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Zum 1. April 1815— 1965 Bismarck -gestern und heute | APuZ 13/1965 | bpb.de

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APuZ 13/1965 Zum 1. April 1815— 1965 Bismarck -gestern und heute

Zum 1. April 1815— 1965 Bismarck -gestern und heute

Theodor Schieder

Das Bismarck-Problem

Als vor 50 Jahren nach dem ersten Winter des Ersten Weltkrieges sich der Geburtstag Otto von Bismarcks zum hundertsten Male jährte, leitete der deutsche Historiker Erich Marcks sein Lebensbild des Reichskanzlers mit den Sätzen ein: „Deutschland will heute von Bismarck hören: heute, inmitten seines ungeheuren Daseinskampfes und zu Bismarcks Feiertage, mehr den je; und wer ihm von Bismarck zu reden hat, der soll es tun." Man kann unterstellen, daß der 150. Geburtstag in gedämpfterer Stimmung begangen werden und daß sogar die Frage laut werden wird, was von diesem Tage und von einem Manne als erinnerungswürdig gelten kann, dessen Werk — die nationalstaatliche Einheit Deutschlands — im Jahre 1918/19 schwer angeschlagen worden und 1945 zerbrochen ist. Aber ebenso sicher ist, daß das Riesenmaß des Staatsmanns, der einer der wenigen Männer unserer Geschichte ist, die diesen Namen verdienen, gerade heute meßbar geworden ist, ja daß selbst die Deutung des Unheils, das dem deutschen Volk durch eigene Hand und die Hand anderer widerfahren ist, von dem großen Manne nicht loskommen wird. Entweder gilt er als der Wegbereiter, der mindestens die Weichen zu einem unabsehbaren Verhängnis gestellt hat, oder als die große Alternative zu all denen, die das Verhängnis heraufgeführt haben: zu den Epigonen nach 1890, die das Erbe verwirtschafteten und vom geraden Pfade der außenpolitischen Vernunft abwichen; zu den maßlosen Erben der späteren Zeit, die kaum mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Sturze des Reichs-gründers seine politische Schöpfung zerstört hatten. Gewiß ist die Rückkehr zu Bismarcks innen-und außenpolitischem System keine Möglichkeit mehr, wie sie an seinem hundertsten Geburtstag noch seine Freunde erhofften und seine Gegner befürchteten, und gewiß ist die Welt seither, seit der Oktoberrevolution von 1917, seit Auschwitz und Hiroshima, seit der totalen Kapitulation von 1945, in Dimensionen hineingewachsen, die kaum mehr mit den Normen verglichen werden können, wie sie durch Königgrätz und Sedan, aber auch durch Sozialistengesetz und Kulturkampf gesetzt wurden. Aber trotzdem ist da, wo das Haus eingestürzt ist und die Fluten darüber hinweggehen, das geschichtliche Fundament stehen geblieben, und wir können uns und unser Schicksal in dieser Zeit nur verstehen, wenn wir dieses Fundament unter dem reißenden Strom noch erkennen. Es ragt mit einzelnen Stücken noch aus dem Strom heraus, aber auch da, wo es sich dem unmittelbaren Blick entzieht, ist es in der Tiefe noch vorhanden und läßt auf hartes Gestein schließen.

Damit sei nur festgestellt, daß Bismarck eine geschichtliche Macht ist, der sich niemand entziehen kann, auch wenn er ihm feindlich begegnet. Es mag sich wohl manchmal der Ausweg zu eröffnen scheinen, sich Bismarck als der großen Persönlichkeit, als dem Künstler der Politik, des Wortes und der Sprache mit seiner ungeheuren ästhetischen Anziehungskraft zu nähern und gleichzeitig über den Inhalt seiner Politik den Stab zu brechen; aber eine Heldenverehrung dieser Art wäre keine angemessene historische Deutung für eine Persönlichkeit, die so gewaltig in unsere nationale Substanz eingegriffen hat, und der wir daher nicht in solcher Distanz gegenübertreten können. Es ist vielmehr der Weg zu verfolgen, auf dem die große Persönlichkeit zum „weltgeschichtlichen Individuum" im Hegelschen Sinne geworden ist und alles Zufällige abgestreift hat. Dieser Prozeß, in dessen Verlauf die Person Bismarck mit ihrem Werk, dem Deutschen Reich von 1871, auf merkwürdige Weise zusammengewachsen ist, war kein einfacher und auch keineswegs selbstverständlicher, im Grunde ist er bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen worden. Das Zusammenwachsen geschah von zwei Seiten her: der deutsche Nationalstaat und die deutsche Nation nahmen Bismarckische Züge an und umgekehrt wirkten der Nationalstaat und das politische Bewußtsein, das sich in ihm ausbildete, auf Bismarck zurück. Der klassenbewußte preußische Junker, den zu Beginn seiner Laufbahn viele Vorurteile seines Standes beherrschten, wurde zum Nationalpolitiker im Sinne des 19. Jahrhunderts und schließlich zum Beweger der Geschichte des ganzen Kontinents, dessen Grundformen als „Mächte-Europa" er mit Virtuosität handhabte und weiterentwickelte. Und doch gehörte es zu diesem Wachstum, daß es sich nicht bruchlos und harmonisch vollzog, sondern in jeder Phase in gespanntester Erregung und in unablässiger Auseinandersetzung mit anderen Kräften und Positionen, die oft das Recht und die Tradition, in den späteren Phasen auch die Wahrheit der Zukunft für sich hatten. Bismarck war zugleich ein großer Revolutionär und ein großer Konservativer, und vielleicht kann er das später arg mißbrauchte Wort von der konservativen Revolution für sich in Anspruch nehmen und auch mit der Bedenklichkeit, die es als Widerspruch in sich besitzt. Es war unzweifelhaft ihm zuzuschreiben, daß das monarchisch-aristokratische System in Preußen mit seinen militärischen und bürokratischen Bestandteilen mehr als ein halbes Jahrhundert erhalten wurde und sich sogar eine Vormachtstellung im kleindeutschen Nationalstaat sichern konnte. Ja selbst die Bewahrung der Gleichgewichtsordnung des europäischen Staatensystems und damit des Friedens für eine ganze Reihe von Jahrzehnten wird man als Bismarcks Verdienst bezeichnen dürfen. Aber für den großen Bewahrer gilt doch auch, daß es keine Phase seiner Entwicklung und der Entstehung seines Werkes gibt, in der er nicht auch als großer Zerstörer aufgetreten ist und die Zahl der im Triumphzug mitgeführten Geschlagenen und Getäuschten sich nicht dauernd vermehrt hat: das beginnt im Grunde schon bei den konservativen Parteifreunden, die ihn im Jahre 1851 als einen der ihrigen in die diplomatische Laufbahn brachten, und setzt sich fort mit den Liberalen im preußischen Abgeordnetenhaus, die er provozierte, um die er warb und die er schließlich überspielte. Es erreichte einen ersten Gipfelpunkt in der Politik gegenüber Österreich zwischen 1864 und 1866, das Bismarck in den dänischen Krieg wie in eine Falle mit hineinriß und es dann aus den Herzogtümern im Norden und aus der deutschen Politik überhaupt ausschaltete. Nicht anders schien Bismarck es mit Napoleon III. zu machen, der das politische Spiel mit ihm im Jahre 1866 und vier Jahre später bei Sedan die Herrschaft verlor. Im Jahre des preußisch-österreichischen Krieges nach dem Siege von Königgrätz hat der große Konservative unbedenklich Throne gestürzt und Dynastien vertrieben. Nach der Reichsgründung folgen die Schläge gegen das Zentrum, die sozialistische Arbeiterbewegung und die Nationalliberale Partei, die höchstens noch zu Pyrrhussiegen führten, aber die Zahl der Widersacher im Innern erneut steigerten, während Ansehen und Autorität nach außen fast ins Ungemessene wuchsen und es hier mit persönlichen oder prinzipiellen Gegnern wie dem Russen Gortschakow und dem Engländer Gladstone niemals mehr zu einer anderen als mit diplomatischen Waffen geführten Auseinandersetzung kam. Den letzten Gegner, den jungen Kaiser, vermag Bismarck nicht mehr zu besiegen; aber er unterliegt ihm nicht, weil Wilhelm II. ihm eine überlegene Kraft entgegensetzt, sondern weil er der Träder der höchsten Würde der Monarchie ist, die der Reichskanzler auf ihre letzte Höhe geführt hatte und vor deren Zerstörung er zurückschreckte. Wenn man von der Identität spricht, die Bismarcks gewaltige Persönlichkeit mit einer weltgeschichtlichen Aufgabe und einem staatsmännischen Werk hergestellt hat, dann kann man nicht daran vorbeisehen, daß es eine Identität ist, die im Kampfe geschaffen wurde und überall die Spuren des Kampfes trägt.

Das bedeutet, daß der nationale Staat der Deutschen, den Bismarck mit der Einschränkung auf ein Kleindeutschland geschaffen hat, nicht die harmonischen Züge der Versöhnung trägt, die die nationalen Idealisten von ihm erwartet hatten, sondern daß zunächst alle nationalen Klüfte einer jahrhundertealten Geschichte in ihm offen blieben und neue sich auftaten, und daß sie oft durch die höchst streitbare und reizbare Natur des Reichsgründers wieder aufgerissen wurden. Die nationalstaatliche Synthese, die Bismarck schuf, stand nicht eigentlich im Zeichen der Selbstbestimmung der Nation, sondern der Selbstverwirklichung des Staates, bei dessen Begründung leidenschaftlicher Machtwillen und zugleich kühle Machträson zusammenwirkten — eine Verbindung, die im Bewußtsein der bürgerlichen nationalen Bewegung sonst kaum irgendwo existent war. Sie war in der eigentümlichen Luft großstaatlicher Politik gewachsen, die ihre Gesetze schon in den vorausgehenden Jahrhunderten, vor allem im achtzehnten, ausgebildet hatte, und sie ragte doch ins 20. Jahrhundert mit ihrem Versuch hinüber, die aufkommenden Massenbewegungen und ihre nationalen und sozialen Ideologien zu bändigen, indem sie mit den Erfordernissen der Staatsräson in Einklang gebracht werden sollten. Dem entsprach eine ebenso eigentümliche Verbindung zwischen Vergangenheitselementen und Zukunftskräften, indem Bismarck die Machtstellung der Monarchie und der hinter ihr stehenden aristokratischen Schichten befestigte und doch gleichzeitig die politischen Energien der modernen gesellschaftlichen Schichten durch das allgemeine Wahlrecht freisetzte, ohne ihnen allerdings einen entsprechenden parlamentarischen Einfluß zu gewähren. Der Mann, der die Fragwürdigkeit staatlicher Existenz und politischen Handelns vom Standpunkt seines christlichen Glaubens mit bewegten Worten zu erfassen vermochte, schien zuweilen der Versuchung zu erliegen, die Allmacht des Staates auch gegen die Kirchen mit allen, auch höchst gewalttätigen Mitteln durchzusetzen. Der rigorose Bekämpfer des proletarischen Sozialismus als des Verkünders eines „Evangeliums der Negation" begriff weit früher und weit entschiedener als viele seiner bürgerlichen Kritiker die Notwendigkeit, daß der Staat in der Arbeiterfrage intervenieren müsse und scheute nicht vor Wort und Begriff des „Staatssozialismus" zurück. Und schließlich noch im Persönlichen die Doppeldeutigkeit eines Charakters, der höchste Zartheit der Empfindung, wie er sie namentlich in den Briefen an Braut und Gattin ausdrückte, mit elementaren Haßgefühlen und der Fähigkeit, sich überall einen Feind vorzustellen, verband.

Unaufhebbare Widersprüchlichkeiten, wohin man blickt, und doch im ganzen die phänomenale Geschlossenheit einer auf den konkreten Moment, das jeweilige Ziel eingeschworenen Tatnatur, die unerschöpflich ist im Durchdenken der Tatmöglichkeiten und mit steigendem Alter zuweilen auch von des Gedankens Blässe angekränkelt sein kann, wenn es darum geht, politische Lagen in immer höherem Abstraktionsgrad zu erfassen.

Es ist kaum verwunderlich, daß es bisher eigentlich noch niemand ganz gelungen ist, die Höhen und die Tiefen dieses unauslotbaren Charakters in einer Gesamtdeutung der Persönlichkeit und zugleich des Werkes zu erfassen. Das Bild, das sich die Welt, insbesondere die Deutschen von Bismarck machten und machen, ist vielmehr in ständiger Bewegung und Verwandlung gewesen und in ihm kommen nacheinander alle Elemente zum Vorschein, die zusammen das Wesen Bismarcks ausmachen. Erst bei ihrer genauen Kenntnis werden wir imstande sein, unsere Schlüsse zu ziehen und das Bismarck-Bild von heute zu umreißen.

Schwankungen der Bismarck-Bilder

Es gibt Meinungen und Urteile über Bismarck aus den Jahren seiner Abgeordnetentätigkeit und seiner diplomatischen Rollen als preußischer Gesandter in Frankfurt, Petersburg und Paris, aber es gibt noch keine Auseinandersetzung mit ihm in der breiten Öffentlichkeit. Immerhin beginnt in der brieflichen Diskussion mit dem konservativen Partei-freunde Leopold von Gerlach ein erstes grundsätzliches Problem der bis heute andauernden Bismarck-Interpretation sichtbar zu werden: Gerlach will den Freund auf der Linie des dogmatischen Kampfes gegen die Revolution in jeder Gestalt fest-und von einer Annäherung Preußens an das revolutionäre Frankreich Napoleons III. zurückhalten, aber Bismarck stellt sich mit schneidender Schärfe auf den Standpunkt der reinen staatlichen Interessenpolitik. Ist es grundsatz-loser Opportunismus, der sich hier zu Worte meldet, oder appelliert der junge Diplomat Bismarck an ein höheres Gesetz der Staaten-politik, das er nur von ideologischen Verbrämungen befreit? Ist dieses Gesetz der Staatsräson nicht selbst ein Element konservativer Politik, soweit sich diese die Erhaltung von Staatsmacht gegen äußere Feinde zum Ziele setzt und den Primat der äußeren Politik fordert?

Die Frage nach den Grundsätzen oder der Grundsatzlosigkeit der Bismarckschen Politik wird dann zum erstenmal in breiterer Offentlichkeit aufgerollt, als der 47jährige zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt worden war und vor den von der liberalen Fortschrittspartei beherrschten Landtag mit einer Mischung von Lockung und zynischer Verachtung tritt. Er gilt jetzt nicht nur als der Feind der bürgerlichen Freiheit und voreingenommene Junker, sondern vor allem als der gewissenlose Spieler, der „mit ungeniertester Frivolität" vorgeht und das große Verhängnis der preußischen und deutschen Politik heraufzuführen droht, wenn sich nicht die fast allgemeine Hoffnung auf seinen baldigen Sturz erfüllen sollte. Dieser Bismarck seiner ersten Jahre politischer Führung erweckte bei vielen — nicht nur bei Liberalen, auch bei konservativen Freunden wie Gerlach — den Eindruck eines Politikers ohne jede festen Grundsätze, einzig bestrebt, sich von einem Tag zum andern an der Macht zu halten. Sein Abwarten der Chance, den inneren Konflikt mit dem Parlament durch eine kühne auswärtige Politik zu überwinden, wurde von kaum jemand durchschaut, und man wird sagen dürfen, daß auch damit ein bleibendes Motiv der Bismarck-Diskussion angeschlagen wird. Es enthält gar nicht mehr die Frage nach der Staatsräson, sondern beschränkt sich auf die Machträson dessen, der persönlich mit allen Mitteln die Macht festhalten will. Man wird diesem, die wahrhafte politische Größe Bismarcks verneinenden Vorwurf bis in unsere Tage begegnen.

In der nächsten Phase befinden wir uns bereits in der Nähe der großen Entscheidungen in der deutschen Politik zwischen dem dänischen und dem österreichischen Krieg. Die einheitliche Front der liberalen Gegner ist nicht mehr so geschlossen, als die preußische Armee und Diplomatie im Sommer 1864 ihre ersten großen Erfolge erringt. Der große Gegner der liberalen und nationalen Politik wird jetzt plötzlich von einigen führenden liberalen Publizisten wie dem Historiker Heinrich von Treitschke als der, wenn auch in seinen Mitteln verwerfliche Gestalter einer national-deutschen, kleindeutsch-preußischen Politik anerkannt. Er nähert sich Schritt für Schritt dem nationalen Programm: durch die Her-auslösung der Herzogtümer Schleswig und Holstein aus der dänischen Herrschaft, die Forderung nach einem nationalen Parlament, die Ausschaltung Österreichs aus dem Deutschen Bund nach dem Sieg von Königgrätz, durch die Bitte an das Abgeordnetenhaus um Indemnität für das mehrere Jahre ohne gesetzliche Grundlage zustande gekommene Budget und schließlich durch die Vollendung der nationalen Einheit im deutsch-französischen Krieg und die territorialen Erwerbungen in Elsaß und Lothringen. Bismarck vollzieht in einer Revolution von oben, was der bürgerlichen Revolution von 1848/49 mißlungen war; der Junker, der die Revolution von 1848 in erster Linie als Schmach für die Monarchie empfunden hatte, tritt in die Fußstapfen der Frankfurter Nationalversammlung und wird zum Nationalpolitiker wie in Italien vor ihm der Graf Cavour. Trug ihn jetzt wirklich die Woge der nationalen Politik, von der er sich vorher so oft, manchmal fast höhnisch distanziert hatte? Bestimmte der „Wille zu Deutschland" seine Entschlüsse zwischen 1866 und 1871 oder galt noch das Wort, es gäbe nichts Deutscheres als gerade die Entwicklung richtig verstandener preußischer Partikularinteressen Im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit, namentlich seit 1871, wurden die Zweifel an der nationalen Tendenz Bismarcks immer mehr zurückgedrängt, auch die groß-deutschen Gegner verstummten nach und nach. Das nationale Bekenntnis zu Bismarck ermöglichte überhaupt erst den bitteren Verzicht auf eine Reihe liberaler Grundforderun-gen, die durch die Verfassung nicht erfüllt worden waren; man opferte Ideale der Freiheit für die Einheit, als deren Garant der Reichskanzler erschien. Diese „Nationalisierung"

des Bismarck-Bildes zu verfolgen, die unmerklich auch zu einer immer stärkeren Anreicherung des Nationalbewußtseins mit preußischen Elementen geführt hat, wäre im einzelnen eine reizvolle Aufgabe, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Sie ist untrennbar an einen anderen Vorgang geknüpft:

an die Gegenüberstellung des jungen Nationalstaats und seiner tragenden Schichtungen, die entweder wie die sich allmählich im Sozialismus sammelnde Arbeiterschaft von Anfang an außerhalb der nationalstaatlichbürgerlichen und preußischen Tradition gestanden und seit dem Sozialistengesetz unter Ausnahmerecht gestellt war oder wie die katholischen Volksteile sich im Kulturkampf aus ihr verdrängt sahen. Mit diesen verbanden sich außerdem noch die Reste des Großdeutschtums und die Anhänger partikularer Staatsideen. Je mehr Bismarck die Inkarnation des nationalstaatlichen Willens nach innen und außen geworden war, desto schärfer nahmen seine Gegner gegen ihn Stellung.

Je nachdem, auf welcher Seite sie standen, wurde für sie Bismarck zu einem Parteigänger der nationalbürgerlichen und nationalliberalen Gruppen oder umgekehrt eines illiberalen diktatorischen Regimes, in keinem Falle ein nationaler Staatsmann, sondern ein Parteimann.

So das Urteil der liberalen Gegner wie Lasker, Eugen Richter oder der Widersacher aus den Reihen des Zentrums wie Ludwig Windhorst oder der Sozialisten wie August Bebel. Taktische Annäherung an Bismarck von Fall zu Fall, wie sie selbst bei Marx und Engels nicht fehlen und noch weniger bei dem Zentrumsführer Ludwig Windhorst, ändern nichts an dieser allgemeinen Konstellation, die ihre Nachwirkungen bis zum heutigen Tage behalten hat.

Man kann sicher sagen, daß kein Ereignis so sehr dazu beigetragen hat, den „nationalen Bismarck" im deutschen Bewußtsein zu verankern, wie der Sturz des Reichskanzlers im Jahre 1890. Dies trifft nicht für den Augenblick der Ereignisse von 1890 zu, bei denen es viel erstaunlicher ist, daß die unmittelbare Reaktion ausblieb. Aber man kann von einer Spätwirkung sprechen, die schon in den 90er Jahren noch zu Lebzeiten des Kanzlers beginnt und sich dann nach dem rühmlosen Ende der Monarchie, nach dem Erscheinen des III. Bandes der Bismarckschen „Gedanken und Erinnerungen" und dem Bekanntwerden der Akten über die Außenpolitik des ersten Reichskanzlers und seiner Nachfolger, vor allem dem Rückversicherungsvertrag mit Ruß-land und seiner unterlassenen Erneuerung im Jahre 1890 steigert. Sie ging aus von dem Eindruck des Mißlingens, der Rückschritte vor allem der deutschen Außenpolitik in der nachbismarckischen Ära und schließlich von der Katastrophe des Kaiserreichs. Von all dem wurde die Ursache in dem vorzeitigen Beiseitesetzen des großen Mannes gesehen, in dem so etwas wie die deutsche Sicherheitsgarantie schlechthin gesehen wurde. Noch zu Lebzeiten des Alt-Reichskanzlers werden jetzt plebiszitäre Grundlagen seines Ansehens sichtbar, nachdem die monarchischen und parlamentarischen sich als zu schwach erwiesen hatten, und nach seinem Tode erwächst aus der Bewegung zur Errichtung von Bismarck-Türmen das Symbol des Rolands, wie es Hugo Lederer in seinem Hamburger Bismarck-Denkmal verwendete. Die Nation erhöht in diesen Monumenten den Staatsmann zum Wächter über die nationale Zukunft, die unter seinen Nachfolgern in Gefahr geraten war — eine Vorstellung, die durch die Ereignisse von 1890 befördert, wenn nicht überhaupt erst erzeugt worden war. Der Sturz Bismarcks mit seinen tragischen Momenten, dem politischen Dilettantismus den der Kaiser dabei an den Tag legte, war zu einer Art von nationalem Trauma geworden, und man vergaß darüber die kurze Spanne kreatürlicher Existenz, die dem Fürsten im besten Falle noch im Amt beschieden gewesen wäre. Man vergaß das fast teilnahmslose Schweigen, mit dem die regierenden Kreise und der Reichstag auf das Ereignis des Sturzes reagiert hatten.

Bei Bismarcks Sturz 1890 und dann noch einmal bei seinem Tode 1898 zeigten sich die Umrisse eines Bismarck-Bildes, in das die Erfahrungen und Erlebnisse eines halben Jahrhunderts deutscher Geschichte im Umgang mit dem Staatsmann eingegangen waren: uneingeschränkte, oft blinde Verehrung stand neben leidenschaftlichem Haß. Beides waren Empfindungen, die auf dem gemeinsamen Eindruck der riesenhafen Erscheinung Bismarcks beruhten, aber beide versperrten eigentlich den Weg dazu, eine tiefer begründete Auseinandersetzung mit dem Staatsmann Bismarck zu führen. Diese ist, meist abseits von der offiziellen Politik, von einzelnen versucht worden, von denen wir diejenigen heraussuchen wollen, die für die Grundfragen der Bismarck-Diskussion bis heute wichtig geblieben sind: auf der Seite der Bismarck-Bewunderer die beiden Historiker Heinrich von Sybei und Max Lenz, die als erste die Geschichte Bismarcks als Zeitgeschichte schrieben; auf der Seite der Bismarck-Kritiker den politischen Schriftsteller Konstantin Frantz, den Philosophen Friedrich Nietzsche und den Gelehrten Max Weber.

Die beiden Historiker Heinrich von Sybel und Max Lenz, der erste 1817, dieser 1850 geboren, waren beide Zeitgenossen der Bismarckschen Politik. Sybel war dem preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes sogar unmittelbar politisch als Abgeordneter des preußischen Abgeordnetenhauses und Norddeutschen Reichstages begegnet. Beide haben sie das Geschichtsbild, das die Bismarck-Zeit sich von sich selbst schuf, im Sinne der nationalliberalen, preußisch-deutschen Idee eigentlich erst begründet: Sybel als der erste Darsteller der Geschichte der Reichsgründung, Lenz als der erste Biograph Bismarcks. Das enge Bündnis des nationalen Idealismus und seiner bürgerlichen Anhänger mit der Wirklichkeit des preußischen Machtstaats, wie es im Verlauf der Ereignisse von 1866— 1871 hergestellt worden war, setzt sich in ihrer Geschichtsschreibung fort und bildet seither das stärkste Fundament des neuen nationalen Geschichtsbewußtseins. Jedoch ist es bemerkenswert, daß bei Sybel als dem Älteren, der die Spannungen zwischen dem nationalen Liberalismus und dem preußischen Machtstaat selbst durchlebt hatte, noch ein wacheres Bewußtsein für die inneren Bruchlinien zwischen deutscher Nationalidee und preußischem Staatsdenken vorhanden war. Sybel hat sich dadurch trotz seines Glaubens an die historische Notwendigkeit der Lösung von 1866— 71 einen offenen Blick für die innere Freiheit Bismarcks gegenüber dem National-gedanken bewahrt, die in einem viel späteren Stadium der Bismarck-Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg in den Mittelpunkt gerückt ist. So widersprach Sybel bei der Darstellung der Vorgeschichte des preußisch-österreichischen Konflikts von 1866 der Meinung von dem unter allen Umständen kriegswilligen Bismarck und stellte die Ziele des preußischen Ministerpräsidenten viel differenzierter dar: „In voller Klarheit lagen die verschiedenen in Krieg und Frieden denkbaren Systeme vor seinem unvergleichlich scharfen und weiten Blick: gemeinsame Beherrschung Deutschlands durch die beiden Großmächte oder Teilung Deutschlands unter dieselben nach der Main-linie oder gänzlicher Ausschluß Österreichs aus Deutschland, und in diesem Falle wieder die mehr föderative oder mehr unitarische Gestaltung des neuen Bundes, die engere oder weitere Kompetenz der von Preußen zu leitenden Reichsgewalt und der nationalen Volksvertretung. Ohne eine doktrinäre Vorliebe für irgendeines dieser Systeme wog er ihre Aussichten und Vorteile sowie ihre Ko-sten und Gefahren und vor allem ihre Erreichbarkeit trotz der Eifersucht der fremden Groß-mächte ab, stets bereit, je nach der Lage der Dinge, das Verfahren oder auch das Ziel zu wechseln: nur unter dem unverbrüchlichen Gesetz, daß Preußen immer vorwärts schreite, niemals zurückwiche, niemals den gewonnenen Boden und niemals den eigenen Mut verliere." Hier wird die Unabhängigkeit Bismarcks von der nationalstaatlichen Ideologie und der spezifisch preußisch-machtstaatliche Charakter seiner Politik in einer Weise herausgearbeitet, die später auf Grund neuer Aktenveröffentlichungen und durch die Her-auslösung des Bismarck-Bildes aus national-staatlichen Klischeevorstellungen weiter entwickelt werden konnte.

Max Lenz gibt demgegenüber in seiner „Geschichte Bismarcks" (1902) die „klassische" Darstellung der lange unerschütterten Lehre von der völligen Identität deutscher und preußischer Politik unter Bismarck, der Verkettung von „Preußens Macht und der Größe der Nation". Dazu gehört auch die Überzeugung, daß die Bismarcksche Politik gegenüber Österreich immer aus einem Gusse gewesen und der Krieg von 1866 nicht nur unvermeidlich gewesen sei, sondern daß ihn Bismarck auch mit einer alle anderen Möglichkeiten ausschließenden Zielsicherheit herbeigeführt habe. In der Darstellung, die Lenz vom Ursprung des Krieges von 1866 gibt, werden alle Verständigungsversuche mit der Donaumonarchie, wie insbesondere der Gasteiner Vertrag von 1865, nur aus der Rücksicht auf Gegenkräfte gedeutet: „. . . wenn wir den Zickzack-Kurs verfolgen", schreibt Max Lenz über die Situation vom Frühjahr 1866, „den er in den Monaten vor Ausbruch des Krieges einhielt, so können wir doch nicht anders urteilen, als daß er nur deshalb so langsam vorwärtskam, weil er fast alle seine Schritte mit gebundenen Händen machen mußte." Diese Anschauung ist nach der Jahrhundertwende in alle Schulbücher eingegangen und zur Grundlage des Bildes vom Vulgär-Bismarck geworden, wie es die Vorweltkriegszeit gekannt hat. Es gehört dazu, daß sich auch die vulgäre in-und ausländische Bismarck-Kritik an ihm orientiert hat.

Von den drei Bismarck-Kritikern, auf die hier im besonderen eingegangen werden soll: Konstantin Frantz, Friedrich Nietzsche und Max Weber, kann man dies allerdings nur mit Einschränkung sagen, da ihre Kritik von einer sehr subtilen Kenntnis des Bismarckschen Charakters und Werkes ausgeht, was selbst von Friedrich Nietzsche angenommen werden muß.

Frantz verneinte die preußisch-deutsche Nationalstaatsgründung Bismarcks von der Wurzel her, da sie mit ihrem System eines „abgeschlossenen und zentralisierten Staatskörpers" die europäische Ordnung sprenge. Dem nationalen Machtstaat Bismarck mit seiner Tendenz zur Staatsomnipotenz im Innern und zum reinen Machtkalkül nach außen stellte Frantz seine im einzelnen nicht überall klar entwickelte Idee eines europäischen Föderalismus gegenüber, die er in seinen früheren Schriften an den Deutschen Bund anschloß und später seinem Programm einer Weltgleichgewichtsordnung mit einem föderalistisch organisierten europäischen Zentrum zugrunde legte. Diese Gedanken sind zu Lebzeiten Bismarcks und Frantz’ wenig beachtet worden, mit ihnen wurden aber seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts und wiederum nach dem Zweiten Weltkrieg ein geistiger Brücken-schlag vom Europa von 1815 zu dem nach 1945 versucht. So liegt ihre historisch-politische Bedeutung darin, daß sie für die grundsätzlichen Zweifel am deutschen Nationalstaat und seinen Begründer die Argumente lieferten und zugleich damit die Diskussion über Bismarck auf eine europäische Ebene hoben.

Für Nietzsche ging es um eine ganz andere, nicht weniger kritische Frage, die der Philosoph in der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung von 1873 stellte: War der deutsche Sieg über Frankreich auch ein Sieg der deutschen Kultur oder war er nicht vielmehr eine Niederlage, „die Niederlage, ja die Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches" . . .? Bis in seine letzten hellen Tage hat Nietzsche mit diesem Problem der Kulturfähigkeit der Deutschen und ihres Nationalstaats gerungen und immer verband sich für ihn damit die Frage nach Bismarck, der für ihn identisch wird mit dem Deutschen Reich, dem deutschen Charakter mit seinen Beschränktheiten und mit seinen Möglichkeiten. So reiht er den Staatsmann, der im „Dienste starker Grundtriebe" stehe und „deshalb ohne Grundsätze" sei, unter die Männer, die „für die starke deutsche Art charakteristisch" sind, und er spricht gleichzeitig von der Ara Bismarck als „der Ära der deutschen Verdummung". Solche Deutungen zeigen ein gestörtes Verhältnis des Geistes und der Kultur zum deutschen Nationalstaat Bismarcks an, und insofern war Nietzsche weit mehr als ein persönlicher Fall, er war ein Symptom. Der nationale Staat war bei den Deutschen das Ergebnis ungeheurer geistiger und politischer Anstrengungen gewesen. Seine Forciertheit, die in ihm unablässig fortwirkenden Spannungen sind nur ein Rück-stand dieser Anstrengungen, und die Frage drängte sich auf, ob der Preis der Anstrengung nicht die Erschöpfung der Kultur gewesen ist. Dies war im Grunde die Überzeugung Nietzsches, gegen die man einwenden muß, daß der Philosoph allein von einem ästhetisch-philosophischen Kulturbegriff ausgegangen ist und den bedeutenden Beitrag des Nationalstaats für die pragmatisch-wissenschaftliche Kultur übersehen hat. Immerhin ist mit der gegenseitigen Entfremdung von Geist und Staat ein großes Thema der deutschen Geschichte nach 1871 angeschlagen worden, das in den Diskussionen über Bismarck nicht mehr verstummen wird.

Der dritte Kritiker Bismarcks, den wir hier nennen wollen, Max Weber, steht dem Reichs-kanzler in der unbedingten Bejahung des Nationalstaats unvergleichlich näher als die beiden anderen, ja sein Urteil über Bismarck ist geradezu das Urteil darüber, wie Bismarcks Leistung für den deutschen Nationalstaat auf die Dauer zu bewerten ist. Eben darum wird Weber zum entschiedensten Verfechter der These, daß Bismarcks Genie, das den deutschen Nationalstaat geschaffen hatte, zugleich das eigentliche Verhängnis für die Deutschen geworden ist. „Er hinterließ", so lesen wir in dem Aufsatz von 1918 über „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland", „eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, daß der große Staatsmann an ihrer Spitze die Politik schon besorgen werde. Und ferner, als Folge der mißbräuchlichen Benutzung des monarchischen Gefühls als Deckschild eigener Machtinteressen im politischen Parteienkampf, eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der . monarchischen Regierung'fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloß, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leer-gelassenen Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand nahmen. An diesem Punkt lag der bei weitem schwerste Schaden. Eine politische Tradition dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen noch auch nur ertragen ..." Diese Sätze mußten auf die Anhänger der nationalen Bismarck-Tradition wie Keulenschläge wirken, gerade weil für ihren Autor der Nationalstaat die höchste politische Wertordnung darstellte. Wir fragen aber: ist ihre Wirkung, last ein halbes Jahrhundert später, nicht unverändert, ja vielleicht noch erregender? Das Bismarck-Problem für die deutsche Nation, das hier aufgeworfen wird, ist jedenfalls in der Auseinandersetzung über den ersten Reichskanzler und seine historische Stellung in der deutschen Geschichte seither nicht mehr verschwunden, je mehr sich das Schicksal des deutschen Nationalstaats verdüsterte.

Durch Konstantin Frantz, Friedrich Nietzsche und Max Weber werden die Positionen eines mitteleuropäischen, großeuropäischen Föderativstaates, der aus der vornationalstaatlichen Vergangenheit unmittelbar in die europäische Zukunft führt, des Geist und Macht versöhnenden Kulturstaats und des demokratischen Nationalstaats gegen die Bismarckische Lösung der deutschen und europäischen Politik gerichtet. Stellt man daneben das Bild von Bismarck als dem Roland des Reichs, dem Bürgen für die Sicherheit des deutschen Nationalstaats, so hat man die Extreme der Bismarck-Auffassungen, die bis zum Ende der Lebenszeit des ersten Reichskanzlers erreicht waren. Dazu hat nun der Fürst selbst noch einmal nach seinem Tode persönlich in die Auseinandersetzungen eingegriffen, als um 1900 sein Memoirenwerk „Erinnerung und Gedanke" und großenteils zum erstenmal die wesentlichen Bestandteile seines Brief-werks erschienen. Während in den Memoiren der große Empiriker der Macht mit der Gewalt des Wortes den lebenslang geführten Kampf gegen seine Gegner fortsetzt und ein in der deutschen Literatur einmaliges Dokument eines staatsmännischen Rechenschaftsberichtes der Nachwelt überliefert, erscheint in den Briefen an die Braut und Gattin ein Lyriker der Sprache von unerhörter Ausdruckskraft, die den großen Dichtern des 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht und von ihnen als ebenbürtig anerkannt wurde. Es erscheint der liebende, tief empfindende, von religiösen Grundbestimmungen erfaßte und zu christlichen Glaubensüberzeugungen zurückgeführte Mensch, der vom Gefühl der Nichtigkeit der Welt und auch ihrer politischen Erscheinungen durchdrungen ist. Seine Sensibilität überraschte alle, die in ihm nur den brutalen Zyniker der Macht gesehen hatten. Gab es überhaupt eine Brücke zwischen dem Bismarck, der im Anschluß an die Psalmen Staaten und Völker mit Ameisenhaufen verglich, die eines Ochsen Huf zertrat, und dem Bismarck, der die Worte von Eisen und Blut sprach, mit denen die großen Fragen der Nation entschieden werden mußten, oder der bekannte, daß er die ganze Nacht gehaßt habe? Mit einem Male blickte die Welt in das Innere eines gleichsam mehrdimensionalen Bismarck, für die einen ein Rätsel, wenn nicht noch mehr ein Ärgernis, für die anderen das Mirakel einer unermeßlich reichen Natur. Das schwierigste Problem jeder Deutung Bismarcks, die Frage nach der Einheit seines Charakters war damit gestellt, und bis jetzt ist es noch von keinem Biographen befriedigend gelöst worden. Entweder trat in solchen Versuchen die Charakterstruktur des Macht-menschen zu ausschließlich hervor oder sie ging zu sehr in der Darstellung einer Bildungsgeschichte nach literarischem Vorbild verloren.

Bis hierher hat Bismarck selbst mit seinen Taten, zuletzt mit seinen Worten und Schriften das Bild bestimmt, das sich die deutsche Nation, die Welt von ihm machte. Von nun an löste sich das Urteil über ihn mehr und mehr von seiner lebendigen Gestalt. Es gründete sich wohl noch auf neue Quellen Bismarcks selbst, in denen der Staatsmann oft in einem überraschenden Lichte erscheint, aber nicht weniger entscheidend wurden die Schicksale des Reiches, das er geschaffen hatte, für die Urteile, die die Nachwelt über ihn fällte. Die Zusammenbrüche von 1918 und 1945 waren Zusammenbrüche des Bismarckschen Reiches. Waren oder sind sie auch eine Bestätigung für die mangelnde Stabilität dieses seines Werkes oder ganz entgegengesetzt für die Schuld seiner Nachfolger, die sein Werk durch ihre fehlerhafte Politik aufs Spiel setzten? Oder sind sie Bestätigungen für die Fehler, ja die moralische Verwerflichkeit Bismarcks selbst? Saß Bismarck unter den Richtern über die Politik vor 1945, vor 1918 oder war er der Hauptangeklagte? Das sind seither mit die entscheidenden Probleme der Bismarck-Deutung geworden, nur bleibt es merkwürdig, daß diese trotz aller Veränderungen des Ausgangspunktes, von dem aus sie versucht wird, ihre Argumente kaum vermehrt, sondern sie immer nur in neuem Kleide oder in neuer Mischung präsentiert. Mit anderen Worten: die Bismarck-Diskussion von gestern und heute knüpft in irgendeiner Weise an die Erörterungen bis zur Jahrhundertwende an, die noch unter dem unmittelbaren Eindruck des lebenden Bismarck standen.

Es soll dies hier nur in aller Kürze an den leitenden Gedanken der Auseinandersetzung mit Bismarck gezeigt werden, wie sie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgetreten sind. Während der Weltkrieg selbst angesichts der ungeheuren Aufgaben, die ein Geschlecht der Epigonen nicht zu erfüllen imstande schien, im wesentlichen nur dem nationalen Bismarck-Mythos Auftrieb gegeben hat, löste die Niederlage von 1918 und das Ende der Monarchie nicht nur den Bann, der bisher auf den dokumentarischen Quellen lag, sondern öffnete auch den Blick für Einsichten, die lange verschüttet gewesen waren. Wenn jetzt die liberale und sozialistische, aber auch die pazifistische Kritik offener hervortreten konnte als im Kaiserreich, so war ihr tatsächlicher Einfluß doch geringer als die revisionistischen Strömungen in der Geschichtswissenschaft, die sich vor allem auf drei Punkte konzentrierten: auf die Überprüfung des Leitbildes vom nationalen Charakter der Bismarckschen Politik, auf den Versuch einer neuen Erfassung der Persönlichkeit Bismarcks von deren christlich-religiösen Grundlagen her und schließlich auf den europäischen Charakter der Außenpolitik des Reichskanzlers in den letzten zwei Jahrzehnten seines Wirkens. Die Erörterung des ersten Punktes erschütterte nicht nur die alte Vorstellung von der selbstverständlichen Identität der preußischen und nationaldeutschen Politik, namentlich in den entscheidenden Jahren bis 1866 sondern vertiefte auch die Einsicht, daß der Vollender des Nationalstaats dem Nationalismus in Europa, namentlich im östlichen Mitteleuropa, nicht blind verschrieben war, sondern ihn eher gebändigt und gemäßigt habe, wie in seinem Verhältnis zur österreichisch-ungarischen Monarchie gezeigt werden konnte

Was das zweite anlangt, die Herleitung der Persönlichkeit Bismarcks aus christlichen Glaubensüberzeugungen, so ist diese Frage seit dem Ende der 20er Jahre wieder aufgegriffen und weitergeführt worden, nachdem bereits kurz nach der Jahrhundertwende hierin Max Lenz und Friedrich Meinecke vorangegangen waren. Unter dem Einfluß neuer theologischer Anschauungen wurde Bismarcks „Grundsatzlosigkeit" und sein Dienst für den preußischen Staat sogar aus dem lutherisch verstandenen religiösen Gebot der Hingabe an die konkreten Aufgaben gedeutet, in die der Staatsmann von Gott gestellt war. Daraus wurde, wie zuletzt von dem Schweizer Leonhard von Muralt, seine besondere Verantwortungsethik hergeleitet.

Schließlich ging die Geschichtsforschung der 20er Jahre daran, gegenüber der Tendenz, den kämpferischen, heroischen Verursacher der deutschen Nationalkriege zu glorifizieren, von Bismarck das Odium des maßlosen Macht-menschen zu nehmen, der eine dauernde europäische Krise hervorgerufen habe. Aus den neu veröffentlichten Akten der „Großen Politik der europäischen Kabinette" und der Friedrichsruhes Ausgabe der Gesammelten Werke werden die Konturen der Bismarck-sehen europäischen Politik nach der Reichs-gründung nachgezeichnet und ihre Frieden erhaltende und Frieden sichernde Funktion begründet. Mit diesem dritten Problemkreis der Bismarck-Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg war eine Ebene erreicht, auf der die internationale Auseinandersetzung um den deutschen Staatsmann bis in unsere Tage weitergeführt werden konnte. Von ausländischen Historikern hat sich vor allem der Amerikaner William L. Langer auf sie begeben. Indessen wurde diese Linie durch die deutschen und europäischen Ereignisse seit 1933 jäh unterbrochen; die Eindämmung nationalistischer Bewegungen durch staatliche Machträson, die Einordnung des deutschen Nationalstaats in das System der europäischen Mächte, um die der Bismarck der Jahre seit 1871 bemüht war, wurde verdrängt von dem Bismarck, der als Vorläufer und „Wegbereiter" des nationalsozialistischen Reiches deklariert wurde und, wie es Hitler in einer Rede vom 14. Februar 1939 aussprach, den Grundstein für den nationalsozialistischen Einheitsstaat gelegt und die Voraussetzungen für die Errichtung Großdeutschlands geschaffen habe. Damit erschien Bismarck plötzlich in der Ahnengalerie des Dritten Reiches, und es war nicht überraschend, daß diese Meinung dann auch als Argument gegen ihn verwandt wurde. Es konnte nicht schwer fallen, aus der Kritik vor allem der innenpolitischen Gegner Bismarcks, aus der Kenntnis seines tatsächlichen Verhaltens das Bild eines autoritären, fast diktatorischen Regimes zusammenzustellen, das mit seinen Zügen des Bonapartismus oder Caesarismus, mit seiner Verachtung von Parlament und Kollegialgremien auf spätere totalitäre Herrschaftsformen hinwies. Jedenfalls hatte seit dem Auftreten des Nationalsozialismus das Bismarck-Bild eine ganz neuartige Folie und gewissermaßen einen neuen Gradmesser erhalten, an dem seine Dimensionen gemessen werden konnten. Auf diesem Hintergrund muß das seit dem Zweiten Weltkrieg wieder zahlreicher werdende internationale Bismarck-Schrifttum gesehen werden. In seinen publizistischen und populärwissenschaftlichen Bestandteilen überwiegt weithin eine z. T.sehr vereinfachende Kritik, die jetzt die Idee der Vorläuferschaft Bismarcks für Hitler auf eine allgemeine Vorläuferschaft der deutschen Geschichte für den Nationalsozialismus erweitert, eine Frage, auf die später noch einmal zurückzukommen sein wird. Bei der wissenschaftlichen Literatur über Bismarck in dieser Zeit überrascht eher der im ganzen positive Ton, das Bemühen um differenzierendes Urteil, das Kritisches und Lobendes gegeneinander abzuwägen versucht. Das gilt auch für die zwischen 1941 und 1944 in der Schweiz erscheinende bisher umfassendste und als Darstellung bedeutendste Bismarck-Biographie von Erich Eyck, die mindestens dem politischen Künstler Bismarck Bismarcks nicht zu erfassen; ihre Einheit sönlichkeit versagt. Eyck, der politisch etwa den Standpunkt der linksliberalen Opposition gegen Bismarck einnimmt, tritt mit den Norm-vorstellungen von der ethisch geprägten und durchdrungenen Persönlichkeit an Bismarck heran, wie sie der liberale Humanismus in der Tradition Kants vertritt. Mit dieser Norm-vorstellung war die von tiefen Widersprüchen und Dissonanzen durchzogene Persönlichkeit Bismarcks nicht zu erfassen, ihre Einheit konnte höchstens in dem ästhetischen Eindruck von der „faszinierenden Anziehungskraft" eines Menschen gefunden werden, „der im Guten wie im Bösen immer eigenartig und immer bedeutend ist." Das politische Werk des Reichskanzlers erscheint dabei als Ergebnis eines rein subjektiven Willens, dessen Ziel die persönliche Machtbehauptung ist, während es kaum eine an der Sache, am Staat und seiner Räson orientierte Entscheidung für ihn gibt. Damit werden Durchblicke geöffnet, die den verharmlosenden Bismarck-Elogen verschiedenster Richtung völlig verschlossen waren, und es bleibt unzweifelhaft ein unverlierbarer Gewinn für alle zukünftigen Deutungen Bismarcks, daß die Grundstruktur seines Charakters in einer ganz bestimmten Richtung deutlicher gemacht worden ist. Indessen ist es eine Schwäche dieses bedeutenden Buches, daß es die eigentümlichen verant-wortungsethischen Bestandteile des Bismarck-sehen Charakters, die Untrennbarkeit von Mensch und Werk weithin übersieht. Wenn es eine Verbindung der Persönlichkeit Bismarcks mit dem von ihm geschaffenen Reiche gegeben hat, so besteht sie bei Eyck höchstens darin, daß der Mangel an Rechtsgefühl des Reichsgründers seine politische Schöpfung von Anfang an moralisch verwüstet hat — ein Schluß, den Eyck nicht unmittelbar ausspricht, der sich aber zwingend ergibt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Engländer A. J. P. Taylor in seiner Studie über Bismarck von 1955 wenngleich er trotz stärkerer persönlicher Distanz einen stärkeren Instinkt für die politischen Qualitäten Bismarcks zeigt. Es fiele nicht schwer, auch für Eyck und Taylor die Richtigkeit unserer These nachzuweisen, daß die wissenschaftliche und publizistische Diskussion über Bismarck sich auch heute noch trotz der völlig veränderten Maßstäbe unserer Erfahrung und unseres Wissens gleicher oder ähnlicher Argumente bedient wie die Diskussion bis um die Jahrhundertwende. Auch für die meisten anderen Bismarck-Darstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich solche Anknüpfungen finden. Ich greife hier noch einen bedeutsamen Aufsatz von Franz Schnabel von 1949 heraus, der von der Kritik an Eyck ausgeht und Bismarck aus seiner Zugehörigkeit zur Welt der älteren klassischen Diplomatie bestimmt. Diese Rückwärtsgewandtheit hatte, wie Schnabel anerkennt, eine positive Funktion, indem sie den europäischen Nationalismus an bestimmten Fronten eindämmte. Schnabel sieht aber doch mehr die auflösenden Wirkungen der Bismarckschen Politik der reinen Machträson, die ihn als Abschluß einer geschichtlichen Linie der Zertrümmerung der europäischen Einheit seit dem Kurfürsten Moritz von Sachsen, Richelieu und Friedrich dem Großen erscheinen läßt. Dieser Politik stellt Schnabel — und hier wird man an Konstantin Frantz erinnert — die Möglichkeit gegenüber, unter Verzicht auf den geschlossenen Nationalstaat einen föderativen Zusammenschluß der mittel-und osteuropäischen Völker herbeizuführen, für den der Deutsche Bund einen Ansatzpunkt hätte bilden können.

So sehr sich bekannte Argumente in der heute noch immer weitergeführten Debatte um Bismarck wiederholen, so unerschöpflich ist das Thema Bismarck wie der Mann selbst. Gerhard Ritter hat in seinem großen Werk über „Staatskunst und Kriegshandwerk" ebenso vor allzu harmonisierenden Unterschätzungen seiner dämonischen Züge gewarnt wie vor Mißverstehen seines Willens zu einer „dauerhaften Friedensordnung" und ihn zusammenfassend als den „letzten Kabinettspolitiker großen Stils" charakterisiert. Hans Rothfels stellt ihn dem 19. Jahrhundert gegenüber, zu dem er gehörte und über das er zugleich hinausweist. Hier überall wird darum gerungen, die eigentliche Position Bismarcks zwischen gestern und morgen zu fixieren und aus der simplen Einordnung in die alten Kategorien nationalstaatlicher Politik im Stile des 19. Jahrhunderts herauszukommen. Dasselbe gilt schließlich noch im höchsten Maße für alle Versuche, die klassische europäische Gleichgewichtsdiplomatie mit ihrer letzten Aufgipfelung in Bismarck als historisches Vorbild für die Staatenbeziehungen im nuklearen Zeitalter zu verwenden, wie es durch die „realistische" Schule der amerikanischen Außenpolitik und ihre Theorie von power politics geschieht. Es war die Reaktion auf „idealistische" Außenpolitik im Stile Wilsons mit ihrem Anspruch, die Herrschaft des Rechtes auch in den internationalen Beziehungen herzustellen, und mit ihrem Dilemma, gerade dadurch in unbegrenzte Machtpolitik zu geraten, die zu der Forderung begrenzter Machtpolitik im Dienste des nationalen Interesses der Staaten und ihrer Selbsterhaltung führte. Dabei liegt es auf der Hand, daß hiermit Grundprobleme der Bismarckschen Politik aufgeworfen werden, die vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit dem großen liberalen Staatsmann in England, Gladstone, hervortraten. Wo dieser das kollektive Handeln des „europäischen Konzerts" zur Sicherung von Frieden und Recht forderte, beschränkte sich Bismarck auf nationale Interessenpolitik, die den Interessenausgleich mit den anderen Mächtepartnern suchte. Es ist noch gar nicht genügend untersucht, wieweit etwa der religiös bestimmte radikale anthropologische Pessimismus des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, der einer der Väter des amerikanischen Realismus ist, von Voraussetzungen ausgeht, die Bismarck sehr nahekommen. Jedenfalls führt die Diskussion um einige Grundprinzipien auch der Bismarckschen Außenpolitik damit anderthalb Jahrhunderte nach Bismarcks Geburt und dreiviertel Jahrhundert nach seinem Abgang von der politischen Bühne in weltweite Dimensionen und läßt die Frage nach Bismarck als die Frage nach der Verbindlichkeit von Macht-und Gleichgewichtspolitik im Zeichen der thermonuklearen Drohung erscheinen.

Bismarck und die nationale Frage

Wir sind damit an einem Punkte angelangt, wo die historische Analyse der Bismarck-Auffassungen zu einer eigenen Analyse Bis-marcks und seiner Politik hinüberführen muß. Eine solche kann an dieser Stelle nicht den gesamten unübersehbaren Komplex der Bismarck-Probleme ins Auge fassen, sondern muß sich auf die Punkte konzentrieren, in denen sich am ehesten Antworten auf unsere ge-genwärtigen Fragen an Bismarck erwarten lassen. Man kan hier wohl mit Recht die Frage nach dem historischen Recht des Nationalstaats von 1871 an die Spitze stellen. Sie ist schon von den Zeitgenossen aufgeworfen worden, aber ihre Bedeutung hat sich mehr und mehr gewandelt. Die Besiegten von 1866 haben unter ihr etwas ganz anderes verstanden als die Zeitgenossen Hitlers und seiner Katastrophe, die im deutschen Nationalstaat entweder nur die Vorstufe für etwas viel Ungeheuerlicheres oder an sich schon die Wurzel allen Übels erkennen wollten, während jene nur die kleindeutsch-preußische Form, die „Teilung Deutschlands" als Voraussetzung seiner beschränkten Einheit und die hegemoniale Rolle Preußens ablehnten. Diese großdeutschen Vorbehalte sind nach 1870 in erstaunlich rascher Zeit vergessen worden, je mehr sich in Reichsdeutschland das Bewußtsein einer eigenen Reichsnation auszubilden begann. Bismarck hat dazu selbst wesentliches beigetragen. Wohl ließ er im Jahre 1879 bei der Vorbereitung des deutsch-österreichischen Bündnisses in den großen Denkschriften für Kaiser Wilhelm I. die Erinnerung an das deutsche Vaterland an der Donau, in Steiermark und in Tirol aufleben und trug sich mit dem Gedanken, den Bund mit der österreichisch-ungarischen Monarchie verfassungsrechtlich zu verankern. Doch viel mehr ins Gewicht fiel seine Meinung, man hätte „reine Österreicher" kultivieren müssen. Bismarcks Bündnis mit der deutschen Nationalbewegung, das im Jahre 1866 geschlossen wurde, war für ihn ein Mittel gewesen, den preußischen Machtraum auf sein von ihm als legitim angesehenes Feld zu erweitern. Preußen, von ihm als „rein deutscher Staat" bezeichnet und empfunden, trieb damit nationaldeutsche Politik, aber diese blieb immer gebunden an einen konkreten Staat und trat nie in den Dienst einer die historischen Staatsgebilde auflösenden „nationalen" Idee. So sah er auch vom Boden des neuen Reiches aus in Österreich einen anderen Staat und war nie gewillt, einen nationalen Irredentismus über die Reichsgrenzen hinaus aufkommen zu lassen. Als er im Alter bei den Besuchen der Anhänger Schönerers in Friedrichsruh erkennen mußte, daß es auch einen Irredentismus von der anderen Seite her geben und durch ihn das Deutschtum eine Sprengkraft der mitteleuropäischen Staatenordnung werden konnte, verstärkte er seine beschwörenden Mahnungen an die österreichischen Deutschen, ihrem Staate, ihrer Dynastie zugewandt zu bleiben.

Die vielberedete Beschränkung der deutschen nationalstaatlichen Einheit auf ein Klein-deutschlandwar für Bismarck, was nie übersehen werden darf, mit keinerlei Resignation oder Verzichtstimmung verbunden, sondern entsprang einfach seiner Anschauung von der Mächteordnung in Mitteleuropa, in Europa überhaupt. Es ist ihm eigentlich erst beim Berliner Kongreß von 1878 gelungen, die Mächte Europas von der Aufrichtigkeit seiner friedlichen Absichten und seiner Beteuerungen, Deutschland sei eine saturierte Macht, zu überzeugen. Bis dahin galt es als wahrscheinlich, daß das neue Reich sich nicht mit den nationalen Erwerbungen im Norden und Westen begnügen werde, sondern auf dem Sprunge sei, der Dynamik des Nationalitäten-prinzips auch nach Osten ein Ventil zu öffnen. Dies hätte die Zerstörung ÖsterreichUngarns bedeutet, das Bismarck für ein unentbehrliches Glied der europäischen Gleichgewichtsordnung hielt und zu dessen weiterer Schwächung er niemals die Hand gereicht hätte. Man kann unterstellen, daß er die im Jahre 1871 erreichte Ausdehnung des Nationalstaats nicht als Ergebnis eines resignierenden nationalen Verzichts, sondern für das äußerste Maß dessen hielt, was die anderen europäischen Mächte anzunehmen bereit schienen. Heute muß man die zweifelnde Frage hinzufügen, ob dieses Maß durch die Angliederung von Elsaß-Lothringen nicht schon überschritten worden ist. Denn eben diese Erwerbung engte den Spielraum der deutschen Außenpolitik gegenüber Frankreich erheblich ein und machte die Blockierung des Zweifrontendrucks nur von Rußland und nicht auch von Frankreich her möglich.

Gerade am elsässischen Beispiel läßt sich Bismarcks doppeldeutiges Verhältnis zur nationalen Bewegung seiner Zeit deutlich machen.

Man hat es lange als unzweifelhaft sicher angenommen, daß der Kanzler im Herbst 1870, als er zum erstenmal die territorialen Kriegsziele gegenüber Frankreich fixierte, mehr von der nationalen Bewegung getrieben war als selbst die Initiative ergriff. Heute wird mit einigen Gründen seine durchaus nicht passive Rolle bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung für das elsässische Kriegsziel angenommen. Immer hat er nationalen Massenemotionen gegenüber diese zugleich stimulierende wie eindämmende Rolle gespielt. Es gilt dies ebenso für die koloniale Bewegung der 80er Jahre, für die nationalen Probleme in den Ostprovinzen wie die nationale Sicherheitspolitik überhaupt und ihre militärpolitischen Folgerungen. Als Meister in der Beherrschung der Presse und der öffentlichen Meinung, als Redner im Reichstag hat er auf dem Instrument der nationalen Stimmungen virtuos, zuweilen mit einem gefährlichen Ein-schlag ins Demagogische gespielt. Es waren die einprägsamen Parolen, die nationalen Kernworte, die gehört und vernommen wurden, nicht die Vorbehalte und Einschränkungen, an denen es bei Bismarck niemals fehlte. Nirgends läßt sich das eindrucksvoller verfolgen als an seiner wohl grandiosesten außenpolitischen Rede vom 6. Februar 1888. Sie war ein außenpolitischer Schachzug von höchster diplomatischer Kunst und diente, zusammen mit der wenige Tage vorher vollzogenen Veröffentlichung des Zweibundvertrages und einer neuen Wehrvorlage, dem Ziel, durch eine äußerste Machtdemonstration den Frieden im Osten und Westen, gegenüber Ruß-land und Frankreich zu retten. Die ausdrückliche Absage an den Präventivkrieg, der Bismarck von verschiedenen Seiten nahegelegt wurde, wurde nun aber mit Argumenten gestützt, die wie ein Aufruf zum nationalen Volkskrieg wirken konnten, auch wenn sie im Konditionalis gesprochen wurden: „Wenn wir in Deutschland einen Krieg mit der vollen Wirkung unsrer Nationalkraft führen wollen, so muß es ein Krieg sein, mit dem alle, die ihn mitmachen, alle, die ihm Opfer bringen, kurz und gut, mit dem die ganze Nation einverstanden ist; es muß ein Krieg sein, der mit dem Enthusiasmus geführt wird wie der von 1870, wo wir ruchlos angegriffen wurden." Und etwas später folgen wiederum im Zusammenhang der Ablehnung eines Präventivkrieges Sätze, die die Wirkung eines Angriffs auf Deutschland in Tönen beschreiben, die durchaus als chauvinistisch angesprochen werden können: „Dann wird das ganze Deutschland von der Memel bis zum Bodensee wie eine Pulvermine auf-brennen und von Gewehren starren, und es wird kein Feind wagen, mit diesem furor teutonicus, der sich bei dem Angriff entwikkelt, es aufzunehmen." Auch die berühmtesten und bald bis zum Überdruß mißbrauchten Worte der Rede: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt", bei deren Zitierung meist der Zusatz fehlt: „auch die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt", lassen noch die doppelte Funktion der Anfachung nationaler Emotionen und gleichzeitig der Abwiegelung kriegerischer Tendenzen erkennen. Wenn man daneben etwa die Olmütz-Rede vom 3. Dezember 1850 stellt, wird man auf manches Gemeinsame wie vor allem auf die geschickte Verwendung von Angriffssignalen bei einem durchaus auf Defensive gerichteten rhetorischen Ziel stoßen, aber im ganzen doch auch auf eine erstaunliche Annäherung des Stils an nationale Phraseologien.

Wer die nationalistischen Phraseologien späterer Zeiten erlebt hat, die unzweifelhaft Angriffssignale sein sollten und in dieser Hinsicht keineswegs Ausdruck einer Politik mit doppeltem Boden waren, nimmt den Redestil des späteren Bismarck überall da, wo er ins nationale Pathos gerät, mit Bedenken auf.

Aber er darf nicht dem Mißverständnis erliegen, als ginge es bei Bismarck und bei Hitler um die gleiche Sache. Bismarck appelliert an die „Nation", weil er ihre Unterstützung, d. h.

die Stimme der Wähler des allgemeinen Wahlrechts für seine auf defensive Friedenssicherung gerichtete Politik und ihre militärpolitischen Voraussetzungen benötigt. Wenn Hitler einen rhetorischen Appell an die nationale Öffentlichkeit unternimmt, ist dies fast immer der Vorbote oder der Begleiter einer offensiven Aktion gewesen, deren letzte Ziele über „die Nation" im bürgerlichen Sinne weit hinausgingen, während sie bei Bismarck darunter blieben und höchstens die Absicherung der Reichsnation nach außen meinten. Freilich, es stellte sich sehr bald nach Bismarck noch eine dritte sehr gefährliche Möglichkeit heraus, sobald die nationale Phrase sich gleichsam selbständig machte und hinter ihr nicht mehr die Überlegenheit eines großen politischen Konzepts, sondern nur Unschlüssigkeit, mangelnde Konsequenz stand wie es bei den Epigonen Bismarcks, bei Kaiser Wilhelm II.der Fall war. Dann wuchs die Gefahr, daß die von ihren Staatsmännern angeredete Nation das sichere Gefühl für das Mögliche, den Sinn für die Realität und sich in Illusionen und Fiktionen verlor. Dieser verhängnisvolle Zirkel ist im Ersten Weltkrieg zum eigentlichen Grundübel der Kriegspolitik geworden. Mit Bismarck hatte das wenig mehr zu tun, so sehr man sich auf ihn immer wieder berief, es sei denn, daß er durch seine überragende Gestalt, aber auch durch mangelnde Information und außenpolitische Bildung die Deutschen entwöhnt hatte, über die Stellung Deutschlands in der Welt nachzudenken. Ebenso hat er trotz seines Organs für demagogische Massenwirkungen im Grunde die Explosivkraft moderner Massenbewegungen überall da, wo sie nicht unmittelbar mit Sozialrevolutionären Tendenzen Hand in Fland gingen — was beim Nationalismus des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sicher nicht der Fall war, weder beim Kolonialnationalismus noch später beim Flotten-nationalismus —, nicht voll erkannt. Hier war er zweifelhaft durch die Zahmheit, die mangelnde Revolutionsbereitschaft der bürgerlichen Nationalbewegung, die er zuerst im Verfassungskonflikt erlebte, ebenso getäuscht worden wie durch die relative Diszipliniert-heit der Nationalkriege des 19. Jahrhunderts. Nur der von den Franzosen nach Sedan geleistete nationale Widerstand nahm den „Volkskrieg" im modernen Sinne voraus.

Dem zurückschauenden Historiker scheint es leicht so, als führe von der Begründung des Nationalstaats durch Bismarck eine gerade Linie zur nationalen „Weltpolitik" seit den neunziger Jahren, ja zu Hitlers imperialistischer Kontinentalpolitik unter nationalistischen Vorzeichen, und man sieht dann in der Bismarckschen Nationalpolitik die prima causa aller folgenden Dinge, die hätten vermieden werden können, wenn nur der erste Schritt nicht getan worden wäre. Dies ist eine der schrecklichen Vereinfachungen, mit denen spätere Generationen ihre Fehler auf die Väter und Großväter abzuwälzen pflegen. Daß die Ereignisse von 1914, 1918, 1939 und 1945 nichts mit denen von 1870 zu tun hatten, wäre eine ebenso große Simplifikation wie die andere, daß schon im Anfang notwendig das Ende enthalten war. Die politische Zusammenfassung eines der zahlenmäßig stärksten Völker Europas in einem von den Machttraditionen Preußens geführten Nationalstaat barg zweifellos die Verlockung zu einer hegemonialen Stellung in sich. Vielleicht ist sogar dadurch, daß der Machtwille eines im Geist der vorrevolutionären monarchisch-absolutistischen Epoche wurzelnden Staatswesens, wie es die preußische Monarchie war, mit den stürmischen Tendenzen der in der industriellen Revolution sich umformenden nationalen Gesellschaft verknüpft wurde, eine Potenzierung der Kräfte eingetreten, die in dieser Form nur Deutschland kannte. Niemand hat die Gefahren einer offenen Hegemonie für Deutschland bei dessen allein schon durch seine Lage bedrohten Sicherheit deutlicher gesehen als Bismarck selbst, und er hat sich namentlich bei der Vorbereitung des Berliner Kongresses von 1878 darum bemüht, eine Formel für eine Stellung zu finden, die sich vielleicht am besten als „latente Hegemonie" bezeichnen läßt. In der Reichstagsrede vom 19. Februar 1878 lehnte er es ausdrücklich als den „napoleonischen Weg" ab, „Schiedsrichter oder auch nur Schulmeister in Europa sein zu wollen". Wenn unter Hegemonie das Verhalten eines Staates verstanden werden kann, der seine Führungsrolle in einem politischen System grundsätzlich immer und überall beansprucht, so hat das Bismarcksche Reich diese Rolle nicht spielen wollen und nicht gespielt. Aber es ist ebenso sicher, daß das Europa zwischen 1870 und 1890 nach Berlin gravitierte und daß die Entscheidungen der Reichs-politik den Ausschlag für die gesamte europäische Politik gaben. Einer derartigen hegemonialen Stellung kann ihre ordnende Funktion nicht bestritten werden, und nicht nur über sie, sondern auch über ihre Voraussetzung, nämlich die Schöpfung des Nationalstaats den Stab zu brechen, würde unmögliche Urteilskategorien in der Historieeinführen und ihr jeden Bezug auf eine jeweilige Epoche und die in ihr gültigen Wertmaßstäbe nehmen. Daß der deutsche Nationalstaat auch aus solchen epochalen Bezügen, d. h. aus dem fast universal in Europa geltenden Nationalitätsprinzip hergeleitet werden muß, wird niemand leugnen können. Ebenso wenig kann man übersehen, daß die Anwendung des Nationalitätsprinzips auf die deutsche Nation mit besonderen Problemen und Schwierigkeiten behaftet war, ja geradezu zu unaufhebbaren Widersprüchen führen mußte; zu ihnen gehört der Dualismus zweier Führungsmächte ebenso wie die Verzahnung der deutschen Politik mit nichtdeutschen Problemen namentlich in Österreich. Schließlich war der Übergang zu einer starken nationalen Staatsmacht zweifellos ein Bruch mit einer seit Jahrhunderten im wesentlichen unstaatlichen. Vergangenheit der Deutschen insgesamt. Die staatlichen Tendenzen, die in den westeuropäischen Nationen zu einer nationalen Zusammenfassung sowohl in monarchischer wie demokratischer Form führten, kamen in Deutschland nur den Teilstaaten, insbesondere Preußen, dem staatlichen Gebilde in der deutschen Geschichte schlechthin, zugute. Der Deutsche Bund von 1815 mit seiner staatenbündischen, föderativen Struktur war die letzte Darstellung einer seit Jahrhunderten durchgehenden föderalistischen Überlieferung mit sehr lockeren gesamtstaatlichen Bindungen und Organen. Sein „ganzes Heil", d. h.sein Funktionieren, beruhte, wie das schon Wilhelm von Humboldt gesehen hatte, auf dem gar nicht verfassungsrechtlich zu regulierenden Einverständnis der beiden Großmächte, und dieses wiederum auf der Verständigungsmöglichkeit der beiden deutschen Mächte mit der dritten Macht der Heiligen Allianz, mit Rußland. Dieses wohlausgewogene System ist in den Revolutionswirren von 1848 bis 1850 zerbrochen. Das mittelbare Ergebnis der Revolution war die Erstarkung der alten Gewalten und der von ihnen beherrschten Staaten gewesen, was sowohl für Österreich wie für Preußen gilt, und im Zusammenhang damit die Erstarkung des nach außen gerichteten staatlichen Egoismus. Der restaurierte Deutsche Bund von 1850 kennt daher nicht mehr den friedlichen Dualismus der Zeit von 1815 bis 1848, sondern nur mehr den offenen Dualismus, der in verschiedenen Formen und mit verschiedenen Mitteln ausgetragen wird, aber zum beherrschenden pro-blem geworden ist. Bismarck tritt in diese Situation ein, ohne sie geschaffen zu haben;

sein politischer Instinkt läßt ihn nur sehr rasch in Frankfurt die neue Wirklichkeit in der Bundespolitik erkennen und danach handeln.

Daraus ergibt sich, daß nach 1850 im Grunde niemals mehr die Fortentwicklung des Deutschen Bundes eine Alternative zu einer entweder von Österreich oder von Preußen betriebenen machtstaatlichen Politik gewesen ist. Von Österreich aus versuchte sie zuerst der Fürst Schwarzenberg, später von Preußen aus Bismarck. Die Möglichkeiten einer deutschen Reform engen sich daher mehr und mehr auf die Möglichkeiten der Abgrenzung der beiden Mächte ein: diese konnte am Main gesucht werden, was Süddeutschland in der österreichischen Einflußsphäre gelassen hätte, oder sie konnte die süddeutschen Staaten zu Preußen hinüberziehen, wie es seit 1866 geschehen ist. Eine gemischte Lösung, die Preußen und Österreich nebeneinander im Bunde bestehen ließ und für sie im Verein mit den kleineren Königreichen eine Art Gesamtherrschaft geschaffen hätte, setzte noch die politischen Strukturen von 1815 voraus. Darum war der mit so viel geistigem und politischem Elan von Österreich vorbereitete Reformversuch des Bundes auf dem deutschen Fürsten-tag von 1863 zum tragischen Scheitern verurteilt, nicht etwa weil ihn Bismarck tatsächlich zum Scheitern gebracht hat, sondern weil er sich nicht mehr realisieren ließ. In diesem Augenblick war Bismarck viel mehr der Vollstrecker unabänderlicher historischer Tendenzen als der böswillige Zerstörer einer wahren deutschen Einheit, die weit stärker im Einklang mit der deutschen Geschichte zu stehen schien als die gewaltsame, höchst unhistorisch wirkende Schöpfung Kleindeutschlands, für das es kein geschichtliches Vorbild in der deutschen Vergangenheit gab, auch nicht etwa den vielberufenen Fürstenbund Friedrichs des Großen.

Man muß sich auch noch mit der Meinung auseinandersetzen, daß durch den Bruch mit dem Deutschen Bunde, der schon im Jahre 1863 beginnt, eine europäische Erweiterung des deutschen Staatenbundes von 1815 unmöglich gemacht worden sei und jene verhängnisvolle Abschließung der Nationalstaaten in Europa begonnen habe, deren Ergebnis in unserem Jahrhundert wir kennen. Als Bismarck die Zügel der preußischen Politik übernahm, war ein wesentlicher Bestandteil der Ordnung von 1815, das italienische Staaten-system, schon zerstört und an seine Stelle ein — wenn auch noch unfertiger — Nationalstaat getreten. Frankreich beschritt unter Napoleon III. im zweiten Empire einen politischen Weg, dessen Stationen sowohl die Erneuerung eigener nationaler Prestigepolitik wie die Proklamation des Nationalitätsprinzips für andere europäische Völker bildeten. Die revolutionären Ereignisse von 1830/31 hatten bereits an die Stelle der „europäischen" Lösung des Königreichs der Vereinigten Niederlande die nationalen Staaten Belgien und die Niederlande gesetzt. Schritt für Schritt, zuletzt nach dem polnischen Aufstand von 1863, der eine der großen politischen Chancen von Bismarcks auswärtiger Politik werden sollte, baute das russische Zarenreich die „föderativen" Elemente seines Reichsaufbaus ab und ging zur Schaffung der einheitlichen groß-russischen Nationalstaats über. Polen verlor die letzten Reste seiner autonomen Existenz.

In Nordeuropa versuchte Dänemark die aus der vornationalen Zeit stammende Verbindung mit den Herzogtümern Schleswig und Holstein durch die Ausdehnung der dänischen Gesamtstaatsverfassung auf Schleswig im Geiste der modernen staatsnationalen Tendenzen zu verändern und rief dadurch eine ebenso offensive nationaldeutsche Gegenbewegung hervor. Mitten in diesem sich verändernden Europa blieb der wiederhergestellte Deutsche Bund als ein Relikt einer früheren Epoche stehen, und es erscheint wie eine — wenn auch schöne — Utopie, ihn in diesem Moment noch zum Kristallisationskern einer neuen europäischen Föderation machen zu wollen. Unstreitig lag der größere Reichtum an politischen Ideen, an die alle Europäer verbindenden Kulturtraditionen, an geschichtlicher Tiefe beim alten europäischen System, wie es auf dem Wiener Kongreß geschaffen worden war, aber diese Einsicht entbindet nicht von der Erkenntnis, daß die europäischen Nationen sich längst darüber hinausentwickelt hatten und daß die Deutschen auf dem Sprunge waren, dies nachzuholen. Bismarck war damit in viel höherem Maße, als dies eine nur auf das Wirken der großen Persönlichkeit eingestellte Geschichtsanschauung erkennen konnte, an die großen Tendenzen seiner Zeit gebunden. Niemand kann aber leugnen, daß er sich ständig zum Protagonisten dieser Tendenzen gemacht, seine Umwelt aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken versucht hat. Diese seine geschichtliche Rolle läßt sich nirgends so plastisch erfassen wie für die Jahre seines Wirkens als preußischer Bundestagsgesandter in Frankfurt. Er ist es, der den Disput mit seinen österreichischen Kollegen beim Bundestag fast immer auf die letzten großen Entscheidungen zuspitzt; der das zögernde Berliner Ministerium antreibt, unter Druck setzt, und der das Fazit aus seinen Erfahrungen in seinen ersten großen Staatsschriften oder in den Briefen an seinen konservativen Parteifreund Leopold von Gerlach niederlegt. Hier bereits erscheint die persönliche Verantwortlichkeit des großen Staatsmannes vor der Geschichte, vor der Nachwelt, und niemand sollte diese bestreiten. Aber sie kann die Grenzen des menschlichen Ermessens niemals überschreiten und die Verantwortung für Epigonen, für größenwahnsinnige Ausbeuter zeitbedingter Ideen einem Manne zur Last legen wollen, der weit über das übliche Zeitmaß hinaus vor-gedacht und vorgeplant hat.

Bismarck als Innenpolitiker

Von Bismarck stammt ein Wort, man müsse Deutschland nur in den Sattel setzen, reiten werde es schon können. Man kann aus ihm entweder ein unbegrenztes optimistisches Vertrauen in die politischen Fähigkeiten der Deutschen beim Ausbau ihres nationalen Staates oder auch ein geringeres Interesse des Staatsmanns Bismarck an innerer Politik, Verfassungspolitik und Verwaltung herauslesen. Dieses zweite trifft zu, wenn man auf den nicht einzuholenden Vorsprung der auswärtigen Politik im Wirken dieses Mannes blickt. Jedoch verbot es allein schon sein immenser Einfluß auf alle Sparten des Staats-lebens, daß er sich jemals mit der Schaffung des äußeren staatlichen Gehäuses für die deutsche Nation begnügt und dessen innere Ausgestaltung dieser selbst oder seinen Mitarbeitern überlassen hätte. Er wirkte vielmehr auch bei der Verfassung und Verwaltung des Reichs entscheidend mit. Aber während das in die Zukunft Planende, Konstruktive in seiner Außenpolitik überwiegt, sind in der Innenpolitik die durch ihn hervorgerufenen Hemmnisse, Halbheiten und Fehler in der Überzahl. Zu ihnen gehört, wie schon Max Weber hervorgehoben hat, zu allererst die fast erdrükkende Last seiner das normale Maß sprengenden Persönlichkeit. Man muß aber auch hier Klischeevorstellungen des Lobes und des Tadels vermeiden: Es ist weder so, daß Bismarck allein die Verfassung des Norddeutschen Bundes geschaffen hat, die später zu der des Deutschen Reichs erweitert wurde, und daß die ausschließlich von ihm verantwortete Verfassungskonstruktion mit divinatorischer Sicherheit die einzig tragbare Lösung gewesen und bis zuletzt geblieben ist. Noch ist es so, daß ein nur aus Mängeln zusammengesetzter Verfassungsbau von Anfang an nicht lebensfähig gewesen sei, vor allem weil er den dogmatischen Regeln des konstitutionell-parlamentarischen Verfassungsrechts nicht entsprochen habe. Wer freilich von der Frankfurter Nationalversammlung und ihrem Verfassungsausschuß mit ihren Debatten über die Systematik des Bun-desstaats auf die Vorgeschichte der Reichsverfassung blickt, wird das Fehlen von Regeln, den Vorrang pragmatischer Entscheidungen vor systematischen aufs stärkste empfinden. Man kann von mehreren Komplexen bei der Verfassungsentstehung sprechen, die wie erratische Blöcke nebeneinanderliegen, ohne je ganz miteinander verbunden zu werden: die hegemoniale Macht Preußens, enorm gesteigert durch die norddeutschen Annexionen von 1866, und ihre Monarchie, die in der sogenannten „Kommandogewalt des Königs"

einen außerkonstitutionellen Faktor von höchster Bedeutung bildete; die noch übriggebliebenen kleineren Fürstenstaaten und Städte im Norden, die das föderative Element der vorausgehenden deutschen Verfassungen repräsentierten, aber ins Gewicht fielen nur im Blick auf die süddeutschen Länder; die nationaldemokratische Komponente einer auf dem allgemeinen Wahlrecht — dem weitestgehenden des damaligen Europa — beruhenden Volksvertretung und endlich die mächtige Persönlichkeit Bismarcks selbst, die zweifellos selbst zu einem Bestandteil der Verfassung geworden ist. In den Organen des Reichs:

— Kaiser, Bundesrat, Reichstag, Reichskanzler — sind diese vier Elemente gegenwärtig. Solange Bismarck wirkte, war in diesem System relativ unkoordinierter Gewalten die Koordination und die Einheitlichkeit des Willens durch ihn selbst gewährleistet. Aber auch schon in der Ära Bismarck sind die Schwächen der Verfassungsordnung klar hervorgetreten, vor allem die Spannung zwischen Reichskanzler und Reichstag, da dieser zwar aufgrund eines sehr demokratischen Wahlrechts gewählt wurde, aber verfassungsrechtlich keinerlei Kontrollrechte über die Exekutive und politisch kaum die Aufstiegsmöglichkeit seiner Mitglieder in hohe Reichsämter kannte. Im Bismarckschen Reich entwickelten sich moderne Massenparteien, aber ihre Führer waren auf Kritik oder untergeordnete Mitwirkung beschränkt, sie wurden zum Regieren nicht erzogen. Diese Spannung hat das deutsche Parteiwesen schwer belastet und manche Züge doktrinärer Verhärtung und Entfremdung von praktischer Politik geprägt, die den deutschen Parteien schon von ihren Ursprüngen her anhafteten und die sie in der ersten Epoche großer parlamentarischer Tätigkeit nicht abstreifen konnten.

Bismarck hat die Einflußlosigkeit der Parteien unzweifelhaft selbst gewollt, er hat sie überall da wiederhergestellt, wo sich ein Parteieinfluß stärker geltend zu machen drohte als ihm lieb war, wie bei der Nationalliberalen Partei am Ende der siebziger Jahre. Er ging mit Parteien oft um wie mit ausländischen Mächten: er umwarb sie, kreiste sie ein und suchte sie zu zertrümmern, ohne daß es je unter ihm zu einem normalen modus vivendi mit ihnen gekommen ist. Dies hinderte nicht daran — und man sollte das nicht übersehen —, daß es ihm gelang, mit dem Reichstag und seinen Fraktionen in oft mühevollen Verhandlungen Gesetzgebungsreformen wie vor allem die sozialen Versicherungsgesetze, aber auch die Ordnung der Reichsfinanzen durchzubringen, so daß man nicht einfach von einer innenpolitischen Sterilität in seiner Epoche sprechen kann.

Der eigentliche Fluch seines Regimes für das innere Leben in Deutschland lag in seiner Neigung, Gegensätze dramatisch zuzuspitzen, ganz im Widerspruch zu seiner außenpolitischen Praxis, Präventivkriege zu führen, bevor alle Möglichkeiten der Verständigung erschöpft waren. Dies galt für den Kulturkampf, der sicher sein schwerster politischer Fehler gewesen ist, es galt aber auch für die Verfolgung der Sozialdemokratie durch das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". In dem ersten Falle riß er eine ohnehin vorhandene Bruch-linie im jungen Reichsbau zu einer fast unüberbrückbar werdenden Kluft auf und drängte den katholischen Bevölkerungsteil des Nationalstaats, der sich zum erstenmal einer evangelischen Mehrheit unter einem evangelischen Kaisertum gegenübersah, in die Opposition, statt ihn an das Reich heranzuholen. Es mag sein, daß für Bismarck dabei außenpolitische Befürchtungen vor einer Allianz katholischer Mächte mitgespielt hatten, wahrscheinlicher ist, daß für ihn die politische Sammlung der katholischen Kräfte in der Zentrumspartei ganz unerwartet kam und er hinter ihr auch eine Sammlung partikularistischer Tendenzen vermutete. Das Verhältnis zur Sozialdemokratie läßt sich wesentlich einfacher erklären: Er hat von ihr wie viele andere Zeitgenossen nur die rein negative Tendenz seinem Staate und jedem Staate gegenüber wahrgenommen und das sozialdemokratische Programm einfach als das „Evangelium der Negation" bezeichnet. Die revolutionäre Taktik der Sozialisten durchschaute er nicht ganz und erklärte sie sich hinreichend aus der Analogie mit den sozialrevolutionären Bewegungen in den Nachbarländern, namentlich mit den Anarchisten. Das Stichwort dafür gab ihm August Bebel schon während der ersten Reichstagssession im Mai 1871, als dieser den Kampf der Kommune in Paris als ein „kleines Vorpostengefecht" bezeichnete und der Gewißheit Ausdruck verlieh, „daß die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht und daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang, der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariates sein wird".

Nach den Attentaten auf Kaiser Wilhelm 1.

im Jahre 1878 wurde es für Bismarck vollends klar, daß die deutsche Sozialdemokratie mit dem russischen Anarcho-Nihilismus im Zusammenhang gesehen werden müsse. Es ist kein Zweifel, Bismarck hat an die sozialdemokratische Revolution geglaubt und sie als eine reale Bedrohung seines Staats aufgefaßt, was ihn allerdings nicht daran hinderte, mit’ dieser Bedrohung auch innenpolitische Taktik namentlich gegen die Nationalliberalen zu treiben. Man könnte in Abwandlung seines bekannten Wortes bei ihm geradezu von einem cauchemar des revolutions sprechen.

So ist die in der Begründung und Wirkung verfehlte Repressivpolitik gegen die Sozialdemokratie aus politischen Motiven, aus Staatsräson und nicht aus persönlicher Ranküne erwachsen. Ihr notwendiges positives Gegenstück waren die Pläne des Reichskanzlers für die sozialpolitische Gesetzgebung, für die er selbst auch den Vorwurf des Staats-sozialismus einzustecken bereit war. Doch lag gerade in der unglücklichen Verkoppelung einer großartigen und bahnbrechenden staatlichen Sozialpolitik mit einer politischen Ausnahmegesetzgebung das eigentliche Verhängnis. Eine Zustimmung der Sozialdemokratie, eine „Integration" der Arbeiterschaft in die nationale Gesellschaft wurde dadurch außerordentlich erschwert und um Jahrzehnte verzögert. So hat alles in allem der Reichsgründer Entscheidendes dazu beigetragen, die innere Einheit der Nation, für die er im Nationalstaat einen machtvollen Rahmen geschaffen hatte, zu erschweren. Er sah wohl das Unvollendete und auch Unvollendbare seiner politischen Schöpfung, aber er meinte es nur in der fehlenden außenpolitischen Sicherheitsgarantie und im Innern höchstens im staatlich-politischen Partikularismus zu finden, für dessen Eindämmung er in erster Linie in der Verfas-sung Vorsorge getroffen hatte. Erst im Alter wurde es ihm voll deutlich, daß gar nicht der „geographische Partikularismus" die eigentliche Belastung des Reichs darstellte, sondern das, was er jetzt „Fraktionspartikularismus" nannte und was in Wahrheit auch eine Folge seiner inneren Politik gewesen ist. Andere Momente des Unvollendeten in der Reichsschöpfung von 1871 haben ihn offenbar unberührt gelassen: so die untergründig im Bewußtsein der nationalen Bewegung nie ganz erlöschende Vorstellung vom unvollendeten Nationalstaat, oder die vom Liberalismus beklagte Unvollendetheit des Verfassungsstaats, die im Ersten Weltkrieg immer tiefer empfunden wurde, oder schließlich das schon von Nietzsche in der Geburtsstunde des neuen Reichs aufgeworfene Problem des unvollendeten Kulturstaats. Es ist nicht überall im einzelnen auszumachen, was davon auf den Einschlag der Persönlichkeit Bismarcks zurückzuführen ist: sicherlich uneingeschränkt die Nicht-Vollendung des Nationalstaats im großdeutschen Sinne, weil Bismarck hier die von außen jeder deutschen Nationalentwicklung gesetzten Grenzen klar erkannte. Daß er die Verfassung des Reiches als unvollendet, ungenügend empfunden hätte, könnte höchstens in einem anderen Sinne zutreffen, wenn man an die gelegentlich auftauchenden, niemals zum konkreten Plan eines Staatsstreichs verdichteten Überlegungen der späten achtziger Jahre denkt, die Reichsverfas-sung zu kündigen und einen neuen Bund der Fürsten mit schwächerer Macht des Reichstags zu schließen. Und wie dachte der Reichs-kanzler über das unbefriedigende Verhältnis von Staat und Kultur, wie es zuerst von Nietzsche angeprangert worden war? Es fiele schwer, hierfür ein bezeichnendes Wort von ihm zu zitieren. Diese Frage stand jenseits dessen, was ihn innerlich erfüllte. Sein Verhältnis zur Kunst war ein spontanes und beruhte auf den Voraussetzungen einer großartigen Fähigkeit zur Gestaltung vor allem des Worts, aber zu neuerer Kunst fand er wenig Zugang. Eine Begegnung mit Richard Wagner verlief für beide höchst unbefriedigend. Die Professoren, über deren unpraktische Ideen er sich höchst ironisch äußern konnte, dankten ihm zum großen Teil mit Zustimmung und Verehrung, insbesondere der Jurisprudenz gab der Realismus seiner Politik mannigfache Anregungen. Viele Gelehrte jedoch zogen sich wieder von ihm zurück, auch wenn sie sich vorher seiner nationalen Politik genähert hatten, und beklagten sein System der inneren Unfreiheit wie z. B. Theodor Mommsen; Bismarck richtete auch gegen ihn seine Ironie und äußerte im Reichstag, man könne nur annehmen, daß „die Vertiefung in die Zeit, die 2000 Jahre hinter uns liegt, diesem ausgezeichneten Gelehrten den Blick für die sonnenbeschienene Gegenwart vollständig getrübt hat.“

Die Meister der auswärtigen Politik

Wir kehren zuletzt noch einmal auf das Feld der auswärtigen Politik zurück, auf dem Otto von Bismarck der unbestrittene Meister gewesen ist. Er war vom preußischen zum deutschen Staatsmann aufgestiegen und beherrschte in den beiden letzten Jahrzehnten seines Wirkens die europäische Bühne. Der immer weitere europäische Horizont dieses politischen Lebens läßt sich in den Männern erfassen, denen Bismarck auf seinem Wege zum europäischen Staatsmann gegenübertrat. Auf die diplomatischen Gefechte mit den Gesandten Österreichs in Frankfurt, Friedrich Thun, Prokesch von Osten und Rechberg folgten die Begegnungen mit dem Petersburger Hof und der Petersburger Gesellschaft und zum erstenmal mit dem Fürsten Gortschakow, dann führte die Berufung zum Gesandten in Paris zur näheren Tuchfühlung mit Kaiser Napoleon III., dem späteren großen diplo-matischen Gegner der Jahre 1866— 1870. Es folgten während der Ministerpräsidentschaft Bismarcks die Jahre der Beziehungen zu dem österreichischen Ministerpräsidenten und Außenminister Grafen von Rechberg in den Entscheidungsjahren bis 1865 und später nach der Reichsgründung zum Grafen Andrässy, der dem Zweibund den Weg bereitet hatte. Unter den Staatsmännern dieser späteren Jahre der Reichskanzlerzeit hat Bismarck im russischen Reichskanzler Fürst Gortschakow seit der Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 einen persönlichen Gegner gesehen, in dem englischen liberalen Staatsmann Gladstone mehr eine fremdartige Erscheinung, der er zuweilen jede Vernunft absprach, als einen prinzipiellen Gegner, der er tatsächlich gewesen ist. Unter den zeitgenössischen Staatsmännern des Auslandes war ihm nach seinen Anschauungen wohl der englische Konservative Disraeli am verwandtesten, dem er auf dem Berliner Kongreß von 1878 näher kam, später etwa noch sein konservativer Nachfolger Lord Salisbury. Von den französischen Staatsmännern der nachnapoleonischen Zeit sind ihm nur mehr die Unterhändler des Friedens von 1871, Adolph Thiers und Jules Favre, persönlich begegnet. Unzweifelhaft war Bismarck selbst unter all diesen Männern, die seine Partner auf dem Felde der großen Politik gewesen sind, die überragende Gestalt, wenn ihm auch Disraeli durch seine Empire-Politik an weltgeschichtlichen Wirkungen und Gladstone durch die ethische Energie seiner Politik überlegen gewesen sein mögen.

Wenn so der europäische Rang des Staatsmannes außer Zweifel steht, so ist doch zu fragen, worin eigentlich der europäische Charakter seiner Politik zu suchen ist und ob er überhaupt besteht. Zweierlei scheint zunächst dagegen zu sprechen: einmal die Tatsache, daß die preußische Politik Bismarcks bis zur Errichtung des Deutschen Reiches und auch in den Jahren danach, als es dem Reichs-kanzler um die Sicherung des Erreichten ging, nicht an überstaatlichen europäischen Interessen, sondern ausschließlich an der Staatsräson Preußen-Deutschlands orientiert war.

Und dann die allzeit radikale Skepsis Bismarcks gegenüber „Europa" als einer überstaatlichen Rechtsmacht, wie sie in der Restaurationszeit von den Konservativen und in den fünfziger Jahren von den Liberalen namentlich in England verstanden wurde. So selbstverständlich Bismarck das Wort Europa gleichsam als Abbreviatur für die Gesamtheit der staatlichen Mächte Europas in der Sprache der Diplomatie verwendet und so plastisch gerade in der Spätzeit seine Bilder werden, dies Mächteeuropa als politisches Kraftfeld der hohen Staatenpolitik zu bezeichnen, es ist doch seit seinen Erfahrungen mit den europäischen Mächten in Frankfurt ein Stachel gegen die Verwendung dieses Wortes bei ihm zurückgeblieben. Immer klarer schälen sich zwei Einwände dagegen heraus: Einmal hat Bismarck stets geleugnet, daß „Europa" ein höheres Rechtsprinzip gegenüber den Staaten verkörpere, daß in ihm so etwas wie ein naturrechtliches Moment enthalten sei, ein der Menschheitsidee zugewandtes Prinzip höherer Ordnung. Den Begriff des „europäischen Rechts", den wir häufig bei ihm finden, nahm er positivistisch: „Das europäische Recht wird durch europäische Traktate geschaffen", schrieb er zu Beginn der Schleswig-Holstein-Krise. „Wenn man aber an letztere den Maßstab der Moral und Gerechtigkeit legen wollte, so müßten sie ziemlich alle abgeschafft werden." Mit zweifelnder Skepsis, oft aber geradezu beißender Ironie ist daneben aber immer wieder von dem Staatsmann, der die Zersplitterung und den inneren Antagonismus der europäischen Mächte nur zu genau durchschaute, die politische Effektivität eines gemeinsamen Willens Europas in Frage gestellt worden. Dies geschah zuerst während der polnischen Krise des Jahres 1863, als der preußische Ministerpräsident dem überraschten britischen Botschafter andeutete, Preußen könne sehr wohl selbst Polen besetzen, wenn die Russen aus dem Königreich hinausgeworfen würden. „. Dies wird Europa niemals dulden', entgegnete Sir A. Buchanan und wiederholte dies Wort im Lauf des Gesprächs mehrere Male. Ich fragte ihn endlich: , Who is Europe?'. Mehrere große Nationen (several great nations)', war die Antwort. Auf meine Frage, ob diese Nationen unter sich in dieser Beziehung einig seien, vermied der Botschafter es, dies positiv zu behaupten ..."

Man könnte in diesen Äußerungen Bismarcks leicht hingeworfene Gelegenheitswendungen eines Mannes sehen, der die Schwächen der Argumentation seiner Gesprächspartner blitzschnell durchschaute. Aber dagegen spricht, daß sich solche Aussagen in späterer Zeit und dann in einem weiter ausgeführten Zusammenhang wiederholen, der keine Zweifel mehr an ihrer Gewichtigkeit gestattet. Jedes-mal, wenn Bismarck die Idee einer europäischen Solidarität in diplomatischen Verhandlungen entgegengehalten wurde, reagierte er darauf mit heftiger Ablehnung; als einen diametralen Widerspruch zu seiner Auffassung von der europäischen Gesamtpolitik hat er sie offenbar empfunden. Diese Reaktion ist einmal, um die Jahreswende 1876/77, im Zusammenhang mit der Balkankrise besonders energisch gewesen und führte dazu, daß Bismarck in einem allgemeineren Rahmen zum europäischen Problem Stellung bezog. Er nimmt jetzt die Gelegenheit wahr, gegen die Idee von Europa als politischer Rechtsmacht seine Konzeption vom Europa der Interessen-begrenzung der einzelnen Mächte zu setzen, und es fallen die härtesten Worte, die Bismarck je über Europa gesprochen hat: „Qui parle Europe a tort. Notion geographique." Er unternimmt es, der „Spiegelfechterei mit dem Europäertum" zu Leibe zu rücken, der „unhaltbaren und für uns sehr nachteiligen Fiktion" entgegenzutreten, „Europa als eine einheitliche Macht, als eine Art Bundesstaat hinzustellen ..." Er holt die Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts hervor, um schließlich den vielberufenen Satz zu schreiben: „Ich habe das Wort Europa immer im Munde derjeni-gen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten; so die Westmächte im Krimkriege und in der polnischen Frage von 1863, so Thiers im Herbst 1870 und Graf Beust, als er das Mißlingen seiner Koalitionsversuche gegen uns mit dem Worte ausdrückte: , je ne vois plus l’Europe'. Im vorliegenden Falle versuchen Rußland sowohl wie England abwechselnd uns als Europäer vor den Wagen ihrer Politik zu spannen, den zu ziehen wir als Deutsche, wie sie selbst wohl einsehen, keinen Beruf haben."

Diese Sätze richten sich unmittelbar gegen den Versuch der russischen Politik, Rußland eine Art Mandat der europäischen Mächte zu verschaffen, um auf dem Balkan, vor allem in Bulgarien, intervenieren zu können, aber sie gewinnen erst ganz ihren historischen Hintergrund, wenn man sie mit dem Programm des „Concert of Europe" vergleicht, das der liberale Parteiführer Gladstone wenige Jahre später, im Winter 1879, in seinem berühmten Wahlfeldzug von Midlothian gegen Disraeli aufstellte. Es war das Programm einer kollektiven Friedenssicherung durch alle Mächte, die sich zur Wahrung des Rechts und des Friedens gegen jede Friedensstörung zusammenfinden sollten. Dies war nicht nur die Alternative zu Disraeli, sondern auch die Alternative zu Bismarcks Europa-Politik, und sie enthielt in nuce die Grundgedanken einer „Politik des Rechts" anstelle einer Politik der Gewalt, wie sie am Ende des Ersten Weltkriegs der amerikanische Präsident Wilson seiner Idee eines allgemeinen Völkerbunds zugrunde legte. Demgegenüber stellte Bismarcks europäisches System ein System der Allianzen im Stile der Mächtepolitik der vorausgehenden Jahrhunderte europäischer Staatengeschichte dar; eine Form der Staatenverbindungen also, in denen die Partner ihre volle Souveränität behielten, keine Bündnisse mit „föderalistischer" Struktur im Sinne von Konstantin Frantz oder mit einer bei Gladstone lebendigen Tendenz, überstaatliche Instanzen rechtlicher und politischer Art zu schaffen. Es ist die klassische Form von power politics, die Bismarck selbst als Interessenpolitik im Unterschied zu Prestigepolitik definiert. In jeder Interessenpolitik ist für ihn die Beschränkung auf ein begrenztes Interessenfeld und die Einkalkulierung der Interessen der anderen Mächte eingeschlossen. „Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin." Diese das Bismarcksche System der Außenpolitik erhellenden Worte finden sich in der großen Reichstagsrede vom 6. Februar 1888.

In dieser Weise hat Bismarck Interessenpolitik betrieben, indem er jeweils den eigenen Interessenraum und den der anderen Mächte vor jeder Entscheidung genau fixierte. Damit überschritt er konventionelle Vorstellungen von Bündnispolitik in einigen Fällen erheblich und seine Politik führte zu einer Auspendelung von Gewichten und Gegengewichten, die durch die Unterstützung gegensätzlicher politischer Tendenzen bei verschiedenen Partnern zustande kommen konnte. Dies läßt sich vor allem an Bismarcks orientalischer Politik in ihrem letzten Stadium seit 1887 zeigen. Er förderte damals den Abschluß eines Mittelmeer-oder Orientdreibunds zwischen England, Italien und Österreich, die sich u. a. über die zur Sicherstellung der türkischen Unabhängigkeit gemeinsam zu treffenden Maßnahmen verständigten und auch die Freiheit der Meerengen von jedem vorwiegend fremden Einfluß unter ihren Schutz stellten. Er hatte aber kurz vorher den soge-nannten Rückversicherungsvertrag mit Ruß-land geschlossen, der Rußland moralische und diplomatische Unterstützung durch Deutschland zusagte, falls der russische Zar sich gezwungen sähe, „den Schlüssel zu seinem Reiche selbst in die Hand zu nehmen", d. h. die Meerengen zu besetzen. Hier war zweifellos der Gipfel eines aufs höchste komplizierten Systems erreicht und der Versuch gemacht, die dynamischen Kräfte der Großen Mächte von innen her, durch ihre eigene Freisetzung gegeneinander zu bändigen. Bismarck scheut damit nicht vor politischen, wenn nicht sogar vertragsrechtlichen Widersprüchen zurück, aber der Sinn dieser problematischen Risiken beruht eben auf der Voraussetzung, daß Bündnisverpflichtungen gerade nicht effektiv werden sollen. Mindestens überall da, wo Bismarck außerhalb des unmittelbaren deutschen Interessenbereichs sich zur Unterstützung fremder Ansprüche bereit fand, hat er gleichzeitig dahin gewirkt, diese Ansprüche durch die Organisation von Gegengewichten wieder einzudämmen, ja ihre Verwirklichung faktisch unmöglich zu machen.

Es bleibt immer noch zu fragen, inwieweit ein solches System mehr sein kann als die Erhebung der staatlichen Selbsterhaltung — das was in der Theorie amerikanischer „Realisten" heute unter dem Begriff „survival” erscheint und was Bismarck selbst in einem Privatbrief an Lord Salisbury vom 22. November 1887 für die konkrete deutsche Situation mit messerscharfer Logik dargestellt hat — zur allgemeinen Norm. Man darf aber sagen, daß dieses System durch den Gedanken einer überstaatlichen Interessengemeinschaft, eines Miteinanders der Mächte und der allgemeinen Friedenssicherung, die ihrerseits selbst ein fundamentales Gebot des nationalen Interesses der Reichspolitik ist, einen europäischen Aspekt zurückgewinnt. Friedenssicherung wird als allgemeines Interesse aller Staaten unterstellt, wie es aus einem Diktat Bismarcks vom Jahre 1876 hervorgeht: „Die ganze Türkei mit Einrechnung der verschiedenen Stämme ihrer Bewohner ist als politische Institution nicht so viel wert, daß sich die zivilisierten Völker um ihretwillen in großen Kriegen gegenseitig zugrunde richten sollten. Die Teilnahme an dem Geschick jener Länder und ihrer Bewohner wiegt tatsächlich bei keiner Regierung so schwer, wie die Besorgnis vor den Entwicklungen, die an die Stelle der jetzigen Zustände treten könnten, und vor ihrer Rückwirkung auf die Sicherheit und das Machtverhältnis der nächstbeteiligten europäischen Mächte selbst." Bismarck vertritt keine idealistisch begründete Friedenspolitik, keinen ideologischen Pazifismus, sein Friede beruht nicht auf Gesinnung moralistischer Art, sondern auf realen Interessen. Es ist ein Friede, der die Bewahrung der bestehenden Ordnung zum Ziele hat, und insofern kann man in ihm den Ausdruck einer konservativen Politik sehen. Aber er ist doch auch der Einsicht entsprungen, daß der Krieg wirklich nur die ultima ratio sein darf, zulässig nur für die „vitalsten Interessen" eines Staates. Das ist keine Achtung des Krieges, auch keine klare Einschränkung des casus belli auf den Verteidigungsfall, die am wenigsten erwartet werden darf bei einem Staatsmann, der drei Kriege in seinem Amt verantwortet hatte, wenn auch, wie wir heute wissen, stets erst dann, wenn ihm alle anderen Möglichkeiten der Verhandlung erschöpft schienen. Es ist auch noch mehr als das „unveräußerliche Recht auf Selbstverteidigung einzelner oder mehrerer Staaten", wie es die Charta der Vereinten Nationen sanktioniert, aber man muß doch schon von einer auf dem Kalkül beruhenden Begrenzung des Krieges sprechen, die von jeder Verherrlichung des Krieges weit entfernt ist. Bismarck, der selbst den „Volkskrieg" mit allen seinen emotionalen Auswirkungen in seiner Rede vom 6. Februar 1888 mit dem Zwecke der Abschreckung geschildert hat, hatte zweifellos eine Ahnung von den Verwandlungen des Krieges in seiner modernen Form und er zog daraus die Konsequenzen.

Gerhard Ritter qualifiziert echte Staatskunst als politisches Handeln, das auf eine „dauerhafte Friedensordnung" gerichtet ist. In diesem Sinne ist Bismarck zweifellos als Repräsentant wahrer Staatskunst anzusprecnen, wenn ihm auch selbst der Gedanke an „endgültige" Ordnungen stets Unbehagen bereitet hat und er die clausula rebus Si sdhlDus für alle Verträge voraussetzte. Aber vielieicut hätte er den Unterschied zwischen dauerhaiten und „ewigen" Ordnungen anerkannt und diese als mit dem Wesen menschlicher politischer Systeme unvereinbar angesehen, jene aber als Ziel der eigenen Politik angenommen. Es bliebe dann nur zu fragen, ob seinem Werk die Qualität der Dauer in diesem relativen Verstände des Worts zugestanden werden kann, nachdem es den allgemeinen Frieden 43 Jahre erhalten konnte und dann nach 47 Jahren entscheidend getroffen, nach 74 Jahren vorläufig zerbrochen ist. Im Lichte politischer Systeme, die eine nahezu ewige Dauer ihrer Herrschaft beanspruchen wollten, aber in weniger als einem Drittel der Regierungszeit Bismarcks die Schöpfung von Generationen in den Untergang stürzten, sind wir wohl berechtigt, das Prädikat der Dauerhaftigkeit einer politischen Schöpfung zu verleihen, die heute noch als Leitbild und Zielvorstellung unser Denken bestimmt. Dies muß gegenüber all den Stimmen festgehalten werden, die gerade darin unser Verhängnis sehen wollen, daß wir uns von diesem Erbe nicht lösen können. Man kann aber nicht ungestraft einen geschichtlichen Prozeß, in dessen Verlauf eine Nation ihre moderne Gestalt angenommen und die industrielle Revolution vollzogen hat, einfach annullieren wollen, ohne diese Nation seelischer Erkrankung auszuliefern. Doch wäre es sicher im Geiste des kühlen Rechners Bismarck darüber nachzudenken, welche Metamorphose das politische System des deutschen Nationalstaats durchlaufen hat und welche Folgerungen daraus zu ziehen sind.

Noch eine letzte Frage ist zu beantworten. Wenn wir davon ausgegangen sind, daß im Prinzip der Friedenssicherung das Bismarck-sehe europäische System einen allgemeinen Aspekt zurückgewonnen hat, war in diese Überlegung der Vorbehalt eingeschlossen, daß in diesem Allgemeinen das Besondere des eigenen politischen Interesses enthalten blieb. Von dem deutschen Historiker Hermann Onkken wurde dieses Phänomen als die „Interessengemeinschaft zwischen der deutschen Sicherheit in der Mitte und dem Frieden Eu-ropas" bezeichnet Diese Identität eines präsumtiven allgemeinen Interesses Europas und des eigenen gilt nun aber für Bismarcks europäische Politik überhaupt. In einem sehr vorläufigen Sinne, mit äußerst prekären Mitteln sieht man in ihr eine Tendenz wirksam, sich auf eine europäische Gesamtordnung hinzubewegen und damit den partikularen Charakter von Bündnisgruppen zu überwinden. Die einleuchtendste Formulierung dafür findet Bismarck in einem Kissinger Diktat vom 15. Juni 1877, aus der Zeit der großen orientalischen Krise, als ihn das Problem der deutschen Politik und Juni 1877, aus der Zeit der großen orientalischen Krise, als ihn das Problem der deutschen Politik und ihres Verhältnisses zu Europa am stärksten beschäftigte. Hierin zeichnet er das Bild nicht „irgendeines Länder-erwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden." 13) Durch diese Definition wird deutlich gemacht, daß die von Bismarck angestrebte „Gesamtsituation" nicht etwa dem concert of Europe im Sinne Gladstones gleichzusetzen ist, sondern eine Machtordnung darstellte, die eine Respektierung der Interessen anderer Mächte mit einschloß, damit aber gleichgewichtspolitische Elemente beibehielt.

Die relative Ruhelage in Bismarcks „MächteEuropa" wird durch ein sehr kompliziertes System von Druck-und Spannungsverhältnissen erreicht, in denen Gleichgewicht auch durch indirekte Mittel herbeigeführt wird wie am Beispiel der Meerengenpolitik gezeigt werden konnte. Außerdem gehört dazu, daß Bismarck die Gravitierung der Mächteinteressen in Gebiete außerhalb -Europas unterstützt, ja sie geradezu herausgefordert hat. Auf diesem Prinzip beruht der Versuch, Frankreichs kolonialen Aspirationen diplomatischen Beistand zu gewähren oder die Reibungsflächen der europäischen Staaten an die Peripherie, z. B. nach Ägypten zu verschieben, wo sie nicht unbedingt friedensbedrohend werden mußten. Dann können Spannungen wie die Balkanrivalität Österreich—Rußland oder der Meerengengegensatz zwischen England und Rußland, der nur ein Teilproblem eines Welt-gegensatzes gewesen ist, geradezu zur Grundlage einer den Frieden sichernden Gesamt-politik gemacht werden. Das Nichterlöschen, ja das Unterhalten von kleinen Brandherden, wenn sie nicht zum alles ergreifenden Feuer werden, gehört dann notwendig in dieses System, das im übrigen die Existenz politisch „leerer" Räume voraussetzte, in die expansive Kräfte abgeleitet werden konnten.

Hinter dieser Politik steht das stets wache Bewußtsein ihres Schöpfers von der bedrohten deutschen Lage in der Mitte Europas, steht die angstvolle Vorstellung, daß „Millionen Bajonette ihre polare Richtung doch im ganzen in der Hauptsache nach dem Zentrum Europas haben, daß wir im Zentrum Europas stehen und schon infolge unserer geographischen Lage, außerdem infolge der ganzen europäischen Geschichte den Koalitionen anderer Mächte vorzugsweise ausgesetzt sind." 14) Man kann überhaupt sagen, daß die Aufrichtung des Bismarckschen Kontinental-systems von der europäischen Mitte her diesem seine charakteristischen Züge verleiht: Nicht auf Umfassung ist es gerichtet, wie die Koalitionen der französischen Kontinental-politik im 17. und 18. Jahrhundert, sondern auf Zusammenschluß der Mitte und Stärkung der zentrifugalen Tendenzen, die von der Mitte wegführen an die Peripherie. In diesem System wird Deutschland nach einem Wort Bismarcks „zum Bleigewicht am Stehaufmännchen Europa".

Für Bismarcks Mächte-Europa war der unveränderte Fortbestand der europäischen Staatenwelt und seiner einzelnen Glieder, vor allem der großen Mächte, existenznotwendig. Von dem am meisten bedrohten Österreich hat Bismarck daher wiederholt mit höchstem Nachdruck erklärt, daß seine Erhaltung für das Gleichgewicht in Europa unerläßlich sei. Mit einer Figur weniger im Spiel ließ sich das Spiel nicht mehr fortsetzen. Es entstand dann wie im Falle Österreichs die Frage, was man an seine Stelle in Europa setzen sollte:

„Neue Bildungen auf dieser Fläche", sagte Bismarck von Österreich, „könnten nur dauernder revolutionärer Natur sein." 15) Das bedeutete aber, dieses Mächtesystem bedurfte der Entschärfung der in ihm lagernden nationalrevolutionären Sprengkörper; die nationale und nationalistische Dynamik, sei es in ihrer panslawistischen oder pangermanistischen Form, aber auch die sozialistische Revolution konnten es von unten her zum Explodieren bringen. So ergab sich auch daher eine dem Metternichschen System noch im Prinzip verwandte sozialkonservative Tendenz im Bismarckschen Europa, wenn auch der Selbsterhaltungstrieb der Staaten sich seither weit mehr verselbständigt hatte; es ergab sich die vom System her zwingende Notwendigkeit, Europa auf der Grundlage der Staaten und Mächte, nicht der Völker und ihrer Nationalismen zu konsolidieren. Die Gefahr, die daraus erwuchs, bestand in der ständig drohenden Entleerung dieser Ordnung von den Willensimpulsen der Völker, die Verwandlung eines Lebensprozesses in ein mit abstrakten Größen arbeitendes, kunstvolles Schachspiel. Dieser Eindruck verläßt uns bei den letzten gewagten Zügen des „Spiels mit den fünf Kugeln" um das Jahr 1887 nicht ganz.

Bismarcks Mächte-Euröpa ist wohl der letzte von Europa selbst und ausschließlich von ihm unternommene kontinentale Ordnungsversuch, der zwischen den damaligen Flügelmächten der Weltpolitik, Rußland und England, ein selbständiges Gewicht der europäischen Politik zur Geltung brachte. Er war schon damit an die Rolle gebunden, die Europa in der Welt spielen konnte, und seine Dauer dadurch begrenzt. Daß Bismarck selbst je gedacht haben könnte, eine Endform der Ordnung Europas geschaffen zu haben, verbot ihm seine Kenntnis von der Zerbrechlichkeit politischer Gebilde überhaupt und des deutschen im besonderen. Den Untergang des Deutschen Reiches hat er vor allem im Alter, in der Verbitterung der Einsamkeit, mehrfach als reale Möglichkeit ins Auge gefaßt. Daß dieser Untergang mit einem allgemeinen europäischen Schrumpfungsprozeß in der Welt zusammenfallen könnte, sah er wohl weniger klar voraus, wie im ganzen sein Blick über die außereuropäische Welt nicht so hellsichtig war wie über den europäischen Kontinent.

Lag darin eine Schranke, die wir heute in einer veränderten Welt ohne Mühe bemerken können, so wäre zu fragen, ob sein System durch Gleichgewicht der Macht Frieden zu stiften im Zeitalter der nuklearen Waffen, einer globalen weltpolitischen Interdependenz, aber auch im Zeichen einer ideologischen Auseinandersetzung, die den reinen Mächte-und Staatenkampf zurückdrängt, noch Aktualität besitzen kann. Der Unterschied der Dimensionen, der Verantwortung liegt auf der Hand. Es steht auch außer Zweifel, daß Krieg als eine völlig neuartige Größe in jede Berechnung eingesetzt werden muß und auch der von Bismarck als Möglichkeit erkannte „Volkskrieg" eine Form des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Trotzdem bleibt übrig, daß der hohe Grad von Verallgemeinerung, den Bismarck für seine Machtkalkulationen in einem begrenzten europäischen System entwickelt hat, sich auch auf ein Weltsystem im atomaren Zeitalter übertragen und mit Nutzen anwenden läßt. Daß sich unsere Anschauungen vom internationalen Recht und vom Recht zum Kriege seither gewandelt haben'und daß damit ein neues Moment in alle Überlegungen über die internationale Politik hineingetragen ist, muß aber ausdrücklich hinzugesetzt werden.

Aber wer kann sagen, daß auch heute im Zeichen des atomaren Patt Friede durch Recht wirksam ist, ohne daß er durch Gleichgewicht und Macht gesichert wird? Es ist uns auch bewußt, daß es heute um ganz andere Dinge geht als um das Problem des überlebens einer Nation, das dem Kanzler für das eigene Land ständigen Alpdruck bereitet hat. Es handelt sich um das überleben ganz anderer Einheiten,, wahrscheinlich der zivilisierten Menschheit überhaupt, und der cauchemar hat einen in der Bismarckschen Ara unvorstellbaren Grad der Bedrückung erreicht. Hier bedeutet schon der Friede, der nur Abwesenheit des Kriegs ist, eine Erhellung des Horizonts. In seinem großen Werk Paix et Guerre entre les nations spricht Raymond Aron am Ende von dem Zwang, diese „Abwesenheit des Krieges" solange zu bewahren, bis der Friede, d. h. die Friedensordnung der Welt möglich sein wird — „sofern er überhaupt je möglich sein wird", wie er skeptisch hinzufügt. Ich möchte meinen, daß Bismarcks politische Kunst ein Beispiel dafür gegeben hat, wie wenigstens die „Abwesenheit des Krieges" für eine längere Dauer bewahrt werden kann, jedenfalls ein besseres Beispiel, als die Generationen, die ihm folgten. Daran vor allem muß heute seine Leistung gemessen werden. Den Frieden zu schaffen, ist dann uns und denen, die nach uns kommen, aufgegeben, und wir werden es dem Urteil der Geschichte überlassen müssen, ob wir dabei über Bismarck hinaus kommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Denkschrift vom Ende März 1858: Einige Bemerkungen über Preußens Stellung im Bunde.

  2. So bei Rudolf Stadelmann, Das Jahr 1865 und das Problem von Bismarcks deutscher Politik, 1934.

  3. H. Rothfels, Bismarck und der Osten, 1934.

  4. European Alliances and Alignments, 1931.

  5. Bismarck. The Man and the Statesman, dtsch 1962.

  6. Bd. 1, Die altpreußische Tradition, 1954.

  7. Bismarck und das 19. Jahrhundert, in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1954.

  8. Gesammelte Werke XIII, S. 492, 18. Juni 1893.

  9. Zitiert bei A. Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, 1956, S. 273.

  10. Große Politik IV, Nr. 930, S. 376 ff.

  11. Große Politik II, Nr. 250, S. 71.

  12. H. Oncken, Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkriegs I, 1933, S. 215.

  13. Erinnerung und Gedanke, Ges. Werke XV, S. 278.

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Theodor Schieder, Dr. phil., o. Prof, für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Köln, Herausgeber der Historischen Zeitung seit Frühjahr 1957, geb. 11. April 1908, Ottingen/Schwaben. Veröffentlichungen u. a.: Die Probleme des Rapallo-Vertrages, 1956; Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, 1958; Hundert Jahre Historische Zeitung 1859— 1959 (Hrsg, mit eigenem Beitrag), 1959; Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, 1961; Begegnungen mit der Geschichte, 1962; Nietzsche und Bismarck, 1963.