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Vorrede zur deutschen Ausgabe | APuZ 45/1964 | bpb.de

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APuZ 45/1964 Artikel 1 War Eichmann ein Dämon? Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat Vorrede zur deutschen Ausgabe

Vorrede zur deutschen Ausgabe

Hannah Arendt

Dies Buch erschien ursprünglich mit unwesentlichen Kürzungen in fünf Fortsetzungen in der amerikanischen Zeitschrift The New Yorker und wurde kurz darauf im Mai 1963 unter dem gleichen Titel in Amerika in Buchform veröffentlicht. Die von Frau Brigitte Granzow hergestellte deutsche Übersetzung ist von mir durchgesehen; bei der nochmaligen Durchsicht des gesamten Textes habe ich einige unwesentliche Irrtümer beseitigen und eine ganze Reihe von Ergänzungen anbringen können, von denen die wichtigste die von mir ursprünglich nur nebenbei erwähnte Verschwörung vom 20. Juli 1944 betrifft. Der Gesamt-charakter der Buches ist völlig unverändert.

Das Buch ist ein Bericht, und seine Haupt-quelle besteht in dem Prozeßmaterial, das in Jerusalem an die Presse ausgehändigt wurde, aber leider bis auf die einleitende Gesamt-darstellung der Anklage und das Plädoyer der Verteidigung nicht veröffentlicht und nur schwer zugänglich ist. Die Verhandlungen wurden auf hebräisch geführt; was die Presse erhielt, sind „wörtliche, unkorrigierte und un-redigierte Niederschriften der Simultanübersetzung", die „keinerlei Anspruch auf fehlerfreie und stilistisch richtige Form erheben" können. Da die deutsche Simultanübersetzung sehr schlecht war, habe ich die englische Fassung benutzt, wenn die Verhandlungen nicht gerade auf deutsch geführt wurden, in welchem Fall die deutsche Niederschrift den getreuen Wortlaut enthält. Für die einleitende Rede des Generalstaatsanwalts und die abschließende Urteilsbegründung habe ich ebenfalls nach Möglichkeit die deutsche Fassung eingesetzt, da diese außerhalb des Gerichtssaals und unabhängig von der Simultanübersetzung angefertigt wurde und durchaus adäquat ist. Keines dieser Protokolle außer der von mir nicht benutzten „offiziellen Niederschrift in hebräischer Sprache“ kann als absolut zuverlässig gelten. Immerhin wurde dies ganze Material der Presse offiziell zur Benutzung übergeben, und meines Wissens sind bisher etwaige wichtige Divergenzen zwischen dem offiziellen hebräischen Gerichtsprotokoll und den Übersetzungen nicht namhaft gemacht worden. Es ist anzunehmen, daß die englischen Der Abdruck der Vorrede zur deutschen Ausgabe, die unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem — Ein Bericht von der Banalität des Bösen" erschienen ist, eriolgt mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlages, München. und französischen Übersetzungen durchaus zuverlässig sind.

Ganz frei von quellenkritischen Bedenken sind die folgenden Prozeßmaterialien, die ebenfalls — mit einer Ausnahme — alle von den Jerusalemer Behörden der Presse übergeben wurden: 1. Das polizeiliche Protokoll des Verhörs, das auf Band ausgenommen und dann Eichmann zur handschriftlichen Korrektur der Maschinenabschrift vorgelegt worden ist. Dies ist neben den Gerichtsprotokollen das wichtigste Dokument. 2. Die von der Anklage eingereichten Dokumente und das ebenfalls von der Staatsanwaltschaft zugänglich gemachte juristische Material. 3. Die sechzehn eidesstattlichen Erklärungen der ursprünglich von der Verteidigung angeforderten Entlastungszeugen, deren Aussagen dann allerdings teilweise auch von der Anklage benutzt wurden: Erich von dem Bach-Zelewski, Richard Baer, Kurt Becher, Horst Grell, Dr. Wilhelm Höttl, Walter Huppenkothen, Hans Jüttner, Herbert Kappler, Herman Krumey, Franz Novak, Alfred Josef Slawik, Dr. Max Merten, Professor Alfred Six, Dr. Eberhard von Thadden, Dr. Edmund Veesenmayer, Otto Winkel-mann. 4. Schließlich habe ich noch ein Manuskript von 70 Schreibmaschinenseiten von Eichmann zur Hand gehabt, das von der Anklage als Beweisstück angeboten und von dem Gerichtshof als solches akzeptiert, aber nicht der Presse zugänglich gemacht wurde. Sein Titel lautet: „Betrifft: Meine Feststellungen zur Angelegenheit , Judenfragen und Maßnahmen der nationalsozialistischen deutschen Reichsregierung zur Lösung dieses Komplexes in den Jahren 1933 bis 1945’.“ Es handelt sich um Notizen, die sich Eichmann in Argentinien zur Vorbereitung des Sassen-Interviews gemacht hat.

Die am Ende des Buches angeführte Bibliographie enthält nur, was ich wirklich benutzt habe, nicht aber die unzähligen Bücher, Artikel und vor allem das umfangreiche Zeitungsmaterial, das ich im Laufe der zwei Jahre zwischen der Entführung Eichmanns bis zur Vollstreckung des Urteils gelesen und gesammelt habe. Ich bedauere diese Unvollständigkeit nur in bezug auf die Berichte der Korrespondenten in der deutschen, schweizerischen, französischen, englischen und amerikanischen Presse, da sie oft auf einem erheblich höheren Niveau standen als die später erschienenen so viel anspruchsvolleren Gesamtdarstellungen in Büchern und Zeitschriften. Aber gerade diese Lücke zu schließen hätte eine unverhältnismäßig große Arbeit erfordert. Daher habe ich mich damit begnügt, die wesentlicheren Bücher und Zeitschriftenartikel, die nach Erscheinen meines Buches herauskamen, einzufügen, jedenfalls soweit sie mir zugänglich waren. Dabei habe ich mit einiger Genugtuung festgestellt, daß in Deutschland zwei Darstellungen des Falles Eichmann erschienen sind, die sich von den üblichen schematischen Gesamtdarstellungen wohltuend unterscheiden und zu oft verblüffend gleichen Resultaten kommen wie ich. Dies gilt für Robert Pendorfs „Mörder und Ermordete. Eichmann und die Judenpolitik des Dritten Reiches", der vor allem auch die Rolle der Judenräte in der „Endlösung" berücksichtigt, und für den holländischen Berichterstatter Harry Mulisch, dessen „Strafsache 40/61" nahezu der einzige Bericht ist, der sich über die Person des Angeklagten Gedanken macht und dessen Eindruck sich in wesentlichen Zügen mit meinem Eindruck deckt.

Von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen habe ich für den historischen Hintergrund der in Jerusalem verhandelten Tatbestände selbstverständlich keine Quellen und kein Dokumentationsmaterial mehr benutzt; auch bei den von mir zitierten Dokumenten handelt es sich in nahezu allen Fällen um solche, die im Prozeß als Beweisstücke vorgelegt wurden. Ich habe durchgängig „Die Endlösung“ von Reitlinger herangezogen, vor allem aber mich auf das Werk von Raul Hilberg " The Destruction of European Jews", die ausführlichste und auch fundierteste quellenmäßige Darstellung der Judenpoliik des Dritten Reichs, verlassen. Für diese revidierte Fassung habe ich außerdem die erst kürzlich erschienenen ganz ausgezeichneten Personenstudien in J. C. Fest „Das Gesicht des Dritten Reiches" mit großem Gewinn gelesen, da sie urteilsmäßig auf einem selten hohen Niveau stehen. Die Darstellungsprobleme eines Berichts wie des vorliegenden lassen sich am besten mit denen einer geschichtlichen Monographie vergleichen. Nichts dergleichen könnte je zustande kommen, wenn der Historiker bzw.der Berichterstatter sich nicht auf die Arbeiten anderer stützen würde für all das, was außerhalb seines Spezial-themas steht.

Gegen dieses Buch ist noch vor seinem Erscheinen eine organisierte Kampagne in die Wege geleitet worden, die mit identischer Phraseologie von Amerika nach England getragen wurde, um schließlich auf den europäischen Kontinent überzugreifen, lange bevor das Buch dort auch nur zugänglich war. Diese

Angriffe beschäftigten sich im wesentlichen damit, ein Propaganda-Phantom, ein sogenanntes „image" zu kreieren, und das Resultat war, daß sich ein Streit um ein Buch erhob, das niemals geschrieben worden ist, wie es in einer Version ja auch in einem „Witzblatt" zuerst publiziert worden sein soll, das es in Amerika nicht gibt. (Das angebliche Witzblatt, The New Yorker, ist eine in Amerika sehr angesehene Zeitschrift, deren Spezialität die ausführliche und ungewöhnlich gründliche, kritische Berichterstattung über Dinge ist, die im allgemeinen öffentlichen Interesse liegen. Hier konnte man vor Jahren die ersten ausführlichen Berichte über den Aufstand im War-schauer Getto oder den Bombenabwurf auf Hiroshima lesen; in jüngerer Zeit hat das Blatt zuerst von der neu entdeckten Armut im Lande, von der bedrohlichen Stimmung unter den Negern und ähnlich aktuellen Dingen berichtet.) Denkwürdig bleibt, daß eine solche bewußte Meinungsmanipulation Resultate zeitigen kann, die sie selbst weder vorausgesehen hat noch zu kontrollieren imstande ist. Wenn also auch der Streit, was das Buch selbst betrifft, weitgehend gegenstandslos ist, so hat das doch nicht gehindert, daß in ihm vieles zur Sprache gekommen ist, was das Denken heutiger Menschen beschäftigt und ihr Gemüt beschwert, wobei sich gezeigt hat, daß die „unbewältigte Vergangenheit" nicht nur ein deutsches und nicht nur ein jüdisches Phänomen ist, sondern daß gerade dieser Teil der Vergangenheit auch heute noch in weitesten Kreisen unvergessen und unbewältigt ist.

Der Streit dreht sich z. B. um das Verhalten des jüdischen Volkes in der Katastrophe der „Endlösung". Die Frage, ob die Juden sich hätten wehren können oder müssen, die zuerst von dem israelischen Staatsanwalt erhoben und von mir als töricht und grausam bezeichnet wurde, da sie von einer fatalen Unkenntnis der Verhältnisse zeugte, ist bis in die erstaunlichsten Konsequenzen diskutiert worden: die alte historisch-soziologische Konstruktion der „Getto-Psychologie", die in Israel Eingang in die Geschichtslehrbücher gefunden hat und in Amerika vor allem von dem Psychologen Bruno Bettelheim, allerdings gegen den enragierten Widerspruch des offiziellen amerikanischen Judentums vertreten wird, wurde immer wieder zur Erklärung für ein Verhalten herangezogen, das keineswegs auf das jüdische Volk beschränkt war und also auch nicht aus spezifisch jüdischen Faktoren erklärt werden kann. Bis schließlich jemand, dem das offenbar zu langweilig wurde, auf den genialen Einfall kam, Freudsche Theorien anzuwenden und den Juden einen natür40 lieh unbewußten „Todeswunsch" anzudichten.

Der Streit dreht sich ferner um das Verhalten der jüdischen Führung, die man nicht nur kurzerhand mit dem jüdischen Volk identifiziert — sehr im Unterschied zu der klaren Kontrastierung, die in fast allen Berichten von überlebenden zum Ausdruck kommt, und die sich in den Worten eines ehemaligen Theresienstädters zusammenfassen läßt: „Das jüdische Volk in seiner Gesamtheit hat sich fabelhaft benommen. Versagt hat nur die Führung" —, sondern deren Leistungen vor Ausbruch des Krieges und vor allem vor dem Zeitraum der „Endlösung" man aufzählt und in Anspruch nimmt, um die späteren ganz anders gearteten Funktionen zu rechtfertigen.

Aber der Streit dreht sich auch um die deutsche Widerstandsbewegung seit Beginn des Hitler-Regimes, von der bei mir natürlich gar nicht die Rede ist, da es sich bei der Frage von Eichmanns Schuldbewußtsein und dem Bewußtsein seiner Umgebung nur um die Zeit der „Endlösung" handelt; oder um die phantastische Frage, ob in Zeiten der Verfolgung die Opfer nicht vielleicht immer „häßlicher“ sind als die Mörder; oder ob man überhaupt über Vergangenes zu Gericht sitzen dürfe, da man doch nicht dabei gewesen war; oder ob in einem Prozeß der Angeklagte oder die Opfer im Mittelpunkt stehen — wobei einige so weit gehen zu meinen, Eichmann hätte gar nicht zu Wort kommen, also vermutlich auch nicht verteidigt werden dürfen — und ähnliches mehr. Wie es in solchen mit einem großen Aufwand von Unsachlichkeit geführten Diskussionen zu gehen pflegt, mischen sich hier in die Erörterung ernster Sachverhalte nicht nur die deutlichen Absichten bestimmter Interessengruppen, die versuchen, die Tatbestände zu falschen, sondern in ihrem Gefolge erscheint zumeist das Heer jener mehr oder minder „freischwebenden" Intellektuellen, für die umgekehrt die Tatbestände selbst nur ein Anlaß sind, Einfälle zu produzieren. Aber selbst in diesen Spiegelfechtereien ist manchmal ein gewisser Ernst, ein gewisses Betroffensein zu spüren, wenn sie natürlich auch mit dem Buch als solchem nichts zu tun haben, ja ihre Wortführer sich oft rühmen, das Buch gar nicht gelesen zu haben.

Dies ist auch für eine Diskussion dieser Fragen ganz überflüssig, denn das hier vorliegende Buch hat ein sehr begrenztes Thema, wie bereits sein Titel anzeigt. Im Bericht eines Prozesses kann nur das zur Sprache kommen, was im Prozeß verhandelt wurde oder im Interesse der Gerechtigkeit hätte verhandelt werden müssen. Sind die allgemeinen Umstände des Landes, in dem der Prozeß stattfindet, von Bedeutung für die Prozeßführung, so müssen auch sie in Rechnung gestellt werden. Es handelt sich hier also nicht etwa um die Geschichte der größten Katastrophe, die das jüdische Volk je betroffen hat, noch um die Darstellung des totalen Herrschaftssystems oder um eine Geschichte des deutschen Volkes im Dritten Reich, noch schließlich gar um eine theoretische Abhandlung vom Wesen des Bösen. Im Mittelpunkt jedes Prozesses steht die Person des Angeklagten, ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer individuellen Geschichte, einem immer einmaligen Gemisch von Eigenschaften, Besonderheiten, Verhaltensweisen und Lebensumständen. Alles, was darüber hinausgeht, wie etwa die Geschichte des jüdischen Volkes in der Zerstreuung und der Antisemitismus oder das Verhalten des deutschen Volkes und anderer Völker oder die Ideologien der Zeit und der Herrschaftsapparat des Dritten Reiches, spielt in den Prozeß nur insofern herein, als es den Hintergrund und die Umstände abgibt, unter denen der Angeklagte seine Handlungen begangen hat. Womit er nicht in Berührung gekommen oder was auf ihn ohne Einfluß geblieben ist, muß in der Gerichtsverhandlung und mithin für den Bericht außer Betracht bleiben.

Man kann der Meinung sein, daß alle die allgemeinen Fragen, die wir unwillkürlich aufwerfen, sobald wir auf diese Dinge zu sprechen kommen: Warum gerade die Deutschen? Warum gerade die Juden? Was ist das Wesen der totalen Herrschaft?, viel wesentlicher sind als die Frage nach der Art des Verbrechens, das zur Verhandlung kommt, und nach dem Wesen des Angeklagten, über den Recht gesprochen werden muß, wesentlicher auch als die Sorge darum, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen unser gegenwärtiges Rechtssystem angesichts dieser besonderen Art von Verbrechen, mit denen es sich seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder konfrontiert sieht, der Gerechtigkeit überhaupt fähig ist. Man kann denken, daß es hier gar nicht mehr um einen bestimmten Menschen geht, der in seiner unverwechselbaren Gestalt auf der Anklagebank sitzt, sondern um das deutsche Volk überhaupt oder den Antisemitismus in allen seinen Gestalten oder um die ganze neuzeitliche Geschichte oder um die Natur des Menschen und die Erbsünde, so daß schließlich das gesamte Menschengeschlecht gleichsam unsichtbar mit auf der Anklagebank sitzt. All dies ist oft geltend gemacht worden, nicht zuletzt von denjenigen, die nicht ruhen und rasten, bis sie nicht „den Eichmann in jedem von uns" entdeckt haben. Versteht man den Angeklagten als ein Symbol und den Prozeß als einen Vorwand, um über Angelegenheiten ins Gespräch zu kommen, die anscheinend interessanter sind als die Schuld oder Unschuld eines Menschen, dann muß man auch die Konsequenzen ziehen und zugeben, daß Eichmann und sein Verteidiger zu Recht behaupteten, er habe nur herhalten müssen, weil man einen Sündenbock gebraucht habe, nicht nur für die Deutsche Bundesrepublik, sondern für das Geschehen im ganzen und für das, was es ermöglicht habe, also für den Antisemitismus und den totalen Herrschaftsapparat sowohl wie für das Menschengeschlecht und die Erbsünde. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß ich niemals nach Jerusalem gegangen wäre, wenn ich diese Meinungen teilte. Ich war und bin der Meinung, daß dieser Prozeß im Interesse der Gerechtigkeit und von nichts sonst stattfinden mußte, und ich denke auch, daß die Richter, als sie in der Urteilbegründung betonten, daß der „Staat Israel als Judenstaat gegründet und als solcher anerkannt" ist und daß ihm daher Strafhoheit für ein am jüdischen Volk begangenes Verbrechen zusteht, sich mit vollem Recht auf Grotius beriefen, der, seinerseits einen älteren Autor zitierend, dargelegt hat, wie die Würde und Ehre des Verletzten es erfordere, daß Straftaten nicht frei ausgehen.

Nun ist es keine Frage, daß sowohl die Person und die Tatumstände als auch das Gerichtsverfahren selbst Probleme allgemeiner Natur aufgeworfen haben, die weit über das in Jerusalem Verhandelte hinausgehen, und ich habe versucht, auf einige dieser Probleme in dem Epilog dieses Buches, der nicht mehr einfache Berichterstattung ist, einzugehen. Sicher ist das sehr unzulänglich geschehen, und ich könnte mir gut vorstellen, daß nach Einsicht in die Tatbestände eine Diskussion ihrer allgemeinen Bedeutung entsteht, die um so sinnvoller sein könnte, je unmittelbarer sie den konkreten Bezug wahrt. In diesem Sinne könnte ein echter Streit sich auch über den Untertitel des Buches erheben; denn in dem Bericht selbst kommt die mögliche Banalität des Bösen nur auf der Ebene des Tatsächlichen zur Sprache, als ein Phänomen, das zu übersehen unmöglich war. Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, „ein Bösewicht zu werden“. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte. Es war genau das gleiche mangelnde Vorstellungsvermögen, das es ihm ermöglichte, viele Monate hindurch einem deutschen Juden im Polizeiverhör gegenüberzusitzen, ihm sein Herz auszuschütten und ihm wieder und wieder zu erklären, wie es kam, daß er es in der SS nur bis zum Obersturmbannführer gebracht hat und daß es nicht an ihm gelegen habe, daß er nicht vor-ankam. Er hat prinzipiell ganz gut gewußt, worum es ging, und in seinem Schlußwort vor Gericht von der „staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung der Werte" gesprochen; er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit — etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist —, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies „banal" ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich. Es dürfte gar nicht so oft vorkommen, daß einem Menschen im Angesicht des Todes und noch dazu unter dem Galgen nichts anderes einfällt, als was er bei Beerdigungen sein Leben lang zu hören bekommen hat, und daß er über diesen „erhebenden Worten" die Wirklichkeit des eigenen Todes unschwer vergessen kann. Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.

Nicht weniger beunruhigend als dieser bisher unbekannte Verbrechertypus ist die Art des Verbrechens, das hier zur Verhandlung stand. Zwar ist sich alle Welt nachgerade darüber einig, daß das, was in Auschwitz geschah, beispiellos ist; aber die Kategorien, mit denen dies Beispiellose nun politisch und juristisch erfaßbar ist, sind immer noch gänzlich ungeklärt. Denn der hierfür neuerdings eingeführte Begriff des Völkermords (Genocide) ist zwar in gewissem Sinne zutreffend, aber nicht ausreichend, schon weil Völkermorde nicht beispiellos sind — sie waren in der Antike an der Tagesordnung, und die Jahrhunderte der Kolonisation und des Imperialismus kennen mehr oder minder geglückte Versuche in dieser Richtung zur Genüge. Der aus dem englischen Imperialismus stammende Ausdruck „Verwaltungsmassenmord" (administrative massacres), den die Engländer bewußt ablehnten als ein Mittel, die Herrschaft über Indien aufrechtzu-erhalten, dürfte der Sache erheblich angemes42 sener sein und zudem den Vorteil haben, mit dem Vorurteil, daß solche Ungeheuerlichkeiten nur einem fremden Volk oder einer andersgearteten Rasse gegenüber möglich sind, aufzuräumen. Ganz abgesehen davon, daß Hitler seine Massenmorde bekanntlich mit dem „Gnadentod“ der „unheilbar Kranken" begann und die Absicht hatte, sie mit „erbgeschädigten“ Deutschen (Herz-und Lungenkranken) zu enden, liegt es auf der Hand, daß das Ordnungsprinzip, nach dem gemordet wird, beliebig bzw. nur von historischen Faktoren abhängig ist. Es ist sehr gut denkbar, daß in einer absehbaren Zukunft automatisierter Wirtschaft Menschen in die Versuchung kommen, alle diejenigen auszurotten, deren Intelligenzquotient unter einem bestimmten Niveau liegt.

In Jerusalem kam diese Sadie ungenügend zur Sprache, weil sie juristisch in der Tat sehr schwer faßbar ist. Wir hörten die Beteuerungen der Verteidigung, Eichmann sei doch nur ein „winziges Rädchen" im Getriebe der Endlösung gewesen, und die Meinung der Staatsanwaltschaft, die in Eichmann den eigentlichen Motor entdecken zu können glaubte. Ich selbst habe diesen Theorien ebensowenig Bedeutung beigemessen wie das Jerusalemer Gericht der ersten Instanz, da die ganze Rad-Theorie juristisch belanglos ist und es daher ganz gleichgültig war, in welcher Größenordnung man das „Rädchen" Eichmann unterbringen wollte. Das Gericht gab in seiner Urteilsfindung natürlich zu, daß ein solches Verbrechen nur von einer Riesenbürokratie mit staatlichen Mitteln ausgeführt werden kann; sofern es aber ein Verbrechen bleibt — und dies ist ja die Voraussetzung für die Gerichtsverhandlung —, werden alle Räder und Rädchen im Getriebe vor Gericht automatisch wieder in Täter, also in Menschen zurückverwandelt. Wenn der Angeklagte sich damit entschuldigt, er habe nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt, dessen Funktionen von jedem anderen ebenso hätten ausgeführt werden können, so ist es, als ob ein Verbrecher sich auf die Kriminalstatistik beruft, derzufolge so und so viele Verbrechen pro Tag an dem und dem Orte begangen werden, er also nur das getan habe, was die Statistik von ihm verlangt habe — denn einer muß es dann doch schließlich machen.

Daß es im Wesen des totalen Herrschaftsapparates und vielleicht in der Natur jeder Bürokratie liegt, aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb zu machen und sie damit zu entmenschlichen, ist von Bedeutung für die Politik-und Sozialwissenschaften, und über die Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Büro-kratie, kann man sich lange und mit Gewinn streiten. Nur muß man sich darüber im klaren sein, daß die Rechtsprechung diese Faktoren nur insoweit in Betracht ziehen kann, als sie Umstände der Tat sind — genauso wie bei einem Diebstahl die ökonomischen Verhältnisse des Diebes mit in Rechnung gestellt werden, ohne damit jedoch den Diebstahl zu entschuldigen oder gar aus der Welt zu schaffen. Es trifft zu, daß wir durch die moderne Psychologie und Soziologie und nicht zuletzt durch die moderne Bürokratie weitgehend daran gewöhnt sind, Verantwortung des Täters für seine Tat im Sinne des einen oder anderen Determinismus hinwegzueskamotieren, und ob diese scheinbar tieferen Erklärungen menschlichen Handelns zu Recht oder zu Unrecht bestehen, ist strittig. Nicht strittig aber ist, daß kein Gerichtsverfahren auf ihrem Grunde möglich wäre und daß die Rechtsprechung an diesen Theorien gemessen eine höchst unmoderne, um nicht zu sagen: veraltete Institution ist. Wenn Hitler von dem Tage sprach, an dem es in Deutschland als eine „Schande" gelten werde, Jurist zu sein, sprach er ganz konsequent von dem Tage der vollendeten Bürokratie.

Soweit ich sehen kann, stehen der Rechtswissenschaft für die Erörterung dieses ganzen Fragenkomplexes nur zwei Kategorien zur Verfügung, die m. E. beide in diesem Zusammenhang ganz unzulänglich sind. Es sind dies die Begriffe des „gerichtsfreien Hoheitsaktes"

und des Handelns „auf höheren Befehl". Jedenfalls sind dies die einzigen Kategorien, in denen diese Sachen zumeist auf Antrag der Verteidigung verhandelt werden. Die Theorie des Hoheitsakts stützt sich darauf, daß ein souveräner Staat nicht über einen anderen zu Gericht sitzen kann: par in parem non habet jurisdictionem; praktisch war dies Argument bereits in Nürnberg aussichtslos, weil man ihm zufolge auch Hitler, den einzigen, der ja wirklich im vollen Sinne verantwortlich war, nicht hätte vor Gericht ziehen können, was wiederum dem elementarsten Rechtsgefühl widersprach. Was praktisch aussichtslos ist, ist darum theoretisch noch nicht erledigt, und die üblichen Ausflüchte, daß Deutschland eben zur Zeit des Dritten Reichs von einer Verbrecherbande beherrscht worden sei, der man nicht gut Souveränität und Parität zusichern kann, haben auch nicht viel geholfen, weil ja einerseits jedermann weiß, daß die Analogie mit der Verbrecherbande nur in einem so begrenzten Sinn zutrifft, daß sie eigentlich gar nicht zutrifft, und weil andererseits nicht zu leugnen ist, daß diese Verbrechen sich innerhalb einer „legalen" Ordnung vollzogen, ja, daß dies ihr eigentliches Kennzeichen ist. Man kann vielleicht der Sache um einiges näher kommen, wenn man sich klar macht, daß hinter dem Begriff der Staatshandlung die Theorie von der Staatsraison steht, Ihr zufolge können für das Handeln des Staates, der die Verantwortung für die Existenz des Landes und damit auch für die in ihm geltenden Gesetze trägt, nicht die gleichen Regeln gelten wie für die Einwohner. So wie ein gewisses Ausmaß an Gewalt, deren absolute Herrschaft das Gesetz ja gerade ablöst, immer nötig bleibt, um die Existenz des Gesetzes zu sichern, so mag ein Staat, um seinen Bestand zu sichern, sich gezwungen sehen, Handlungen zu begehen, die gemeinhin als Verbrechen gelten, und zwar nicht nur im Kriegsfall und nicht nur in zwischenstaatlichen Verhältnissen. Solche verbrecherischen Staatsaktionen sind bekanntlich in der Geschichte auch zivilisierter Staaten häufig vorgekommen, man denke an die Ermordung des Herzogs d’Enghien durch Napoleon oder die Ermordung des Sozialisten-führers Matteotti, die vermutlich auf Mussolini selbst zurückging. Die Staatsraison beruft sich — je nachdem zu Recht oder zu Unrecht — auf die Notwendigkeit, und die in ihrem Namen begangenen Staatsverbrechen, die auch im Sinne des jeweils herrschenden Rechtssystems durchaus kriminell sind, gelten als Notmaßnahmen, die von realpolitischen Erwägungen erzwungen sind, als Zugeständnisse, um sich an der Macht zu halten und damit das bestehende Rechtssystem im ganzen zu sichern. Wenn aber in einer normalen staatlichen und gesetzlichen Ordnung das Verbrechen als Ausnahme von der Regel auftritt und „gerichtsfrei" bleibt, weil die Existenz des Staates selbst auf dem Spiel steht und kein Staat dem anderen entweder die Existenz abstreiten oder ihm vorschreiben kann, wie er seine Existenz bewahren soll, so tritt — wie wir gerade aus der Geschichte der Juden-politik im Dritten Reich lernen können — in dem prinzipiell verbrecherischen Staatsverband umgekehrt die nicht-verbrecherische Handlung (also zum Beispiel der Himmler-Befehl im Spätsommer 1944, die Judendeportationen zu stoppen) als ein von der Realität, nämlich der drohenden Niederlage, erzwungenes Zugeständnis an die Notwendigkeit auf. Hier erhebt sich die Frage, wie es um die Souveränität eines solchen Gebildes steht. Hat es nicht die völkerrechtlich vorausgesetzte Parität (par in parem non habet jurisdictionem) aus eigener Machtvollkommenheit gebrochen? Ist das „par in parem“ wirklich nur formal gemeint oder liegt ihm nicht vielmehr auch eine substantielle Gleichheit oder Gleichartigkeit zugrunde? Oder anders gewendet: Kann für eine staatliche Ordnung, in der das Verbrechen legal und die Regel ist, der gleiche Grundsatz gelten wie für einen Staatsapparat, in dem das Verbrechen und die Gewalt als Ausnahmen und Grenzfälle erscheinen?

Wie ungenügend die juristischen Begriffe in Wahrheit auf den wirklich vorliegenden verbrecherischen Tatbestand, der in all diesen Prozessen verhandelt wird, vorbereitet sind, kommt vielleicht noch eklatanter in dem Begriff des Handelns auf höheren Befehl zum Ausdruck. Das Jerusalemer Gericht begegnete dem von der Verteidigung vorgebrachten Argument mit ausführlichen Zitaten aus den Straf-und Militärgesetzbüchern zivilisierter Länder, vor allem auch Deutschlands, das die einschlägigen Paragraphen unter Hitler keineswegs außer Kraft gesetzt hatte; sie alle stimmen darin überein, daß offensichtlich verbrecherische Befehle nicht befolgt werden dürfen. Der Gerichtshof berief sich außerdem auf ein vor einigen Jahren in Israel stattgefundenes Verfahren, in dem Soldaten vor Gericht gestellt wurden, die kurz vor Beginn der Sinai-Kampagne die zivile Bevölkerung eines an der Grenze gelegenen arabischen Dorfes niedergemetzelt hatten, weil sie während einer militärisch verhängten Ausgehsperre, von der sie offenbar nichts wußten, außerhalb ihrer Wohnungen angetroffen worden waren. Leider hinkt bei näherem Zusehen der Vergleich, auf den das Gericht sich in seiner Gegenargumentation stützte, gleichsam auf beiden Beinen. Vorerst ist auch hier zu berücksichtigen, daß das Verhältnis von Ausnahme und Regel, das für das Erkennen des verbrecherischen Befehls von Seiten des Befehlsempfängers von ausschlaggebender Bedeutung ist, sich im Falle der Handlungen Eichmanns in einer Weise verkehrt hatte, daß man mit diesem Argument gerade verteidigen könnte, daß Eichmann bestimmte Himmler-Befehle nicht oder nur zögernd befolgte, was die Urteilsfindung in einem anderen Zusammenhang als besonders belastend für den Angeklagten erkannte. Denn wenn die einschlägige, im Prozeß zitierte Argumentation israelischer Militärgerichte verlangt, daß „das Kennzeichen eines augenblicklich unrechtmäßigen Befehls ... wie eine schwarze Fahne über dem erteilten Befehl wehen muß, wie ein Warnungszeichen, welches besagt . Verboten!'", so ist offenbar vorausgesetzt, daß der Befehl, um für den Soldaten „augenscheinlich unrechtmäßig“ zu sein, den Rahmen des ihm gewohnten Rechtssystems durch seine Ungewöhnlichkeit sprengt. Die israelische Rechtsprechung in diesen Dingen stimmt mit der anderer Länder durchaus überein; zweifellos schweben den Gesetzgebern bei der Formulierung dieser Paragraphen Fälle vor Augen, in denen etwa ein Offizier, der plötzlich verrückt geworden ist, seinen Untergebenen befiehlt, einen anderen Offizier zu töten. Jede normale Gerichtsverhandlung in dieser Sache dürfte wohl sofort an den Tag bringen, daß man sich für die dem Soldaten zugemutete Erkenntnis keineswegs auf die Stimme des Gewissens beziehungsweise ein „Rechtsgefühl" verläßt, „das in den Tiefen jedes Menschen, solange er ein Mensch ist, verankert ist, auch wenn er mit den Gesetzbüchern nicht vertraut ist", sondern vielmehr darauf, daß ein jeder Regel und auffällige Ausnahme von der Regel zu unterscheiden befähigt ist. Daß Gewissen nicht genügt, ist zudem ausdrücklich zumindest im § 48 des deutschen Militärgesetzbuches festgelegt: „Die Strafbarkeit einer Handlung oder Unterlassung ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß der Täter nach seinem Gewissen oder den Vorschriften seiner Religion sein Verhalten für geboten hält." Auffallend in der Argumentation des israelischen Gerichtshofs ist, daß die Vorstellung von dem in den Tiefen jedes Menschen verankerten Rechtsgefühls lediglich als ein Ersatz für die Vertrautheit mit dem Gesetz auftritt, daß also vorausgesetzt ist, daß das Gesetz nur ausspricht, was die Stimme des Gewissens jedem Menschen ohnehin sagt. Will man diese ganze Konstruktion sinngemäß auf den Fall Eichmann anwenden, so kann man nur zu dem Schluß kommen, daß Eichmann sich durchaus im Rahmen der hier geforderten Urteilsfähigkeit gehalten hat: er hat im Sinne der Regel gehandelt und die an ihn ergangenen Befehle auf ihre „offensichtliche" Rechtmäßigkeit, nämlich Regularität hin geprüft; auf sein „Rechtsgefühl" brauchte er sich nicht zu verlassen, da er nicht zu denen gehörte, die mit den Gesetzen des Landes nicht vertraut waren; das genaue Gegenteil war der Fall.

Das andere Bein, auf dem der Vergleich hinkt, ist die übliche Praxis, den Einwand des Handelns auf höheren Befehl als Strafmilderungsgrund zuzulassen. Der Einwand des höheren Befehls, so heißt es in der Jerusalemer Urteilsfindung, kann nicht von der Verantwortlichkeit befreien, aber er „ermächtigt die Gerichte, solch einen Befehl als Strafmilderungsgrund in Erwägung zu ziehen". In dem von mir erwähnten Fall der Niedermetzelung arabischer Einwohner des Dorfes Kfar Kassem wurden die Soldaten zwar unter Anklage auf Mord gestellt, dann aber auf Grund des Strafmilderungsgrundes zu verhältnismäßig geringfügigen Freiheitsstrafen verurteilt. Gewiß, hier handelte es sich um einen einzelnen Akt und nicht wie bei Eichmann um eine jahrelang ausgedehnte Tätigkeit, in der sich Verbrechen an Verbrechen reihte. Hätte man aber auf ihn die Bestimmungen für Handeln auf höheren Befehl im Sinne der israelischen Praxis angewandt, so hätte man schwerlich zum Aussprechen der Höchststrafe kommen können. Daß der „höhere Befehl", selbst wenn seine Unrechtmäßigkeit augenscheinlich ist, das Funktionieren des „Rechtsgefühls" erheblich stören kann, gibt auch die israelische Rechtspraxis ohne weiteres zu.

Dies ist nur ein Beispiel unter vielen, an dem man die offenbare Unzulänglichkeit des herrschenden Rechtssystems und der gängigen juristischen Begriffssprache angesichts der Tatbestände des staatlich organisierten Verwaltungsmassenmords aufzeigen und diskutieren kann. Sieht man genauer zu, so wird man unschwer feststellen, daß die Richter in all diesen Prozessen eigentlich nur auf Grund der ungeheuerlichen Tatbestände, also gewissermaßen frei urteilten, ohne Zuhilfenahme der Normen und rechtlich festgesetzten Maßstäbe, mit denen sie mehr oder minder überzeugend ihre Urteilsfindung dann zu begründen suchten. Dies war schon in Nürnberg evident, wo die Richter einerseits erklärten, daß das „Verbrechen gegen den Frieden" das schwerste der vor ihnen verhandelten Verbrechen sei, da es alle anderen Verbrechen in sich trage, dann aber die Todesstrafe nur gegen diejenigen aussprachen, die an dem neuen Verbrechen des Verwaltungsmassenmords beteiligt gewesen waren, also an einem angeblich weniger schweren Delikt als dem Friedensbruch. Es wäre in der Tat lohnend, diesen und ähnlichen Inkonsequenzen auf einem so auf Konsequenz versessenen Gebiet wie der Rechtsprechung nachzugehen, was hier natürlich nicht geschehen kann.

Damit kommen wir zu einer anderen der grundsätzlichen Fragen, die in allen diesen Nachkriegsprozessen und natürlich auch im Eichmann-Prozeß berührt wurde und um die sich zu streiten in der Tat lohnen würde. Sie betrifft das Wesen und das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft. Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen. Und diese Frage ist um so ernster, als wir wissen, daß die wenigen, die unbescheiden genug nur ihrem eigenen Urteil trauten, keineswegs identisch mit denjenigen waren, für die die alten Wertmaßstäbe maßgebend geblieben oder die sich von einem kirchlichen Glauben leiten ließen. Da die gesamte tonangebende Gesellschaft auf die eine oder andere Weise Hitler zum Opfer gefallen war, waren auch diese gesellschaftsbildenden moralischen Maximen und die gemeinschaftsbildenden religiösen Gebote gleichsam verschwunden. Diejenigen, die urteilten, urteilten frei; sie hielten sich an keine Regel, um unter sie Einzelfälle zu subsumieren, sie entschieden vielmehr jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es allgemeine Regeln für ihn nicht gäbe.

Wie tief diese Frage des Urteilens und, wie man oft meint, des Aburteilens Menschen unserer Zeit beunruhigt, hat sich auch in dem Streit um das vorliegende Buch wie in dem in vielem ähnlich gelagerten Streit um Hochhuths „Stellvertreter" gezeigt. Weder Nihilismus noch Zynismus, wie man vielleicht hätte erwarten dürfen, aber eine ganz außerordentliche Verwirrung in den Elementar-fragen des Moralischen ist zutage getreten, als sei das Moralische nun wahrlich das letzte, was sich in unserer Zeit von selbst versteht. Hierfür sind die zahlreichen Kuriosa, die in diesen Streitigkeiten auigetaucht sind, vielleicht besonders bezeichnend. So meinte man in amerikanischen Literatenkreisen ganz naiv, daß Versuchung und Zwang eigentlich dasselbe sind, daß man von niemandem verlangen kann, daß er der Versuchung widerstehe. (Wenn jemand dir die Pistole auf die Brust setzt und dir befiehlt, deinen besten Freund zu erschießen, dann mußt du ihn eben erschießen. Oder — vor einigen Jahren anläßlich des Fernsehskandals in dem Quiz-Programm, in dem ein Universitätsprofessor geschwindelt hatte — wenn soviel Geld auf dem Spiel steht, wer könnte da widerstehen?) Das Argument, daß man nicht urteilen kann, wenn man nicht dabei gewesen ist, überzeugt jedermann überall, obwohl es doch offenbar sowohl der Rechtsprechung wie der Geschichtsschreibung die Existenzberechtigung abspricht. Im Gegensatz zu diesen Konfusionen ist der Vorwurf der Selbstgerechtigkeit, den man gegen die Urteilenden erhebt, uralt, aber er ist darum nicht begründeter. Auch der Richter, der einen Mörder verurteilt, kann noch sagen, wenn er nach Hause geht: And there, but for the grace of God, go I! Alle deutschen Juden verurteilen einstimmig die Welle der Gleichschaltungen, die 1933 durch das deutsche Völk ging und sie von einem Tag zum anderen isolierte. Sollte sich wirklich keiner von ihnen je gefragt haben, wie viele von ihnen sich wohl gleichgeschaltet hätten, wenn man es ihnen erlaubt hätte? Ist darum ihr Urteil weniger berechtigt? Die Reflexion auf das eigene mögliche Verhalten kann Anlaß sein, zu verzeihen, aber so meinen es diejenigen, die sich auf christliche Barmherzigkeit berufen, offenbar nicht. So sagt etwa eine Erklärung der „Evangelischen Kirche in Deutschland" nach dem Kriege: „Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist." (Zitiert nach Pfarrer Aurel von Jüchen in: „Summa Iniuria" oder „Durfte der Papst schweigen?", rororo 591, S. 195.) Vor dem Gott der Barmherzigkeit wird, wie mir scheint, ein Christ schuldig, wenn er Böses mit Bösem vergilt. Uns Juden aber ist das Böse unbekannt, um dessentwillen man sechs Millionen Menschen ermordet hat. Haben sich aber die Kirchen, wie sie selbst erklären, an einem Frevel mitschuldig gemacht, so dürfte dafür immer noch der Gott der Gerechtigkeit zuständig sein.

Worüber man sich in weiten Kreisen der öffentlichen Meinung einig zu sein scheint, ist, daß man überhaupt nicht urteilen dürfte, jedenfalls nicht, wenn das Urteil Personen betrifft, die Ansehen genießen. Der Weg der Argumentation ist immer der gleiche: er biegt von den verbürgten, belegbaren Einzelheiten ab ins Allgemeine, in dem alle Katzen grau und wir alle gleich schuldig sind. Gegen die Anklage, die Hochhuth gegen einen einzelnen Papst erhoben hat und die man dokumentarisch belegen kann, stellt man die Anklage gegen das Christentum überhaupt, oder man sagt: „Zweifellos gibt es Grund für schwere Beschuldigungen, aber der Angeklagte ist das ganze Menschengeschlecht“ (Robert Weltsch). Oder den „Einzelheiten", die für eine Beurteilung immer entscheidend bleiben, wird ein „Gesamtbild" entgegengestellt, in dem alle Einzelheiten bruchlos aufgehen und demzufolge allerdings niemand hätte anders handeln können, als er eben gehandelt hat. Solch ein Gesamtbild ist die „Gettopsychologie" des jüdischen Volkes, das alles wirklich Geschehene zudeckt. Im Rahmen des Politischen gehören zu diesen zu nichts verpflichtenden, leeren All-gemeinheiten die Vorstellungen von einer Kollektivschuld beziehungsweise Kollektiv-unschuld der Völker, die automatisch des Urteilens und der damit verbundenen Risiken entheben. Und wenn man auch in den Fällen der von der Katastrophe unmittelbar betroffenen Gruppen — den christlichen Kirchen, der jüdischen Führung zur Zeit der „Endlösung', den Männern vom 20. Juli — verstehen kann, daß es schwerhält, das herzugeben, woran man sich noch gerade halten zu können hoffte, so ist diese Abneigung zu urteilen und das Ausweichen vor aller Verantwortlichkeit, die man einzelnen zuschreiben und zumuten kann, doch so weit verbreitet, daß es mit dieser Art der Motivation letztlich nicht zu erklären ist. Es hat sich inzwischen wohl herumgesprochen, daß es eine Kollektivschuld nicht gibt und auch keine Kollektivunschuld und daß, wenn es dergleichen gäbe, niemand je schuldig oder unschuldig sein könnte. Was es aber wohl gibt, ist eine Kollektivhaftung im politischen Bereich, die in der Tat unabhängig ist von dem, was man selbst getan hat, und daher weder moralisch zu werten noch gar in strafrechtlichen Begriffen zu fassen ist. Politisch haftet jede Regierung eines Landes für all das, was durch die Regierung vor ihr zu Recht oder zu Unrecht geschehen ist. Das Recht soll sie fortsetzen und das Unrecht nach Möglichkeit wiedergutmachen. In diesem Sinne zahlen wir allerdings immer für die Sünden der Väter, und wenn Napoleon bei seinem Machtantritt gesagt haben soll, er gedenke die Verantwortung für alles zu übernehmen, was in Frankreich von Ludwig dem Heiligen bis zum Wohlfahrtsausschuß geschehen ist, so hat er nur das Selbstverständliche ein wenig ausgeschmückt und übertrieben.

Man könnte sich wohl denken, daß auch solche Wiedergutmachung zwischen Völkern einmal vor einem internationalen Gerichtshof verhandelt wird, aber dies wird kein Strafgerichtshof sein, in dem über Schuld und Unschuld von Personen Recht gesprochen wird. Und um die Frage von Schuld und Unschuld, um die Möglichkeit, Recht zu sprechen und Gerechtigkeit zu üben im Interesse des Verletzten wie im Interesse des Angeklagten, geht es in jedem Strafprozeß; auch im Eichmann-Prozeß konnte es um nichts anderes gehen. Nur daß hier das Gericht mit einem Verbrechen konfrontiert war, das es in den Gesetzbüchern vergeblich suchen wird, und mit einem Verbrecher, dessengleichen man jedenfalls vor Gericht vor den Nürnberger Prozessen nicht gekannt hat. Der vorliegende Bericht handelt davon, wieweit es in Jerusalem gelang, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.

Fussnoten

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