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Lateinamerikas neuer Nationalismus | APuZ 10/1966 | bpb.de

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APuZ 10/1966 Revolution in Lateinamerika Lateinamerikas neuer Nationalismus

Lateinamerikas neuer Nationalismus

Ekkehard Völkl

Es ist keine Zeit zu verlieren

Die Zeit arbeitet in Lateinamerika nicht für uns. Der Bevölkerungsdruck wird immer größer und revolutionäre Umwälzungen drohen. Ich erinnere mich, daß ich vor einem Jahr ein abgelegenes Dorf im Hochland von Panama besuchte, einen verschlafenen Ort, erstickt in seiner eigenen Armut und Unwissenheit, ohne Kenntnis von der Welt außerhalb und von den Veränderungen, die dort vor sich gehen. Die Frau des örtlichen Laden-besitzers, zugleich die Lehrerin des Dorfes, war damals ein teilnahmsloses Wesen, das sich resigniert mit der Stagnation um sich herum abgefunden hatte, mit der Trockenheit, die zu dieser Zeit gerade die dürftige Nahrungsmittelversorgung des Dorfes bedrohte, mit dem Fehlen sogar der elementarsten Gesundheitsfürsorge für die Kinder, mit der stumpfsinnigen Plackerei ihrer täglichen Arbeit. Als ich dieses Jahr in das Dorf zurückkehrte, fand ich in dieser Frau einen völlig andern Menschen vor. Sie hatte ihrem Transistorradio gelauscht und war voller Zorn. Ihre Augen blitzten, als sie auf das Elend um sie herum wies, als sie von dem Großgrundbesitzer sprach, dem das Land gehörte, auf dem das Dorf stand, als sie Antwort auf die tausend Fragen begehrte, weshalb nicht alles besser sei.

Von dem Dorf aus gesehen jenseits der Berge liegt die spärlich besiedelte Atlantikküste von Panama mit ausgedehnten und einladenden weißen Buchten und gegenüber liegt die Insel Kuba. Kein Wunder, daß Che Guevara schrieb, daß „das flache Land ... die idealen Bedingungen für den Kampf bietet."

Das Nationalbewußtsein des 19. Jahrhunderts

Ein Kennzeichen der Gegenwart Lateinamerikas und in stärkerem Maße der nahen Zukunft ist ein Nationalismus veränderter Wesensart, der das politische und geistige Leben der einzelnen Länder sowie des Subkontinents in seiner Gesamtheit zunehmend prägt.

Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts das schlummernde Selbstbewußtsein der Latein-amerikaner zum Druchbruch kam, wurde in einem langjährigen Bürgerkrieg die Trennung von dem einen Mutterland, Spanien, erzwungen, gefolgt von der friedlichen Loslösung Brasiliens von dem anderen Mutterland, Portugal. In jenen Jahrzehnten erhielten die hispano-amerikanischen Staaten auf der Grundlage der administrativen Gliederung des spanischen Kolonialreiches ihre heutige Ausdehnung. Die zentrifugalen, nationalstaatlichen Kräfte waren so stark, daß der gleich-zeitig mit der Erlangung der Unabhängigkeit aufgeblühte „panamerikanische Gedanke" rasch seine Wirksamkeit einbüßte. Selbst die zwischendurch gebildeten größeren Staaten-zusammenschlüsse — wie Groß-Kolumbien aus Venezuela, Kolumbien und Ekuador, oder das Kaiserreich Mexiko einschließlich Mittel-amerikas — zerfielen rasch wieder. Der portugiesische Kolonialbesitz in Amerika folgte auch in dieser Hinsicht dank seiner geographischen Geschlossenheit und der Existenz eines politischen Mittelpunktes einer Sonderentwicklung und machte sich als Ganzes — ähnlich den Neuenglandstaaten, die gemeinsam die Vereinigten Staaten bildeten — selbständig. Seine Wurzeln hatte dieses Nationalbewußtsein in dem überwiegend geographisch bedingten regionalen Partikularismus der verschiedenen Territorien — wie Günther Kahle an dem Beispiel Paraguay überzeugend nach-wies — ohne maßgebliche Beeinflussung durch den nationalstaatlichen Gedanken europäischer Herkunft.

Dieses Nationalbewußtsein ist bis auf den heutigen Tag unvermindert wirksam. Es nimmt sogar an Stoßkraft zu, da sich durch den Rückgang des Analphabetentums und durch den Aufstieg einer neuen Mittelschicht seine Anhängerschaft zusehends vergrößert. Die Behauptung der staatlichen Souveränität ist das Wesen dieses „Nationalismus" herkömmlicher Prägung, für den richtiger der Begriff „Nationalbewußtsein" anzuwenden ist. Zu seinen Kriterien gehört der Kult an nationalen Symbolen (Nationalfeiertage, Fahnen, Denkmäler), der eine wesentlich bedeutendere Rolle spielt als im heutigen Europa und sich bisweilen sogar zu pseudo-religiöser Reliquienverehrung steigert. Zu diesem Eindruck gelangt man unwillkürlich bei der Betrachtung nationaler Heiligtümer wie der in einem gläsernen Gefäß im Obregon-Denkmal (Mexiko) der Öffentlichkeit zur Schau gestellten abgeschlagenen Hand des später (1928) ermordeten mexikanischen Präsidenten Alvaro Obregon und des in einem prunkvollen Sarkophag im Schiffahrts-Museum von Callao (Peru) sichtbar ausgestellten Körperteilchen des berühmten Admirals Grau, der 1879 im Salpeter-krieg gefallen ist. Des weiteren gehört zu seinen Kriterien die Verherrlichung der Größe des eigenen Landes in Schulunterricht, Geschichtsschreibung und Presse. Gerade die Historiographie ist zum Teil noch in den Bahnen einer heroisierenden Geschichtsauffassung gefangen. Dasselbe gilt für manche Darstellungen zur Literaturgeschichte. Das Bestreben, aus dem riesigen Sprachgebiet spanischer Zunge nationale Literaturen rückwirkend herauszukonstruieren, führt unter Miß'achtung der vielseitigen kulturellen Verflechtungen zu unschönen Verzerrungen. So bedeutet dann ein zweitrangiger Schriftsteller des eigenen Landes mehr als eine dichterische Größe des Nachbarlandes. Eine Zerspaltung der deutschsprachigen Literaturgeschichte in deutsche, österreichische und schweizerische Nationalliteraturen würde sich ebenso unerträglich auswirken.

Die religiös-missionarische Komponente, die maßgeblich zur Dynamik des spanischen Nationalismus beigetragen hat, fehlt. Im Gegenteil, die Erkämpfung der Unabhängigkeit erfolgte überwiegend unter der Führung von laizistischen, antiklerikalen Kräften. Die bisher klarste Verkörperung des modernen Nationalismus, die Ideologie der mexikanischen Revolution (1911— 1917), tobte sich in einem blutigen Kirchenkampf aus. Andererseits freilich färbte das nationalistische Pathos auch auf die Kirche ab. Es sei nur an die Kirche St. Teresia in Caracas erinnert, in der zur Wandlung die Nationalhymne erklingt.

Der lateinamerikanische Nationalismus nahm nie den Charakter eines Sprach-und Volkstumskampfes an, weil dafür die Voraussetzungen fehlten, nämlich das Bestehen verschiedener Sprachen und die Verzahnung kulturell, wirtschaftlich und politisch ungefähr vergleichbarer Gruppen, wie es in den gemischtvölkischen Gebieten Ost-und Südosteuropas der Fall war. Die anderssprachigen Indianer spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle, weil sie als politisch entrechtete, wirtschaftlich schwache und kulturell unterlegene Schicht ohnehin keine ebenbürtigen Gegner darstellen. Stießen verschiedene Sprach-und Volksgruppen aufeinander, geschah dies auf lockere Weise in dünn besiedelten Gebieten, wo genügend Raum zur gegenseitigen Entfaltung blieb; zum Beispiel bei der Unterwanderung des ehemals mexikanischen Staates Texas durch die Nordamerikaner (vor 1836), beim Aufeinandertreffen von Portugiesen und Spaniern im Gebiet des heutigen Uruguay oder anläßlich der Errichtung des russischen Stützpunktes Ross im hispanomexikanischen Ober-Kalifornien (1812— 1841). Die Sprache konnte somit aus naheliegenden Gründen nicht als Kriterium des Nationalismus in Erscheinung treten, von Puerto Rico abgesehen, wo sich das Spanische, trotz oder wegen des Übergewichts der englischen Sprache, rein erhalten hat.

Seit Erlangung der Unabhängigkeit nehmen Streitfragen territorialer Art, meist Grenzprobleme, einen wesentlichen Raum in den interamerikanischen Beziehungen ein, bilden den Anlaß zu ständigen Reklamationen, wie der Forderung Boliviens nach einem Ausgang zum Pazifik, und stellen die Ursache nationaler Ressentiments dar, wie man sie in Ekuador den Peruanern gegenüber wegen der 1942 erzwungenen schmerzlichen Gebietsabtretung hegt. Ungelöste Probleme territorialer Art sind der Anspruch Argentiniens auf die Falkland-Inseln, Guatemalas auf Belize, Venezuelas auf einen Teil von Britisch-Guayana und Kubas auf den US-amerikanischen Stützpunkt Guantänamo.

Es ist eine Eigentümlichkeit Lateinamerikas, daß diese nationalstaatliche Idee durch die supranationale Idee einer gesamtamerikanischen Staatengemeinschaft abgeschwächt wird. Die Zusammenarbeit in der „Organisation amerikanischer Staaten (OAS bzw. OEA) — zu denen allerdings auch die USA gehören — hat schon beachtenswerte Beweise einmütigen politischen Wollens geliefert. Auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Verkehrs rücken die überstaatlichen Zusammenschlüsse nach dem Vorbild von EWG und EFTA immer stärker in den Vordergrund. Es ist jedoch noch nicht abzusehen, wann die mittlerweile ins Leben gerufenen Organisationen „Lateinamerikanische Freihandelszone“ (ALALC) und der „Mittelamerikanische Gemeinsame Markt“ (MCC) die nationalen Barrieren durchbrechen und Souveränitätsverzichte von selten ihrer Mitglieder erreichen werden. 1965 kam es sogar in Lima, dem „Straßburg Lateinamerikas", zur Konstituierung eines lateinamerikanischen Parlaments, freilich mit nur beratender Funktion.

Den verschiedenen nationalistischen Erscheinungsformen der herkömmlichen und der — weiter unten beschriebenen — neuen Art ist gemeinsam, daß es sich grundsätzlich um Abwehrreaktionen handelt. Der Nationalismus Lateinamerikas hat nie eine aggressive Gestalt angenommen. Er blieb Reaktion: Widerstand gegen das ehemalige Mutterland Spanien und seine Rückeroberungsversuche; Widerstand der einzelnen Staaten gegen politische und militärische Übergriffe des Nachbarn; Widerstand gegen die Übermacht der USA und zeitweilig auch gegen europäische Staaten.

Gelegentlich verdichtet sich diese Abwehr-haltung zu einer Fremdenfeindschaft, wie wir sie als Vorstufe des Nationalismus europäischer Prägung (Osteuropa!) kennen. Fremdenhaß tritt in Lateinamerika immer dann auf, wenn der von Ausländern getragene Einfluß auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiet bis zur Unerträglichkeit anwächst bzw. im Gefolge einer Krisensituation in diesem Ausmaß empfunden wird. So kam es verschiedentlich zu Ausweisungen von Spaniern nach dem Unabhängigkeitskrieg, zu Vertreibungen von Franzosen nach dem französisch-mexikanischen Krieg von 1861— 65 oder zu Ausschreitungen gegen Europäer anläßlich der Venezuela-Krise 1902. Gewisse Ansätze eines Fremdenhasses sind gegenwärtig unter der Bevölkerung von Caracas zu spüren, und sie werden durch die Sperrung der Einwanderung und durch andere ausländerfeindliche Maßnahmen amtlicherseits gefördert.

Der Nationalismus neuer Prägung

Die Emanzipation von fremder Wesensart Seit Beginn der dritten großen geschichtlichen Epoche Lateinamerikas, die — nach der hispano-lusitanischen Kolonialzeit und nach den Befreiungskriegen und der ihnen folgenden Zeit — im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts einsetzte, unterliegt der gesamte Subkontinent einem fortdauernden Wandel in seiner soziologischen Schichtung. Als Folge dieses Prozesses formt sich in Gemeinschaft mit den unvermindert fortwirkenden nationalistischen Kräften herkömmlicher Art ein Nationalismus neuer Prägung. Zur Geschichtsschreibung als Trägerin des nationalen Gedankens gesellen sich nun Philosophie, Soziologie sowie die Prosa-und die Versdichtung.

War das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Imitation europäischer und nordamerikanischer Vorbilder — z. B. erfolgte die Ausrichtung des Staatsaufbaus nach dem Verfassungsmodell der USA —, so setzte nun eine Gegenbewegung ein mit dem Ziel der Suche, der Erfassung und der Ergründung der eigenen nationalen Existenz. Sie wurde in erster Linie durch den anwachsenden politischen und wirtschaftlichen Druck der machtvoll aufsteigenden USA, des „Kolosses des Nordens", hervorgerufen. Hierin liegt der Ursprung des Appells an das gemeinsame hispanische Erbe, das als Bollwerk gegen die angelsächsische Übermacht dienen sollte. Auf Grund dieser Konfrontierung mit einem Stärkeren schichtet sich über das ansonsten stark ausgeprägte Sonderbewußtsein der einzelnen Staaten ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein der gesamten lateinamerikanischen Welt.

Ihren Ausgang nahm diese noch weiterlebende Erneuerungsbewegung in den fortgeschritte neren Staaten Uruguay und Argentinien. Jose Enrique Rodo (Uruguay) hob den Zusammenstoß des nordamerikanischen Giganten mit dem zurückgebliebenen Lateinamerika von der Ebene einer wirtschaftlich-politischen Betrachtung auf die geistige Ebene und versinnbildlichte den zerstörerischen Einfluß der nordamerikanischen Zivilisation in dem dichterisch geformten Gegensatz „Caliban" — „Ariel" Seit den zwanziger Jahren riefen die Argentinier Alfredo L. Palacios, Ricardo Rojas und Manuel Ugarte gegen den „USImperialismus" — das heute am weitesten verbreitete politische Schlagwort Lateinamerikas — auf. Mit ihnen sprach der venezolanische Dichter Rufino Blanco Fombona von den „Feinden unserer Seele", ebenso der große Ruben Dario.

Die zunächst unter formvollendeter Höflichkeit verborgene Abneigung gegen die Nord-amerikaner kommt bei näherem Hinsehen überall zum Vorschein und entlädt sich sogar spontan bei den üblichen Straßenaufläufen. Andererseits üben die zivilisatorischen und technischen Errungenschaften des Nordens eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, so daß der Lateinamerikaner dem nördlichen Nadibarn gegenüber in einer Haßliebe, in verborgener Bewunderung und offener Ablehnung, gefangen ist. Das täglich vor Augen stehende Beispiel der Überlegenheit einzelner Europäer und Nordamerikaner — letztere sind zahlreicher und vor allem auffälliger — auf technischem Gebiet trägt nicht wenig zu dieser inneren Distanzierung bei. Hinzu kommt noch das oftmals fehlende Einfühlungsvermögen der US-Amerikaner.

Etwa gleichzeitig mit Argentinien, aber mit erheblich größerer Intensität, kamen nationalistische Triebkräfte in Mexiko zum Durchbruch. Der Kampf gegen die Überfremdung war ja einer der Impulse der Revolution (1911— 1917), deren Ideengut als Leitbild des modernen Mexiko dient.

Die Tendenz, überlagerte fremde Wesensart abzuschütteln, ist am anschaulichsten in der noch nicht abgeschlossenen Diskussion über-die Bewertung des hispanischen Kulturerbes zu erkennen. Die Meinungen gehen von der Anerkennung der spanischen Vergangenheit als integrierender Faktor der eigenen Nationalität bis zur völligen Ablehnung auseinander. In diesem Sinn ist auch das Bemühen der Historiker zu interpretieren, die Wurzeln der nationalen Unabhängigkeit möglichst frühzeitig, ja sogar bis in die Zeit der Conquista zurück, anzusetzen Die meiste Skepsis der spanischen Kolonialzeit gegenüber ist heute in Mexiko zu beobachten. Im großen und ganzen läßt sich freilich sagen, daß der Haß gegen das Spanische im Verschwinden begriffen ist zugunsten einer Neuorientierung auf die kultuerellen und historischen Gemeinsamkeiten der „Hispanidad" hin.

Die Suche nach der eigenen Wesensart Das Zurückdrängen des fremden Einflusses soll den Blick für die eigene Wesensart frei machen. Es geht um die Suche nach dem „nationalen Ich" und um die Auffindung eines Weges zur wahren Identität, zur Neufassung und Neuinterpretation des eigenen nationalen Bewußtseins. Ein Programm-Satz des Mexikaners Emilio Urango, der sich mit Vorliebe dieser Aufgabe widmete lautet: „Wir haben ein geschichtliches und kulturelles Lebensalter erreicht, in dem wir in Übereinstimmung mit unserem eigenen Sein leben wollen, und daher die Forderung, die Zusammensetzung dieses Seins herauszuarbeiten."

Eine Möglichkeit hierzu bietet die kritische, unvoreingenommene Überprüfung der eigenen Realität — ein ganz ungewohnter Aspekt angesichts der allgemein vorherrschenden Verstiegenheit nationalistischer Hochflüge. Der Aufsatz „Novedad de la Patria", den Lopez Velarde 1921 den Mexikanern angesichts des von der Revolution hinterlassenen Trümmerhaufens vorlegte, gipfelte in dem Wunsch, „ . . . ein weniger äußerliches, bescheideneres und wahrscheinlich wertvolleres Vaterland zu begreifen .... ein weder geschichtliches noch politisches, sondern innerlich empfundenes (intima) Vaterland". Dies war in seinen Augen der Weg zur Erkenntnis und zur Liebe zu einem „Suave Patria". Sein Landsmann Samuel Ramos sucht den Charakter des Mexikaners vom Psychologischen her zu deuten. Er wiederholt in aller Dringlichkeit den schon so oft gestellten Aufruf zur Wahrheit und zur kritischen Erkenntnis, statt in der Illusion eigener nationaler Größe dahinzuleben.

An Büchern zur Selbsterkenntnis fehlt es im heutigen Lateinamerika nicht, am allerwenigsten in Argentinien und in Mexiko. Die Aufrufe zur Selbstbesinnung sind ja Gemeingut der lateinamerikanischen Gegenwart geworden. Eine weitere Möglichkeit zur Neuinterpretatation des eigenen nationalen Seins ergibt sich aus dem Zauberwort „soziale und rassische Integration". Dabei handelt es sich zum Teil um die idealisierte Vorwegnahme eines im Gang befindlichen ethnischen Verschmelzungsprozesses zwischen der autochthonen Indianer-bevölkerung und den Zugewanderten. Zum anderen soll das schmerzlich empfundene Auseinanderleben verschiedener Bevölkerungsschichten überwunden werden. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Kluft zwischen den verschiedenen Schichten sowie die Unterschiede in der Mentalität wiegen ja in Lateinamerika auch heute noch schwer. Dem „desencuentro" soll nun das „reencuentro" folgen. Mit Methoden der modernen Soziologie erforscht man die Ursachen dieses „desencuentro" und sucht nach Möglichkeiten des Ausgleichs. Den NationalCharakter will man nun als eine Zusammenschau aller Voraussetzungen und Erscheinungsformen ethnischer, soziologischer, kultureller und historischer Art verstehen. Freilich kommen diese Bestrebungen, die „Nationalität" (nacionalidad) auf eine Formel zu bringen und in einer Definition zu bestimmen, über eine äußerliche Summierung der einzelnen Faktoren noch nicht weit hinaus. So charakterisiert Victor Andres Belaunde Peru als eine Synthese übereinstimmender oder einander entsprechender Elemente aus mehreren Epochen. Zum Beispiel entsprächen dem ayllu der Inkas der kolonial-spanische Cabildo sowie die moderne peruanische Selbstverwaltung, der Consejo Municipal. Manches ist dabei nur eine Feststellung allgemeiner Art und wieder anderes wird in idealisiertem Licht gesehen, wie die Parallele zwischen dem Runa-simi, der spanischen Sprache sowie einer gegenwärtig — in den Augen von Belaunde — bestehenden kulturellen Einheit. Für Argentinien kommt Ricardo Rojas auf die Formel: Argentinidad = argentinische „tierra" + indianischer Einfluß + spanisches Erbe

In dichterischer Verbrämung wird sogar die Landschaft — die „tierra", das Wort für „Erde", das zugleich unserem Begriff „Heimat" ähnelt — als integrer Faktor der „nacionalidad" gesehen. Die schlummernden mythischen Kräfte der Bergwelt der Anden haben den Menschen in ihren Bann geschlagen — schreibt der Bolivianer Fernando Diez de Medina

Manches kommt dabei unserem aus der Romantik stammenden Begriff „Volksseele" sehr nahe, wie die „Alma nacional", die Carlos Siso im venezolanischen Volk erkennt; oder die pathetische Schilderung des argentinischen Vaterlandes als höhere, weihevolle Gemeinschaft bei Arturo Capdevila

Die Ideologie einer neuen Rasse Die eng miteinander verbundenen Parolen „soziale Integration" und „rassische Integration" erwuchsen aus den ethnischen Besonderheiten Lateinamerikas. Der rassische Verschmelzungsprozeß hat zwar schon in der Kolonialzeit eingesetzt; aber der mehr oder minder starke rote bzw. schwarze Einschlag wurde von den auf ihre rein weiße Hautfarbe stolzen criollos, der Kreolen, ganz einfach übersehen und nicht als existent betrachtet. Seit der Jahrhundertwende schreitet die rassische Assimilation immer schneller voran. In Mexiko ist sie am weitesten gediehen. Auch in Brasilien ist durch die Hereinnahme des negroiden Elements, der ehemaligen Negersklaven aus Afrika, geradezu eine neue Rasse entstanden. Nun findet der früher unbeachtete Verschmelzungsprozeß breite Anerkennung. Dem stellen sich keine Hindernisse in den Weg, da es rassische Vorurteile in Lateinamerika — im Gegensatz zu den USA — ohnehin in ausgeprägter Form nie gegeben hat.

Schon der Argentinier Manuel Ugarte hatte hieraus die „Rasse der Zukunft" (raza del porvenir) vorausgesagt: „Das heiße Amerika spanischen Ursprungs, italienischen Einflusses und französischer Kultur, das sich mit der Urbevölkerung verbrüderte, weist eine Einheit auf, die es grundlegend vom kalten Nordamerika trennt"

Bald darauf wurde die Überbewertung des Mestizentums, der „raza mexicana", geradezu eine amtliche Ideologie des neuen, aus der Revolution hervorgegangenen Mexiko. Für diesen Utopismus wurde das Werk eines Mannes richtungweisend, der in Mexiko als der größte Philosoph seines Landes gilt: Jose Vasconcelos, der „Apostel der Rasse". Er sieht eine „kosmische Rasse" heraufkommen, die das Erbe der europäisch-angelsächsischen, auf der Technik begründeten Weltmacht antreten werde, denn „die Tage der reinen Weißen, der Sieger von heute, sind so gezählt wie die Tage ihrer Vorfahren. Mit dem Erfüllen ihrer Bestimmung, die Welt zu mechanisieren, ha10) ben sie die Grundlagen einer neuen Zeit gelegt, einer Zeit des Aufgehens und Vermischens aller Völker. Unsere Zivilisation kann die auserwählte sein für einen neuen Menschentyp, aus dem die endgültige Rasse, die integrierte Rasse, hervorgehen wird. Die großen Zivilisationen nahmen in den Tropen ihren Anfang und die endgültige Zivilisation wird in die Tropen zurückkehren." So überrascht es nicht, daß man gerade in Mexiko der spanischen Vergangenheit die meiste Skepsis entgegenbringt. Bedingt durch diese neue Ideologie erfreut sich die vorkolumbianische, heidnische Kulturwelt größerer Achtung als die wesentlich fortgeschrittenere spanische Kolonialzeit. Die gewaltigen „murales" (Wandgemälde) von Orozco bringen in ihrer Schwarz-Weiß-Färbung — brutale Herrschaft der spanischen Herren über die versklavten Indianer — diese proindianische Bewertung am deutlichsten zum Ausdruck. Hierin liegt auch die Erklärung der Tatsache, daß man im „Bosque de Chapultepec" (Mexiko) ein super-modernes Museum für die vorkolumbianischen Fundgegenstände errichtet, während im Stadt-zentrum wertvolle Gebäude aus der Kolonialzeit der Pflege bedürften.

Auch in Bolivien feierte die Lehre von der neuen Rasse Triumphe. Sie fand ihre Bestätigung durch eine der mexikanischen ähnlich gelagerte Revolution (1952) und nimmt jetzt ebenfalls in gewisser Hinsicht die Stellung einer Pseudo-Ideologie ein. „Die , chola'ist das Grundelement der Nationalität. Sie ist das gesündeste, arbeitsamste und blühendste Element des Vaterlandes", schrieb der Bolivianer Carlos Medinaceli. Energie und nationale Lebenskraft könne man nicht kaufen, sondern man müsse nach ihren Quellen suchen. Für die Rettung des todkranken Boliviens bleibe nur ein Weg, nämlich die Erweckung der in seiner eigenen Rasse schlummernden Kräfte, meint Frederico Avila In abgeschwächter Form setzt sich dieses Ideengut in den „Indigenismo" -Bewegungen findigen = eingeboren) anderer Länder mit Indianer-Minderheiten fort, z. B. in Peru, Kolumbien, Ekuador.

Die Herausbildung des modernen Nationalstaates Solche Schriften philosophischer und literarischer Art entspringen keinem Wunschdenken, sondern bedeuten einen bewußten Mit-vollzug der im Gange befindlichen Struktur-wandlungen, allerdings in Gestalt einer idea1) lisierenden Interpretation. So erfährt die natürliche Entwicklung von der geistigen Ebene her eine Widerspiegelung und zugleich einen Antrieb.

Zu diesem Strukturwandel gehört die Entstehung einer neuen Mittelschicht durch die Vervielfältigung des modernen Berufslebens, die Ausweitung des Verwaltungsapparates und durch den leichteren Zugang zur Schulund Hochschulbildung. Hierzu ist auch die durch die Agrarreform heranwachsende, selbstbewußte und nach weiteren Zugeständnissen verlangende Landbevölkerung zu zählen. Der Ausbau der VerkehrsVerbindungen ermöglicht den Zusammenschluß bisher nur auf der Landkarte zusammengehöriger Gebiete. Urwaldregionen und Gebirgszonen können erst durch die Mittel der Technik erschlossen werden. In absehbarer Zeit wird auch die entlegendste Siedlung verkehrsmäßig erreicht und wirtschaftlich sowie verwaltungsmäßig dem Staatswesen einverleibt sein. Erst jetzt können die kleinen Wirtschaftszonen zu größeren, mit dem gesamten Staatsgebiet identischen Wirtschaftsräumen zusammenwachsen. Ebenso wichtig ist die immer schneller fortschreitende ethnische Einschmelzung der Indianer und ihre Hereinnahme in das Staats-leben durch die Anerkennung ihres kulturellen Eigenwertes sowie durch die politische Gleichstellung. Man denke nur an das aus der Revolution von 1952 hervorgegangene neue Wahlrecht in Bolivien.

Dieser Strukturwandel hat zur Folge:

Die zahlenmäßig schon starke, aber in sich nicht gefestigte Mittelklasse wirkt durch die einmal erwachte materielle Begehrlichkeit als Unruhefaktor. Sie ist einem kämpferischen Nationalismus aufgeschlossen und verschafft diesem eine starke Anhängerschaft.

Hingegen trägt die herkömmliche, an Bedeutung immer mehr einbüßende Oberschicht das traditionelle pathetische Nationalbewußtsein, verhält sich aber im Grunde genommen kosmopolitisch und ist mehr dem Ausland als den Belangen des eigenen Landes verbunden.

Bestand nach den Unabhängigkeitserklärungen die staatstragende Schicht aus einer geringen Zahl von Alphabeten, so verfügt der moderne Nationalstaat über eine erheblich breitere Bevölkerungsschicht, die sich bewußt zu diesem Staatswesen zählt und dessen Geschicke mitzubestimmen verlangt. Dies wird schon an der Tatsache ersichtlich, daß die Militärputsche und die Diktaturen in Lateinamerika allmählich der Vergangenheit angehören. Die lateinamerikanische Staatsform der Zukunft ist keinesfalls mehr die Diktatur eines einzelnen, sondern die Herrschaft einer mitgliederstarken politischen Bewegung, die Ein-Partei-Herrschaft wie in Mexiko. Insbesondere die Studenten und ein beträchtlicher Teil der Intelligenz möchte den nationalen Interessen eine betonte Priorität einräumen. Gerade die staatlichen Universitäten, zu denen sich die Masse der Studenten drängt, sind für nationalistische Parolen besonders empfänglich.

Erst jetzt wird durch das oben aufgezeigte Zusammenwachsen der einzelnen Volks-und Landesteile die Möglichkeit zur Schaffung eines Nationalstaates europäischer Prägung gegeben, der die geballte Kraft des ganzen Volkes einsetzen kann. Gefördert wird diese Entwicklung dadurch, daß die Strukturveränderungen — wie schon angedeutet — zugleich auch zu Bauelementen einer nationalistischen Ideologie erhoben wurden.

Diese Ideen fanden in verschiedener Form Eingang in die nationalistischen Bewegungen, die von der Battle-Bewegung in Uruguay über die mexikanische Revolution, den argentinischen „justicialismo", den bolivianischen MNR, die peruanische APRA sowie die AP-Regierung Perus bis zur venezolanischen Regierungspartei AD und der mittlerweile wieder gestürzten Revolutionspartei der Dominikanischen Republik reichen. Darüber hinaus treten alle lateinamerikanischen Parteien von der extremen Linken bis zu den Rechtsradikalen unter nationalistischem Vorzeichen auf.

Besonders aufschlußreich dürfte in diesem Zusammenhang die Reaktion der lateinamerikanischen Öffentlichkeit auf den Übergang Kubas zum Kommunismus sein. Fidel Castro wurde im wahrsten Sinn des Wortes von Kalifornien bis zum Feuerland als nationaler Befreier gefeiert. Doch als er seine den USA abgetrotzte Bewegungsfreiheit dem Osten anbot, sank sein Prestige schlagartig ab. Fidel Castro, nun geringschätzig als „titere" (Marionette) des Ostblocks bezeichnet, hat deswegen seine Ausstrahlungskraft verloren. Dieser Nationalismus ist das stärkste Bollwerk, das Lateinamerika dem Kommunismus entgegensetzen kann.

Auf wirtschaftlichem Gebiet geht es um die Enteignung des ausländischen Besitzes, das heißt um die Nationalisierung von Bodenschätzen, wie des mexikanischen Erdöls (1938) oder des bolivianischen Bergbaus (1952), von wichtigen Industriezweigen, wie der kubanischen Zuckerindustrie, sowie von wichtigen Dienstleistungsbetrieben. Einen weniger radikalen und wirtschaftlich sinnvolleren Weg stellt die schrittweise Zurückdrängung des ausländischen Anteils dar, wobei in erster Linie an die venezolanische Erdölpolitik sowie an die Haltung von Costa Rica der United-Fruit-Company gegenüber zu denken ist. Das kubanische Vorgehen bedeutet die bisher konsequenteste Ausdrucksform des wirtschaftlichen Nationalismus.

Im Bereich der Innenpolitik lenkt man die Unzufriedenheit der Massen mit ihrer materiellen Situation bewußt durch nationalistische Parolen ab. In der Außenpolitik wird ein vorsichtiges Ausscheren aus dem Fahrwasser der USA angestrebt, ohne freilich die Zugehörigkeit zum westlichen Lager in Frage zu stellen. Zu den in dieser Hinsicht tonangebenden Ländern gehört Mexiko. Nicht von ungefähr ist es ein Mexikaner, der den Drang nach einer eigenständigen Außenpolitik und nach einer gebührenden Stellung in der Weltpolitik formuliert, mit historischen und mit anderen Argumenten untermauert und auch publizistisch verbreitert: Leopoldo Zea Ein Nationalismus neuer Prägung bestimmt das Gesicht Lateinamerikas, das heißt, unter Hereinnahme des traditionellen Nationalbewußtseins mit seinem mehr äußeren Pathos strebt die Entwicklung auf die Bildung von Nationalstaaten zu, die — auf doktrinärem Hintergrund, gestützt auf breite Volksschichten — die gesamten Kräfte des Volkes und des Landes in sich zusammenzuballen suchen. In seinem innersten Kern freilich handelt es sich bei diesem Nationalismus um die Harmonie aller historischen, wirtschaftlichen, ethnischen, geographischen und kulturellen Elemente. Unter letzterem Blickwinkel kann man von der Wiederholung einer Entwicklung sprechen, die zu Ende der Kolonialzeit (im ausgehenden 18. Jahrhundert) in vollem Gange war und dann durch die Unabhängigkeitskriege abgeschnitten wurde, nämlich die Formung des criollo. Der criollo war nicht nur dem Blute nach, sondern in seiner ganzen Lebenshaltung eine ausgeglichene Verschmelzung Spaniens und Amerikas. Audi in der Kunst brachte diese kulturgeschwängerte spätkoloniale Epoche eine Synthese hervor, und zwar in Gestalt des ausgereiften soge-nannten Kolonialbarocks, der eine Spielart des europäischen Barocks mit indianischem Stil-einschlag darstellt. Erst das 20. Jahrhundert ermöglicht wieder solche harmonische Verbindungen, vor allem in der Architektur, der darstellenden Kunst und in der Literatur.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Günter Kahle, Grundlagen und Anfänge des paraguayischen Nationalbewußtseins, Diss. Köln 1962.

  2. Ariel, Montevideo 1900.

  3. Vgl: Earl T. Glauert, Ricardo Rojas and the Emergency of Argentine Cultural Nationalism, in; Eispanic S. 1-13. American Historical Review 43 (1963),

  4. Zum Beispiel: Juan Friede, Los germenes de la emancipaciön americana en el siglo XVI, Bogot 1960. , .

  5. Zum Beispiel in seiner Schrift: Anälisis del ser del Mexicano, Mexiko 1952.

  6. El perfil del hombre y de la cultura en Mexico, Mexiko 1934.

  7. Peruanidad, Lima 1942.

  8. Blason de Plata, Buenos Aires 1922.

  9. Introduccion al Ande y su Habitante. Notas para una estetica de la montana, in: Revista Iberoamericana 4 (1951), S. 109 f.

  10. La Formaciön del Pueblo Venezolano, Caracas 1941.

  11. La dulce patria, Buenos Aires 1949.

  12. Manuel Ugarte, El porvenir de America Latina, Buenos Aires 1910.

  13. La raza cösmica, Mexiko 1925.

  14. El problema de la unidad nacional, La Paz 1938.

  15. Zum Beispiel in seinem Buch: America en la historia, Mexiko 1957.

Weitere Inhalte

Ekkehard Völkl, Dr. phil., geb. 1940 in Amberg/Opf. Studium: Osteuropäische Geschichte, Slawistik, Romanische Philologie. Promotion im Dezember 1965 bei Prof. Dr. Georg Stadtmüller (München) über „Rußland und Lateinamerika 1741— 1841". 1961— 1963 Studien-und Forschungsreise durch Lateinamerika, ermöglicht in erster Linie durch ein Stipendium des DAAD.