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Von historischen Vorurteilen verschleiert | APuZ 26/1965 | bpb.de

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APuZ 26/1965 Schicksal zweier Völker: Der deutsche Nachbar Von historischen Vorurteilen verschleiert Umgang mit Deutschen

Von historischen Vorurteilen verschleiert

Pietro Quaroni

Bewunderung und Antipathie

Das Verhältnis der Italiener zu den Deutschen, ihr Verhalten ihnen gegenüber ist aus vielerlei Komponenten zusammengesetzt. Ganz zuunterst liegt da ein gut Teil Bewunderung. Die Deutschen haben großartige Eigenschaften: Ernst, Pünktlichkeit, eine gewisse Naturbegabung für Organisation und Disziplin, sie sind vortreffliche Arbeiter oder, vielleicht besser gesagt, gut ausgeführte Arbeit macht ihnen leidenschaftliche Freude.

Diese Eigenschaften sind nicht zu bezweifeln, aber die Italiener neigen instinktiv dazu, sie aufzubauschen, sie in ein System zu bringen, eine Art Legende oder Mythos dahinter zu suchen. Zugleich ist es dem Italiener so etwas wie eine innere Genugtuung, die eigenen Fehler zu übertreiben — Fehler, die er ja gewiß hat, die aber zumindest nicht nur ihm eigen sind. Es ist fast eine Art Freudscher Komplex: Die Deutschen haben alle Eigenschaften, die den Italienern abgehen, folglich sind sie ein Vorbild, das es zu bewundern und, wo immer möglich, nachzuahmen gilt.

Als ich unter den Deutschen lebte, habe ich beobachtet, wie wenig deutsch in jenem üblichen Sinn sie eigentlich sind; der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, daß ich über die Engländer, als ich unter ihnen lebte, zu den gleichen Schlüssen kam.

Aber Italiener, die unter Deutschen gelebt haben, gibt es verhältnismäßig wenige. Den anderen geht es dann ein bißchen wie kleinen Jungen, wenn ihnen die Eltern einen Spielgefährten gar zu eindringlich als Muster hinstellen: Ja, der lernt brav, der sitzt anständig bei Tisch, der ist fleißig und macht seinen Eltern Freudei Die unvermeidliche Reaktion bei den Kindern sind Antipathie und Neid. Den Jungen, den die Eltern uns zum Muster hinstellen, können wir nicht leiden; wir helfen uns damit, zu behaupten, er sei ein Dummkopf, ein Duckmäuser — wenn wir ihn nicht einfach der Heuchelei bezichtigen.

Eine ähnliche Reaktion der Italiener auf die Deutschen existiert zweifellos: Sie ergibt sich unwillentlich fast zwangsläufig aus der Bewunderung. Davon ausgehend hatte ich während meiner Mission in Deutschland nach Kräften versucht, meinen Landsleuten klar-zumachen, daß die Deutschen weit davon entfernt sind, Inbegriff all der Vollkommenheiten zu sein, die wir in ihnen zu erblicken glauben; daß sie, wenn der Ausdruck erlaubt ist, viel „italienischer" sind, als wir glauben. Ich tat es erstens, weil es nach meiner Ansicht wirklich so ist; zweitens, weil ich darin das beste Mittel sehe, die Sympathie zwischen den beiden Völkern zu stärken. Sicher werden Tugenden bewundert, aber die Schwächen sind es, die uns unsere Nächsten näherbringen; gewiß nicht alle Schwächen, aber doch einige — gemeinsame Fehler verbinden, nicht gemeinsame Vorzüge.

Die Folgerung daraus: Italiener und Deutsche müssen sich vor allem einmal kennenlernen.

Man kennt sich nicht

Ich gestehe, ich bin mir vor meiner Berufung an die Botschaft in Deutschland nicht darüber klar gewesen, daß es tiefere innere Berührungspunkte zwischen Italien und Deutschland tatsächlich nicht gab.

Italien und Deutschland gehören beide zur atlantischen Allianz; sie waren und sind beide aktiv an der Schaffung eines „Europa der Sechs" beteiligt. Diese Politik, die im wesentlichen von allen verfolgt wird, hat naturgemäß ein ganzes Netz von Beziehungen entstehen lassen; aber leider sind es Kontakte nur auf höchster Ebene geblieben, sie reichen nicht tief genug hinab. Im vorigen Jahrhundert war das ein Normalzustand: Auswärtige Politik machte man damals zwischen Souveränen, Ministerpräsidenten, Außenministern und Botschaftern. Die einzige Internationale, die vor 1914 tatsächlich wirksam war und zählte, war die Internationale der Aristokratie — eine Internationale, deren Geschichte, glaube ich, nie wirklich geschrieben wurde, die aber in der Welt und in der Politik des vorigen Jahrhunderts weit mehr faktischen Einfluß gehabt hat als all die vielen anderen Internationalen, die später die Szene beherrschten.

Heute genügt das nicht mehr. Im Laufe des Ersten Weltkrieges und unter den Notwendigkeiten des totalen Krieges, die niemand in Wirklichkeit vorausgesehen hatte, haben die Regierungen, wenigstens die nicht totalitären, auf Ausübung ihres Rechtes verzichtet, allein und ohne Rücksicht auf das Volk die auswärtige Politik zu bestimmen. Infolge dieser inneren Evolution oder Umwandlung ist die Außenpolitik heute zu einer Politik der Massen geworden und nicht anders denn als eine Politik der Massen denkbar: Will sie, ich sage gar nicht fruchtbar, sondern auch nur durchführbar sein, dann muß sie von den Massen verstanden und gutgeheißen werden. Damit zwei Völker wirklich ihren Weg gemeinsam gehen können, genügt es nicht, wenn sich zwei Regierungschefs oder ein paar Parteiführer der einen und der anderen Seite einig sind. Zuerst muß diese Einigkeit im Volk verstanden und empfunden werden.

Damit das möglich ist, muß man sich vor allem einmal kennenlernen. Doch die Italiener kennen die Deutschen zu wenig, die Deutschen die Italiener vielleicht noch weniger.

Hunderttausende italienischer Gastarbeiter — Millionen deutscher Urlaubsreisender

Da sind Hunderttausende von Italienern, die jedes Jahr nach Deutschland zur Arbeit kommen, da sind jedes Jahr Millionen Deutsche, die zur Ferienzeit nach Italien reisen. Aber dieser Strom in beiden Richtungen hat keinen großen Fortschritt für das gegenseitige Verständnis gebracht.

Der Italiener, der nach Deutschland zur Arbeit kommt, stammt in den meisten Fällen aus den untersten Schichten des süditalienischen Proletariats. Sind die Schwierigkeiten, sich in das Wirtschaftsleben einzuordnen, schon groß genug, wenn ein Italiener innerhalb Italiens vom Süden nach dem Norden auswandert: Im Ausland ist diese Einordnung noch schwieriger. Die Mühe, sich einzuleben, läßt für ein Kennenlernen nicht genug Zeit. Vielleicht ändern sich die Verhältnisse im Laufe der Jahre, vielleicht führt die wirtschaftliche Entwicklung Italiens schließlich dazu, daß diese Italiener in ihre Heimat zurückkehren. Wenigstens einige von ihnen könnten dann die Zellen bilden, von denen aus sich eine bessere Kenntnis über Deutschland und die Deutschen verbreitet. Heute ist es soweit noch nicht.

Gewiß, ein Fortschritt wurde erzielt. Bei der letzten Welle der italienischen Auswanderung nach Deutschland standen die italienischen Behörden anfänglich vor einer Schwierigkeit, die unüberwindlich schien: Die Italiener weigerten sich, zum Arbeiten nach Deutschland zu gehen. Arbeit in Deutschland war noch, mehr oder minder bewußt, mit der Erinnerung an den Krieg verknüpft, und besonders lebhaft erinnerte man sich der Zeit nach dem italienischen Waffenstillstand von 1943.

Wie sind wir damit fertig geworden? Ebenso wie wir seinerzeit mit gleichartigen, wenn auch aus anderen Gründen entstandenen Schwierigkeiten bei unserer Auswanderung nach Frankreich fertig geworden waren: durch praktisches Beispiel. Man begnügte sich anfangs mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Auswanderern und versuchte, ihnen soweit wie möglich entgegenzukommen. Diese ersten „Pioniere" schrieben nach Hause, daß die Verhältnisse ganz anders lagen, als man befürchtet hatte. Solch unmittelbare und persönliche Richtigstellung änderte von Grund auf die Situation. Aber sie wäre nicht möglich gewesen, hätte man auf deutscher Seite nicht ihre Wichtigkeit begriffen und alles Erdenkliche getan, die Eingewöhnung zu erleichtern.

Ich möchte — immer aus meiner persönlichen Erfahrung — hinzufügen, daß alle zu dieser Arbeit beigetragen haben: Bundesbehörden, Länder und Gemeinden, Arbeitgeber wie Gewerkschaften. Wie dem auch sei, heute sind die psychologischen Hindernisse, Rückstände einer nicht so fernen Vergangenheit, aus dem Wege geräumt.

Die Italiener wissen: Man wird in Deutschland gut bezahlt, wird gut behandelt und hat keine Schwierigkeit mehr, hinzukommen. Diese sozusagen materielle Wertschätzung freilich ist nicht oder noch nicht dasselbe wie ein Kennenlernen. Und auf deutscher Seite? Alljährlich kommen Millionen Deutsche in den Ferien nach Italien; sie suchen seine Sonne, sein Meer, seinen Wein, seine Schuhe und was weiß ich. Eine kleine, aber auserlesene Minderheit interessiert sich für Italiens historische und künstlerische Vergangenheit. Jeder wirkliche Kon-takt mit den Italienern indessen fehlt. Man fährt nach Italien mit einer Reihe vorgefaßter Meinungen und findet dann dafür auch eine gewisse Bestätigung bei den unter dem Zwang der Verhältnisse auf Geschäftsinhaber, Wirts-leute, Bedienungen beschränkten Begegnungen. Darüber geht es nicht hinaus.

Unter jungen Menschen ist die Atmosphäre sicher etwas anders. Ich hatte manchmal Gelegenheit, mit Jugendlichen zu sprechen, die von einer Italienreise zurückkamen, und habe bei vielen eine weit größere Aufgeschlossenheit gegenüber den verschiedenartigen Aspekten der vielschichtigen italienischen Problematik getroffen. Das ist ein guter Anfang, etwas, das man wohl mehr pflegen und entwickeln sollte, als es bisher der Fall war. Jedenfalls gehören in unserer Zeit die Kontakte zwischen jungen Menschen zu den Möglichkeiten, die leichter zu verwirklichen und zu fördern sind. Der Mangel an gegenseitigem Verständnis läßt sich nicht leicht beheben, zugegeben. Leider hat er seine gewichtigen Gründe, die weit in die Geschichte beider Länder zurückreichen. Nicht nur von fehlender Kenntnis müßte man sprechen: Das italienisch-deutsche Verhältnis wird seit langem schwer beeinträchtigt durch eine ganze Reihe von Schreckbildern. Zugegeben werden muß auch, daß die Wirkung dieser Schreckbilder in Italien ungleich stärker als in Deutschland zu spüren ist.

Römer und Germanen

Die Ursachen des Nichtverstehens liegen weit zurück, und weit zurück liegt auch der Gegensatz zwischen Römern und Germanen. In jüngster Zeit ist aus leicht ersichtlichen Gründen eine romantisch-mystische Verherrlichung des römischen Imperiums betrieben worden. Die Rhetorik der faschistischen Ära in all ihrer Schönfärberei darf aber nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, daß die römische und lateinische Tradition, das Wissen um die Zugehörigkeit zu dieser antiken Welt im tiefsten Innern jedes Italieners lebendig ist.

Die Geschichte Italiens nach dem Sturz des römischen Imperiums war nicht die glücklichste: Fremde Eroberer, fremde Herrschaft, ein sonderbarer Widerstreit zwischen materieller Prosperität, geistiger Hochblüte und politischem Verfall haben die Psychologie der Italiener entscheidend bestimmt. Wenn das italienische Volk im ganzen dieser unglückseligen politischen Situation moralisch standhalten konnte, ohne sich zu verlieren, dann verdankte es das nicht zuletzt dem sicheren Bewußtsein, Erbe einer großen Überlieferung, einer hohen Kultur zu sein. In Zeiten tiefster politischer Erniedrigung suchte der Italiener sich in sich selbst zu verschließen, in eine eigensinnige geistige Isolierung zu retten, in das — etwas akademische — bewundernde Betrachten seines Adelsbriefes: der großen lateinischen und römischen Vergangenheit. Wenn rhetorische Deklamationen solche Überlieferung manchmal ad absurdum führen konnten, so ist, ich wiederhole es, doch nicht zu vergessen, daß ihre Wurzeln tief in unserer ganzen Vergangenheit, in unserem ganzen Volke liegen. Nun aber steht diese Überlieferung gleichsam dem Erbfeind gegenüber: der germanischen Welt. Die germanischen Völker waren es gewesen, die das römische Reich zerstört hatten: Wir wissen heute, daß die germanischen Invasionen den Bau des Imperiums nur zu Fall bringen konnten, weil es, von seinen inneren Widersprüchen ausgehöhlt, überreif zum Untergang war. Aber das sind Dinge, die nur kennt, wer Geschichte als Wissenschaft betreibt. Doch jene Geschichte, die immer noch, man mag wollen oder nicht, unsere Reaktion auch auf politischem Gebiet bestimmt — leider ist das nicht die wirkliche, die wissenschaftliche Geschichte, sondern jene elementare und stereotype, die uns in der Schule beigebracht wird. In dieser Form allerdings kann dann Italiens gesamte Geschichte als eine Art ständigen Gegensatzes zwischen italienischer und germanischer Welt erscheinen.

Invasionen und Fremdherrschaft

Viele Fremde sind nach Italien gekommen, durchaus nicht die germanischen Völker allein. Frankreich und Spanien haben zu ihrer Zeit überwiegenden Einfluß auf Italiens Geschicke geübt. Die letztere Fremdherrschaft aber — diejenige, gegen die sich der nationale Freiheitskampf richtete — war die österreichische. Die Italiener haben zwischen Österreichern und Deutschen nie genau unterscheiden können, und die österreichische Herrschaft ver-schmolz in ihrer Erinnerung mit den weit zurückliegenden regelmäßigen Italienzügen der großen germanischen Kaiser des Mittelalters.

In meiner Jugendzeit wollten mich meine Eltern zu einem Studienaufenthalt nach Deutschland schicken. Ich erinnere mich noch, welchen Eindruck es auf mich machte, als ich in den Geschichtsbüchern deutscher Schulkinder las, wie völlig anders dort Friedrich Barbarossa dargestellt war. Für die jungen Deutschen war Friedrich Barbarossa der große Kaiser, der Mann, der den Höhepunkt von Macht, Ruhm und Kultur des deutschen Volkes bedeutete. Für die jungen Italiener ist Friedrich Barbarossa der Tyrann, der Unterdrücker der italienischen Freiheitsideen, der Mann, den der Aufstand des italienischen Freiheitswillens auf dem Schlachtfeld von Legnano bezwungen hat.

Es ist sicher recht zweifelhaft, ob sich Barbarossa bei seiner Unternehmung in der Po-Ebene wirklich so bewußt gewesen ist, daß er deutsch und der lombardische Städtebund italienisch war; aber das ist wieder eine Frage der Geschichtswissenschaft, der Geschichte für wenige Auserwählte — was hingegen politisch zählt und feststeht, ist die Geschichte, wie man sie in der Schule lernt und lehrt.

Wenn wir zur neuern Zeit übergehen, finden wir die Beziehungen unserer beiden Länder wieder von einem Schreckbild beherrscht und verfälscht: dem deutschen Versuch, Italien zu einer Politik zu zwingen, der das italienische Volk zu folgen sich weigerte.

Der Dreibund war ein Phantom

Die Polemik zwischen Italienern und Deutschen um den Dreibund und Italiens Haltung 1914/15 sind noch lebendig, wenn auch — fünfzig Jahre sind unterdes vergangen — im Laufe der Zeit gemildert. Mir scheint es aber, als wäre dabei die Frage auf beiden Seiten falsch gestellt, als bestünde eine gewisse Neigung, das Wichtigste mit Stillschweigen zu übergehen, nämlich das, wovon ich eingangs sprach. Vom pragmatischen oder diplomatischen Standpunkt aus abstrakt betrachtet, hatte der Dreibund für Italien seine volle Berechtigung. Italien, staatlich geeint und ängstlich darauf bedacht, zur wirklichen Großmacht zu werden, sah den Weg für seine Expansion besonders auf kolonialem Gebiet durch zwei reiche Groß-mächte versperrt, durch Frankreich und England, durch dieselben Mächte also, die in anderer Weise und Form auch dem geeinten Deutschland den Aufstieg zur Weltmacht blokkierten. Nach dem heutigen Stand unserer Erfahrung liegt die Abwegigkeit all dieser politischen Ideen auf der Hand, sei es die Expansionspolitik Deutschlands und Italiens, sei es Englands und Frankreichs Politik, Bestehendes zu erhalten. Die Vorstellung, man könne die Hegemonie über einen ganzen Kontinent durch Schlachten auf dem Boden eben dieses Kontinents an sich reißen oder gar einer anderen Macht entreißen, hat zum kollektiven Selbstmord Europas geführt. Wir alle waren es, wir Westeuropäer, die Rußland und die Vereinigten Staaten veranlaßt haben, in die europäischen Angelegenheiten einzugreifen. Wir dürfen die zu Beginn des Jahrhunderts eingeschlagene Politik nicht nach dem Maßstab des heute — und erst heute — Erkannten beurteilen: Die Politik von damals läßt sich nur im Zusammenhang mit den Vorstellungen, den Illusionen und den Irrtümern von damals beurteilen.

Es war unbestreitbar logisch, nochmals, daß zwei dynamische und in Ausdehnung begriffene Mächte ihre Kräfte und ihre Politik miteinander verbanden. Vielleicht weniger logisch war es, daß sich ihnen eine im wesentlichen auf Erhaltung des Bestehenden bedachte Macht wie die Doppelmonarchie anschloß. Aber das ist eine Sache für sich, wenn auch die Teilnahme Österreichs an der Allianz geeignet war, die Dinge auf der italienischen Seite psychologisch nicht wenig zu komplizieren. Soweit sich also auswärtige Politik machen läßt, als ginge es um ein wissenschaftliches Problem, war die Politik des Dreibunds für Italien eine logische und richtige Politik.

Konzipiert jedoch und vorangetrieben wurde sie im Stil der Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts, nämlich als Verabredung zwischen den Staatsoberhäuptern, den Generalstabs-chefs und den Außenministern. Auf italienischer Seite ist offensichtlich nie ernsthaft versucht worden, sie populär zu machen; was im übrigen auch nicht leicht gewesen wäre.

Ich höre noch den ironischen Ton, in dem meine Lehrerin in der Volksschule, nachdem sie in düstersten Farben Österreich als Hindernis der Einigung Italiens dargestellt hatte, die Stunde mit den Worten schloß: „Aber nun haben wir ja den Dreibund, und wenn ihr mal groß seid und Krieg ist, dann dürft ihr euch für den Kaiser von Österreich totschießen lassen." Und das ist wahrscheinlich in vielen italienischen Schulen so gewesen.

Es war ein Irrtum, zu glauben, man könne Außenpolitik auf Grund eines abstrakten Kabinettkalküls machen und einen Krieg führen (der immer eine Erscheinungsform der Außenpolitik bleibt), ohne auf etwas Rücksicht zu nehmen, was es immer gab und gibt: die Reaktionen, die aus der Tiefe der Volksseele kommen. Und als bei Kriegsausbruch dann die Stunde der Wahrheit schlug, da hatte die italienische Regierung, welches ihre wirklichen Ideen und wirklichen Absichten auch gewesen sein mochten, überhaupt keine Möglichkeit — ich wage es zu sagen —, dem Dreibund treu zu bleiben. Und der Wahrheit die Ehre: Sie hat auch gar nicht versucht, es zu tun. Ich will damit nicht in eine Diskussion darüber eintreten, ob im Juli 1914 alles nach dem Buchstaben und dem Geist des Vertrages verlaufen ist. So betrachtet, würde das Problem verfälscht. Die italienische Regierung war allenfalls dafür verantwortlich, daß sie glaubte, eine Politik machen zu können, zu der sie gar nicht imstande war; und die deutsche Regierung dafür, daß sie nicht eine Sachlage richtig beurteilt hat, die nicht richtig zu beurteilen wahrhaftig schwer war.

Außenpolitik muß von den Massen gebilligt werden

Der gleiche Fehler in anderer Form ist 1939 gemacht worden — mit dem Unterschied, daß damals die Regierung Mussolini stark genug war oder sich stark genug fühlte, der italienischen Öffentlichkeit einen Krieg plausibel zu machen, den diese ganz gewiß nicht wollte. Die Wirklichkeit erwies sich dann ja auch stärker als ein diktatorisches Regime.

Damit sind wir also wieder bei dem, was ich anfangs sagte: daß es in unserer Zeit und unter den Verhältnissen unseres heutigen politischen Lebens absurd ist zu glauben, es lasse sich eine auswärtige Politik machen, die nicht von der öffentlichen Meinung, wenigstens in ihrer großen Mehrheit, verstanden und gebilligt Man kann sich darin täuschen, solange alles mehr oder minder ruhig ist; aber dann kommt die Stunde der Wahrheit in der Außenpolitik — denn diese Stunde kommt immer — und alles sieht anders aus.

Die deutsche Seite? Ich will mich lieber nicht einlassen auf die gleiche historische und weit rückschauende Analyse des, wenn der Ausdruck erlaubt ist, Nichtverstehens zwischen Italien und Deutschland, von der anderen Seite der Alpen her betrachtet. Ich möchte nur sagen, daß die Vergangenheit (und darunter verstehe ich eine ferne Vergangenheit) bei den Deutschen einen Rest von Mißtrauen gegen die Italiener zurückgelassen hat. Der Ausdruck „deutsche Treue und welsche Tücke" als Gegenüberstellung zweier sich widersprechender Verhaltensweisen datiert sehr weit zurück in der germanischen Überlieferung. Es ist eine Überlieferung, die ein seltsames Korrektiv findet in der uralten Sehnsucht des Deutschen nach dem Süden, nach der Sonne, nach jener wirklichen oder scheinbaren Lebensfreude, die Produkt eines milderen Klimas und einer gnädigeren Natur zu sein scheint. Das ist zweifellos eine Sehnsucht, die viel mehr dem Land als seinen Bewohnern gilt, doch ist beides nie ganz auseinanderzuhalten.

Es gibt keinen italienischen Dichter, der in einem Gegenstück zu „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn" deutsches Land besungen hätte. Hier ist etwas nicht leicht Greifbares, schwer Definierbares, aber es ist da und alles in allem doch etwas Positives, darauf sich aufbauen ließe. Daran dachte ich vor allem als ich sagte, die psychologischen und sonstigen Hindernisse, die wegzuräumen sind, seien vermutlich auf italienischer Seite größer.

Die Rolle der Resistenza

Stimmt es, wenn erklärt wird, die kommunistische Propaganda habe ihr Teil, ihr erhebliches Teil dazu beigetragen, daß das Maß gegenseitigen Verstehens zwischen unseren beiden Ländern nur ein so bescheidenes ist?

Sicher, doch nicht unbedingt.

Ich weiß nicht, ob man sich in Deutschland ganz darüber klar ist, eine wie wichtige Rolle im heutigen italienischen Leben und seiner Vorstellungswelt immer noch der Begriff Resistenza spielt. Resistenza, Widerstand gegen den Faschismus, das hat es in Italien praktisch gegeben, seit der Faschismus besteht. Man braucht nur an die Sezession eines nach Zahl und Bedeutung beträchtlichen Teiles des italienischen Parlaments zu erinnern, die der Matteotti-Mord zur Folge hatte. Aber wenn wir Italiener von Resistenza sprechen, von jenem Widerstand, der auch für die politische Bühne des heutigen Italien noch bezeichnend ist, so denken wir besonders an den Kampf, den nach dem Zusammenbruch des Faschismus das italienische Volk gegen die deutsche Wehrmacht in Italien und gegen die unter deutschem Schutz in Salo etablierte faschistische Regierung geführt hat. Diese Resistenza ist für das heutige Italien ein Ehrentitel: Wäre sie nicht gewesen, dann müßte man sagen, Freiheit und Demokratie wären nach Italien auf den Lastwagen der alliierten Streitkräfte zurückgekehrt. Die Resistenza erst berechtigt uns zu sagen, daß dies neue Italien, das demokratische Italien, vom italienischen Volk geschaffen worden ist — mit Kämpfen, mit Opfern und Blut.

Gegen wen richtete sich der Widerstand? Gegen die Deutschen! Ohne deutsche Unterstützung hätte sich die Regierung von Salö keinen Tag halten können. Und leider sind viele der schmerzhaftesten Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Resistenza mit der Tätigkeit der SS verknüpft. Dieser Hintergrund des revolutionären Volkskampfes gegen die Deutschen verschafft der kommunistischen Propaganda gegen Deutschland, die in Italien nicht stärker ist als anderswo, ein Echo, wie sie es in anderen Ländern nicht hat.

Ich bin nicht sicher, ob auf deutscher Seite die Bedeutung dieses Phänomens unserer neuesten Geschichte ganz verstanden wird. Bestimmt ist von der einen Seite wie von der anderen recht wenig für den Versuch geschehen, es zu erklären und damit fertig zu werden.

Es gab zweierlei Deutschland

Kann man damit fertig werden? Ganz gewiß. Was sich in Italien abgespielt hat, kann und soll man auch nicht zu leugnen versuchen. Betont werden müßte vielmehr, weit stärker als das bisher geschehen ist, daß die SS keineswegs Deutschland war. Daß es noch ein ganz anderes Deutschland gab, das ebenfalls gegen den Nazismus gekämpft und für diesen Kampf einen hohen Blutzoll entrichtet hat.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Die Verschwörung des 20. Juli wird außerhalb Deutschlands in der Regel als so etwas wie eine Reaktion einiger deutscher Offiziere auf die Art hingestellt, in der der „Führer" den Krieg führte und mit dem Ziel, den Zusammenbruch zu vermeiden oder doch abzumildern. Hier haben wir aber meiner Ansicht nach zwei maßgebend wichtige Umstände zu berücksichtigen, die in Italien wenig bekannt sind:

Erstens die breite gesellschaftliche Basis und den Umfang der Verschwörung und die Brutalität ihrer Unterdrückung: In Italien glaubt man an Dutzende von Opfern, während es in Wirklichkeit Tausende waren.

Zweitens und noch wichtiger: Ihr Charakter als Auflehnung des christlichen Gewissens, vor allem in Kreisen des deutschen Adels, gegen das nationalsozialistische Regime — das war Grundidee bei der Verschwörung und wurde auch in den Prozessen deutlich.

Zwei Umstände also, besonders der zweite, die der tragischen Episode ein völlig anderes, aber entscheidendes Gesicht geben, von dem man außerhalb Deutschlands vielfach nichts weiß. Ich gehöre, glaube ich, zu denen, die hinreichend auf dem laufenden sind über das, was in der Welt vorgegangen ist und vorgeht, und doch muß ich gestehen: Das alles war mir, ehe ich nach Deutschland kam und dort lebte, faktisch unbekannt.

Man muß es bekanntmachen, besser als bisher allen bekanntmachen, und besonders den Italienern. Sind so die Dinge einmal zurechtgerückt, dann verlieren die italienische Resistenza und auch deren ganze Romantik den ihnen in Italien heute beigelegten deutschfeindlichen Charakter. Man kämpfte hier gegen den Nazismus, wie man in Deutschland dagegen kämpfte, man starb in Deutschland wie in Italien unter den Foltern, die die gleichen Menschen über die gleichen Menschen verhängten. Es gab zweierlei Deutschland, wie es zweierlei Italien gab.

Wird das Problem in dieser Form gestellt — und das kann um so eher geschehen, als es ja den Tatsachen entspricht —, dann entfällt die von dieser kompakten Mauer geschaffene Erschwerung in den italienisch-deutschen Beziehungen, und statt dessen wird ein neuer Berührungspunkt gewonnen. Man kann dann in Italien weiter von Resistenza sprechen, ohne daß eine deutschfeindliche Kundgebung daraus wird. Die kommunistische Propaganda gegen die Bundesrepublik zwar wird deshalb nicht aufhören, aber ihre Möglichkeit, auf die Italiener zu wirken, wird ungleich geringer sein. Die heikle Periode zwischen 1943 und 1945 wirft beiderseits der Alpen dann keinen Schatten mehr auf die italienisch-deutschen Beziehungen, sondern im Gegenteil, sie schafft verbindende Elemente.

Gegen die nationalistische Geschichtsklitterung

Dieses Problem, auf das ich mit allem Freimut zu sprechen kam, ist wichtig, aber es ist nicht das einzige.

Ich habe vorhin auf die Bedeutung des geschichtlichen Erbes hingewiesen. Seit mehreren Jahren ist eine italienisch-deutsche Gemischte Kommission mit Emst und Eifer am Werk: Sie versucht, aus den Lesebüchern der Elementar-und Mittelschulen, gerade aus ihnen, nach Möglichkeit widersprüchliche Standpunkte auszumerzen; sie versucht, zu einer besser ausgewogenen Einschätzung der beiderseitigen Positionen zu gelangen; sie versucht, aus der Vergangenheit stärker das hervorzuheben, was uns verbindet, als was uns trennt. Das soll keine Verfälschung der Geschichte sein, sondern nur der Versuch, die nationalistische Geschichtsklitterung zu berichtigen, die sich besonders während des vorigen Jahrhunderts in das einschlägige Schrifttum eingeschlichen hat.

Vieles ist auf diesem Gebiet schon geschehen. Vieles bleibt noch zu leisten und muß geleistet werden, denn es ist überaus wichtig. Wir Völker Europas sind durch das Erbe unserer Geschichte — die leider Geschichte von Kriegen aller gegen alle, Geschichte von Haß und Ränkespielen ist — zu schwer belastet, als daß wir uns ihm entziehen könnten.

Nicht nur von Vergangenem ist aber zu sprechen. Der Mangel an Kenntnis und Verstehen zieht sich unglücklicherweise auch bis in die Gegenwart hin. Das Bild, das man sich in Deutschland vom heutigen Italien macht, ist zumindest entstellt, und nicht weniger entstellt ist das Deutschlandbild in Italien.

Wie ernst ist die kommunistische Bedrohung?

In Deutschland herrscht eine gewisse Neigung, Italien als ein Land der Unruhen hinzustellen, eines schwer verständlichen, etwas ungesunden Gärens, und bedroht vom Gespenst des Kommunismus. Wenn das so ist, sind auch wir Italiener daran schuld: Das muß man zugeben. Der politische Kampf in Italien nimmt oft übermäßig polemische Formen an. Kein Wunder: In Italien ist eine ganze Gesellschaftsordnung im Verschwinden, sie ist zu verschwinden nicht gewillt und verteidigt sich. Es ist schwer, in der Defensive beherrscht zu bleiben; noch schwieriger ist Maßhalten in der Offensive. Solche Polemik löst einen noch verschärften und verstärkten Widerhall in der italienischen Presse aus; die deutschen Zeitungskorrespondenten in Rom berichten ihren Blättern von dem Italien, wie es sich in der italienischen Presse darstellt, und diesen deutschen Blättern entnimmt der deutsche Durchschnittsleser sein Urteil über die italienische Situation.

Italien genießt offenbar das nicht eben beneidenswerte Privileg, den stärksten kommunistischen Stimmenanteil, absolut relativ, in ganz Westeuropa zu haben. Man muß aber berücksichtigen, daß es sich dabei nicht um wirkliche kommunistische Wahlstimmen handelt, sondern um eine Protestwahl: Wer kommunistisch wählt, hat oft nicht die blasseste Ahnung davon, was es heißt, Kommunist zu sein. In Wirklichkeit ist die kommunistische Bedrohung in Italien viel weniger ernst, als wir Italiener selbst sagen und glauben. Italien befindet sich in einer Krise, soviel ist gewiß. Wie kommt es wieder heraus?

Die inneren Probleme des Landes sind nicht neu. Fast ein Jahrhundert lang haben die hier einander ablösenden verschiedenen Regierungen und die Vertreter der verschiedenen Regierungssysteme geglaubt, die italienischen Probleme meistern zu können — Probleme, die sich zunächst einmal auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: ein Lebensstandard, der unter dem Niveau der westlichen Welt liegt, der wir zugehören und in der wir leben müssen — bei gleichzeitiger äußerer Expansion. Der Zweite Weltkrieg hat hier ein für allemal Hoffnungen und Illusionen zerstört; wir haben versuchen müssen, mit unseren Problemen unter uns fertig zu werden. Und einmal auf dem Wege dazu, haben wir überraschenderweise entdeckt, daß das möglich war.

Ein Land im Umbruch

Es folgte die stürmischste industrielle Revolution, die es jemals in Italien gab. Diese industrielle Revolution ist das italienische Wunder genannt worden. Doch dieses italienische Wunder bedeutete auch, daß Italien fast unvermittelt vom Vorkapitalismus zum Neokapitalismus übergegangen ist und die Phase des eigentlichen Kapitalismus fast völlig übersprungen hat. Das führte — und anders konnte es gar nicht sein — zur Aufhebung des bestehenden wirtschaftlichen und vor allem sozialen Gleichgewichts. Ein solcher Umschwung indes — für ein reiches Land bedeutet arm zu werden bekanntlich ein sehr ernstes Problem; nicht jederdenkt aber daran, wieviele Probleme und wie ernste sich für ein Land ergeben, das arm gewesen ist und nun beginnt, es etwas weniger zu sein —, solch jäher Umschwung konnte nicht ohne Rückwirkungen, auch politische, bleiben. In gewisser Hinsicht entspricht die politische Frontenbildung noch den Verhältnissen des vorkapitalistischen Italien. Auch sie muß sich anpassen, umbilden, entwickeln, und die Umbildungen auf dem Sektor Politik sind nicht weniger schwierig als die Entwicklungen im sozialen Bereich.

Liegt Italien im Fieber? Wahrscheinlich — aber es ist ein Wachstumsfieber, und über alle gegenwärtigen Schwierigkeiten hinweg ist das Land im Begriff, sich auf einen Ausgleich hin zu entwickeln. Schon kann man sehen, wie die Grundzüge sich abzuzeichnen beginnen.

Nötig ist, daß sich die Deutschen einmal entschlossen von dem Eindruck gewisser italienischer Äußerlichkeiten frei machen und darüber hinaus zu einer profunderen Einsicht in die Verhältnisse gelangen. Wir Italiener müssen ihnen dabei behilflich sein, und das ist nicht immer einfach, weil unsere Fragen klar zu erkennen auch für uns nicht immer einfach ist. Behilflich sein aber können wir nur, wenn sich auf deutscher Seite stärkeres Interesse an einem Kennenlernen zeigt.

Falsche Vorstellungen von Deutschland

Italien seinerseits macht sich von Deutschland eine grundfalsche Vorstellung. Jeder in Italien weiß natürlich von dem Deutschland des Wirtschaftswunders, doch ist man geneigt, hinter dem äußeren Bild von deutschem Wohlstand und wirtschaftlichem Aufblühen ein vorzugsweise konservatives, wo nicht geradezu reaktionäres Deutschland zu suchen. Wenige, ganz wenige sind sich darüber klar, daß Deutschland konservativ nur insofern ist, als Inflation, Nationalsozialismus, Krieg und erste Nachkriegszeit die deutsche Sozialstruktur von Grund auf dermaßen verändert haben, daß es eine Erholungszeit mehr als nötig brauchte. Solch scheinbar konservativer Charakter des deutschen Lebensstils darf aber nicht übersehen lassen, daß Deutschland heute eins der sozial fortschrittlichsten Länder des Westens ist, nicht so sehr und nicht allein in der Sozial-gesetzgebung, sondern weit mehr noch in bezug auf gerechtere Güterverteilung und Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft — der Endzweck, dem diese neue, mehr oder weniger treffend von uns Neokapitalismus genannte Gesellschaftsform zustrebt. Wenige sind sich in Italien bewußt, daß zahlreiche soziale Probleme, die wir laufend anzupacken und zu lösen trachten, in Deutschland schon seit geraumer Zeit gelöst sind. Man kann weder die wachsende Bedeutung der deutschen Sozialdemokratie mit Stillschweigen übergehen noch — und das vor allen Dingen nicht — die tiefgreifende Wandlung, die sich in der deutschen Jugend vollzogen hat. In Italien ist man geneigt, starr auf gewisse Erscheinungen hinzublicken, die geeignet sind, Gespenster von einst wieder auftauchen zu lassen (in welchem Land gäbe es wohl keine!). Man will nicht das neue Deutschland sehen — oder schlimmer noch, es nicht zur Kenntnis nehmen —, das im Begriff ist, seine endgültige Gestalt zu gewinnen.

Die Deutschen, sie auch, müssen uns helfen, das das Deutschland von heute wie von morgen besser und genauer in seiner ganzen Problematik zu begreifen. Und wir Italiener müssen mehr als bisher zeigen, daß wir an den Problemen Deutschlands Anteil nehmen und das wirkliche Deutschland suchen wollen.

Alle müssen zum gegenseitigen Verständnis beitragen

Man mag mir vorhalten, daß ich manches hier unerwähnt gelassen habe, was wesentlich ist: die deutsche Wiedervereinigung, die mögliche Wiedergeburt eines deutschen Nationalismus, Deutschlands Stellung zwischen West und Ost — lauter Dinge, die größten Einfluß darauf haben oder haben könnten, welches Bild sich andere europäische Länder von Deutschland machen.

Das alles sind Fragen, die jedem vollkommen gegenwärtig sind, der in Italien mit Auslands-politik zu tun hat — also nicht wenigen. Vollkommen gegenwärtig sind sie den leider nur kleinen Kreisen, die sich aktiver mit den italienisch-deutschen Beziehungen befassen. Die Mehrzahl der Italiener nimmt aber davon wenig Kenntnis: Fragen des Verhältnisses zwischen Italien und Deutschland werden überlagert von den dringenderen Problemen in nah und fern, beiderseitigen fast, die ich aufzuzeigen suchte. Nur wenn man sie herausschält, kann man eine größere Zahl von Italienern dazu bringen, sie im Geist wahrer Freundschaft zu erkennen und zu verstehen. Ausdrücklich wollte ich das Problem der Massen-beziehungen zwischen unseren beiden Ländern berühren: der Beziehungen, auf die es ankommt und in denen sich das Fehlen eines echten Kontaktes am empfindlichsten bemerkbar macht.

So bleibt Problem Nummer eins dasjenige, das ich eingangs beleuchtete: Wie läßt sich der Abstand, der Mangel an Interesse, der

Mangel an Verständnis zwischen unseren Ländern beheben? Wie fängt man es an?

Die Regierungen müssen helfen. Sie können viel tun, und es sei ruhig zugegeben, daß von der einen Seite wie von der anderen der Bedeutung dieser Dinge keine hinreichende Aufmerksamkeit gewidmet worden ist.

Aber die Regierungen allein genügen nicht. In Italien sowohl als in Deutschland — das mag Erbe unsere geschichtlichen Vergangenheit sein — neigt man gleichermaßen dazu, sich die brennendsten Probleme vom Hals zu schaffen, indem man den Staat bittet, sie zu lösen — einer der vielen Punkte, in denen unsere beiden Länder einander ähnlicher sind, als sie denken. Das ist kein demokratisches Verfahren. In einer echten Demokratie muß das Volk der Regierung sagen, was sie tun soll, nicht umgekehrt.

Ein solcher Antrieb, sich kennenzulernen, sich näherzukommen, sich zu verstehen, muß ein bißchen von uns allen ausgehen, alle müssen wir dazu beitragen, jeder nach seinen Möglichkeiten. Der Mangel an gegenseitigem Kennen und Verstehen ist ein Faktum. Hindernd lastet es beständig auf allem, was wir sonst gemeinsam fördern könnten. Das Bild, das man in Italien von Deutschland hat, hängt davon ab. Erst wenn die eine wie die andere Seite zur Einsicht gelangt, daß das Problem vorhanden und daß es ernst zu nehmen ist, erst dann wird man darangehen können, es zu lösen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Pietro Qu a r oni, Dr. jur., geb. 3. Oktober 1898 in Rom. Von 1920 bis 1964 im italienischen diplomatischen Dienst, u. a. in Istanbul, Moskau und Kabul, 1944 Botschafter in Moskau, 1947 in Paris, 1958 in Bonn, 1961 in London. Seit August 1964 Präsident des Italienischen Rundfunks und Fernsehens. Veröffentlichungen u. a.: Diplomaten unter sich. Erinnerungen eines Botschafters, Frankfurt 1954; Diplomatengepäck, Frankfurt 1956, Die Stunde Europas, Frankfurt 1959; Politische Probleme der Gegenwart, Bonn 1960; Koexistenz zwischen Freiheit und Diktatur, 1961.