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Die Bedeutung der Besatzungszeit 1945 -1949 | APuZ 18/1965 | bpb.de

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APuZ 18/1965 Verlorener Sieg? Das Problem der „Behandlung Deutschlands" Umrisse eines Schlagwortes des Epochenjahres 1945 Die Bedeutung der Besatzungszeit 1945 -1949 Die Entwicklung der deutschen Selbstverwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Bedeutung der Besatzungszeit 1945 -1949

John Gimbel

Alfred Grosser, einer der ersten französischen Kenner des Deutschlands der Nachkriegszeit, schrieb vor kurzem, daß die Besetzung Deutschlands nach dem 8. Mai 1945 ein vierjähriges Intervall zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik war, das „wahrscheinlich mehr dazu beitrug, das Gesicht des heutigen Deutschlands zu formen als die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur oder die vierzehn Jahre der wankenden Weimarer Republik".

Eine solche Behauptung wirft ebenso viele neue Fragen auf, wie sie beantwortet. Warum ist die Besetzung so bedeutsam? Ist sie es, weil sie eine Periode der Reform war? Hat sie eine künstliche Revolution ins Werk gesetzt, wie John D. Montgomery gemeint hat? Hat sie etwa die traditionellen Institutionen, Ideale und Gewohnheiten der deutschen Gesellschaft erneuert und wieder zum Leben erweckt? Oder hat die Besetzung deshalb eine so große Bedeutung, weil sie einen neuen Anfang für Deutschland ermöglicht hat, der weder genau dem entsprach, was die Besatzungsmächte mit ihren Reformen beabsichtigt hatten, noch genau eine Wiederbelebung oder Erneuerung der deutschen Vergangenheit darstellte. Viele amerikanische und deutsche Beobachter stimmen darin überein, daß der 8. Mai 1945 ein Nullpunkt war, daß die Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945 und die vollständige Übernahme der Staatsgewalt durch die Besatzungsmächte Deutschland die Gnade des Nullpunktes gewährt hat. Danach war der 8. Mai 1945 ein Punkt, an dem Deutschland einen neuen Anfang machen konnte, vielleicht indem es den kulturellen, politischen und sozialen Ballast der Vergangenheit abwarf oder vielleicht indem es den Irrtümern der vergangenen zwölf Jahre abschwor und die Ordnung, wie sie vor Hitler bestanden hatte, wiederherstellte. Auf jeden Fall ist das, was in den Jahren der Besetzung geschah, von ungeheurer Bedeutung für das Verständnis des heutigen Deutschlands.

Trotz der offenbar weitverbreiteten Erkenntnis von der Bedeutung der unmittelbaren Nachkriegsjähre für Deutschland, trotz der zahllosen populären und polemischen Bücher über die Besetzung herrscht ein erstaunlicher Mangel an wissenschaftlicher Erforschung und sorgfältiger Analyse der Besatzungszeit selbst. Ein wichtiger Grund dafür ist der geringe zeitliche Abstand. Weder verfügt die Wissenschaft über geeignete Beurteilungsmaßstäbe noch hat sie Zugang zu den Schlüsseldokumenten für die Besatzungszeit. Dieses letztere ist sicherlich ein sehr schwerwiegendes Hindernis. Die Dokumente befinden sich noch immer in Verwahrung ihrer Urheber, nämlich der verschiedenen Regierungen und Behörden, überdies sind sie verstreut zwischen dem amerikanischen Nationalarchiv, der Bundestagsbibliothek in Bonn, den Archiven und Ministerien der einzelnen Bundesländer und den Archiven der britischen und französischen Regierung. Friedrich K. Fromme hat in seinem Aufsatz „Zur inneren Ordnung in den Westlichen Besatzungszonen, 1945— 1949" (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, April 1962) deutlich auf das Fehlen einer wissenschaftlichen Erforschung hingewiesen. Wir wissen wohl, daß die Besetzung wichtig ist, aber mangels einer hinreichenden wissenschaftlichen Literatur über den Gegenstand wissen wir nicht genau, weshalb sie für das heutige Deutschland so große Bedeutung hat.

Das amerikanische Demokratisierungsprogramm

Eine teilweise Antwort auf diese Frage mag der Bericht über Entwicklungen in der amerikanischen Besatzungszone von der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 bis zum 8. Mai 1949, dem Tage, da der Parlamentarische Rat das Grundgesetz beschloß, geben.

Eines der großen, langfristigen Ziele der Amerikaner war es, in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine demokratische Gesellschaft und eine demokratische Regierungsform einzuführen. Die Methoden, die die Amerikaner zur Errichtung der Demokratie anwendeten, waren sowohl negativ wie positiv. Auf der negativen Seite standen Mittel wie Entnazifizierung, Demontage, Entmilitarisierung und Dezentralisierung. Positiv förderten die Amerikaner freie Wahlen, erlaubten die Verabschiedung von Verfassungen, drängten auf die Einführung örtlicher Selbstverwaltung durch Bürgerversammlungen und Forumsdiskussionen usw.

Die Entnazifizierung z. B. würde die Nazis aus dem öffentlichen Leben ausschalten und Platz für eine neue Elite machen. Die Entmilitarisierung würde die Macht der „preußischen" oder militärischen Elite vermindern, die Demontage die der früher herrschenden Wirtschafts-und Finanzkreise. Die Demokratisierung mit ihrem Programm freier Wahlen, von Verfassungen und örtlicher Selbstverwaltung würde die Bildung einer neuen demokratischen Elite erlauben und fördern. Institutioneile Reformen, wie Schulreform, Reform des Beamtentums und Dezentralisierung der Verwaltung, würden die Bedingungen schaffen, unter denen sich die neue demokratische Elite entwickeln und wirken konnte.

Die Amerikaner in Deutschland glaubten, daß das gesamte Demokratisierungsprogramm mit Unterstützung, Anleitung und Hilfe der Militärregierung durchgeführt werden konnte. Darüber hinaus glaubten sie, daß nur ein Minimum direkter Einmischung erforderlich sein würde, einmal abgesehen von dem negativen Programm der Entfernung der Nazis und der Änderung bestimmter Institutionen. Dieser Glaube der Amerikaner beruhte nicht auf einer naiven und eitlen Hoffnung, sondern auf der tiefverwurzelten und allgemein akzeptierten Ansicht, daß die demokratischen Institutionen und die demokratischen Gepflogenheiten Amerikas sich auf natürlichem Wege aus dem Erlebnis der „frontier", der Grenze entwickelt hatten. Als die Besiedlungsgrenze auf dem nordamerikanischen Kontinent sich im 19. Jahrhundert allmählich nach Westen vor-schob, legten die neuen Gemeinwesen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheiten der Vergangenheit ab, um in der neuen Umwelt einen neuen Anfang zu machen, einen Anfang frei von den Torheiten und Fehlern der Vergangenheit. Der amerikanische Grenzer kam vermutlich Rousseaus Ideal des Menschen, der zurück zur Natur gefunden hat, näher als irgend jemand vor ihm. Er hatte das zivilisierte Europa und den amerikanischen Osten hinter sich gelassen und lebte nun in enger Verbindung mit der Natur. Bei der Schaffung einer neuen Gesellschaft im Westen konnte er sich von seinen natürlichen Impulsen leiten lassen. Was diese Leute schufen, waren die Einrichtungen, Ideale und Gepflogenheiten, die die Amerikaner mit dem Begriff Demokratie verbinden.

Die amerikanischen Anstrengungen, Deutschland zu demokratisieren, spiegelten deutlich dieses vorgegebene Bild von den Ursprüngen der amerikanischen Demokratie wider. Entnazifizierung, Demontage, Entmilitarisierung, Bodenreform, Reform des Beamtentums — das negative oder destruktive Programm der Militärregierung — würden einen ähnlichen Effekt haben wie der Entschluß der amerikanischen Pioniere, den Ballast einer alten Kultur abzuwerfen. Das reformierte Beamtentum, die reformierten Schulen, die örtliche Selbstverwaltung mit ihren Bürgerversammlungen und Forumsdiskussionen und die verantwortlichen, verfassungsmäßigen, direkt gewählten örtlichen Verwaltungen und Landesregierungen sind den neuen Einrichtungen verwandt, die amerikanische Pioniere in den Gemeinden der frontier schufen. Die Deutschen, die weder Nazis, Militaristen, Monarchisten oder Anhänger eines autoritären Systems waren, ähnelten den Pionieren, die lieber den natürlichen Antrieben des Menschen folgten, anstatt sich an die Vorschriften künstlich geschaffener Institutionen zu halten oder überkommenen Ideologien anzuhängen. Kurz, die Amerikaner glaubten, daß der demokratische Impuls der Menschennatur angeboren sei und daß es nur erforderlich sei, die richtige Atmosphäre zu schaffen und die bösen Kräfte zu vertreiben oder auszuschalten, damit sich die Demokratie in einem natürlichen Prozeß von selbst entwickele.

Ideal und Realität

Aber das amerikanische Ideal, das sich in dem Ziel und der Eigenart ihres Besatzungsprogramms in Deutschland manifestierte, war schwer in die Praxis umzusetzen. Die Nürnberger Prozesse, die sich auf nach der Tat ge-schaffene Gesetze stützten und nach Prinzipien geführt wurden, auf Grund deren bestimmte Argumente der Verteidigung per definitionem unzulässig waren, schienen den Grundvoraussetzungen der amerikanischen Demokratie zuwiderzulaufen. Viele Amerikaner, darunter der verstorbene Senator Robert A. Taft, übten in diesem Sinne Kritik an den Prozessen. Die Entnazifizierung, die eine Schuld als gegeben voraussetzte, und zwar eine Schuld durch die bloße Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, stand im Widerspruch zur demokratischen Weltanschauung, zu der sich die Amerikaner bekennen. Ihr schematisches und hartes Verfahren stand im krassen Gegensatz zur demokratischen Praxis, an der die Amerikaner festhalten. Die Entnazifizierung stieß deshalb innerhalb der Militärregierung selbst, in der amerikanischen Presse und im amerikanischen Kongreß auf harte Kritik, vor allem in den Jahren 1947 und 1948.

Gravierender noch war der nie so recht ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungene Umstand, daß die Amerikaner zwar freie Wahlen und Verfassungen auf der Landkreis-, Stadt-kreis-, Regierungsbezirks-und Länderebene förderten, die Entscheidungsgewalt aber auf immer höhere politische Ebenen verlagerten. Als die Deutschen immer mehr Freiheit auf den unteren Ebenen erhielten, übertrugen die Amerikaner dem Länderrat der amerikanischen Zone und den Behörden der Bizone Macht und Entscheidungsbefugnis. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Beamte der amerikanischen Militärregierung genau zu dem Zeitpunkt, als die neuen Länderregierungen der amerikanischen Zone im Januar 1947 ihre Arbeit aufnahmen, darauf drängten, daß die Behörden der Bizone mehr Befugnisse erhielten, und für den Vorrang von Entscheidungen des Lähderrates vor denen der einzelnen Länder der amerikanischen Zone eintraten. Nach dem Januar 1947 unterlagen die Handlungen und Weisungen des Länderrates immer noch der Überprüfung und dem Veto des Militär-gouverneurs und die Weisungen und Verordnungen der Bizonen-Behörden der Prüfung und Billigung der Britisch-Amerikanischen Zweimächte-Behörde oder von Britisch-Amerikanischen Zweimächte-Ausschüssen.

Die Frage, wieviel Freiheit und Selbstregierung die freigewählten Landesregierungen der amerikanischen Zone haben sollten, erhob sich gegen Ende des Jahres 1946 während der Wahlen, durch die die neuen Regierungen gebildet werden sollten. Die ungelöste Streitfrage war, ob ein Landtag die Befugnisse haben sollte, eine vom Länderrat beschlossene Maßnahme abzulehnen, oder ob der Länderrat gesetzgeberische Maßnahmen ohne parlamentarische Zustimmung der Länder treffen konnte. Konnte etwa der Bayerische Landtag einen vom Länderrat für die amerikanische Zone beschlossenen Schlüssel zur Verteilung der Butter ablehnen? Konnte Hessen von sich aus ein Neusiedlerprogramm beschließen? Da der Länder-rat sich aus den Ministerpräsidenten zusammensetzte, war die Streitfrage einfach die, ob ein als Länderratsmitglied handelnder Ministerpräsident ohne sein Parlament Beschlüsse mit Gesetzeskraft fassen konnte.

Der Streit endete schließlich in einem entscheidenden Zusammenstoß zwischen dem amerikanischen Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, und den Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone bei einem Treffen in Berlin am Sonntag den 23. Februar 1947. Zwar wurde nach dem Treffen keine Weisung erlassen, aber General Clay ließ keinen Zweifel daran, daß die von der Militärregierung für notwendig erachteten politischen Maßnahmen durch den Länderrat verkündet werden konnten. Nach General Clay hatten die Parlamente sich entweder in das Unvermeidliche zu fügen, trotz der Verfassungen und des dort verankerten Rechts auf Selbstregierung, oder die Militärregierung würde Gesetze auf dem Verordnungswege erlassen. General Clay hoffte, daß sich zwischen Militärregierung, Länderrat und den Landtagen immer eine Übereinstimmung herstellen ließe, aber er machte auch klar, wo die Entscheidungen fallen würden, falls es nicht dazu kam.

Das Ergebnis war, um das hier kurz zusammenzufassen, daß der Länderrat — unter Überwachung durch die Militärregierung — die letzte Entscheidungsgewalt auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet erhielt; die Länder behielten nur die Macht, die nicht vom Länder-rat oder direkt von der Militärregierung ausgeübt wurde. Schließlich gab die amerikanische Militärregierung auch den Länderrat preis, und zwar aus denselben Gründen, aus denen sie zuvor die Befugnisse der Länder eingeschränkt hatte. Nachdem General Clay schon am 3. Februar 1948 den Länderrat aufgefordert hatte, seine Beziehungen zu den Behörden der Bizone in Frankfurt zu überprüfen, erklärte er am 1. Juni 1948 den Ministerpräsidenten, daß er nicht mehr zu den regelmäßigen Zusammenkünften mit dem Länderrat nach Stuttgart kommen würde. Am 19. Juli 1948 wurde das amerikanische Amt, das die Beziehungen zu den Länderregierungen koordinierte, aufgelöst, wodurch die direkte Verbindung zwischen Länderrat und der Militärregierung unterbrochen wurde. Der Grund für die Abwendung vom Länderrat war der Wunsch, die Behörden der Bizone zu stärken und der nach dem Fehlschlag der Londoner Außenministerkonferenz im Dezember 1947 gefaßte Entschluß der alliierten Regierungen, eine westdeutsche Regierung zu bilden. Das Zögern der deutschen Ministerpräsidenten, die Londoner Vereinbarungen zu akzeptieren, hätte die Amerikaner nicht in dem Maße überraschen sollen, als das der Fall war. Die Koblenzer Resolution vom 8. — 10. Juli 1948, in denen die deutschen Ministerpräsidenten ihre Abneigung andeuteten, eine westdeutsche Regierung unter den Bedingungen der Londoner Vereinbarungen zu bilden, riefen allerlei ärgerliche Reaktionen auf Seiten der Amerikaner hervor. In einer Reihe von Zusammenkünften auf verschiedenen Ebenen drängte die amerikanische Militärregierung auf die Bildung einer westdeutschen Regierung, ein Drängen, das die Erinnerung an ähnliche Pressionen mit dem Ziel der Zentralisierung in den Jahren 1946 und 1947 auf der unteren Ebene wachruft. Die Amerikaner argumentierten, daß die Bildung einer neuen Regierung größere Freiheit und Selbstregierung für die Westdeutschen im Gefolge haben würde. Aber im Besatzungsstatut, das gleichzeitig mit der neuen Verfassung erlassen werden sollte, behielten sich die Alliierten bestimmte direkte Vollmachten und umfassende Rechte zur Überprüfung der Handlungen der neuen Regierung vor.

Priorität der wirtschaftlichen Wiedergesundung

Eine Untersuchung der Praktiken der amerikanischen Militärregierung im Hinblick auf die Verlagerung der deutschen Befugnisse von der unteren Ebene auf die Länder, von diesen auf den Länderrat der amerikanischen Zone, dann auf die Bizonen-Behörden und den Wirtschaftsrat und schließlich auf die Bundesrepublik — immer weg von den politischen Einheiten mit den Einrichtungen und dem Apparat für demokratische Selbstverwaltung auf eine Ebene, wo die Amerikaner und ihre Alliierten ihre Überwachung und Beaufsichtigung fortsetzten — zeigt, daß es in den Augen der Amerikaner etwas gab, was ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger war als die Demokratisierung. In den Handlungen der Amerikaner wird von Anfang an das Verlangen nach einer lebensfähigen deutschen Wirtschaft sichtbar. Diese Lebensfähigkeit hatte einen umfassenden wirtschaftlichen Aufbau nach dem 8. Mai 1945 zur Voraussetzung. In welchem Maße die Wirtschaft den Vorrang hatte, zeigt sich in der Preisgabe des Morgenthau-Plans, noch bevor er in die Tat umgesetzt wurde. Es wird auch deutlich in den Büchern von General Clay „Entscheidung in Deutschland" und von Robert Murphy „Diplomat among Warriors". Ganz klar wird es in der Deutung, die die Militärregierung dem Potsdamer Abkommen gab, nämlich der eines Ersatzes für den Morgenthau-Plan in bestimmten entscheidenden Punkten. Robert Murphy behauptet, daß Morgenthaus Rücktritt, fünf Tage bevor Präsident Truman aus den Vereinigten Staaten nach Potsdam abreiste, auf die Verwerfung seines Planes zurückzuführen ist. Nach Clay ließ das

Potsdamer Abkommen breiten Spielraum in finanziellen Angelegenheiten und eine ausreichende Produktion zu, um eine lebensfähige Wirtschaft zu entwickeln und das Existenzminimum ohne Hilfe von außen zu gewährleisten. Dies diente der Militärregierung als Argument für ihr Drängen nach deutschen Zentralbehörden.

Damit die Deutschen sich selbst erhalten könnten, versuchte die amerikanische Militärregierung zunächst im Alliierten Kontrollrat die Bildung deutscher Zentralverwaltungen für Finanzen, Verkehr, Nachrichtenwesen, Außenhandel und Industrie zu erreichen. Als sich das wegen des französischen Vetos im Kontrollrat als unmöglich erwies, riefen die Amerikaner im Oktober 1945 in Stuttgart den Länderrat ihrer Zone ins Leben. Es ist bezeichnend, daß Amerikaner, die sich für den Länderrat einsetzten, fast ausschließlich von seinen wirtschaftlichen Zielen und Aufgaben sprachen. Aber der Länderrat war nicht nur ein Ersatz für deutsche Zentralbehörden. Anscheinend hofften die Amerikaner, er könne dazu dienen, die wirtschaftliche Einheit mittels deutscher Initiative anstatt durch Weisungen des Kontrollrats herbeizuführen. Besonders lehrreich in dieser Hinsicht ist, daß die Amerikaner Zusammenkünften von Vertretern aus allen vier Zonen jede Unterstützung liehen. Das erste derartige Treffen fand am 6. Februar 1946 in Stuttgart statt. Die beiden nächsten waren am 26. /27. Februar 1946 in Frankfurt und am 28. Februar 1946 in Bremen. Das Scheitern dieser Ansätze deutete sich am 4. /5. Oktober 1946 in Bremen an, als die Vertreter der französischen und sowjetischen Zone nicht erschie-nen. Der endgültige Fehlschlag kam im Juni 1947, als die Ministerpräsidenten der Sowjetzone die Konferenz der Ministerpräsidenten in München verließen, bevor sie noch begonnen hatte.

Als die Versuche, durch den Kontrollrat oder durch die Deutschen selbst zentrale Verwaltungsbehörden oder die wirtschaftliche Einheit zu schaffen, nicht den gewünschten Erfolg zeitigten, betrieben die Amerikaner die Alternativlösung eines Zweizonenzusammenschlusses, offenbar in der Hoffnung, daß sie schließlich in die wirtschaftliche Einheit Deutschlands münden werde. Außenminister Byrnes lud alle Zonen ein, sich anzuschließen, aber nur die Briten waren dazu bereit. Als die Bizone nicht zur Wirtschaftseinheit führte, war es nur logisch, daß die Amerikaner nun die Bildung eines westdeutschen Staates vorantrieben, nicht zuletzt in der Hoffnung, er würde schließlich durch größere politische Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstand seine Anziehungskraft auf die anderen Zonen nicht verfehlen. Frankreich biß aus verschiedenen Gründen auf diesen Köder an, die Sowjetunion weigerte sich.

Natürlich liefen die drei Versuche, eine wirtschaftliche Einheit zu schaffen — via Kontrollrat, Länderrat und Bizonenbehörden — nicht völlig getrennt voneinander und folgten auch nicht ebenso logisch genau aufeinander. Nichtsdestoweniger scheint das vorliegende Material darauf hinzudeuten, daß die Amerikaner die Aktionen in etwa der genannten Reihenfolge unternahmen, wenn sie sich auch in gewisser Weise überschnitten.

Abkehr vom revolutionären Programm

Der wirtschaftliche Wiederaufbau, den die amerikanische Militärregierung anstrebte, gewann eine derartige Priorität, daß eben die demokratischen Institutionen, die sie ins Leben gerufen hatte, in ihrer Tätigkeit beschränkt wurden durch die Forderung, daß die Zentralbehörden (zuerst der Länderrat, dann die Bizonenbehörden und schließlich der Wirtschaftsrat) das entscheidende Wort bei jedem Interessenkonflikt mit den Ländern hätten. Die Dezentralisierung wurde dem wirtschaftlichen Wiederaufbau zum Opfer gebracht. überdies wurde 1946 und 1947 die Entnazifizierung modifiziert und 1948 ganz fallengelassen, gegen den Rat der deutschen Entnazifizierungsbehörden. Die Erklärung der amerikanischen Militärregierung für diese Preisgabe war klar und eindeutig: wirtschaftliche Erfordernisse und die Vermehrung der Produktion erforderten eine schnelle Beendigung der Entnazifizierung. Das grundlegende negative Programm, das die Amerikaner ursprünglich als Mittel gerechtfertigt hatten, um der Demokratie den Weg zu ebnen, war damit geopfert, zu einer Zeit, als nach Auskunft der Entnazifizierungsbehörden viele der schwerwiegenden Fälle noch nicht vor den Spruch-kammern verhandelt worden waren. In demselben Maße ließ das amerikanische Interesse an institutioneilen Reformen, wie Schulreform, Beamtenreform, immer weiter nach.

Aus all dem können eine Reihe von Schlußfolgerungen gezogen werden. Erstens: hinsichtlich ihrer Wirkung auf Deutschland war die Besetzung zweifellos ein Interregnum, ein Zwischenspiel, eben ein Nullpunkt. Zweitens: das Schwergewicht der amerikanischen Politik verlagerte sich von anfänglich negativen und destruktiven Plänen späterhin auf positive und konstruktive Pläne. Drittens: die Amerikaner verfolgten mehrere, in gewisser Weise unvereinbare Pläne zu gleicher Zeit. Wie man die Bedeutung dieser Schlußfolgerungen über die Besatzungszeit für das heutige Deutschland einschätzt, hängt teilweise davon ab, wie man die verschiedenen Aspekte oder Phasen des Nullpunkts für Deutschland bewertet. Wenn man die Besetzung als eine Periode ansieht, in der die Alliierten die Überreste des Nationalsozialismus und die Gesellschaft, die seinen Aufstieg ermöglicht hatte, zerstören wollten, wird man dazu neigen, die Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Demontage und Dezentralisierung hervorzuheben. Die allmähliche Verlagerung der alliierten Politik von der strikten Verfolgung dieser Pläne zur schließlichen Aufgabe der Entnazifizierung, zum MarshallPlan, zur Dezentralisierung und — viel später — zur Förderung der deutschen Wieder-bewaffnung deutet auf eine Abkehr von dem revolutionären Programm der Anfänge der Besatzung hin. Der 1, Juli 1948, der Tag, an dem die drei westlichen Militärgouverneure den westdeutschen Ministerpräsidenten die Bildung einer westdeutschen Regierung in Aussicht stellten, entspricht dem Thermidor in der Französischen Revolution, Er symbolisiert die Entscheidung, Deutschland zu restaurieren anstatt es zu revolutionieren. Diese Interpretation hat zwar Anhänger, aber sie scheint im Moment von allen denkbaren Auffassungen am wenigsten Zustimmung zu finden. Dies mag dem Umstand zuzuschreiben sein, daß die Theorie von der Restauration dadurch an Glaubwürdigkeit verliert, daß sie zur zentralen Propagandathese des Ostens geworden ist.

Zu behaupten, der 1. Juli 1948 sei der Beginn einer Restauration, heißt auch indirekt der Anklage beipflichten, Westdeutschland sei ein remilitarisiertes, neofaschistisches, nicht gewandeltes Deutschland, das nichts hinzugelemt und nichts vergessen hat. Auf diese Weise hat die kommunistische Propaganda nicht nur eine direkte, sondern auch eine indirekte Wirkung. Die direkte Wirkung ist das Ergebnis der ständigen Anklagen, Deutschland sei neofaschistisch, revanchistisch und dergleichen. Die indirekte Wirkung äußert sich in dem offensichtlichen Widerstreben bei Gelehrten und Publizisten, ernsthaft die Möglichkeit zu erwägen, daß der 1. Juli 1948 eine Restauration darstellt, und sich ernsthaft mit der Bedeutung und Analyse dieser Restauration zu befassen. Eine gründliche Untersuchung könnte beispielsweise zu dem Ergebnis führen, daß die Restauration als stabilisierender Faktor notwendig war. Sie könnte erweisen, daß es nicht zwangsläufig zum Aufstieg Hitlers gekommen wäre, wenn die Weimarer Republik jemals eine ähnliche Chance gehabt hätte. Solche Untersuchungen kann es jedoch schwerlich geben, wenn die Restaurations-Theorie von vornherein ein negatives Vorzeichen erhält oder ihr sogar ein Geruch von Verrat anhaftet.

Besetzung als Zwischenspiel auf dem Wege zur Selbstregierung

Wenn man die Besetzung aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und sie für eine Periode hält, in der die Militärregierung eine friedliche, künstliche Revolution heraufzuführen versuchte, verlieren die negativen Programme der Entnazifizierung, Demontage usw.den Charakter unabdingbarer Forderungen und werden statt dessen zu einer notwendigen Phase, die durchschritten werden mußte, bevor das langfristige Ziel der Demokratisierung direkt angesteuert werden konnte. Die negativen Programme waren unentbehrlich, aber sie dienten nur dazu, den Weg für das wahre Ziel der Besetzung zu bahnen. Sie waren nur Mittel zum Zweck. Nachdem sie einmal in die Tat umgesetzt waren — selbst wenn ihnen dabei nur mäßiger Erfolg beschieden gewesen sein sollte —, konnte Deutschland wieder seinen Platz in der europäischen Völkergemeinschaft einnehmen. Wenn gerade einige der einschneidenden Programme der Besetzung auch nicht für die Dauer bestimmt waren, reichte ihr Einfluß doch in die Zukunft. Der 1. Juli 1948 ist also nicht ein Thermidor, sondern das logische Ende eines Prozesses, zu dessen Verlauf die Deutschen stufenweise zur Selbstregierung kamen, und zwar von unten her.

Aus einer noch umfassenderen Sicht, in der Deutschlands wirtschaftliche Hilfsquellen, seine technischen Fähigkeiten und seine geographische Lage es zu einem integrierenden Bestandteil eines friedlichen politischen und wirtschaftlichen Gleichgewichts in Europa machen, das Hitler zerstört hatte, erscheint die Besetzung als ein bloßes Interregnum. Die Zeitspanne vom 8. Mai 1945 bis zum 1. Juli 1948 ist danach eine Phase, die unter dem Zeichen des Hungers, des Chaos, der Unschlüssigkeit und des Herumexperimentierens steht und das allgemeine Versagen der amerikanischen Politiker erweist, die wahre Bestimmung Europas in der Nachkriegswelt richtig einzuschätzen. Zu dieser Sicht der Besetzung gehört bei manchen Beobachtern der Gedanke, daß die Amerikaner in diesem Zeitraum die wahren Absichten des internationalen Kommunismus durchschauten, überdies ist es eine Zeit, in der die Amerikaner erkannten, daß einige ihrer eigenen politischen Berater der kommunistischen Verschwörung, die Deutschland und Europa in ihre Gewalt bringen wollte, in die Hände arbeiteten. Nach dieser Auffassung ist der 1. Juli 1948 nicht ein Thermidor, sondern die Anerkennung der wahren Bestimmung Deutschlands in Europa, nach dem unglückseligen Zwischenspiel der Frühzeit der Besetzung, in der Kommunisten und Linksgerichtete den Ton angaben.

Die beiden letzteren Interpretationen scheinen einander zu ergänzen und stellen in dieser Form oder in Abwandlungen die gegenwärtig vorherrschende Ansicht von der Besatzungszeit dar. Amerikaner neigen dieser Deutung zu. Sie bagatellisiert nicht nur die Rolle der anfänglichen „Bestrafungs" -Programme, indem sie sie entweder als Mittel zum Zweck ansieht oder als Irrtümer, für die gewisse politische Berater verantwortlich waren, die unsinniger-weise an die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion glaubten oder mit dem Makel kommunistischer Neigungen behaftet waren. Sie liefert auch die historische Begründung für die gegenwärtigen amerikanischen Bindungen an Deutschland und die Atlantische Gemeinschaft, indem sie die deutsch-amerikanische Freundschaft der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre als eine logische Entwicklung erscheinen läßt. Logisch, entweder weil die Amerikaner künstlich eine friedliche Revolution herbeigeführt hatten, um Deutschland wieder in die Gemeinschaft der Nationen zurückzuführen, oder weil Deutschland seinen traditionellen Platz im europäischen wirtschaftlichen und politischen Gleichgewicht wiedereingenommen hat. Schließlich ist diese Deutung geeignet, Verstöße gegen die demokratische Theorie und Praxis wie die Entnazifizierung und die Nürnberger Prozesse vergessen zu lassen. Sie wären dann wiederum nur Mittel zum Zweck gewesen, weil es verfehlte Unternehmungen nicht vertrauenswürdiger politischer Berater waren oder auf die erhitzten Leidenschaften der Kriegszeit zurückgingen.

Auch Deutsche finden die vorherrschende Interpretation der Besatzungszeit durchaus akzeptabel. Sie rechtfertigt indirekt die deutsche Kritik an der Entnazifizierung, der Demontage, dem Gedanken der Kollektivschuld und der Umerziehung. Das alles waren verfehlte Experimente, die die Amerikaner selbst gern vergessen möchten. Zumindest waren es unerwünschte Mittel zu einem erwünschten Zweck.

Die frühzeitig einsetzende deutsche Kritik war also prinzipieller Natur und nicht das Ergebnis eines fortbestehenden Einflusses des Nationalsozialismus oder der Gesellschaft, die das Aufkommen des Nationalsozialismus ermöglicht hatte.

Die Deutung der Besatzungszeit als einer künstlich herbeigeführten Revolution oder einer Periode, in der die Amerikaner die wahre Bestimmung Deutschlands in Europa erkannten, wird in einem erheblichen Teil der gegenwärtig vorliegenden Literatur vertreten. Die weithin akzeptierte Kernstaatstheorie, die die fortdauernde Souveränität Deutschlands betont, läßt die Besatzungszeit zu einem Interregnum werden, während dessen die alliierten Mächte die oberste Gewalt in Deutschland innehatten, nicht auf Grund legaler Übernahme der Souveränität am 5. Juni 1945, sondern kraft militärischer Eroberung. Neuere Untersuchungen der Entstehung der Bundesrepublik, vor allem die von John Golay (The Founding of the Federal Republic of Germany, 1958) und Peter Merkl (deutsch: Die Enstehung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1965), sehen die Quellen des Grundgesetzes in erster Linie in früheren deutschen Verfassungen und nicht in Vorschriften und Anordnungen der Alliierten. Somit bezeichnet die Annahme des Grundgesetzes die Wiederaufnahme der deutschen Tradition nach einem Zwischenspiel des Chaos, des Hungers, der Unschlüssigkeit und des Experimentierens, wie sie charakteristisch für militärische Okkupationen sind.

Fussnoten

Weitere Inhalte

John Gimbel, Ph. D., ao. Professor für Geschichte, Humboldt State College, Arcata, California. Veröffentlichungen u. a.: A German Community under American Occupation, Marburg 1945— 1952, Stanford 1961 (deutsch: Eine deutsche Stadt unter amerikanischer Besatzung, Marburg 1945 bis 1952, Köln 1964).