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Die Kriegsschuldfrage — Das Ende eines Tabus | APuZ 25/1967 | bpb.de

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APuZ 25/1967 Die deutsche Kriegszielpolitik 1914— 1918 Die Kriegsschuldfrage — Das Ende eines Tabus

Die Kriegsschuldfrage — Das Ende eines Tabus

Imanuel Geiss

Tabu mit unterschiedlichen Funktionen

Die — zumindest relative — Unschuld des Deutschen Reichs am Ausbruch des Ersten Weltkriegs war jahrzehntelang für die meisten Deutschen eine Selbstverständlichkeit, an der nicht zu rütteln war. Je nach der historischen Situation hatte das Tabu unterschiedliche Funktionen zu erfüllen: Anfang August 1914 sollte es die SPD in den Krieg bringen, England nach Möglichkeit aus dem Krieg halten. Im Krieg sollte es Neutrale wie Deutsche von der Gerechtigkeit der deutschen Sache überzeugen. Nach dem Krieg klammerten sich sogar die ersten Linksregierungen an das Dogma der deutschen (relativen) Unschuld, in der Hoffnung, so für das geschlagene Reich einen glimpflicheren Frieden herausschlagen zu können. Nach ihrem Scheitern in Versailles wandten sich die späteren Regierungen der Weimarer Republik (vom Dritten Reich ganz zu schweigen) und die deutsche Öffentlichkeit wieder von der immerhin partiell aufgeschlossenen Linie der Revolutionsregierungen ab, die schließlich den Untersuchungsausschuß ermöglicht hatten.

Wie wirkungsvoll die deutsche Unschuldskampagne war, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich, der dem größten Teil der Welt die deutsche Verantwortung auch für den Ersten nachträglich nur bekräftigte. Nicht so in Deutschland. Nach einigen Jahren anfänglicher Verwirrung und nationaler Zerknirschung, aus der einige kritische Töne, besonders bei Friedrich Meinecke, laut wurden, kehrten die meisten deutschen Historiker wieder zur alten Linie zurück. Zu den früheren vaterländischen Argumenten war ein neues hinzugetreten, das die Geschichte geliefert hatte: War man bereit, die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg auf das deutsche Konto zu nehmen (um es anschließend auf das Privatkonto Hitlers umzubuchen), so nicht für den Ersten. Schon aus Gründen der moralischen Selbsterhaltung mußten sich die düsteren Ereignisse des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs von einer intakt zu haltenden helleren Folie des Zweiten Reichs und Ersten Weltkrieges abheben. Der deutsche Griff nach der Weltmachtstellung durfte erst 1939 stattgefunden haben. Versailles, ohnehin Inbegriff des Bösen, avancierte zur nationalen Ausrede für Hitler und den Zweiten Weltkrieg. Da sich die neue Lehre restaurierte, kam es zu keiner neuen Erforschung oder Neu-interpretation des Kriegsausbruches von 1914.

Sarajewo war das Stichwort für das Reich

Ein halbes Jahrhundert nach dem Ereignis, in der Distanz, die zwei Weltkriege und fast zwei Jahrzehnte in der zweiten deutschen Republik geschaffen haben, ist es für eine neue Generation von Historikern, die weder mit der „Erhebung vom August 1914" (Erdmann) noch dem „Kriegserlebnis" von 1914 bis 1918 ausgewachsen ist, für die das in einer hysterischen Atmosphäre geschaffene Nationaltabu von einst keine Schrecken mehr birgt, eher möglich, eine rationale Analyse des Kriegsausbruchs 1914 zu formulieren und zu akzeptieren. Hat man einmal das Quellen-material zur Kenntnis genommen, so läßt sich das komplizierte Geschehen auch auf knappem Raum wiedergeben.

Die Ereignisse unmittelbar nach Sarajewo lassen sich nach allem Gesagten einfach erklären: Sarajewo erweist sich als das Stichwort für das Reich, um sich in historische Taten zu stürzen, obwohl Österreich aus geographischen Gründen den ersten Schlag gegen Serbien führen mußte. Die Österreicher waren sich jedoch zunächst gar nicht so einig darüber, was sie tun sollten. Nur Conrad von Hötzendorf, der Chef des k. u. k. Generalstabs, drängte, unterstützt von einigen hohen Beamten im Ministerium des Äußeren und dem größten Teil der deutschsprachigen Presse, auf sofortigen Krieg gegen Serbien. Außenminister Berchtold, der ungarische wie der österreichische Ministerpräsident, Tisza und Stürgkh, zögerten un plädierten für gemesseneres Vorgehen. Aber selbst Conrad sah ein, daß er keinen Krieg gegen Serbien ohne deutsche Rückendeckung gegen Rußland führen konnte. So lag die Entscheidung in Wirklichkeit bei Deutschland.

Auch an der Spitze des Reichs war man sich nach Sarajewo nicht gleich schlüssig über die einzuschlagende Politik. Das Auswärtige Amt sah deutlich die Konsequenz eines österreichischen Kriegs gegen ein von Rußland gedecktes Serbien — den Weltkrieg. Daher riet es anfänglich den Österreichern wie Serben Mäßigung an. Der deutsche Generalstab wollte sich aber die mit Sarajewo gebotene Gunst der Stunde für einen Präventivkrieg nicht nehmen lassen und drängte darauf, die Chance auszunützen. In dieser Situation gab das Wort des Kaisers den Ausschlag. Wilhelm II. war über den Mord empört, schon weil er gegen die von ihm geheiligten monarchischen Prinzipien verstieß. Als er den Bericht des deutschen Botschafters in Wien, von Tschirschky, vom 30. Juni erhielt, in dem er seine mäßigenden Ratschläge in Wien mitteilte, bedeckte der Kaiser das Dokument, wie so oft, mit zügellosen Rand-und Schlußbemerkungen und steuerte die köstliche Parole „Jetzt oder nie!" bei, die tatsächlich zum Leitstern der deutschen Diplomatie in der Julikrise 1914 wurde.

Am 5. Juli kam Graf Hoyos, ein leitender Beamter im k. u. k. Außenministerium, mit zwei Dokumenten zur österreichischen Balkanpolitik nach Berlin. Noch am gleichen Tag überreichte der österreichische Botschafter, der alte, aber noch keineswegs senile Graf Szögyeny, um die Mittagszeit dem Kaiser während einer Sonderaudienz im Potsdamer Neuen Palais die beiden Schriftstücke. Bei dieser Gelegenheit führte Szögyeny offensichtlich eine recht kriegslustige Sprache, obwohl die beiden Dokumente seiner Regierung, wenn überhaupt, dann nur zwischen den Zeilen vom Krieg sprachen. Nach anfänglichem Zögern versprach Wilhelm II.der Doppelmonarchie die Rücken-deckung durch Deutschland, was bald als die deutsche Blankovollmacht für Österreich bekannt wurde. Der Kaiser begnügte sich jedoch nicht mehr, dem Verbündeten freie Hand gegen Serbien zu geben. Er bedrängte Wien, das offensichtlich noch nicht zu einer Entscheidung gekommen war, den Krieg gegen Serbien so rasch wie möglich zu eröffnen. Reichskanzler Bethmann Hollweg und des Kaisers übrige inj Augenblick erreichbare Berater deckten und billigten anschließend die kaiserliche Zusage. Als Bethmann Hollweg nach Hohenfinow zurückkehrte, berichtete er seinem Intimus Riezler über die Vorgänge in Potsdam. Riezlers Notizen in seinem inzwischen berühmt gewordenen Tagebuch lassen erkennen, daß sich der Kanzler nicht nur über die möglichen Konsequenzen seines „Sprungs ins Dunkle" klar war — Krieg mit England, also der Weltkrieg —, sondern daß er auch offensichtlich bereits so früh einen Krieg mit Rußland und Frankreich anvisierte, während ein noch so großer diplomatischer Sieg — Frankreich läßt Rußland fallen, Rußland daraufhin Serbien — anscheinend nur die zweitbeste Lösung gewesen wäre.

Deutschland drängt Österreich zur Eile

Unter dem Eindruck der deutschen Zusicherungen schwenkte Berchtold auf Conrads Linie ein. Seine Kabinettskollegen folgten ihm, als letzter Tisza, ebenso Kaiser Franz Joseph. Daraufhin liefen in Wien und Berlin die Vorbereitungen für den Schlag gegen Serbien an:

unannehmbar Ein absichtlich formuliertes Ultimatum an Belgrad sollte die Überleitung zum Krieg gegen Serbien bilden. Das Ultimatum war in Belgrad erst nach Abreise des Staatspräsidenten Poincare und seines Ministerpräsidenten und Außenministers Viviani aus Petersburg zu überreichen, also am 23. Juli. Die deutsche Reichsleitung schickte sich unwillig in die damit verbundene Verzögerung, angeblich, wie es nach 1919 bis heute hieß, aus Sorge um die Erhaltung des Weltfriedens, in Wirklichkeit, weil sie fürchtete, die Österreicher könnten, je länger der Schlag auf sich warten ließ, doch noch weiche Knie bekommen und den Serben Gelegenheit zum rechtzeitigen Einlenken geben.

Mittlerweile taten die Regierungen in Wien und Berlin alles, um nach außenhin einen friedlichen Eindruck zu erwecken, als sei nichts geschehen. Die beiden Kaiser genossen ihre traditionellen Sommerferien in Ischl bzw. auf der kaiserlichen Jacht „Hohenzollern" in norwegischen Gewässern. Die führenden Militärs blieben im Urlaub oder wurden in ostentativen Urlaub geschickt, kehrten aber in ihre jeweilige Hauptstadt zurück, kurz vor oder nach Überreichung des Ultimatums in Belgrad, die die Julikrise eigentlich erst eröffnete. Nach der Hoyos-Mission vom 5. /6. Juli hielt Wien die deutsche Regierung über die normalen diplomatischen Kanäle über alle Phasen der Vorbereitungen gegen Serbien auf dem laufenden, während Berlin in Wien auf das Tempo drückte, um die „Aktion“ gegen Serbien so rasch wie möglich zu eröffnen. Intern beschwerten sich die Deutschen über den Mangel österreichischer Energie, und das Auswärtige Amt äußerte gar am 18. Juli den finsteren Verdacht, die Wiener seien unglücklich über das deutsche Drängen auf Eile. Der deutsche Verdacht war nicht unberechtigt: Die Österreicher hatten sich zu einem Entschluß erst unter dem Eindruck der deutschen Zusage vom 5. Juli aufgerafft. Aber selbst dann wollten sie recht bedächtig vorgehen. Gewiß wollten sie nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen die Mobilmachung gegen Serbien einleiten, aber ursprünglich hatten sie vor, mit Kriegserklärung und Eröffnung der Feindseligkeiten bis zum Abschluß der Mobilmachung zu warten, also bis zum 12. August. Der Wilhelmstraße erschien ein solcher Zeitverlust jedoch untragbar, da sie eine diplomatische Intervention der Mächte fürchtete, die Serbien vor ungerechtfertigten Demütigungen zu retten versuchen würden. Da die Reichsleitung auf keinen Fall eine derartige Vermittlung dulden wollte, trieb sie die Wiener Regierung an, den Krieg sofort nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu erklären und die Feindseligkeiten tatsächlich zu eröffnen, nachdem in Berlin der gemächliche Fahrplan der Österreicher bekanntgeworden war. Am 25. Juli ließ Jagow die Wiener durch Botschafter Szögyeny wissen, daß die deutsche Regierung „hier allgemein als sicher vorausetzt, daß auf eventuelle abweisende Antwort Serbiens sofort unsere

Kriegserklärung, verbunden mit kriegerischen Operationen, erfolgen werde. Man sieht hier in jeder Verzögerung des Beginnes der kriegerischen Operationen große Gefahr betreffs Einmischung anderer Mächte. Man rät uns dringendst, sofort vorzugehen und die Welt vor ein fait accompli zu stellen."

Andererseits weigerte sich Jagow zur gleichen Zeit, britische Vermittlungsvorschläge nach Wien weiterzuleiten oder gar zu befürworten, indem er die Sorge vorschützte, Österreich könnte, wenn es einen Druck von außen spüre, die Ereignisse überstürzen und die Welt mit einem fait accompli konfrontieren. Als Österreich, unter deutschem Druck, den Krieg sofort nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen erklärte, scheute sich Jagow nicht, dem britischen Botschafter in Berlin, Sir Edward Goschen, mit gespielter Besorgnis zu erklären, nun sei genau das eingetreten, wovor er gewarnt habe, daß die Österreicher die Dinge überstürzten als Antwort auf Vermittlungsvorschläge von dritter Seite.

Der deutsche Druck in Wien auf sofortige Kriegserklärung hatte unmittelbare und durchschlagende Wirkung: Am 26. Juli machte sich der vor der deutschen Zusage „so ängstliche und unsichere Berchtold" (Ritter), der von Hause aus eher feige als aggressiv war, den deutschen Standpunkt zu eigen, energisch sekundiert von Tschirschky. Conrad, obwohl immer als der Kriegslüsternste auf selten der Mittelmächte hingestellt, war keineswegs glücklich über diese plötzliche Eile. Er hätte sich lieber an den ursprünglichen Terminplan gehalten, aber er gab nach, und in Wien fiel am 26. Juli die vorläufige, am 27. Juli die definitive Entscheidung, den Krieg schon am 28. Juli zu erklären.

Österreichisches fait accompli

Jetzt hatte Berlin eines der deutschen Nahziele in der Julikrise erreicht: Österreich hatte die Welt mit einem fait accompli konfrontiert, nämlich mit einer sofortigen Kriegserklärung, die allen Vermittlungsversuchen von vornherein den Boden entzog. Am folgenden Tag überstürzten die Österreicher die Entwicklung noch weiter, indem sie auch die Feindseligkeiten eröffneten, mit der Beschießung Belgrads durch k. u. k. Artillerie. Die unmittelbare Wirkung kam einer diplomatischen Katastrophe gleich: Die Russen sahen zu Recht in der Beschießung Belgrads den Auftakt zu den militärischen Operationen gegen Serbien. Bereits am Tag zuvor hatten sie die Teilmobilmachung verfügt, um Österreich von einem Angriff gegen Serbien abzuhalten. Nun hielten die russischen Generale den Krieg mit Österreich und Deutschland für unmittelbar bevorstehend und drängten auf sofortige russische Generalmobilmachung, da sie notorisch langsamer als die österreichische oder gar deutsche war. Der Zar stoppte noch einmal die Generalmobilma chung und ordnete die Rückkehr zur Teilmobi 'machung an, als er am Abend des 29. Juli das erste Telegramm von Wilhelm II. in der Jul krise erhielt. Am nächsten Nachmittag erneuerten die Generale und Außenminister Sasonow jedoch inr Drängen; Nikolaus II. gab wieder nach, und die Generalmobilmachung wurde ein zweites Mal verfügt: am 30. Juli um 18 Uhr.

Die deutsche Regierung tat ihrerseits zwei Schritte, die den Gang der Ereignisse beschleunigten: Noch am 27. Juli hatte Jagow dem französischen Botschafter Jules Cambon und dem britischen Geschäftsträger Sir Horace Rumbold versichert, Deutschland würde nicht mobil machen, solange Rußland nur im Süden, gegen Osterreich-Ungarn, mobil mache. Zwei Tage später traf jedoch im Auswärtigen Amt ein ausführliches Memorandum von General Moltke „Zur Beurteilung der politischen Lage" ein, dessen Argumente auf die Forderung nach deutscher Mobilmachung als Antwort schon auf die russische Teilmobilmachung hinausliefen. Wiederum fügte sich das Auswärtige Amt den Generalen. Am 30. Juli verlangte Berlin von Rußland die Zurücknahme nicht der Generalmobilmachung nur gegen Deutschland, sondern auch der Teilmobilmachung gegen Österreich. Als Jules Cambon den deutschen Staatssekretär an seine Erklärung vom 27. Juli erinnerte, meinte Jagow, offensichtlich mit einem Achselzucken, die Generale wollten es so, und seine Worte seien ohnehin keine feste Verpflichtung gewesen.

Mäßigende Initiative des Kaisers wird zunichte gemacht

Der zweite Schritt war mindestens ebenso gravierend: Während sich die Entente-Mächte verzweifelt abmühten, den lokalen Krieg zu verhindern, um dem Kontinentalkrieg oder gar Weltkrieg vorzubeugen, indem sie eine ganze Serie von Vermittlungsvorschlägen unterbreiteten, hatte die deutsche Regierung diese Anregungen entweder glatt zurückgewiesen oder sie nur formal, ohne sie zu empfehlen, nach Wien weitergeleitet. Nun machte sie auch noch einzige von Seite die deutscher kommende Initiative zunichte, nämlich vom Kaiser persönlich. Wilhelm II. hatte seine Nordlandreise abgebrochen, als er vom Bruch Serbien erfuhr, der Beziehungen zu und war am 27. Juli nach Potsdam zurückgekehrt. Früh am anderen Morgen las er die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum. Wie fast ganz Europa außerhalb Deutschlands und Österreichs, war der Kaiser von der serbischen Antwort tief beeindruckt, die bis auf einen Punkt und einige Vorbehalte praktisch alle Forderungen akzeptiert hatte. Plötzlich war seine ganze Kriegslust verflogen, und er schrieb an den Rand: „Eine brillante Leistung für eine von bloß 48 Das ist Frist Stunden.

mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien, aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Darauf hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!"

Sofort wies er das Auswärtige Amt an, in Wien zu erklären, die Österreicher sollten die serbische Antwort akzeptieren. Zur Satisfaktion der Armee und als Garantie für die serbischen Zusagen sollten sie sich mit der Besetzung Belgrads begnügen und mit den Serben für die ausstehenden Vorbehalte verhandeln. Das Auswärtige Amt ergriff offensichtlich eine Panik beim Anblick der Schwäche, die der Monarch plötzlich zeigte. Nun drohte der seit beiden Marokkokrisen gefürchtete Augenblick wiederzukommen: der Kaiser würde die Nerven verlieren und zum Rückzug blasen. Diesmal hörten das Auswärtige Amt und Bethmann Hollweg nicht, wie am 5. Juli, auf den Souverän. Der Kanzler schickte Instruktion an eine erst am des 28. -Tschirschky Abend Juli, nach dem er von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien wußte. Außerdem verfälschte er den Sinn der kaiserlichen Anweisung, indem er den entscheidenden Satz unterschlug, daß jeder Kriegsgrund mit der serbischen Antwort entfalle. In Bethmanns Version galt die Besetzung Belgrads nicht als Garantie für die Einhaltung der serbischen Zusagen, sondern als Druckmittel, um Serbiens totale Unterwerfung unter das österreichische Ultimatum zu erzwingen. Schließlich fügte der Kanzler noch eine Erläuterung seines Schritts hinzu, die jede etwa noch verbliebene vermittelnde Wirkung vernichten mußte. Unter solchen Umständen hatte die Demarche, als von Tschirschky sie ausführte, natürlich keinen Erfolg, ebenso-wenig wie ein paralleler britischer Vorschlag.

England bleibt nicht neutral

Nachdem die Dinge so weit gediehen waren, unternahm Bethmann Hollweg den gewichtigsten Schritt, den Versuch, sich die britische Neutralität zu sichern. Am 29. Juli hatte er das deutsche Ultimatum („Sommation") an den deutschen Gesandten in Brüssel schicken lassen. Die geplante Verletzung der belgischen Neutralität machte ein britisches Stillhalten zumindest wünschenswert, wenn nicht gar lebensnotwendig für das Gelingen der deutschen Pläne. Am Abend des 29. Juli rief der Kanzler, nach Beratungen in Potsdam mit dem Kaiser und seinen militärischen Beratern, den britischen Botschafter zu sich und fragte an, ob England neutral bleiben werde, wenn Deutschland zusichere, kein französisches oder belgisches Territorium auf dem europäischen Kontinent zu annektieren. Die Reaktion des Foreign Office war vernichtend, wie vor allem Crowes Vermerk zeigt.

Eine britische Antwort auf das deutsche Ansinnen erübrigte sich jedoch, denn kaum hatte Goschen Kanzler verlassen, ein Telegramm als aus London eintraf, in dem der deutsche Botschafter Lichnowsky die Warnung Greys übermittelte, England könne nicht neutral bleiben, wenn Frankreich in einen Kontinentalkrieg hineingezogen würde. Jetzt endlich hatte Grey so gesprochen, daß sogar der deutsche Reichskanzler jede Hoffnung auf eine britische Neutralität fahren lassen mußte, auf eine Neutralität, die Deutschlands sicheren Sieg im bevorstehenden Kontinentalkrieg bedeutet hätte. Bethmann Hollweg sah nun klar die Konsequenzen aus Greys Warnung — den Weltkrieg, den Deutschland kaum würde gewinnen können. In seiner Panik versuchte er das zu retten, was zu retten schien. Jetzt plötzlich bedrängte er die Österreicher, ihre Haltung zu überprüfen, aber er ging niemals so weit, ihnen zu bedeuten, sie sollten nun auf ihren Krieg gegen Serbien verzichten. Er plädierte nur für die Annahme einer britischen Version der kaiserlichen „Halt-in-Belgrad" -Idee und für Verhandlungen mit Rußland, in denen die Österreicher aber nur ihren Annexionsverzicht in Serbien wiederholen sollten, was, wie der Kanzler wissen mußte, die Russen bereits als unzureichend abgelehnt hatten. Bethmann Hollweg machte diese Vorschläge offenbar in der vagen Hoffnung, England würde sich vielleicht doch noch aus dem Krieg heraushalten, wenn Rußland als der Schuldige erschien, während er gleichzeitig die deutsche Öffentlichkeit, vor allem die Sozialdemokratie durch die Demonstration seiner friedlichen Absichten für sich gewinnen wollte, namentlich durch die Mobilisierung antizaristischer Affekte bei der SPD. Der Kanzler wollte dem gerade erst zwei Tage alten lokalen Krieg kein schnelles Ende bereiten, sondern er wollte die deutsche Position in einem größeren Konflikt moralisch aufbessern.

Die russische Generalmobilmachung

Bethmann Hollweg scheiterte in seiner ersten Zielsetzung: England blieb nicht neutral. Er war nur zu erfolgreich in seiner zweiten: Die SPD unterstützte die kaiserliche Politik im Krieg, und Rußland gilt in Deutschland noch heute als der Hauptverantwortliche für den Kriegsausbruch. Um Rußland die Schuld zuzuschieben, widersetzte sich der Kanzler auch erfolgreich dem Drängen des Generalstabs nach einer deutschen Mobilmachung vor der russischen Generalmobilmachung. Der Kanzler gab zu bedenken, man könne „nicht politische und militärische Aktionen gleichzeitig betreiben", wie er am 30. Juli im preußischen Staatsministerium erklärte, in anderen Worten, es sei unmöglich, Rußland die Schuld zuzuschieben und gleichzeitig den Russen mit der Generalmobilmachung zuvorzukommen.

Am 29. Juli sahen die deutschen Generale noch Bethmann Hollwegs Logik ein. Am 30. Juli wurden sie aber zusehens ungeduldiger. Am Abend, ungefähr zwei Stunden, nachdem die russische Generalmobilmachung endgültig angeordnet war, eröffneten sie dem Kanzler, daß er sich sofort auf die deutsche Mobilmachung festlegen müsse. Der Kanzler schlug noch einen Aufschub bis zum Mittag des 31. Juli heraus, aber es konnte wenig Zweifel darüber bestehen, wie die Entscheidung dann ausfallen würde. Bethmann Hollweg stimmte der Frist zu, in der Hoffnung, die Russen würden doch noch vorher die General-mobilmachung verfügen. Am Morgen des 31. Juli warteten die Deutschen nur noch auf die sichere Kunde von der russischen General-mobilmachung, um anschließend sofort gleich zuziehen. Zum Glück für Bethmann Hollweg und Generationen deutscher Historiker verlor Sasonow vor seinem deutschen Gegenspieler beim Pokern um die erste Generalmobilma-chung einer Großmacht die Nerven und hatte bereits die russische angeordnet.

Am 31. Juli trafen sich Bethmann Hollweg, Moltke und Falkenhayn wieder und warteten auf Nachrichten aus Rußland. Fünf Minuten vor der selbstgesetzten Frist wurde ihnen das langersehnte Telegramm von Pourtales, dem deutschen Botschafter in Petersburg, vorgelegt, das die umlaufenden Gerüchte bestätigte: Die russische Generalmobilmachung war bereits da! Sofort wurde der Zustand drohender Kriegsgefahr, auf den in Deutschland automatisch die Mobilmachung aller Streitkräfte folgte, erklärt. Am gleichen Nachmittag gingen zwei Ultimaten ab — eines nach Rußland, das die sofortige Einstellung aller militärischen Vorbereitungen gegen Deutschland und Österreich verlangte, das andere nach Frankreich, das sich nach der französischen Haltung im Fall eines Krieges mit Rußland erkundigte. Gleichzeitig entwarf das Auswärtige Amt die Kriegserklärungen an beide Mächte. So war der große Krieg unvermeidlich geworden, zumal der deutsche Aufmarschplan die baldige Eröffnung der Feindseligkeiten gegen das neutrale Belgien vorsah, den Handstreich gegen Lüttich, nur wenige Tage nach offiziellem Beginn der Mobilmachung.

Der Weltkrieg ist nicht mehr aufzuhalten

Am Nachmittag des 31. Juli war die Katastrophe daher nicht mehr aufzuhalten. Am 1. August erließ Deutschland die General-mobilmachung, zur gleichen Stunde wie Frankreich; am Abend des gleichen Tags erklärte Deutschland den Krieg an Rußland. Eine Stunde vorher ereignete sich eine denkwürdige, enthüllende Episode. Ein Telegramm Lichnowskys war angekommen, das die Möglichkeit einer britischen Neutralität anzudeuten schien, wenn Deutschland nur nicht Frankreich angreifen würde. Der Kaiser und seine Berater jubelten, denn ihre Politik der Stärke in der Julikrise schien sich im letzten Augenblick doch noch auszuzahlen. Nur Moltke war eingeschnappt. Für den Heerführer kam das Ansinnen des Kaisers, plötzlich seinen ganzen Aufmarschplan umzuwerfen, als verheerender Schock, und er fürchtete sogar, jetzt würde auch noch Rußland abschnappen. Später in der Nacht klärte ein weiteres Telegramm das Ganze als Mißverständnis auf — Moltke konnte auf den berühmten Knopf drücken und die deutsche Dampfwalze gegen Belgien und Frankreich in Bewegung setzen.

Dje französische Antwort auf die deutsche " Anfrage" war in der Form ausweichend, in der Sache fest: Frankreich würde seinen Verbündeten nicht im Stich lassen. Gleichzeitig rang der französische Botschafter in London, Paul Cambon, verzweifelt um den noch keinesWegs sicheren Beistand Englands. Die Russen, Franzosen und Crowe im Foreign Office hatten Grey vergebens beschworen, über Englands Position von vornherein keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen; England könne in einem Kontinentalkrieg nicht neutral bleiben, weil sie hofften, Deutschland nur so von unwiderruflichen Schritten zurückhalten zu können. Grey hatte Deutschland in der Tat gewarnt, aber nicht eindeutig genug, um deutsche Illusionen rechtzeitig und nachhaltig zu zerstören. Als Grey die letzten Zweifel an der britischen Haltung beseitigte, auch für den deutschen Kanzler, war es zu spät.

Wie sehr Deutschland bis in die letzte Stunde hinein, wider alle Vernunft, vielleicht doch noch die britische Neutralität zu erreichen hoffte, beweist der Versuch, die Verantwortung für den Friedensbruch diesmal auf Frankreich abzuladen, indem die Wilhelm-straße eine ganze Serie von angeblichen Grenzverletzungen durch Frankreich erfand. Einige waren so plump erfunden, daß außerhalb Deutschlands sie kaum jemand glaubte. Der deutsche Einfall in Belgien beseitigte die letzten Hemmungen in London: Grey ließ in Berlin ein Ultimatum überreichen, das die sofortige Zurückziehung der deutschen Truppen aus Belgien verlangte. Als Bethmann Hollweg ablehnte, trat der Kriegszustand zwischen Deuschland und England automatisch ein, am 4. August, 23 Uhr westeuropäischer Zeit.

Die Verteilung der Verantwortung

Beim Versuch, zu einem differenzierten Urteil über die Verteilung der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu gelangen, empfehlen sich zwei grundlegende Unterscheidungen: einerseits zwischen den drei Stufen des Krieges — lokaler Krieg (Österreich gegen Serbien), Kontinentalkrieg (Österreich und Deutschland gegen Rußland und Frankreich), Weltkrieg (Teilnahme Englands am Kontinentalkrieg) —, andererseits zwischen dem Willen, eine der drei Stufen des Krieges auszulösen, und ihrer bloßen Verursachung.

Da der lokalen Krieg einem Weltkrieg aus entstand, der sich zum Kontinentalkrieg ausweitete, liegt der größte Teil der Verantwortung für die Auslösung des Ersten -kriegs bei der Macht, die zumindest den lokalen Diese Macht war Krieg eindeutig das Deutsche Reich. Es mag gewiß keinenWeltkrieg unter allen Umständen gewollt haben, aber es drängte ein zögerndes und seiner nicht selbst sicheres Österreich zum Krieg gegen Serbien. Österreich den Selbst wenn Krieg gegen Serbien ganz von sich aus begonnen hätte, wäre der deutsche Anteil immer noch größer als der österreichische, da Deutschlands Veto ausgereicht hätte, den lokalen Krieg zu verhindern. Deutschland war außerdem die einzige Macht, die einem Kontinentalkrieg kühl entgegensah, den es glaubte gewinnen zu können, solange England neutral blieb. Deutschland unternahm nichts, um einen Kontinentalkrieg zu vermeiden, obwohl seine Führung das Risiko eines Weltkriegs bei Eröffnung der Julikrise gelassen ins Kalkül nahm. Österreich wollte natürlich den lokalen Krieg, nachdem es sich einmal, mit deutscher Nachhilfe, dazu entschlossen hatte, fürchtete aber den Kontinentalkrieg. Seine Führung hoffte im Grunde, die deutsche Rückendeckung würde allein schon ausreichen, um Rußland von der Intervention zum Schutz Serbiens abzuschrecken.

Rußland, Frankreich und England bemühten sich, den lokalen wie den kontinentalen Krieg zu vermeiden. Ihr Hauptargument bei ihren Versuchen, eine Vermittlung zwischen Wien und Belgrad in Gang zu bringen, war gerade, die Verhütung des lokalen Kriegs wäre das beste Mittel zur Meidung der großen Katastrophe. Die drei Mächte hätten den Weltkrieg nur vermeiden können, wenn sie sich der von Deutschland ausgehenden kombinierten deutsch-österreichischen Erpressung widerstandslos gefügt hätten. Trotzdem trugen auch sie auf ihre Weise zum Ausbruch des Weltkriegs bei: Rußland durch den technischen Kunstfehler, durch eine verfrühte Generalmobilmachung das propagandistisch so effektvolle Stichwort für die deutsche Generalmobilmachung geliefert zu haben. Die französische Haltung war fast absolut korrekt. Der einzige Fehler lag im Versagen, Rußland von der verfrühten Generalmobilmachung zurückzuhalten. England hätte seine Haltung früher unmißverständlich machen können. Aber deutlich angesichts des festen Willens in Berlin, sich auf keinen Kompromiß einzulassen, ist es zweifelhaft, ob eine andere Politik der Ententemächte, es sei denn ihre Kapitulation vor den deutschen Drohungen, eine erheblich anderes Ergebnis erzielt hätte. Der Anteil der Entente ist somit sehr viel kleiner als der Deutschlands, bestand denn er darin, auf deutsche Aktionen nicht immer in der optimalen Weise reagiert zu haben.

Im Rückblick von einer durch zwei Weltkriege zutiefst umgewandelten Welt erscheinen die Ereignisse, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, als das erste Beispiel für erfolglose brinkmanship in unserem Jahrhundert, für eine rasche Eskalation in einer Periode, in der die Mechanismen von Bündnissen und Mobilmachungsplänen noch ohne Angst vor der absoluten Waffe und der absoluten Vernichtung funktionieren konnten, die ihre Anwendung in einem dritten Weltkrieg heute mit sich bringen würde.

Die Fischer-Kontroverse erweist sich als die nachgeholte kritische Auseinandersetzung mit einer bisher bewußt verdrängten Vergangenheit, deren Verdrängung ihrerseits zur Erzeugung einer noch unangenehmeren, erst recht noch immer „unbewältigten" Vergangenheit beitrug. Die längst überfällige Zerstörung eines historischen Tabus schuf Raum für eine rationale Analyse der jüngsten Geschichte, die gleichsam von hinten aufgerollt wird. Die Erfüllung eines legitimen Nachholbedarfs an historischer Selbstkritik könnte zudem auf weite Sicht den Deutschen mit dazu verhelfen, endlich zu sich, ihrer Geschichte und der übrigen Welt ins rechte Lot zu finden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Imanuel Geiss, Dr. phil., geb. 9. Februar 1931 in Frankfurt/Main. Gegenwärtig Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Veröffentlichungen: Der polnische Grenzstreifen 1914/18. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Hamburg und Lübeck 1960; Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, Hannover 1963/64; Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, München 1965 (dtv 293); Gewerkschaften in Afrika, Hannover 1965; Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs (zusammen mit Hartmut Pogge — von Strandmann), Frankfurt/M. 1965.