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Zur Strategie der Kriegsverhinderung. Die Frage des Atomsperrvertrages | APuZ 10/1967 | bpb.de

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APuZ 10/1967 Artikel 1 Zur Strategie der Kriegsverhinderung. Die Frage des Atomsperrvertrages Wandlungen der amerikanischen Rüstungspolitik

Zur Strategie der Kriegsverhinderung. Die Frage des Atomsperrvertrages

Oskar Huemer

In den letzten Wochen stand das Für und Wider des geplanten Atomsperrvertrages im Mittelpunkt der Diskussion in aller Welt. Bei uns rückten die Konsequenzen für den technischen Fortschritt in den Vordergrund, da die Bundesrepublik Deutschland ohnehin ausdrücklich auf den Erwerb und die Herstellung von Atomwaffen verzichtet hat. In anderen Ländern spielte daneben der militärische Aspekt eine Rolle. Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe den Aufsatz eines österreichischen Publizisten, der den Atomsperrvertrag aus der Sicht der kleineren neutralen Staaten untersucht. Der folgende Beitrag von Rainer Waterkamp nimmt zwar nicht direkt auf den Atomsperrvertrag Bezug, ergänzt aber den Aufsatz von Huemer insofern, als er sich mit der Strategie des Atomzeitalters aus dem Blickwinkel einer der beiden atomaren Supermächte befaßt. über den von den USA und der UdSSR in Aussicht genommenen Nonpioliferalior. svertrag (Atomsperrvertrag) ist eine heftige Diskussion entbrannt. Der geplante Vertrag bezweckt ein internationales Verbot der Errichtung neuer Produktionsstätten für nukleare Waffen (Pro-liieration), zudem ein Verbot der Weitergabe von Atomwaffen an nichtatomare Staaten (Disemination). Die Argumente und Gegenargumente für und gegen einen Nonproliferationsvertrag sind so mannigfaltig und vielfach so gegensätzlicher Natur, daß es nicht möglich ist, im Rahmen einer kurzen Studie den gesamten Fragenkomplex erschöpfend zu behandeln.

In jüngster Zeit hat die neutrale Schweiz mit gewichtigen Stimmen in die Diskussion eingegriffen. Das hat seinen guten Grund, denn für einen neutralen Kleinstaat, der keinem militärischen Bündnissystem angehört, ist die Frage der Sicherheit von vitaler Bedeutung.

Darum mag es für die Bildung eines objektiven Urteiles dienlich sein, auf die eidgenössische Argumentation näher einzugehen.

I. Strategie im Atomzeitalter

Abbildung 1

Einer der führenden Schweizer Wehrpolitiker, Gustav Däniker versteht unter Strategie »die Summe aller Maßnahmen zur Verwirklichung der staatlichen Zielsetzung". Däniker geht damit bewußt von der klassischen Clausewitzschen Definition ab und lehnt sich der „höheren oder großen Strategie" des britischen Militärtheoretikers und Publizisten Liddell Hart wie auch der „totalen Kriegskunst im Frieden" des französischen Generals Beaufre. Er plädiert wie Beaufre für eine „totale Strategie", der die Funktion zukommt, die verschiedenen allgemeinen Strategien in politischer, wirtschaftlicher, diplomatischer und militärischer Hinsicht zu koordinieren.

Däniker schreibt: „Doch setzt dies zunächst ein Umdenken voraus. Wir müssen einsehen, daß der Kleinstaat nicht zum Großhans wird, nur weil er sich mit den internationalen Sicherheitsproblemen zu beschäftigen beginnt oder gar Maßnahmen trifft, die im Ausland nicht sofort verstanden werden. Sich um die eigene Sicherheit zu sorgen, ist kein Privileg der Großen. Der Kleinstaat wird aber seine Stimme erheben müssen, um seine Ansicht darzulegen. Zur modernen Strategie gehört nicht zuletzt die Erläuterung der eigenen Vorhaben, damit die beabsichtigte Wirkung erzielt wird. Denn eines ist bereits klar geworden: Die Bemühungen des Kleinstaates um seine Sicherheit werden nur Erfolg haben, sie sich in wenn die allgemeine Bemühung einreihen, den Krieg zu verhindern."

Es muß mit besonderem Nachdruck vermerkt werden, daß Däniker den Primat der Politik anerkennt: „Die Schweiz muß noch mehr als bisher die Entwicklung der Vernunft in der Welt stärken helfen, und es wird einer eingehenden Studienarbeit bedürfen, in welchem Bereich unsere relativ schwachen Kräfte am wirkungsvollsten eingesetzt werden können. Vielleicht sollten wir Mitglied der UNO werden, um die Stimmen jener Regierungen zu ergänzen, die aus einer Gesamtverantwortung heraus urteilen und nicht nur ihren eigenen Interessenstandpunkt vertreten. Vielleicht sollten schweizerische Blauhelme für Befriedungsaktionen zur Verfügung stehen. Vielleicht könnten wir bei verschiedenen Hilfswerken eine noch größere Rolle spielen. Eine stärkere Beteiligung am internationalen Geschehen scheint auf alle Fälle notwendig. Weder Selbstzufriedenheit noch Angst vor Verstrikkung in fremde Händel und Schuld sollten uns davon abhalten, denn nur wer handelt und Verantwortung übernimmt, kann seinen Einfluß geltend machen."

Däniker betrachtet die Welt nicht mit den Augen eines utopischen Schwärmers, sondern er ist ein nüchtern analysierender Realpolitiker. Darum kann er nicht an der Tatsache vorübergehen, daß die Politik der Macht bedarf. Er schreibt dazu: „Die zusätzlich geistig-politische Anstrengung wird sich somit — wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben — vor dem Hintergrund eines Minimums an realer Stärke, an faktischer Fähigkeit zur Selbstbehauptung abspielen. Das will nicht heißen, daß wir unser Augenmerk nicht ebensosehr auf Abrüstung wie auf Rüstung, auf die Möglichkeit der geistigen Friedenssicherung wie auf die Entwicklung der Kriegstechnik, richten. Aber es bedeutet, daß wir uns nicht als einzelne und dazu noch kleine Nation aus dem Bannkreis der Machtpolitik lösen können. Diese wird noch lange Zeit die Geschicke unserer Welt und damit Europas bestimmen. Gewicht — und sollte es auch nur ein kleines sein — hat nach wie vor nur, wer etwas in die Waagschale der Macht zu werfen hat."

Man sollte Däniker dankbar sein, daß er sich nicht gescheut hat, diese Wahrheit, zugegeben eine brutale Wahrheit, mit dem notwendigen Freimut weiß sehr Er wohl, auszusprechen.

daß die Menschheit heute eine praktisch unbegrenzte Zerstörungskraft auslösen kann. Sie hat zum erstenmal in ihrer Geschichte die technische Möglichkeit, sich selbst auszurotten. Er weiß auch, daß die Gefahr der Vernichtung dauernd besteht, in jedem Augenblick. Sie ist eine Sache von Minuten, nicht mehr von Monaten oder Jahren. Er ist sich auch dessen bewußt, daß ein Land heute vernichtet werden kann, ohne daß es nötig ist, vorher seine Streitkräfte auszuschalten. Eine Verteidigung im herkömmlichen Sinn ist nicht mehr möglich. Gerade weil sich Däniker keinen Illusionen hingibt, fühlt er sich zu einer offenen Sprache verpflichtet: „Wir bedauern, solch brutale Wahrheiten aussprechen zu müssen, nachdem jedermann nur das eine hören möchte: die Botschaft von der wachsenden Vernunft und der neuen Politik der Menschheit, die endlich begriffen hat, was das Gebot der Stunde ist. Aber die Möglichkeit ihrer Selbstvernichtung hat eben nicht zur Ein-und Umkehr geführt, sondern lediglich zu neuen Formen der Politik und Strategie, die man heute anzuwenden versucht. Das Spiel geht weiter; das Ringen um Einflußsphären und Selbstbehauptung ist nicht zu Ende, es wird lediglich mit andern Mitteln fortgesetzt. Wer es nicht mitzuspielen gewillt ist und meint, er könne unbeteiligter Zuschauer bleiben, läuft Gefahr, früher oder später überspielt zu werden." 1. Das Prinzip der Abschreckung Gestützt auf die neue Kriegstheorie des Generals Beaufre, verneint Däniker die Landesverteidigung im traditionellen Sinn. Weil es heute eben Waffen gibt, die imstande sind, ganze Kontinente in eine menschenleere Wüste zu verwandeln, ohne daß eine absolut zuverläs3) sige und vor allem wirksame Abwehr gegenübergestellt werden kann, besteht als Mittel der Verteidigung nur die reale Möglichkeit der Gegendrohung, daß heißt der Abschrek-kung.

Däniker erinnert in diesem Zusammenhang an die Lage der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Strategisch relativ unwichtig, verfügte die Schweiz doch über eine nicht unbedeutende militärische Abwehrkraft, die durch den unbedingten Verteidigungswillen der Eidgenossen zu einem Faktor wurde, mit dem auch Hitler rechnen mußte. Für Hitler war der Preis im Verhältnis zum erzielbaren Gewinn offensichtlich zu hoch. Die defensive Abschreckung tat ihre Wirkung. Freilich schützt die defensive Abschreckung einen Kleinstaat nicht vollständig vor der Erpressung durch den Stärkeren. Däniker verweist auf die Achillesferse des schweizerischen Verteidigungssystems während des Zweiten Weltkrieges, auf die wirtschaftliche Verwundbarkeit. Hitler soll einmal gesagt haben: „Die Schweizer, das sind vier Millionen Kriegsgefangene, die sich selbst bewachen, selbst ernähren und erst noch für uns arbeiten." Hitler hoffte, die Schweiz mit dem Mittel der Erpressung eines Tages einheimsen zu können. Daß ihm das nicht gelang, verdankt die Schweiz dem Sieg der Alliierten. Der Faktor Zeit, der bei der defensiven Abschreckung eine nicht unwesentliche Rolle spielt, stand auf der Seite der Eidgenossen.

Däniker folgert daraus, daß jeder Kleinstaat auf eine Abschreckung angewiesen ist, welche die Siegeserwartung des potentiellen Angreifers möglichst herabsetzt. Dabei konnte der Kleinstaat auch im Zeitalter der konventionellen Kriegführung niemals damit rechnen, eine Militärmacht auf die Beine zu stellen, die der ihn bedrohenden Großmacht auch nur einigermaßen ebenbürtig war. Es kam wesentlich darauf an, für den potentiellen Angreifer den Preis so hoch als nur möglich zu schrauben, wobei es freilich mit Bluff nicht getan war. Der Wert der Abschreckung entsprach also annähernd dem effektiven Verteidigungswert.

Im Zeitalter der Nuklearwaffen hat sich die Gefahr gewandelt; alle Staaten, die kleinen wie die großen, haben es mit einer ganz neuen Art der Bedrohung zu tun. Zwar ist der Wille, das Territorium des eigenen Landes so nachhaltig wie möglich zu schützen, nach wie vor der bestimmende Faktor jeder Landesverteidigung, doch gegen die weitreichenden Raketen mit Wasserstoffsprengköpfen zeichnet sich noch immer keine wirksame Abwehr ab. Heute müssen alle Staaten ohne Ausnahme mit einem Atomschlag rechnen, der mit Sicherheit und innerhalb kürzester Frist jedes Leben in weitesten Teilen des Landes auszulöschen imstande ist. Nach Däniker wurde die Abschrekkung von den Großmächten neu entdeckt und ins Absolute gesteigert: „An Stelle der Verteidigung — das heißt der auf die Dämpfung der Siegeshoffnung des Angreifers ausgerichteten Abschreckung — tritt die gegenseitige Abschreckung auf höherer nuklearer Ebene, gegründet auf den Gedanken der Vergeltung." Es versteht sich von selbst, daß die Vergeltungsdrohung nur dann ihre Wirkung tun kann, wenn dem potentiellen Kriegsgegner klar ist, daß er nach seinem eigenen Atom-schlag auf jeden Fall mit einem atomaren Vergeltungsschlag rechnen muß. Darum unterteilte der US-Verteidigungsminister McNamara bereits 1965 das amerikanische Verteidigungspotential auf strategischer Ebene in die „Assured Destruction Capability" (die strategischen Vergeltungskräfte) und in die „Damage Limiting Force" (Streitkräfte, Zivilschutz, usw. zur Herabminderung der Wirkung eines Atomschlages). Es kann also nicht mehr von einer Verteidigung im traditionellen Sinne gesprochen werden. Däniker betont daher mit Recht: „Der Übergang von der Abwehr zur Vergeltung und die damit verbundene Steigerung der Abschreckung sind es also, womit sich jedes moderne Verteidigungsdenken beschäftigen muß."

Däniker bestreitet keineswegs, daß auch in der Gegenwart einer starken konventionellen Armee eine eminente Bedeutung zukommt; er übersieht aber auch nicht, daß eine konventionelle Armee gegenüber einem Gegner, der über Atomwaffen verfügt, nicht mehr einen ausreichenden Abschreckungswert besitzt. Die Wandlung der Strategie und des Kriegsbildes bedingt, daß alle Sicherheitsmaßnahmen zuallererst vom Gesichtspunkt der Kriegsverhinderung betrachtet und beurteilt werden müssen. 2. Die Landesverteidigung der nichtatomaren Staaten Alle Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, haben ein vitales Interesse an der Verhinderung jeglicher kriegerischen Auseinandersetzung. Ihre Politik muß daher vor allem darauf gerichtet sein, in keine kriegerische Verwicklung hineingezogen zu werden. Es soll nicht bestritten werden, daß jeder auf die Erhaltung des Friedens gerichteten Politik natürlich Grenzen gesetzt sind. Diese Erkenntnis darf nicht zur völligen Resignation verführen. Vielmehr muß jeder nichtatomare Staat, mag er noch so klein sein, ein Maximum an Anstrengungen zur Völkerverständigung und zur Beseitigung der Mißverständnisse unter den Völkern leisten. Gerade dem Kleinstaat stehen in dieser Hinsicht bei weitem mehr Möglichkeiten offen, weil das Moment des Argwohnes wegfällt. Der Kleinstaat kann kaum jemandem gefährlich werden. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn das neutrale Österreich den Versuch unternimmt, unter den Völkern des Donau-raumes zur Entspannung beizutragen. Der sogenannte „Neuner-Klub" enthält zweifelsohne eine Reihe von Möglichkeiten, vorausgesetzt, daß sie bedeutsam und taktvoll genützt werden. „Wenn Herr de Gaulle auf Europa schaut, dann schaut er nach Osten; so ist es nun einmal vom Standpunkt Paris aus. Und wenn Herr Kossygin nach Europa blickt, dann geht sein Blick nur nach dem Westen; so ist es nun einmal, wenn man seinen Standpunkt im Kreml hat . . . Wer Europa will, muß zunächst die menschliche, geistige, wirtschaftliche und politische Nachbarschaft des mitteleuropäischen Donauraumes bejahen. Das ist die Aufgabe der Nationen dieses Raumes, die uns niemand abnehmen kann und will. Diese Aufgabe trägt unsere Zukunft."

Natürlich vermag die beste Diplomatie die Abschreckung nicht zu ersetzen. Däniker meint dazu: „Wer immer die diplomatische Offensive als Mittel der Verteidigung oder unsere HilfStätigkeit in aller Welt gleichsam als überlebensgroße Rotkreuzarmbinde und damit als ausreichendes Schutzzeichen, verschont zu werden, hinstellt, sieht die Dinge zu einfach." Däniker verweist auf das konkrete Beispiel der eidgenössischen Luftverteidigung: „Die atomare Drohung hat fast überall zum forcierten Aufbau einer wirkungsvollen Luftverteidigung geführt. Auch die Schweiz konnte sich dieser Notwendigkeit nicht verschließen und schuf mit einer modernen Luftraumüberwachung, mit Hochleistungsflugzeugen, Luft/Luft-und Boden/Luft-Abfangwaffen ein wirksames System, das insofern zur Verhinderung eines Konflikts beiträgt, als die zwischen den Nato-Abschnitten Mitte und Süd klaffende Lücke ausgefüllt wurde."

Darum bemüht sich auch das neutrale Österreich um sinnvolle Interpretation jener Bestimmungen des Staatsvertrages durch die Unterzeichnermächte, die der Republik Österreich dem Wortlaut nach den Besitz von Raketenwaffen verbieten. Es ist das unbestreitbare Verdienst des jetzigen österreichischen Verteidigungsministers Georg Prader, daß er allen Widerständen zum Trotz zum Aufbau einer modernen und wirkungsvollen Luftverteidigung drängt, die Verteidigungskraft der österreichischen Streitkräfte bei zweckmäßigster Verwendung der zur Verfügung stehenden Budgetmittel erhöht und damit den Willen zur Selbstbehauptung des österreichischen Volkes überzeugend manifestiert. Fürwahr keine beneidenswerte Aufgabe, wenn man bedenkt, daß in Österreich der Anteil des Landesverteidigungsbudgets im Jahre 1964 (für die folgenden Jahre liegen Vergleichszahlen noch nicht vor) lediglich 1, 1 °/o des Bruttosozialproduktes betragen hat; im Vergleich dazu: in Schweden 4, 2 % und in der Schweiz 2, 6 %. Mit einer ganz besonderen Genugtuung müssen die ehrlichen Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland vermerkt werden, zu einer Aussöhnung mit den Völkern in Ost-und Südosteuropa zu gelangen. Die Schwierigkeiten sollen nicht verkannt werden. Viele Vorurteile und Mißverständnisse müssen aus dem Weg geräumt werden. Die neutralen Staaten (Österreich, Schweiz, Schweden, Finnland) wären sicherlich bereit, ihre guten Dienste dem Ziel einer Aussöhnung zwischen dem deutschen Volk und den Völkern des ost-und südosteuropäischen Raumes zur Verfügung zu stellen.

Es kann nicht eindringlich genug vor einer Selbstaufgabe der nichtatomaren Staaten gewarnt werden. Die Argumentation, daß im Atomzeitalter jede Landesverteidigung sinnlos, ja geradezu verbrecherisch geworden sei, muß mit allem Nachdruck zurückgewiesen werden. „Wenn zur Niederringung einer klein-staatlichen Armee eine gewichtige Zahl von Divisionen, Armeetruppen und Luftstreitkräften eingesetzt werden müssen, dann wird das Ziel, das diesen Aufwand bedingt, mit Sicherheit sehr kritisch angeschaut, ist es doch weder heute noch in absehbarer Zukunft so, daß in einem Konflikt vollausgerüstete Armeen von über einer Million Mann — und so viel würde eine rein konventionelle Niederwerfung der Schweiz theoretisch benötigen — nach Belieben zur Verfügung stehen." Die Anstrengungen der Vereinigten Staaten von Nordamerika in Vietnam sprechen deutlich genug.

Seit die Interkontinentalraketen als Träger-waffen für Atom-und Wasserstoffsprengköpfen praktisch jeden Punkt der Erde erreichen können und seit außerdem die Unverwundbarkeit der Abschußrampen gesichert erscheint, vermeiden die Atommächte eine direkte Konfrontation. Die nukleare Vergeltungsstrategie übt einen stabilisierenden Einfluß aus; sie brachte der Menschheit das „Gleichgewicht des Schreckens". Das Ziel der beiden Großmächte (USA und UdSSR) besteht in der Erhaltung ihres Macht-und Einflußbereiches. Wo eine Erweiterung des eigenen Machtbereiches versucht wird, taktiert man mit größter Vorsicht und hält die Eskalation unterhalb der nuklearen Schwelle.

Wilhelm Grewe führt in seinem Aufsatz „Der Atomclub wird geschlossen" dazu eine Reihe von Beispielen aus der jüngsten Geschichte an. Uber den Krieg in Vietnam schreibt Grewe: „In seinen verschiedenen Phasen hat der Vietnam-Konflikt demonstriert, welche Stufen der Eskalation unterhalb der nuklearen Schwelle in einer Randzone möglich sind — wobei auch hier die Beteiligten die Gefahren keinen Augenblick aus dem Auge verloren haben, die sich aus einer Annäherung an diese Schwelle ergeben könnten. Nur in streng kontrollierten und vorsichtig kalkulierten Dosen haben die Amerikaner daher den Einsatz ihrer konventionellen Machtmittel zu steigern gewagt; und genauso vorsichtig und zurückhaltend haben Russen und Chinesen bisher auf diese Steigerung reagiert."

Da die nukleare Vergeltungsstrategie eine offensive Politik allzu riskant macht, besteht die Gefahr, daß die Atommächte mehr und mehr dazu übergehen, ihre Konflikte und ihre offensiven Ambitionen mit Hilfe von nichtatomaren „Stellvertretern" auf konventioneller Ebene austragen zu lassen. Ein „Krieg mit Stellvertretern" liegt daher immer im Bereich der Möglichkeit. Das zwingt gerade jene nichtatomaren Staaten, die keinem militärischen Bündnissystem angehören, eine konventionell starke Abschreckungsstreitmacht zu unterhalten. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Abschreckung des nichtatomaren Staates, mag sie auf konventioneller Ebene noch so vollkommen sein, sofort ihre Wirksamkeit verliert, sobald der Krieg die nukleare Schwelle überschreitet, selbst schon dann, wenn die atomaren Drohungen glaubwürdig zu werden beginnen. Aus diesem Grund kommt Däniker zu dem Schluß: „Die Frage, ob der Kleinstaat seine Abschreckung allein mit den herkömmlichen militärischen Mitteln auch in Zukunft bestreiten kann, ist somit eindeutig mit Nein zu beantworten."

Was Däniker über den Kleinstaat sagt — er hat bei seiner Untersuchung die neutrale Schweiz im Auge —, gilt ohne Zweifel für jeden nichtatomaren Staat. Keine konventionell ausgerüstete Armee der Welt kann auf längere Dauer einen Atombeschuß auch nur im taktischen Rahmen überstehen. Wer Soldaten übermenschliches zutraut, handelt verbrecherisch. Deshalb müssen die nichtatomaren Staaten ernsthafte Überlegungen darüber anstellen, ob es sich noch weiterhin verantworten läßt, auf eine atomare Abschreckung zu verzichten. 3. Die atomare Abschreckung Man weiß, daß heute bereits mehr als ein Dutzend Staaten in der Lage wären, Atomwaffen selbst herzustellen. Experten haben berechnet, daß zum Beispiel die kleine Schweiz imstande wäre, bei einem tragbaren finanziellen Aufwand eine eigene Atombombenproduktion aufzubauen und innerhalb eines Zeitraumes von etwa zwanzig Jahren pro Jahr drei-bis vierhundert Atomsprengkörper kleineren und mittleren Kalibers herzustellen. Es heißt, daß die Temperatur, die zur Zündung einer Wasserstoffbombe notwendig ist, bereits durch vier Hohlladungen erreicht werden kann, wenn deren Explosionen gleichzeitig auf einen Punkt konzentriert werden. Wenn es wahr ist, daß die Lasertechnik ebenfalls solche Temperaturen hervorzubringen vermag, so läßt sich unschwer schon für die nahe Zukunft eine erhebliche Verbilligung der Atomwaffenproduktion voraussagen. Die Tendenz weist also auf eine „Demokratisierung" des Atomwaffenbesitzes hin.

General Beaufre führt in seinem Werk „Dissuasion et Strategie“ den Nachweis, daß es sich für einen Staat nicht mehr lohnt, einen anderen Staat anzugreifen, wenn der Angegriffene über ein Atompotential verfügt, das zehn bis fünfzehn Prozent der nationalen Sub-stanz des Aggressors vernichten kann. Zur Abschreckung durch Vergeltung bedarf es demnach keiner Gleichheit der atomaren Mittel. Man darf damit rechnen, daß bereits dann ein Angriff unterbleibt, wenn der durch einen Vergeltungsschlag zu befürchtende Schaden größer ist als der durch die geplante Aggression erhoffte Erfolg.

Damit kommen wir zu einem ganz wesentlichen Punkt unserer Überlegungen: Die Atomwaffe ist eine Waffe für den Nichtgebrauch! „Wer Atomwaffen für den Gebrauch beschaffen will, geht an ihrer wesentlichsten Funktion vorbei. Ausmalen muß man sich den atomaren Angriff und die atomare Verteidigung lediglich, um den Grad der Drohung, die von dieser Waffenkategorie ausgeht, ermessen zu können. Hier liegt eines der Paradoxa des Atomzeitalters, das aber im Grunde genommen nur das ins Riesenhafte gesteigerte Paradox des , si vis pacem para bellum'ist. Atomwaffen müssen der Abschreckung dienen und Kriege verhindern, sonst sind sie wertlos. Auch der Kleinstaat hat die eigene Atombewaffnung in diesem Lichte zu sehen oder er sieht sie falsch."

Däniker plädiert ganz entschieden für eine Ausrüstung der Schweizer Armee mit Atomwaffen. Er befaßt sich dabei sehr gründlich mit der Glaubwürdigkeit einer kleinstaatlichen atomaren Abschreckung. Wie soll eine Atom-macht von wenigen Megatonnen eine nukleare Macht von einigen Tausenden Megatonnen abschrecken? Däniker beantwortet die Frage so: „Die Fragestellung ist ernst zu nehmen. Die Abschreckung hängt wirklich von der Glaubwürdigkeit des Einsatzes von Atomwaffen ab oder, besser, von der Unsicherheit eines Aggressors, ob der Angegriffene schließlich nicht doch zu diesem Mittel greifen wird. Gerade in diesem letzten Punkt liegt die kriegsverhindernde Wirkung auch kleiner Atomstreitkräfte. Wo sie bestehen, läuft der Angreifer Gefahr, daß der Krieg plötzlich auf die atomare Ebene überspringt, was nicht nur aut dem lokalen Kriegsschauplatz seine Konsequenzen haben, sondern rasch darüber hinausgreifen würde. Jeder Staat aber, so beweist die Geschichte der letzten zwanzig Jahre, wird es sich hundertfach überlegen, den Atomkrieg auszulösen und das Risiko der Eskalation und damit der Selbstvernichtung auf sich zu nehmen." 14

Dabei muß besonders darauf verwiesen werden, daß die entsprechenden Proportionen eine entscheidende Rolle spielen. Für eine atomare Großmacht, die gegen einen atomaren Kleinstaat eine Aggression beabsichtigt, steht ein großes Risiko einem unbedeutenden Gewinn gegenüber. Demgegenüber geht es für den angegriffenen Kleinstaat um die biologische Existenz; er ist daher gezwungen, in Notwehr selbst vor einem Verzweiflungsakt nicht zurückzuschrecken.

Das Risiko für eine atomare Großmacht wird um so größer, je mehr es dem atomaren Kleinstaat gelingt, eine Atommacht für einen Vergeltungsschlag aufzubauen, das heißt, die Unverwundbarkeit der Atomwaffenträger zu garantieren (was in der Schweiz ohne weiteres möglich ist), so daß nach einem ÜberraschungsAtomangriff unverzüglich mit einem massiven atomaren Gegenschlag geantwortet werden kann. Es ist klar, daß sich dadurch die Glaubwürdigkeit der Abschreckung ganz beträchtlich erhöht. Selbst Raymond Aron muß zugeben, daß das Gleichgewicht der Abschreckung nicht der Gleichheit des Atompotentials bedarf Es ist lediglich erforderlich, daß der Schwächere über genügend geschützte atomare Vergeltungsmittel verfügt, um im Vergeltungsschlag noch so viele Zerstörungen anrichten zu können, daß sie der Stärkere als untolerierbar empfindet.

Die Diskussion in der Schweizerischen Eidgenossenschaft um die Notwendigkeit einer Atombewaffnung wird auch im benachbarten neutralen Österreich mit großem Interesse verfolgt. Es ist klar, daß unter einem Atomschirm der neutralen Schweiz die immerwährende Neutralität Österreichs eine nicht unbeträchtliche Steigerung ihrer Glaubwürdigkeit erfahren könnte. Daher begegnet der Plan eines Atomsperrvertrages ebenso wie in der neutralen Schweiz auch im neutralen Österreich großer Skepsis.

Seit der Entdeckung der Kernenergie und ihrer Verwendung für kriegerische Zwecke (Abwurf von Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki) lebt die gesamte Menschheit in einer permanenten Atomangst. Fast könnte man von einer „Atomneurose" sprechen. Sie ist geeignet, den Verteidigungswillen der nichtatomaren Staaten zu lähmen und einem verhängnisvollen Fatalismus Vorschub zu leisten. Eine Strategie, die ausschließlich mit konven-tionellen Waffen planen muß, muß ihre Planung immer unter der Annahme eines möglichen Krieges treffen, den es zu gewinnen gilt. Die atomare Strategie dagegen ist auf die Kriegsverhinderung gerichtet. Für die strategische Planung im Atomzeitalter stellt sich also die Aufgabe nicht mehr: Wie kann ein möglicher Krieg gewonnen werden? Die Frage lautet vielmehr: Wie kann der Ausbruch eines Krieges verhindert werden? Kurzum, wir müssen lernen, mit der Atombombe zu leben.

Man muß daher Däniker zustimmen, wenn er meint: „Das Atomzeitalter bringt dem auf sich selbst gestellten Kleinstaat nicht nur neue Bedrohungen, es verschafft ihm auch neue Möglichkeiten der Selbstbehauptung. Wenn wir beide sorgfältig abwägen und unsere Chancen tatkräftig wahrnehmen, erhöht sich nicht nur unsere eigene Sicherheit; wir tragen überdies zur Sicherheit anderer Staaten bei. Diese doppelte Wirkung ist es, welche die neuen, großen Anstrengungen rechtfertigt."

II. Für und wider den Atomsperrvertrag

Ohne Zweifel wird das Thema der Nonprolifi-ration, der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, in nächster Zeit zu einem politischen Traktandum erster Ordnung. „So, wie die Dinge sich entwickelt haben, werfen sie nicht nur ernste bündnispolitische Fragen, sondern auch Fragen des Verhältnisses zwischen den Supermächten und den übrigen Staaten insgesamt auf, die einer gründlichen Erwägung bedürfen."

Gewiß, niemand kann sich den Gefahren verschließen, die eine Weiterverbreitung von Kernwaffen nach sich ziehen können. Die Menschheit wünscht den Frieden, und das Bedürfnis nach einer möglichst umfassenden Sicherheit ist ein allgemein menschliches Anliegen. Hier sollen ganz bewußt die diffizielen Probleme ausgeklammert werden, die sich für die atlantische Bündnispolitik ergeben. Es soll auch nicht auf die besonderen deutschen Vorstellungen eingegangen werden. Ganz abgesehen davon, daß die Bundesrepublik Deutschland in einer bindenden Form auf den Erwerb und den Besitz von Nuklearwaffen verzichtet hat, decken sich ohnehin die meisten der deutschen Auffassungen mit denen der übrigen nichtatomaren Staaten. Auch die Vorgeschichte des Atomsperrvertrages soll nicht rekapituliert werden, denn wenn man dies tut, beschleichen einen von vornherein Zweifel an der Ehrlichkeit der nach außen zur Schau getragenen Absichten des amerikanisch-sowjetischen Bilaterismus in der Frage des Verbotes einer Weiterverbreitung von Atomwaffen. Wollen wir daher unterstellen, die Atommächte (die Volksrepublik China eingeschlossen) seien ehrlich überzeugt, nur sie allein könnten garantieren, daß die Atomwaffen ihren kriegs-verhindernden Charakter behalten und zu keinem anderen Zweck eingesetzt werden. Von dieser Prämisse ausgehend, wollen wir also die Gegenargumente der nichtatomaren Staaten der Reihe nach analysieren. 1. Diskriminierung Die Atommächte argumentieren mit der Sorge, es könnten einmal politische Abenteurer und Hasadeure in den Besitz von Atomwaffen gelangen. Der geplante Atomsperrvertrag soll demnach nukleare Abenteuer für alle Zeiten verhindern. Damit maßen sich die Väter des Atomsperrvertrages eine moralische Wertung an. Sie wollen bestimmen, wem sie die moralisch-ethische Kraft zutrauen, mit der Atombombe leben zu können. Das bedeutet — und darüber kann kein Zweifel bestehen — eine schwere Diskriminierung aller jener Völker, die über keine Atomwaffen verfügen. Es wäre geradezu absurd, allen Ernstes annehmen zu wollen, die friedliebenden Eidgenossen könnten in dem Augenblick von einer aggressiven Abenteuerlust befallen werden, da sie im Besitz von Atomwaffen sind. 2. Verzicht auf Souveränitätsrechte Zugegeben, daß dieses Argument bei jenen Staaten, die bereits einen Teil ihrer staatlichen Souveränitätsrechte zugunsten supranationaler Organe (EWG, COMECON) oder militärischer Bündnissysteme (NATO, Warschauer Pakt) aufgegeben haben, keine dominierende Rolle mehr spielt. Es besitzt jedoch eine nicht unwesentliche Bedeutung für die neutralen Staaten, die verpflichtet sind, ihre Neutralität mit eigener Kraft zu verteidigen. Eng verbunden damit ist die Frage des nationalen Prestiges. Ein Staat, der über atomare Abschreckungsmittel verfügt, ist kein Kleinstaat im herkömmlichen Sinne mehr, mag sein Atompotential noch so gering und unbedeutend sein. Die Generalstabsplanungen der Atommächte gehen bekanntermaßen mit den nichtatomaren Staaten sehr großzügig um. Ein atomar bewaffneter Staat, auch ein Kleinstaat, verliert seine „strategische Unbedenklichkeit", man muß sich mit ihm befassen, man muß die Beziehungen zu ihm überprüfen. 3. Schutz durch die Atommächte.

Auf der Genfer Abrüstungskonferenz wurde unter anderem auch der Vorschlag unterbreitet, die Atommächte sollten gegenüber den nichtatomaren Staaten Sicherheitsgarantien gegen atomare Angriffe abgeben. Demnach sollen sich die Atommächte verpflichten, unverzüglich mit einem Vergeltungsschlag zu antworten, falls ein Land, dessen Integrität sie garantieren, mit Nuklearwaffen angegriffen wird. Da Frankreich und die Volksrepublik China dem Atomsperrvertrag fernbleiben, könnten also nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Sowjetunion und Großbritannien als „Schutzmächte" in Betracht kommen. Sollte eine derartige Schutzgarantie überhaupt einen Sinn haben, müßten die USA und Großbritannien für die Staaten ihres Einflußbereiches und die UdSSR für die Länder ihrer Einflußsphäre als „Schutz-und Garantie-mächte" auftreten. Das heißt, alle jene Staaten, die weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehören, müßten sich freiwillig einer atomaren Schutzmacht unterstellen, also faktisch einem militärischen Bündnissystem beitreten. Das würde bedeuten, daß zum Beispiel die neutralen Staaten gezwungen wären, ihren Status der immerwährenden Neutralität aufzugeben. Die Realisierung des Garantievorschlages würde aber auch den Atommächten ein Hegemoniestellung einräumen, womit sie ihre „Schützlinge" nach Belieben bevormunden könnten. Die nichtatomaren Staaten müßten bereits im Frieden sich vertraglich verpflichten, auf den Aufbau einer eigenen Atomstreitmacht zu verzichten. Dafür sollen die Atommächte das Garantieversprechen abgeben, daß sie im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Nuklearwaffen dem angegriffenen „Schützling" sofort mit ihren Atomwaffen zur Hilfe kommen werden. Der Garantievorschlag verlangt demnach von den nichtatomaren Staaten eine Vorleistung, die ein ganz ahebliches Risiko beinhaltet. Wäre Großbritannien im Ernstfall tatsächlich bereit, einen massiven -nuklearen Vergeltungsschlag zu riskieren, wenn ein nichtatomarer Kleinstaat (z. B. die Schweiz oder Österreich) atomar angegriffen würde? — Wohl kaum! Eine Garantie besitzt nur dann einen Wert, wenn sie sich im Krisenfall bewährt. Das wird nur dann der Fall sein, wenn die Stärkeproportionen der Vertragspartner nicht allzu weit auseinanderklaffen. Bei einem Vertrag zwischen einem Atomgiganten und einem nichtatomaren Staat ist der „Schützling" der atomaren „Schutzmacht" auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Dazu kommt die „Bündnisfeindlichkeit der Atomwaffen". Bereits in den bestehenden militärischen Bündnissystemen (NATO, War-schauer Pakt) vermögen die nichtatomaren Bündnispartner, selbst wenn sie über ein bedeutendes konventionelles Waffenpotential verfügen, ihre berechtigten Ansprüche gegenüber den atomaren Bundesgenossen überhaupt nicht oder nur mit großer Mühe durchzusetzen. 4. Vertrag ohne Gegenleistung.

In seinem Bericht über die IV. Internationale Wehrkunde-Tagung am 28. und 29. Januar 1967 in München spricht Otto B. Roegele dem geplanten Atomsperrvertrag überhaupt den Vertragscharakter ab: „Der Atomsperrvertrag ist in Wirklichkeit überhaupt kein Vertrag: zu jedem Vertrag gehört ein , Do ut des’, eine Leistung des einen und eine Gegenleistung des anderen Partners; der Atomsperrvertrag hingegen kennt nur eine Leistung der Kleinen, ihren Verzicht auf eigene Produktion und auf Erwerb von Atomwaffen, aber kein Äquivalent seitens der Großen, die nur auf Kosten aller anderen ihr Atomkartell errichten wollen."

Die Atommächte müssen den nichtatomaren Staaten ein Äquivalent für den Verzicht auf den Aufbau einer eigenen Atomstreitmacht bieten. Mit einem bloßen Garantieangebot wird man die Proliferation nicht verhindern können. Die Atomgiganten (USA und UdSSR) müssen ernsthafte Anstrengungen unternehmen, die zu einer echten und dauernden Entspannung führen; zu einer Entspannung, die dem Sicherheitsbedürfnis der Atommächte und nicht weniger auch dem Sicherheitsbedürfnis der nichtatomaren Staaten voll und ganz Rechnung trägt. 5. Unterbindung der wissenschaftlichen Forschung. Die nichtatomaren Industriestaaten befürchten, daß durch den Atomsperrvertrag jede wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie unterbunden werden könnte. Mit Besorgnis weist Wilhelm Grewe auf die Absichten der USA hin, den nichtatomaren Staaten auch solche Kernexplosionen vertraglich zu versperren, die ausschließlich friedlichen Zwecken dienen: „Mit guten Gründen behaupten sie, daß es schwierig, wenn nicht unmöglich seh den friedlichen Zweck einer Kernexplosion zu verifizieren. Das mag sein. Die Konsequenz ist jedoch, daß die Monopolstellung (genauer gesagt das . Oligopol’) der Kernwaffenbesitzer immer stärker und die Beschränkung der übrigen immer weitergehen wird. Eine relative technisch-wissenschaftliche Rückständigkeit der Nichtnuklearen ist unter solchen Umständen auf weitere Sicht unausbleiblich. Sie wird eines Tages auch ökonomische Konsequenzen haben, da sie die Konkurrenzfähigkeit der industriellen Produktion auf dem Weltmarkt berührt."

Es ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag aufgetaucht, die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien mit der Überwachung und Kontrolle zu betrauen. Dieser Vorschlag ist sicherlich wert, allen Ernstes diskutiert zu werden. Wenn es gelingt, einen Weg zu finden, der verhindert, daß sich die Internationale Atomenergie-Organisation dadurch zu einer Zentrale für eine weltumspannende Industriespionage entwickelt, sollten die nichtatomaren Industriestaaten über den Vorschlag mit sich reden lassen. 6. Nukleare Erpressung.

Als Frankreich und Großbritannien ihren Interventionsversuch am Suezkanal unternahmen, drohte die Sowjetunion mit Atomschlägen gegen Paris und London. Frankreich und Großbritannien brachen daraufhin ihre Intervention ab, zumal sie auf keine atomare Unterstützung von Seiten der USA rechnen konnten. Kennedy wiederum ließ keinen Zweifel aufkommen, daß er jedes von Kuba gegen die USA abgefeuerte Atomgeschoß mit einem massiven nuklearen Vergeltungsschlag gegen die UdSSR beantworten würde. Daraufhin trat der Kreml den Rückzug an und zog die Raketen von Kuba ab. Wenn die atomaren Großmächte untereinander mit Atomwaffen drohen, so handelt es sich dabei um eine dem Atomzeitalter angepaßte Form der Politik, zugegeben, um das äußerste Grenzgebiet der Politik. Wir haben es dabei mit Fällen der nuklearen Abschreckung zu tun.

Sollte jedoch eine Atommacht einmal dazu übergehen, einen nichtatomaren Staat mit mit einem möglichen Atombeschuß zu nötigen, das heißt zu irgendwelchen Zugeständnissen zu zwingen, dann liegt zweifelsohne eine nukleare Erpressung vor. Die nichtatomaren Staaten müssen auf jeden Fall mit der Möglichkeit einer nuklearen Erpressung rechnen, sei es in Zeiten politischer Hochspannung, sei es in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen. 7. Kalter Atomkrieg.

Beaufre vermerkt sarkastisch, den künftigen Historikern würde einmal die Begründung schwerfallen, weshalb die Atommächte ihren Verbündeten technische Geheimnisse vorenthalten, die dem Gegner längst bekannt sind. Alfons Dalma geht mit den Atommächten nicht so hart ins Gericht, wenn er zu dem Thema der Disemination schreibt: „Es ist durchaus das gute Recht der Super-und Atommächte, keinen weiteren und auch nicht verbündeten Staaten Kernwaffen in deren nationalen Besitz zu geben. Niemand könnte einem Vertrag widerspredien, den sie zu diesem Zweck untereinander abschließen würden. Es bedarf aber kaum eines solchen Vertrages, denn der traditionelle , Sacro egoismo'der Macht war noch nie so ausgeprägt wie seit dem Anbruch des Atomzeitalters und im Bereich der Kernwaffen."

Es gibt deutliche Anzeichen, die vermuten lassen, daß man versuchen wird, durch eine groß-angelegte Propagandawelle die nichtatomaren Staaten unter einen moralischen Druck zu setzen und damit den Beitritt zum Atomsperrvertrag zu erzwingen. Däniker bezeichnet diese Form der Nötigung als „Kalten Atomkrieg" und schreibt unter Hinweis auf den Teststoppvertrag des Jahres 1963: „Interessant ist die Reaktion der öffentlichen Meinung auf diesen Akt. In der Schweiz, wo in zwei Volks-abstimmungen bekundet worden ist, daß man sich die Hände in der Atomwaffenfrage nicht binden wolle, erhob sich kaum eine Stimme gegen die Ratifizierung des Abkommens, das der Bundesrat in eigener Kompetenz unterzeichnet hatte." Er warnt dann eindringlich vor derartigen Gemeinschaftsaktionen: „Wir werden uns jedenfalls in Zukunft hüten müssen, bei derartigen Gemeinschaftsaktionen, die immer unter der Flagge der Stabilisierung des Weltfriedens und der Humanität einhersegeln werden, kritiklos mitzumachen."

Otto B. Roegele fordert eine „Entmythologisierung" des Atomsperrvertrages: „Daher ist jetzt nichts so wichtig wie der Nachweis, daß dieser Vertrag gar nichts mit der Sicherung des Friedens zu tun hat, daß er ein schlichter Ausdrude des Weltherrschaftsstrebens der beiden Supermächte ist und daß er in keiner Weise den weltbeglückenden, humanitären, universellen oder gar planetarischen Zielen dient, die man ihm andichtet."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gustav Däniker, Strategie des Kleinstaats, Frauenfeld 1966. Dr. Gustav Däniker, geboren am 26. August 1928, ist Major im Generalstab der Schweizerischen Armee und lebt in Zürich. Er ist Mitglied des Londoner Instituts für Strategische Studien.

  2. Däniker, a. a. O., S. 52.

  3. Ebenda, S. 116.

  4. Ebenda, S. 117.

  5. Ebenda, S. 118.

  6. Ebenda, S. 65.

  7. Ebenda, S. 67.

  8. Heinrich Drimmel, Die Zukunft des Donauraums, in: Die Furche, 20. Juli 1966.

  9. Däniker, a. a. O., S. 149.

  10. Ebenda, S. 147.

  11. Ebenda, S. 154.

  12. Wilhelm Grewe, Der Atomclub wird geschlossen, in: Die Zeit, 10. Februar 1967.

  13. Däniker, S. 156.

  14. Ebenda, S. 171.

  15. Ebenda, S. 175.

  16. Raymond Aron, Le grand döbat, S. 223.

  17. Däniker, a. a. O., S. 222.

  18. Fred Luchsinger, Neue Zürcher Zeitung, 5. Februar 1967.

  19. Otto B. Roegele, Rheinischer Merkur, 10. Februar 1967.

  20. Grewe, a. a. O.

  21. Alfons Dalma, Die Presse, Wien, 18. Januar 1967.

  22. Däniker, a. a. O., S. 89.

  23. Ebenda, S 90.

  24. Roegele, a. a. O.

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Oskar Huemer, geboren 31. August 1916, Publizist in Wien. Von 1949 bis 1953 österreichischer Parlamentsabgeordneter (Sozialistische Partei Österreichs). Veröffentlichungen u. a.: Zwei Kommentar-werke und zahlreiche Aufsätze in politischen und Fachzeitschriften, darunter dem theoretischen Organ der SPO „Die Zukunft" und in „Internationale Politik", Belgrad. In Vorbereitung ein Sachbuch mit dem Titel „Mit den Deutschen leben — die deutsche Frage aus neutraler Sicht".