Gegensatz zwischen der Fiktion der gesamtdeutschen Aufgabe und der Realität, daß diese Aufgabe in kritischsten Zeiten des Aufbaus und der Konsolidierung der Bundesrepublik nicht im Vordergrund stand und anderen Aufgaben hintan gestellt wurde.

Dieser Gegensatz wird um so bewußter seit der Mauer, seit der damit noch fester gewordenen Erstarrung der deutschen Teilung und seitdem die Bundesrepublik selbst sich sogar in der Wirklichkeit viel stärker der deutschen Frage zugewandt hat. Dasselbe Gefühl des Widerspruchs zwischen demokratischem Anspruch und Wirklichkeit wird hervorgerufen etwa durch die diplomatischen Kontakte mit diktatorischen Staaten, die mit der Sonntags-formel von der freien Welt nur das gemeinsam haben, daß sie nicht kommunistisch sind. Alle diese Faktoren führen zu Unbehagen, zur Kritik, zum kritischen politischen Engagement im Verhältnis zum Staat, zu den Parteien, zu den offiziellen politischen Institutionen und schließlich den Hochschulen selbst.

Der schleswig-holsteinische Kultusminister von Heydebreck hat zu meinem Erstaunen das „ Schlagwort vom Bildungsnotstand" gebraucht. Es scheint mir nicht nur ein Schlagwort, sondern eine bittere Realität zu sein. Wir haben die Situation, die allen modernen Ländern gemeinsam ist: Das rasche Anwachsen der Zahl der Menschen, die studieren wollen und die ein Recht auf das Studium beanpruchen. Und wir haben die Tatsache, daß die Anpassung der Hochschulen an diesen wachsenden An-strom hinter den Anforderungen weit zurückgeblieben ist, sowohl was die Zahl der Hochschulen, die Zahl der Lehrstühle, das Personal, die Räumlichkeiten usw. wie auch was die Form der inneren Organisation betrifft. Und hier kommt das, wovon heute schon wiederholt gesprochen worden ist: die Erfahrung, insbesondere der studentischen Aktivisten, der Vertreter der studentischen Selbstverwaltung, daß sie sich seit Jahren um Vorschläge zur Reform bemüht haben und daß sie kein entscheidungsmäßiges wirksames Echo auf diese Vorschläge und übrigens auch auf andere Vorschläge sehen. Sie sehen den Notstand, die Gefahr der Einengung der Bildungsmöglichkeiten, sie sehen das Zurückbleiben der Hochschulen hinter den Anforderungen, sie sehen audr die Konfusion des Standards.

Die Konfusion des Standards zwischen alten Idealen der Allgemeinbildung und neuen Ideen des Primats der fachlichen Ausbildung herrscht nicht nur bei den politischen und hochschulpolitischen Instanzen, sie herrscht selbstverständlich auch bei den studentischen Kritikern selbst. Wir haben Vorschläge in der Richtung einer Straffung dessen, was jetzt das Grundstudium genannt wird, nicht nur von außen erhalten, sondern zum Teil — ganz mit Recht, wie ich glaube — von der Studentenschaft selbst. Der Begriff der akademischen Freiheit im Sinne einer ungeordneten Wahl-freiheit des Studiengangs in den früheren Semestern existiert in keinem Land der Welt so wie in Deutschland, und er ist zu einem wesentlichen Hindernis des Studienerfolgs und auch des Studienabschlusses in einer vernünftigen Zeit geworden. Die ersten Vorschläge in der Richtung, dem durch einen geregelten Studiengang, durch Zwischenprüfung usw. abzu-helfen, sind zum Teil auch von studentischer Seite gekommen. Nachdem jetzt die Tendenz der allgemeinen Hochschulpolitik in dieser Richtung geht, wird von Seiten der radikaleren unter den studentischen Kritikern diese selbe Tendenz als eine Form der Anpassung der Hochschulen als Fachschulen an die Bedürfnisse des Leistungskapitalismus angegriffen.

Die Wahrheit ist natürlich, daß in jeder Gesellschaft, wie immer sie geordnet sei, die Hochschulen unter anderem nur zu einem wesentlichen Teil die Aufgaben haben, Menschen für fachliche Funktionen in dieser Gesellschaft vorzubereiten. Eines der wesentlichen Kriterien für ihre Leistung, wenn auch nicht das einzige, muß deshalb die Frage sein, wie sie diese Aufgabe erfüllen. Zu sagen, daß die Hochschulen Fachleute heranziehen wollen und sollen, ist kein Vorwurf. Die Frage, wie das mit der weiteren Aufgabe der Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung, der grundlegenden Allgemeinbildung usw. zu vereinbaren ist, ist eine Frage, für die, wie ich glaube, auf keiner Seite das endgültige Rezept gefunden worden ist.

Was Grund zur Kritik gibt, ist nicht das Fehlen der endgültigen Lösung, es ist das Zurückbleiben in den dringendsten Entscheidungen, und an diesem Zurückbleiben sind wiederum nicht so sehr reaktionäre Tendenzen, Unterdrückungstendenzen schuld als vielmehr Lähmungserscheinungen im politischen Entscheidungsmechanismus. Eine der wichtigsten ist die föderalistische Struktur des deutschen Bildungswesens, ist die Tatsache, daß die Hochschulpolitik Ländersache ist. In allen diesen Bereichen, im gesellschaftlichen, im staatlich-politischen, im hochschulund bildungspolitischen, bemerkt die heranwachsende Generation den gleichen Widerspruch, den Widerspruch nämlich zwischen dem ideologischen Anspruch unseres Systems und der wirklichen Leistung. Es ist eine Kritik, die insofern auf den ideellen Maßstäben eben unseres Gesellschaftsund Staatssystems beruht und die verlangt, daß mit diesen Maßstäben ernst gemacht werden sollte. Das ist, wie ich glaube, im Kern eine fruchtbare, eine sinnvolle, eine vorwärtstreibende Kritik, und sie ist von besonderer Bedeutung, weil die Studenten an demjenigen Punkt unserer Gesellschaft sitzen, an dem heute wahrscheinlich die für ihre Zukunft entscheidenden Probleme stehen.

So gewiß die Probleme der Einkommensverteilung, der ökonomischen Klassenstruktur jahrzehntelang die entscheidenden Probleme unserer Gesellschaft waren, so gewiß wie davor die Probleme der politischen Rechte eines jeden entscheidend waren, so gewiß scheint mir, daß für die Zukunft unserer Gesellschaft — und ich meine damit nicht nur die Bundesrepublik, sondern die westliche Gesellschaft im ganzen — die Probleme der Gestaltung des Bildungswesens, des Fortschritts der Wissenschaft und der Heranziehung der nächsten Generation von wissenschaftlich Gebildeten die entscheidenden sind. Sie sind auch vom Standpunkt des Verhältnisses der verschiedenen sozialen Klassen, auch vom Standpunkt der politischen Ordnung die entscheidenden Probleme.

Die Studenten stehen in ihrer Existenz, in ihrem täglichen Leben an diesem Brennpunkt unserer Zukunftsentwicklung. Die Tatsache, daß sie an diesem Brennpunkt kritisch werden, ist insofern kein isoliertes oder zufälliges Phänomen, sondern es ist im Gegenteil ein Anzeichen von etwas, womit die gesamte Gesellschaft und die gesamte Politik sich mehr und mehr wird beschäftigen müssen und was nicht nur für die Studenten selbst, sondern für die ganze Zukunft der Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Indem ich das gesagt habe, habe ich auch schon angedeutet, was meine nur skizzenhafte Antwort auf die Frage nach der Fruchtbarmachung dieses politischen Engagements sein kann. Es kann nur in dem Maße fruchtbar werden, wie alle Teile der Gesellschaft, wie insbesondere die politischen Instanzen und die Hochschulen selbst sich mit diesen Problemen beschäftigen und sich mit dem nötigen Aufwand an Energie, an Geist und an Geld mit diesen Problemen auseinandersetzen.

Noch ein Wort zur inneren Struktur der Hochschulen selbst, zu ihrer autoritären Struktur. Ich glaube, daß der Gegensatz, den Herr Kollege Newman zwischen deutschen und amerikanischen Universitäten hier gezogen hat, doch sehr stark zugunsten des amerikanischen Systems, das ich aus eigener Anschauung gut kenne, verzeichnet ist. Die Allgemeinbildung des Liberal Arts College, von der er gesprochen hat, ist im wesentlichen auf die Tatsache gegründet, daß traditionell bis vor mindestens zehn Jahren auf den amerikanischen Schulen so wenig Lehrstoff geboten wurde, daß im College das gelehrt werden mußte, was in Europa im allgemeinen in den letzten zwei Jahren an einer guten Schule gelehrt wurde. Man kann allerdings sagen, daß bei uns die guten Schulen auch immer seltener werden und daß insoB fern ein Nachholbedarf auch auf diesem Gebiet besteht.

Wenn auf der anderen Seite gesagt wird, daß die Vollmachten des Ordinarius an der deutschen Universität darauf hinauslaufen, die Freiheit der Forschung und Lehre zu unterdrücken, so habe ich den Eindruck, daß vielleicht Herr Kollege Newman hier besonders unerfreuliche Erfahrungen gemacht hat, daß aber im großen und ganzen die Vollmachten des Ordinarius an der deutschen Universität im wesentlichen darin bestehen, nicht anderen Vorschriften zu machen, sondern selbst zu lehren, was er will, ob irgendein Bedarf dafür besteht oder nicht. Auf amerikanischen Universitäten ist es auf der anderen Seite so, daß die heads of departments in der Lage sind, in die Lehrfreiheit der Professoren sehr viel radikaler einzugreifen, als das irgend jemandem an deutschen Universitäten möglich ist. Wenn Herr Kollege Newman hier auf die Idee des Universitätspräsidenten als eine autoritäre Idee angespielt hat, so möchte ich sagen, daß wahrscheinlich niemand in Deutschland die Absicht hat, den Typus von Universitätspräsidenten einzuführen, den er nannte, nämlich den Mann, der im wesentlichen zur Beschaffung von Geldmitteln da ist. Es geht darum, die Laufbahn des Mannes zu schaffen, der selber Wissenschaftler ist, aber dann die wissenschaftliche Laufbahn zugunsten einer wissenschaftlichen Verwaltungslaufbahn aufgibt. Das hat nicht nur für das Funktionieren der Universitätsverwaltung Vorteile, sondern gerade für die Chance einer Modernisierung.

Die wirkliche Gefahr in einem rechtsstaatlichen demokratischen System mit einer Vielfalt von Gewalten, wie wir es haben, sei es im föderativen Staat, sei es in der Lehrstuhlverfassung und der Fakultätenautonomie der Universitäten, besteht ja gerade darin, daß eine Vielzahl von Gewalten eine Vielzahl von Vetogewalten bedeutet, daß, je stärker in dieser Art die Gewalten dezentralisiert und die Autonomie erhöht werden, desto schwerer Strukturreformen durchzuführen sind. Ich habe sehr wenig Hoffnung, daß die Universitäten von der gegenwärtigen Verfassung der Autonomie aus die notwendigen Reformen durchführen werden, ohne daß ein stärkerer Anstoß mindestens durch einen Dauerrektor mit vergrößerten Vollmachten gegeben wird.

Demokratisierung der Universität ist in diesem Punkte keine Lösung, und zwar schon deswegen nicht, weil sie, wie immer man sie definiert, keine volle Demokratisierung sein kann. Machen wir uns in diesem Punkte nichts vor: Die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden — meistens ist sie keine wirkliche

Gemeinschaft — ist auch im besten Falle eine Gemeinschaft von Ungleichen, eben von Lehrenden und Lernenden. Das bedeutet, daß es Bereiche im Universitätsleben gibt, die demokratisiert werden können, und daß es Bereiche gibt, die ihrer Natur nach nicht demokratisiert werden können. Für die Reform der Universitätsstruktur kann Demokratisierung als solche deshalb kein Universalrezept sein. Die Möglichkeit stärkerer Anstöße auch von oben und von außen muß unbedingt in Erwägung gezogen werden.

Ich habe vorhin gesagt, ich sähe das wachsende politische Engagement der Studentenschaft an sich nicht als etwas Krisenhaftes an; es gäbe im Rahmen dieses wachsenden politischen Engagements aber auch echte Krisen-erscheinungen. Lassen Sie mich ein wenig über diese Krisenerscheinungen, über die Formen des Extremismus sagen und lassen Sie mich in diesem Zusammenhang mit einer Warnung anfangen: Nicht jedes politische Engagement von Studenten ist notwendig, fruchtbar und vorwärtstreibend. Als Herr Kollege Newman heute morgen sagte, die Berliner Unruhen seien die größte politische Aktivität der Studenten in Deutschland seit 1848, wurde ich daran erinnert, daß es in meinen Studienjahren, in den Jahren 1928 bis 1932, eine außerordentliche aktive politische Studentenschaft gab, die nämlich nationalsozialistisch war, bevor Deutschland nationalsozialistisch war. Es gibt auch destruktive Formen des politischen Engagements von Studenten. Wenn ich von Ideen höre — und solche Ideen sind in letzter Zeit diskutiert worden —, man solle sich nicht auf die Ergänzung der Lehrveranstaltungen der Universität und nicht auf die Kritik dieser Lehrveranstaltungen beschränken, sondern man sollte unliebsamen Professoren das Lehren durch systematische Störung ihrer Vorlesungen unmöglich machen, so werde ich bei solchen Diskussionen sehr stark an meine Erfahrungen aus jenen Jahren erinnert.

Aber das sind Dinge, von denen ich nicht glaube, daß sie sich verwirklichen werden. Wenn ich von krisenhaften Erscheinungen spreche, so meine ich allgemeinere, nicht in dieser Form destruktive und dennoch potentiell gefährliche Formen des politischen ideologischen Extremismus im Inhalt und in der Form. Dieser Extremismus wurzelt zum Teil in denselben Problemen, in denen die allgemeine Bewegung der Studentenschaft wuchs. Er geht aus von der Kritik der gleichen Mängel, er geht aber zu einer radikalen Ablehnung der Grundlagen unserer Gesellschaft und der Grundlagen unseres demokratischen Staates weiter. Er geht weiter insbesondere zu einer radikalen Ablehnung eben jener beruflichen und fachlichen Spezialisierung, ohne die eine moderne Industriegesellschaft nun einmal nicht leben kann. Er sucht den Weg zum Herausspringen aus der Realität dieser Industriegesellschaft in eine romantische Utopie, und er ist bereit, um dieser begreiflicherweise nicht sehr klar vorgestellten Utopie willen alles, was besteht, aufs Spiel zu setzen.

Eine der Konsequenzen davon ist die mangelnde Rücksichtnahme auf die Grundlagen unserer demokratischen Institutionen. Lassen Sie mich ein Beispiel dafür anführen: Die Kritik der Studenten an den Vorgängen vom 2. Juni, an den Polizeiübergriffen, war allgemein. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kritiker hat versucht, diese Kritik mit der Kritik an den Plänen der Notstandsgesetzgebung in der Bundesrepublik zu verbinden und das Vorgehen der Berliner Polizei beim Schahbesuch als eine Notstandsübung darzustellen. Das war nach meiner Überzeugung von der Realität völlig entfernt, eine demagogische Übertreibung, aber an sich noch nicht furchtbar gefährlich — es war schlichter Unsinn. Denn jeder, der weiß, wie diese Dinge zustande gekommen sind, und wie die Politik des Berliner Senats und ihre Anweisungen bei Demonstrationen gemacht werden, der weiß, daß derartige Ideen den maßgebenden Leuten, was immer sonst ihre Fehler waren, völlig fern lagen. Aber die Grenze der demagogischen Übertreibung und des harmlosen Unsinns wurde überschritten, als eine Sitzung des Konvents der Freien Universität einen Beschluß faßte, in dem sie die alliierten Schutzmächte aufforderte, dafür zu sorgen, daß die Notstandsgesetzgebung der Bundesrepublik nicht auf Berlin übertragen würde. Jeder, der mit diesen Dingen zu tun hatte, und jeder der Initiatoren dieser Resolution wußte, daß nicht die geringste politische oder rechtliche Möglichkeit einer solchen Übertragung der Notstandsgesetzgebung der Bundesrepublik auf Berlin besteht. Und zwar aus dem einfachen Grunde, daß einer der Haupt-zwecke der Notstandsgesetzgebung in der Bundesrepublik die Ablösung der alliierten Notstandsrechte in der Bundesrepublik ist und daß die alliierten Rechte in Berlin nicht ablösbar sind, weil Berlin direkt unter unmittelbarer alliierter Souveränität steht. Es gab also nicht die geringste Möglichkeit eines solchen Gedankens und es gibt auch keinen solchen Gedanken.

Wenn dennoch diese Resolution vorgelegt wurde und in ihrem ursprünglichen Text sich sogar ausdrücklich nicht an die alliierten Mächte, sondern an die vier Besatzungsmächte wandte, so war hier nichts anderes vorhanden als ein bewußter Versuch, die demokratischen Institutionen dieser Stadt einem äußeren Druck auszusetzen und zu gefährden. Ich glaube, daß das mißverstandene Wort von Albertz von der lebensgefährlichen Minderheit niemals so gerechtfertigt war wie bei dieser Resolution. Was die Konsequenzen dieser Art von politischem Abenteurertum sind, das hat sich heute bereits in einer Note des sowjetischen Botschafters in Ostberlin, Herrn Abrassimow, gezeigt, der genau auf dieser Linie, als sei es von ihm bestellte Arbeit gewesen, gegen die Ausdehnung von Notstands-gesetzen auf West-Berlin gewarnt und das mit den Polizeimaßnahmen beim Schahbesuch nachträglich — nach über einem Monat! — in Verbindung gebracht hat.

Das sind die echten Krisenerscheinungen, das sind jene Handlungen, bei denen kritisches politisches Engagement zur Wiederbelebung, zur Beseitigung von Erstarrungen, zur Lösung der inneren Probleme unserer Demokratie in verantwortunglose Sabotage am Ganzen um-schlägt. Ich glaube nicht, daß wir mit diesen Dingen fertig werden, indem wir wie gebannt auf die Extremisten und ihre Handlungen starren und nach Maßnahmen gegen sie suchen. Ich glaube, daß die wirkliche Antwort, deren alle wir uns befleißigen müssen, ist, uns auf echten Probleme und die wirklichen Gründe des kritischen Engagements einer wachsenden Zahl von Studenten zu konzentrieren und es dadurch, daß wir diese Probleme konstruktiven Entscheidungen zuführen, fruchtbar zu machen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Richard Löwenthal, Dr. phil, o. Professor für die Wissenschaft von der Politik, insbesondere der Theorie und Geschichte der auswärtigen Politik, an der Freien Unversität Berlin, geb. 15. April 1908 in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit (mit Willy Brandt), München 1957; Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963; Staatsfunktionen und Staatsform in den Entwicklungsländern, in: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963; World Communism: The Disintegration of a Secular Faith, Oxford 1964.