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Notstand -Grenze des Rechtsstaates? | APuZ 43/1965 | bpb.de

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APuZ 43/1965 Artikel 1 Notstand -Grenze des Rechtsstaates? Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag — Ein Vergleich

Notstand -Grenze des Rechtsstaates?

Hans-Ulrich Evers

Zu den Aufgaben, die auf den 5. Deutschen Bundestag zukommen, gehört die Auseinandersetzung mit dem Problem der Notstands-gesetzgebung, die von seinem Vorgänger nicht mehr abgeschlossen wurde. Wegen des Grundsatzes der Diskontinuität sind zwar die Entwürfe des Notstandsverfassungsgesetzes und der „einfachen Notstandsgesetze", die von der Bundesregierung 1963 eingebracht worden waren, und auch die Beschlüsse des Bundestages und seiner Ausschüsse gegenstandslos — mit Ausnahme der sieben Gesetze, die der 4. Deutsche Bundestag noch verabschiedet hat. Das Problem aber bleibt und damit die Sorge, jede Notstandsgesetzgebung gefährde Demokratie und Rechtsstaat, die in Memoranden, Resolutionen, Protestakten und auch in einer Erklärung von 215 Professoren zum Ausdruck gekommen war: „Alle Ausnahmegesetze sind der Tod der Demokratie".

Aufgabe dieser Abhandlung kann es nicht sein, die Problematik einer Notstandsgesetzgebung im Rechtsstaat auszuschreiten. Sie muß sich darauf beschränken, Gelegenheit zum Nachdenken über einige Grundsatzprobleme zu geben. Patentlösungen vermag sie nicht zu bieten.

1. Es ist zu fragen, ob der Rechtsstaat, der sich auf eine perfekte Notstandsregelung einläßt, an eine Grenze gerät und, wenn er sie überschreitet, seine Wesenszüge verändert, so daß die Notstandsgesetzgebung zur Preisgabe des Rechtsstaates — womöglich bereits im Frieden zur Diktatur eines „permanenten Notstands" — führt. Mit gewendeter Fragestellung bedeutet das: setzt der Rechtsstaat der Möglichkeit zur Notstandsgesetzgebung Gren-

Winfried Steffani Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag — Ein Vergleich................... S. 12 zen, die auch dann einzuhalten sind, wenn die rechtsstaatlich unbedenklichen Gesetze aller Voraussicht nach nicht ausreichen, um ungewöhnliche Lagen zu beherrschen?

2. Welche Probleme ergeben sich für die spezifisch deutsche Lage?

Der Rechtsstaat

Der Rechtsstaat des Grundgesetzes (GG) begreift sich als formale und als materielle Ordnung des Gemeinwesens. Der Rechtsstaat ist eine förmliche Ordnung, die die Kompetenzen verteilt und die Wahrnehmung der Kompetenzen an die Einhaltung bestimmter Formvor-Antrittsvorlesung des Verfassers an der Technischen Hochschule Braunschweig am 16. Juni 1965. Der einleitende Teil der Vorlesung ist wegen des Ablaufs der Legislaturperiode des Bundestages überholt. Er wurde daher abgeändert. Um den Charakter einer Darstellung zu bewahren, die sich an den Interessierten und nicht allein an den Rechtsgelehrten wendet, wurde auf eingehende Schrifttumsnachweise verzichtet. Verwiesen sei aber auf den Sammelband: „Der Staatsnotstand", Berlin 1964.

Schriften bindet — insbesondere: Beschluß der Gesetze nur durch das Parlament in einem bestimmten Verfahren mit anschließender Verkündung, Bindung der Verwaltung an dieses Gesetz durch die Prinzipien des Vorranges und des Vorbehaltes des Gesetzes. Darüber hinaus umschließt der Begriff des Rechtsstaates im formellen Sinne auch eine richterliche Kontrolle der Ausübung der Gewalten, sei es, daß der einzelne die Gerichte zum Schutze seiner individuellen Rechte anrufen kann, sei es, daß Organe des Bundes oder der Länder, Teile dieser Organe, selbst die politischen Parteien das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anrufen können, wenn die verfassungsmäßige Ordnung verletzt wird. Der Rechtsstaat des GG ist zugleich eine materielle Ordnung, da das staatliche Handeln, auch wenn es die Verfahrensvorschriften ein-hält, inhaltlich gebunden ist durch den Wesensgehalt der Grundrechte, den Grundsatz der Menschenwürde, das Prinzip des demokratischen Staates, des Sozialstaates und des Bundesstaates. Ferner gelten nach Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts. Das bedeutet: Der Gesetzgeber, auch wenn er sich der Form des verfassungsändernden Gesetzes bedient, ist nicht befugt, Normen zu erlassen, die mit diesem Mindestinhalt einer rechtsstaatlichen Ordnung im Widerspruch stehen.

In diesen Grenzen gestattet und gebietet das GG, staatliche Sicherheit, Wohlfahrt und Macht zu fördern, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Das GG ist sogar gegenüber den Feinden der Freiheit weitergegangen als die Weimarer Verfassung und gestattet, ihren Freiheitsraum erheblich einzuschränken. Zur Erfüllung dieser breit gefächerten Aufgaben steht die Polizei zur Verfügung, die der Bund nach Art. 91 GG notfalls unter sein einheitliches Kommando stellen kann. Der Staat kann ferner die Leistungskraft des Apparates der Daseinsvorsorge, das Personal-und Materialreservoir der Bundeswehr und auch die Leistungskraft der Wirtschaft einsetzen, wenn er sie sich gegen Entgelt nutzbar macht. Für den Normalfall relativ geordneter Verhältnisse ist der Staat auf diese Mittel beschränkt. Es hat sich gezeigt, daß sie in den Situationen, die in der Bundesrepublik bisher zu bewältigen waren, vollauf ausreichten.

übergesetzlicher Notstand im Rechtsstaat

Es sind jedoch Lagen vorstellbar, die mit den Mitteln, die das GG zur Verfügung stellt, nicht beherrscht werden können. Vor der Möglichkeit einer solchen Situation kann man heute weniger denn je die Augen verschließen. Zu denken ist an die äußere Gefahr einer kriegerischen Verwicklung, die innere Gefahr eines Umsturzes bei wesentlich veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, die nach der gegenwärtigen Technik der Revolution durch den Versuch eines Staatsstreiches ausgelöst werden kann, und schließlich Katastrophen ganz ungewöhnlichen Ausmaßes.

Was soll dann geschehen? Es wird die Ansicht — auch von namhaften Juristen — vertreten, daß der Rechtsstaat selbst in diesen verzweifelten Situationen die formellen und materiellen Bindungen der Verfassung strikt einzuhalten hat. Die Inanspruchnahme außergewöhnlicher, in der Verfassung nicht vorgesehener Befugnisse unter Berufung auf ein unabhängig von der jeweiligen Verfassung bestehendes Recht des übergesetzlichen Staatsnotstandes ist nach dieser Ansicht unzulässig und nichts als ein Ausdruck für anderer den Satz, daß Macht vor Recht geht.

Für diese Ansicht kann auf die Struktur unseres Staates verwiesen werden, der als Rechtsstaat nur und ausschließlich gemäß den formellen und materiellen Vorschriften der Verfassung verfahren darf und in der Tat untätig bleiben muß, wenn das positive Recht keine Handlungsvollmacht für die beabsichtigte und als notwendig angesehene Aktion vorsieht. Zur Begründung wird ferner auf die Gefahr des Mißbrauchs eines solchen übergesetzlichen Notstandsrechts hingewiesen. In seiner Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit ladet es geradezu zur Machtanmaßung ein. In der Weimarer Zeit beriefen sich die rechtsradikalen Fememörder auf dieses Recht. Hitler leitete hieraus eine Rechtfertigung der Morde im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre ab. Auch in der Gegenwart kann es bei Amtsanmaßung und Rechtsbruch schwer sein, die Berufung auf Staatsnotstand als windige Ausrede abzutun und die Einlassung des Täters zu widerlegen, daß er einem Irrtum zum Opfer gefallen sei, der ihn entschuldige.

So logisch es erscheint, dem übergesetzlichen Notstand rechtliches Dasein zu bestreiten, so gefährlich dieser Rechtfertigungsgrund für den Rechtsstaat sein muß — die Geschichte zeigt, daß sich in der Stunde der Not Staatsräson als stärker erwiesen hat denn alle rechtlichen Bindungen, daß mithin nicht der Rechtsstaat dem Notstand, sondern umgekehrt, die Not dem Rechtsstaat eine Grenze setzt und dem Walten der Staatsräson den Weg freigibt.

Hierzu einige Beispiele: Noske, in den Wirren des Jahres 1919 Reichswehrminister, befahl am 9. März 1919: „Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen". Vor der Weimarer Nationalversammlung wegen dieses vom Gesetz nicht gedeckten Schießbefehls zur Rede gestellt, berichtete Noske, er habe eine Woche lang versucht, mit Verhängung des Belagerungszustandes und dem Kriegsgericht der in Berlin tobenden Revolution Herr zu werden. Schließlich, in höchster Not, als die revolutionären Massen einzelne Soldaten bestialisch abzuschlachten begonnen hätten, habe er sich schweren Herzens entschlossen, jenen Befehl zu erteilen:

„In Berlin war höchste Gefahr im Verzüge, stand das Leben von Tausenden und Zehntausenden von Menschen auf dem Spiel. In der Gefahr halte ich mich für verpflichtet, das zu tun, was dazu beiträgt, so rasch wie möglich wieder Ordnung und Sicherheit zu schaffen. Da gelten Paragraphen nichts, sondern da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite“.

Aus der gleichen Zeit wird Ebert das Wort zugeschrieben: „Wenn der Tag kommt, an dem die Frage auftaucht: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen".

Bei diesen Dokumenten ließe sich noch sagen, sie seien Zeugnisse der Hilf-und Ratlosigkeit der jungen Weimarer Demokratie, die sich auch später nicht dem Druck der Nachkriegs-lasten und der Heterogenität ihrer politischen Strömungen rechts und links gewachsen zeigte.

Wie gelassen erscheint dagegen das Ursprungs-und Musterland der Demokratie — England —, dessen Richter alle Gefahren für den Staat und seine Sicherheit bewußt in Kauf nehmen und sich nicht scheuen, selbst einen Hochverrräter aus der Untersuchungshaft zu entlassen, wenn die Regeln des due process of law verletzt sind und daher eine solche Entlassung fordern. Sobald es aber um die Geltung Englands als Seemacht geht, scheinen ganz andere Gesetze zu herrschen. Am 1. Juli 1940 erging der Befehl, die im französischen Hafen von Oran liegenden Einheiten der französischen Flotte zur Übergabe aufzufordern und im Falle der Weigerung unter Einsatz von Gewalt zu versenken. Es sollte verhindert werden, daß die französische Flotte in deutsche Hände fiel. Der Befehlshaber der britischen Mittelmeerflotte erkannte die Völker-rechtswidrigkeit dieses Befehls und erhob telegraphische Gegenvorstellungen. Doch die britische Admiralität erwiderte nach Rückfrage bei dem Kriegskabinett Churchill: „Fester Entschluß der Regierung, daß die Franzosen vernichtet werden müssen, falls sie keine Ihrer Vorschläge annehmen.“ Aber auch am folgenden Tage war der Admiral noch nicht bereit, das Feuer auf das vor Anker liegende Schlachtschiffgeschwader der Bundesgenossen zu eröffnen. Das Gewissen ließ ihm keine Ruhe. Churchill schreibt in seinen Memoiren (Bd. II, S. 286): „Aus den Mitteilungen, die sie uns hatten zukommen lassen, konnten wir deutlich den Gewissenskonflikt des englischen Admirals und seiner Kapitäne herausfühlen. Nichts als der ausdrücklichste Befehl konnte sie zwingen, das Feuer auf jene zu eröffnen, die eben noch ihre Waffengefährten gewesen waren. Auch auf der Admiralität war die Erregung unverkennbar. Doch das Kriegskabinett blieb unerschütterlich bei seinem Entschluß ..." Es erging die endgültige Weisung, und am Morgen des 3. Juli 1940 wurde die französische Flotte zusammengeschossen. Drei französische Schlachtschiffe wurden zerstört, ein viertes erreichte beschädigt Toulon. 1500 französische Seeleute büßten ihr Leben ein. Churchill schrieb in den Memoiren hierzu:

„Das war ein höchst widerwärtiger Beschluß, der unnatürlichste und schmerzlichste, den ich je zu fassen hatte. Er rief die Episode der Vernichtung der dänischen Flotte durch Admiral Nelson im Jahre 1801 in Erinnerung; diesmal aber waren die Franzosen gestern noch unsere teuren Verbündeten gewesen, und unser Mitgefühl mit dem unglücklichen französischen Volk war aufrichtig. Andererseits stand das Dasein des Staates und das Heil unserer Sache auf dem Spiel. Es war eine griechische Tragödie. Doch keine Tat war je notwendiger für das Leben Englands und für alles, was davon abhing". Nicht einmal Churchill zweifelt an der Völkerrechtswidrigkeit des Befehls, den er gegeben hatte. Staatsräson aber war stärker als das Recht. Niemals war dieser eklatante Bruch des Völkerrechts Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens. Weder Frankreich noch die Angehörigen der jämmerlich ums Leben gekommenen Franzosen verklagten den Admiral oder Churchill oder die englische Krone. Ein solches Unterfangen wäre auch aussichtslos gewesen. Das läßt sich leicht aus der Judikatur der englischen Gerichte nachweisen. Die englischen Gerichte hätten sich darauf zurückgezogen, daß es sich um einen act of state gehandelt habe, über dessen Recht oder Unrecht sie nicht zu befinden haben. Nicht anders hätte sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten verhalten. Mit der Formel, es handle sich um eine politische Frage, hatte er sich der Nachprüfung des zum Teil rücksichtslosen Vorgehens der Einzelstaaten gegen die Indianerstämme entzogen.

Bedenkt man die enge Zusammengehörigkeit zwischen Recht und Rechtsprechung — der Richter Frankfurter des Obersten Gerichtshofes formulierte kurz: „Der Oberste Gerichtshof ist die Verfassung" —, dann kann eine solche Selbstbeschränkung der Gerichte oder eine den Gerichten auferlegte Beschränkung nicht ohne Rückwirkung auf den Inhalt des Rechtes selbst sein, das seine Geltung im Ausnahmefall mithin einschränkt — mögen auch die Grenzen einer solchen Selbstbeschränkung der Gerichte und damit die Sanktionslosigkeit staatlicher Maßnahmen offenbleiben.

Es zeigt sich: In der echten oder vermeintlichen Ausnahmesituation siegt die Staatsräson über das Recht. Rechtsregeln, ja selbst elementare Gebote abendländischer Rechtskultur werden beiseite geschoben. Aber auch dieses Verhalten in der Ausnahmesituation beansprucht zulässiges Verhalten, also rechtmäßig zu sein — gleich, ob man annimmt, der übergesetzliche Staatsnotstand wirke rechtfertigend oder nicht. Wenn eine solche Ausnahmesituation vorliegt, scheint mithin immer noch das Wort Machiavellis gültig zu sein (Discorsi III, 41): „Wo es um das Sein oder Nichtsein des Vaterlandes geht, gibt es keine Bedenken, ob gerecht oder ungerecht, mild oder grausam, löblich oder schimpflich. Man muß jede andere Rücksicht wegschieben und durchaus dem Entschluß folgen, der ihm das Leben rettet und die Freiheit erhält".

Der Rechtsstaat aber mit seinen formalen und materialen Inhalten ist preisgegeben. Preisgegeben ist zugleich der Mensch in diesem Staat, der die Sicherheit in der normalen Situation gewährt. Aber weiter noch — und erst hier wird vollends die Grenze sichtbar, an die der Rechtsstaat gerät: Der moderne Kultur-staat ist eine geistige Leistung des Menschen, er kann nicht anders als eine sittliche Leistung gedacht werden, die in der Bändigung und Vergeistigung der Staatsräson ihren Grund hat. Zerbricht der Mächtige im Staat unter Berufung auf übergesetzlichen Notstand und Staatsräson die dem staatlichen Handeln auferlegten Bindungen, dann vergeht er sich nicht allein an der sittlichen, den Staat konstituierenden Idee, dann droht er vielmehr den Staat selbst zugrunde zu richten. Denn in diesem Augenblick verliert der Staat als geistig-sittliche werterfüllte Wirklichkeit eben diese seine Wirklichkeit.

Es ist daher nicht richtig, wenn Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie (Vier Kapitel von der Lehre der Souveränität, 1922, 2. Ausl. 1934, S. 19) im Ausnahmezustand nichts als eine Stunde der Bewährung sieht, aus der der Staat ohne Schuld und Makel hervorgeht: „Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt".

Der Ausnahmezustand ist nicht die Stunde der Bewährung, sondern der Not. Die äußere, reale Not wird zur Not für den Staat als geistig-sittliche Wirklichkeit.

Überwindung der Not die zentrale Aufgabe des Staates

Andererseits — und hier zeigt sich die Unausweichlichkeit des Problems —: Der Staat ist nicht nur eine Organisation für den Normalfall des politischen Alltags. Für Sicherheit und Existenz des Bürgers in der normalen Situation wäre der Staat noch am ehesten entbehrlich; der Bürger und die Gesellschaft der Bürger könnten sich notfalls auch selbst helfen, und es ist ein elementares und primitives Gebot kluger Staatsgestaltung, den Staat in gewisser Weise entbehrlich werden zu lassen. Abschaffen kann man ihn nicht. In der modernen Industriegesellschaft ist der Mensch in seinen elementarsten Lebensbedürfnissen von den natürlichen Quellen seiner Existenzsicherung — Wasser und Energie — abgeschnitten und daher um vieles abhängiger geworden und schon im Normalfall der Daseinsvorsorge des Staates bedürftig. Geradezu erschreckend aber zeigt sich die Abhängigkeit des Menschen in der nicht normalen, der unvorhergesehenen Lage. Zur Existenzsicherung gehört nicht nur der Zugang zu Wasser und Energie und die Abwehr von Gefahren im Normalfall, sondern die Chance und Möglichkeit des überlebens in allen von der Natur und dem Menschen geschaffenen Situationen. Daher ist es gerade die wesentliche Aufgabe des Staates, die sein Vorhandensein und seine Macht überhaupt rechfertigt, auch diese unvorhergesehenen Lagen zu beherrschen. Wenn es aber Aufgabe des Staates ist, die menschliche Existenz in diesem Sinne zu erhalten und zu fördern, und zwar gerade in diesen Situationen, dann muß er auch die Befugnis haben, das je nach Notwendigkeit geeignete Mittel wählen und einsetzen zu dürfen. Und weiter noch: Recht setzt ein Mindestmaß von Ordnung voraus, einen generellen Gehorsam gegenüber der Norm, die im großen und ganzen befolgt werden muß, um überhaupt geltendes Recht zu sein. Das Chaos ist das Ende des Rechtsstaates. Um sich zu behaupten, muß der Staat also das Chaos verhindern können.

Um Mißverständnisse von vornherein zu vermeiden: Auch dieser Satz ist nicht grenzenlos sinnvoll. Es geht nicht um die Existenz des Staates als solchen, sondern um die Erhaltung der Existenz der Menschen dieses Staates. Der Kampf des Hitlerstaates in Berlin vor den Bunkern der Reichskanzlei war längst kein Kampf mehr um die Existenz des Staates in diesem Sinne, da dieser Staat seine Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte und wollte. Die Existenz des Staates hatte sich im Jahre 1945 in die Landkreise und Städte zurückgezogen, als diese die Versorgung der Bürger mit dem Lebensnotwendigsten — so kümmerlich es war — zu übernehmen versuchten. Freilich, was im übrigen zu den wichtigsten Lebensinteressen eines Staates in concreto gehört, läßt sich abstrakt nicht sagen. Die Geschichte zeigt, daß hierunter sehr verschiedenes verstanden wurde, von der Erhaltung der jeweiligen Dynastie, der Ehre, der jeweiligen Herrschaftsund Wirtschaftsordnung bis zum schlichten überleben seiner Bürger.

Vorsorge für die Stunde der Not

Der Rechtsstaat des GG mit seinen Bindungen behält dem Staat einen Teil der Befugnisse vor, deren er bedarf, um auch die ungewöhnliche und unvorhersehbare Lage zu beherrschen. Es besteht keinerlei Gewähr dafür, daß es nicht eines Tages einmal zu einer solchen Situation kommt. Daher ist zu besorgen, die Einsicht von Brice, die Triepel erneut ins Bewußtsein gehoben hat, könnte sich wiederum bewahrheiten: „Starre Verfassungen haben nur die Wahl, ob sie gebogen oder gebrochen sein wollen." Da der Rechtsstaat weder das Biegen noch das Brechen wollen kann, ist die rechtsstaatliche Verfassungsschöpfung mit dem Ziel der Vorsorge für die Stunde der Not der einzige Weg zur Abhilfe. Wenn ein Staat in der Lage sein muß, sich auch auf unvorhergesehene Lagen einstellen zu können, um mit Katastrophen aller Art fertigzuwerden, dann lassen sich wegen der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse weder Voraussetzungen noch Rechtsfolgen eines solchen Ereignisses abschließend kodifizieren. Im Grunde können und müssen nur zwei Fragen geregelt werden: die Fragen, wer den Staatsnotstand festzustellen hat und wer in dieser außergewöhnlichen Situation zu handeln hat. Freilich schließt das nicht aus, geeignete Kontrollen für die Wahrnehmung beider Befugnisse einzubauen.

Die Fragen, wer den Staatsnotstand festzustellen hat und wer in dieser außerordentlichen Situation zu handeln hat, wurden in den früheren deutschen Verfassungen nur in lapidarer Kürze beantwortet. Die Geschichte am Ende des Kaiserreiches mit ihrer Diktatur der Obersten Heeresleitung, vor allem aber der Weimarer Verfassung mit der Diktatur des Reichs-präsidenten haben die Gefahren gezeigt, die mit solchen generalklauselartigen Ermächtigungen verbunden sind. Wird die Macht einzelnen Staatsorganen überlassen, um der ungewöhnlichen Lage auch mit ungewöhnlichen Mitteln begegnen zu können, dann ist stets damit zu rechnen, daß die Macht sich übersteigert. Nur die Heiligen unter den Machtträgern — und wo fände man sie? — wären vor der Versuchung des Mißbrauchs der Macht gefeit. Die Dämonie der Macht enthüllt das Epigramm des Lord Acton: „Macht verdirbt und absolute Macht verdirbt absolut". Wiederum werden Demokratie und Rechtsstaat aufs Spiel gesetzt.

Drei typische Gefahrsituationen

1. Von den außerordentlichen Befugnissen wird auch Gebrauch gemacht, um in einer normalen Lage ein politisch erwünschtes Ziel zu erreichen, das aber auf dem für die normale Lage vorgeschriebenen normalen Wege nicht erreicht werden kann. Dieser Mißbrauch hat den Art. 48 der Reichsverfassung in Mißkredit gebracht. Mit seiner Hilfe betrieben die Reichspräsidenten Hindenburg und auch Ebert und ihre Reichskanzler u. a. Sozial-und Wirtschaftspolitik, teils gegen den Willen des Parlamentes, teils anstelle des Parlamentes, das infolge seiner inneren Spannungen arbeitsunfähig war und sich aus der Verantwortung für die Gestaltung der Wirtschaft zurückgezogen hatte. Zugegeben: die wirtschaftliche Lage war unheilvoll, das Parlament nicht aktionsfähig. Um Notstand aber handelte es sich weder bei der Inflation noch bei der Deflation. Es waren nicht einmal die weitherzig formulierten Voraussetzungen des Art. 48 RV gegeben. 2. Das Festhalten an den außergewöhnlichen Vollmachten, obwohl diese Vollmachten wegen Normalisierung der Situation nicht mehr erforderlich und daher auch nicht mehr rechtmäßig sind. Im alten Rom pflegte man in Notzeiten dem Diktator nur auf sechs Monate, d. h. für die Zeit eines Sommerfeldzuges, die ungeteilte und absolute Macht anzuvertrauen. Nachher fiel die Gewalt automatisch wieder an die Konsuln zurück. Hitler benutzte die ihm für vier Jahre erteilte Ermächtigung, um sie selbstherrlich jeweils zu verlängern.

Aber auch das Frankreich der 5. Republik sah sich dieser Gefahr ausgesetzt. Art. 16 gestattet dem Präsidenten — de Gaulle — die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, d. h. unbeschränkte Macht auszuüben, wenn die Republik bedroht ist und die regelmäßige Ausübung der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalt unterbrochen ist. Nach Ausbruch der Algerienrevolte im Jahre 1961 setzte de Gaulle Art. 16 förmlich in Kraft, obwohl es einer solchen förmlichen Inkraftsetzung gar nicht bedurfte, und schickte wegen des Not-standes die verfassungsmäßigen Organe ins zweite Glied. Geht man davon aus, daß durch die Algerienrevolte in der Tat die Republik bedroht gewesen sei, dann war aber noch kein Anlaß, nun mit Hilfe des Art. 16 zu regieren, da die Ausübung der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalt nicht unterbrochen war, sondern erst durch de Gaulles Eingreifen unterbrochen wurde. Er nahm die ihm damit zugewachsene Vollmachten auch noch lange nach dem Ende des Algerienkonfliktes wahr, obwohl nun weder eine unmittelbare Gefahr für die Republik vorlag noch die regelmäßige verfassungsmäßige Gewalt durch etwas anderes behindert wurde als durch de Gaulle selbst. Schließlich ließ sich de Gaulle sogar 1962 durch Volksabstimmung noch weitere Vollmachten übertragen und schichtete damit vollends die Verfassung um. 3. Maßlosigkeit und Gewissenlosigkeit bei der Wahrnehmung der außerordentlichen Vollmachten, Vernichtung der Opposition, damit Zerstörung der Demokratie und Verletzung elementarer Prinzipien abendländischer Rechtskultur. Hier sind die Schandtaten Hitlers zu nennen. Leider hat aber auch Frankreich im Algerienkrieg die Prinzipien abendländischer Rechtskultur verletzt.

Auf diesen drei Gefahren — Inanspruchnahme der außerordentlichen Befugnisse, ohne daß die Voraussetzungen des Notstandes vorliegen; Festhalten an den außergewöhnlichen Vollmachten nach Normalisierung der Lage-, Maßlosigkeit und Gewissenlosigkeit bei Wahrnehmung der außerordentlichen Vollmachten — beruht das Mißtrauen, das jeder Regelung des Notstandes in der Bundesrepublik entgegengebracht wird. Um das Mißtrauen abzubauen und die Gefahren einzuschränken, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an:

Die Sicherungen gegen Mißbrauch der Notstandsbefugnisse

1. Die Konkretisierung und Differenzierung der verschiedenen Notstandssituationen und Stufung der in den jeweiligen Situationen einsetzbaren Mittel mit dem Zweck, den Einsatz äußerster Mittel für den Fall zu reservieren, der in der Tat dieser äußersten Mittel bedarf. Andere, nicht so verzweifelte Fälle müssen dann mit milderen Mitteln bekämpft werden. Zugleich mit der Festlegung dieses Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen bestimmte Prinzipien abendländischer Rechtskultur gesichert bleiben. 2. Die Befugnis zur Feststellung des Not-standes muß gegen Mißbrauch abgesichert werden. 3. Die Rückkehr zur Normallage nach Beendigung des Ausnahmezustandes muß erzwingbar sein, selbst dann, wenn der zur Wahrnehmung der außerordentlichen Befugnisse Berufene der Ansicht ist, er bedürfe noch der besonderen Vollmachten.

Dies alles gebietet, hinreichend klar zu regeln, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen von diesen Befugnissen Gebrauch gemacht werden darf. Unausweichlich ist ferner die Kontrolle der Entscheidung, daß der Notstand eingetreten ist und die Kontrolle der Wahrnehmung der Notstandsbefugnisse. Neben dem Parlament ist nach dem GG das Bundesverfassungsgericht berufen, diese Kontrolle durchzuführen. Seine Funktionsfähigkeit ist daher die wichtigste Garantie gegen Mißbrauch der Notstandsbefugnisse.

Die Einschränkung einzelner Grundrechte dagegen dürfte unausweichlich sein, insbesondere der politischen Grundrechte der Presse-und Versammlungsfreiheit, die auf den Normalfall politischer Aktivitäten in der Normal-lage zugeschnitten sind, nicht auf die Ausnahmesituation. Dort könnten sie nur als weitere Kontrolle gegen Mißbrauch der Ausnahmebefugnisse sinnvoll werden. Zu denken ist vor allem an Aktionen mit dem Ziel, die Rückkehr in die Normallage herbeizuführen. Einschränkbar ist auch das Streikrecht, wenn es überhaupt von der Verfassung garantiert wird. Denn dieses Streikrecht ist ein Recht einer gesellschaftlichen Gruppe, ihre Besonderheiten durch Auseinandersetzung mit einer anderen gesellschaflichen Gruppe zu fördern. Im Notstand aber geht es um Bestand und Verfassung des Staates, der als demokratischer Staat über den gesellschaftlichen Gruppen steht. Daher verliert das Streikrecht seinen es legitimierenden Sinn, soweit es um die Existenz aller geht und diese Existenz durch die Förderung der Besonderheit konkret und empfindlich gefährdet würde.

Dagegen muß das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Gleichheit und Zugang zu dem gesetzlichen Richter erhalten bleiben, wenn auch nicht notwendig in der Perfektion der heute geltenden Vorschriften.

Die Bundesregierung hatte in ihrem in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegten Entwurf den Rechtsgedanken des Notstandes, den Art. 48 RV noch in den Satz faßte, der Reichspräsident sei befugt, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit erheblich gestört oder gefährdet ist, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen zu treffen, über zwölf zum Teil umfängliche Artikel ausgebrei-tet. Der weitere Gang der Gesetzgebung hatte noch weitere Differenzierungen und Verfeinerungen hervorgetrieben, weil das Mißtrauen der Demokratie gegen die Diktatur der zur Machtausübung Berufenen nahezu unüberwindlich ist. Auf die Einzelheiten ist hier nicht einzugehen, doch zeigt sich, daß der Rechtsstaat durchaus bereit und befähigt ist, dem Notstand Grenzen zu setzen, um Mißbrauch abzuwehren. Die formellen und materiellen Sicherungen sind freilich nicht ohne Probleme, da der Perfektionismus, der alles sichern will — nämlich sowohl sichern will, daß der Staat notfalls äußerste Befugnisse hat, als auch sichern will, daß diese äußersten Befugnisse auch wahrhaftig nur ausnahmsweise benutzt werden —, in beiden Richtungen zu weit greifen kann. Der Perfektionismus könnte bewirken, daß eine solche Lösung entweder an sich selbst erstickt oder , daß eine solche Lösung aber über das Ziel der Sicherung des Staates auch in ungewöhnlichen Lagen weit hinausschießt.

Mißtrauen und Vertrauen in der Demokratie

Hier ist zu erinnern: mit dem Mißtrauen allein ist Staatsgestaltung nicht möglich. Der demokratische Rechtsstaat lebt nicht allein vom Mißtrauen. Er beruht auf Vertrauen, nämlich auf dem Vertrauen in der Vernunft des Menschen, wenn er sich in Freiheit entfalten kann. Ist dieses Vertrauen berechtigt, dann ist zu erwarten, daß der demokratische Rechtsstaat auch aus dem Ausnahmezustand als ein Rechtsstaat hervorgeht. Ist das Vertrauen in die Vernunft nicht berechtigt, dann ist der Rechtsstaat im Falle des Notstandes in einer tödlichen Gefahr — allerdings ist er dann stets gefährdet, wie die Jahre 1932, 1933 zeigten. Ob die Vernunft der Menschen in einer konkreten Situation eines Ausnahmezustandes ausreichen wird, um das Vertrauen zu rechtfertigen, das ist das Risiko, dem der Rechtsstaat nicht entweichen kann.

Die Ausnahmegesetze sind nur dann der Tod der Demokratie und eine Grenze, die der Rechtsstaat nicht ohne Verlust seines Wesens überschreiten kann, wenn die Vernunft der Menschen versagt. Gelingt es aber, eine brauchbare Lösung des Notstandsproblems zu schaffen, die von der Sache bestimmt wird, rechtfertigen die zur Machtausübung Berufenen und die Machtunterworfenen das in die Vernunft des Menschen gesetzte Vertrauen, dann wird er auch die Anfechtungen des Ausnahmezustandes überstehen.

Daß eine ungewöhliche und unerwartete Lage mit ungewöhnlichen Mitteln, wenn es die Umstände fordern, bekämpft werden muß, räumt auch Montesquieu gleichsam zögernd ein (De-1‘esprit des lois, XII, cap 19): „Gleichwohl gestehe ich, daß die Übung der freiheitlichsten Völker, die es je auf Erden gab, die Ansicht in mir befestigt, daß es Fälle gibt, in denen man zeitweilig der Freiheit einen Schleier Überwerfen muß, wie man die Bilder der Götter verhüllt."

Notstandsgesetze im geteilten Deutschland

Für die besondere Situation der Bundesrepublik ist damit aber noch nicht die Problematik erschöpft. Vorbereitung auf den Notstand kostet Geld. Es wird behauptet, bereits die Ausgaben für Schutzraumbauten forderten so gigantische Anstrengungen, daß die Leistungsfähigkeit des Staates und des Volkes überbeansprucht und schon dadurch der Demokratie der Boden entzogen werde. Der durch seine Armut aufs tiefste gefährdete Staat sei der Gefahr der Diktatur ausgesetzt und unfähig, die gebotene Friedenspolitik zu betreiben. Auf diese Argumente ist nicht einzugehen, da es eine Frage der Überzeugung ist, ob eine Demokratie leistungsfähig ist, nicht nur, wenn sie den Wohlstand fördert, sondern auch, wenn sie sich auf die Abwehr einer Gefahr vorbereitet.

Weil die drei Besatzungsmächte nur eine unvollkommene Notstandsregelung im GG zugelassen hatten, behielten sie sich auch in Art. 5 des Deutschlandvertrages von 1955 das Recht vor, die zum „Schutze der Sicherheit von in der Bundesrepublik stationierten Streitkräften" und zur Abwendung „einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung'notwendigen Maßnahmen zu treffen. Die früheren Besatzungsmächte verpflichteten sich, auf diese Rechte zu verzichten, sobald die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben.

Auf diesem Überhang des Besatzungsrechts beruht daher nicht nur die Telefonkontrolle, sondern auch die Sicherheit der Bundesrepublik im Falle des Notstandes. Sie entlehnt also gleichsam dem Besatzungsrecht und der Besatzungsmacht die Vorsorge für die außergewöhnliche Lage. Wer aus Sorge vor Mißbrauch der Befugnisse durch Organe der Bundesrepublik eine Regelung des Notstands ablehnt, beläßt die außerordentlichen Befugnisse den Westmächten und müßte sich fragen, ob sie in der Tat mehr Vertrauen verdienen als die Organe der Bundesrepublik. Immerhin: Es ließe sich anführen, daß zwei der Mächte ihre Notsituationen beherrscht haben, ohne auf weite Sicht und über längere Zeiträume hinweg die rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien preisgegeben zu haben, deutsche Organe aber in der Geschichte versagt haben. Von derartigen Überlegungen ist in der Gegenwart aber wenig zu hören. Dagegen wird immer wieder betont, die Bundesrepublik müsse schon um ihrer Souveränität willen den Alliierten die Obsorge für die Stunde der Not abnehmen und ein eigenes Notstandsrecht schaffen.

Wer sich auf die Bedürfnisse immer anspruchsvoller dokumentierter Souveränität beruft, übersieht fast stets einen Gesichtspunkt, der in der Situation des geteilten Deutschlands besonderer Beachtung bedarf: dieser Mangel an Staatsgewalt, dieses Verwiesensein auf die Obervormundschaft der Besatzungsmächte ist Folge des verlorenen Krieges und dokumentiert die Verantwortung der früheren Besatzungsmächte für die Wiedervereinigung.

Darüber hinaus aber ist gerade dieses Fehlen fragwürdiger Souveränität eines der letzten, aber markantesten Symbole der verlorenen staatlichen Einheit. Auch die SBZ verdankt ihre innere Ordnung und Sicherheit den Besatzungsmächten, wie die Ereignisse des 17.

Juni 1953 sinnfällig vor Augen führten. Gleiches ergeben auch die Freundschaftsverträge mit der UdSSR, wenn auch dort schon seit dem Verteidigungsgesetz vom 20. Sept. 1961 für den Verteidigungsfall vorgesorgt ist. Solange die beiden Machtgebilde diesseits und jenseits der Zonengrenze ihre eigene Sicherheit nicht gewährleisten können, ihnen elementare Befugnisse ihrer Staatlichkeit vorenthalten sind, verdrängen sie nicht vollends das Deutsche Reich, auf dessen Territorium und unter dessen Dach sie sich entwickelt haben. Das eine Machtgebilde behauptet den Untergang des Reichs und die Existenz von drei Staaten, das andere — die Bundesrepublik — macht das Alleinvertretungsrecht für Deutschland geltend. Dennoch kann nach meiner Auffassung an dem Gedanken festgehalten werden, daß dieses handlungsunfähige Deutsche Reich fort-existiert, solange die unter seinem Dach lebenden feindlichen Brüder nicht die volle Souveränität für sich in Anspruch nehmen.

Die Brücke zur Wiedervereinigung ist gegenwärtig unpassierbar. Durch eine Notstands-regelung einen weiteren Stein aus dieser Brücke herauszubrechen, verwehrt das Recht nicht — ungeachtet des Wiedervereinigungsgebotes in der Präambel und Art. 146 des GG.

Es ist eine politische Entscheidung, zu deren Lösung die Rechtswissenschaft nur beitragen kann, daß diese Perspektive nicht aus den Augen gelassen werden sollte.

Zusammenfassend ist zu sagen: Das Walten der Staatsräson aus seiner Naturhaftigkeit und Dämonie herauszulösen, sie zu versittlichen, die Existenz des Bürgers zu sichern, ist die Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Seine Regeln dürfen nicht nur für die Normal-lage gelten. Er muß auch Vorsorge treffen für die Bewältigung von Ausnahmesituationen und die Erfüllung seiner Aufgaben in der Stunde der Not. Andernfalls ist zu besorgen, daß die Verfassung gebogen oder gebrochen wird. Eine rechtsstaatliche Lösung des Notstandsproblems ist möglich. Aber: Recht und Verfassungsrecht ist Menschenwerk. Es ist daher nur von relativer Güte und Beständigkeit. Ob auch in der Stunde der Not das Recht das Maß der Macht bleibt, entscheidet sich nicht allein an der Qualität der Normen für den Notstand und der Macht der Tatsachen, die es zu beherrschen gilt. Es entscheidet sich in erster Linie an der Vernunft des Menschen und der Macht seines Willens zum Recht.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans-Ulrich Evers, Dr. jur., Professor für Rechtswissenschaft an der Technischen Hochschule Braunschweig. Veröffentlichungen: Der Richter und das unsittliche Gesetz, 1956; Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, 1960.