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Politisches Wissen in der Demokratie. Zur Demokratie-Analyse Alexis de Tocquevilles | APuZ 42/1964 | bpb.de

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APuZ 42/1964 Politisches Wissen in der Demokratie. Zur Demokratie-Analyse Alexis de Tocquevilles

Politisches Wissen in der Demokratie. Zur Demokratie-Analyse Alexis de Tocquevilles

Erich Christian Schröder

Es mag Verfassungen menschlicher Gemeinschaft gegeben haben, die eines spezifisch politischen Wissens aller Gemeinschaftsglieder nicht bedurften, um als menschenwürdige zu bestehen und sich selbst zu tragen. Keinesfalls aber trifft das auf diejenige Verfassung zu, die wir Demokratie nennen. Es ist der Sinn dieses Aufsatzes, die Notwendigkeit politischen Wissens aus dem Wesen der Demokratie zu begreifen. Politisches Wissen ist indessen keine Theorie der Demokratie, sondern es leitet das politische Handeln in der Demokratie. Sein Ziel ist nicht die Herstellung oder Erhaltung der Demokratie, sondern die Gestaltung der Demokratie in Hinsicht auf die Freiheit der Menschen.

Demokratie ist in unserem Zeitalter keine beliebig wählbare Staatsform und Gesellschaftsverfassung, sondern das unausweichliehe Geschick, das uns aus unserer abendländischen Geschichte überkommen ist und den Umkreis aller Möglichkeiten politischen Handelns und gesellschaftlicher Verfassung vorzeichnet. Die scheinbaren Gegensätze zur Demokratie, die Formen mehr oder weniger totaler Herrschaft, gehören als mögliche defiziente Zustände der Demokratie zu deren eigenem Wesen und sind damit wesens-verschieden von allen aus früheren Zeitaltern bekannten Formen von Despotie und Tyrannei. Sie erwachsen aus Tendenzen, die in allen demokratischen Gemeinwesen stets wirksam sind. Solange wir unter Demokratie nur eine äußere Staatsverfassung verstehen und diese als den glücklich erreichten Gegensatz zur totalen Herrschaft nehmen, darin wir uns im Gefühl sicherer Geborgenheit häuslich einrichten und nur noch äußere Gefahren fürchten, fassen wir die Demokratie zu eng und sehen an ihrem Wesen vorbei. Wir fragen daher zunächst nach dem Wesen der Demokratie in ihrer geschickhaften Unausweichlichkeit für die abendländischen Völker.

Demokratie und Geschichte Wenn wir uns für die folgenden Überlegungen an einen französischen Denker des vorigen Jahrhunderts halten, so geschieht das nicht aus einer besonderen Vorliebe für diesen Autor, sondern weil wir ihm die bisher gründlichste politische Analyse der Demokratie verdanken.

Alexis de Tocqueville (1805— 1859) ist in Deutschland erst vor wenigen Jahren wieder-entdeckt worden, nachdem im 19. Jahrhundert eine lebhafte Auseinandersetzung um seine Werke geführt worden war, die allerdings von vielen und entscheidenden Mißverständnissen beherrscht wurde, welche sich vor allem aus den mannigfachen restaurativen Bestrebungen im Deutschland der zweiten Jahrhunderthälfte erklären In unserem Jahr-hundert war Tocqueville verschollen bis 1945. Selbst der nachdrückliche Hinweis Wilhelm Diltheys auf Tocqueville als den größten Analytiker der politischen Welt seit Aristoteles und Machiavelli in dem Spätwerk »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ von 1910 konnte ihn der Vergessenheit nicht entreißen. Bei uns war die politische Besinnung von metaphysischen und ideologischen Geschichtskonstruktionen weitgehend beherrscht, die mehr oder weniger direkt ihren Ausgang vom Geschichtsdenken Hegels genommen hatten. Auch wo die Wehen der historischen Auflösung der Möglichkeit von Geschichtskonstruktionen spürbar wurden, zeigten sie noch die Herrschaft des Geschichtsdenkens an. Es bestand keine Aufnahmebereitschaft mehr für ein Denken, das Dilthey damals so charakterisierte: .....seine (Tocquevilles) Zergliederung ist auf das Zusammenwirken der Funktionen in einem modernen politischen Körper gerichtet, und er zuerst hat mit der Sorgfalt und Peinlichkeit des sezierenden Anatomen jeden Teil des politischen Lebens, der in der Literatur, den Archiven und dem Leben selbst zurückgeblieben ist, für das Studium dieser inneren und dauernden Strukturverhältnisse verwertet . .. Die Erkenntnis, daß in dieser (seil, der Demokratie) , die Bewegung', , die kontinuierliche, unwiderstehliche Tendenz'bestehe, eine demokratische Ordnung in allen Staaten hervorzubringen, erhob sich in ihm aus der Entwicklung der Gesellschaft in den verschiedenen Ländern. Diese seine Erkenntnis hat sich seitdem durch die Vorgänge in allen Teilen der Welt bestätigt."

Weil sich Tocquevilles Entwurf der Entwicklung der Demokratie inzwischen so wesentlich bestätigt hat — was man zum Beispiel von der Marx’schen Geschichtskonstruktion nicht behaupten möchte —, deshalb ist er in letzter Zeit wiederentdeckt worden. Seine allerdings sensationellen Voraussagen unserer heutigen weltpolitischen Situation haben ihm bei uns sogar eine gewisse Popularität verliehen. Am Schluß des ersten Teiles seines frühen Hauptwerkes „Uber die Demokratie in Amerika" schreibt er, daß es heute — 18351 — auf der Erde zwei große Völker gebe, die von verschiedenen Punkten ausgehend zum selben Ziel vorzurücken scheinen: die Russen und die Angloamerikaner. Seine Charakteristik dieser beiden Völker gipfelt an der betreffenden Stelle in der Feststellung: „Um sein Ziel zu erreichen, stützt sich der eine auf den persönlichen Vorteil und läßt die Kraft und die Vernunft der einzelnen Menschen handeln, ohne sie zu lenken. — Der zweite faßt gewissermaßen in einem Manne die ganze Macht der Gesellschaft zusammen. — Dem einen ist Hauptmittel des Wirkens die Freiheit: dem andern die Knechtschaft." Tocqueville zieht die Schlußfolgerung: „Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege sind ungleich; dennoch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten." 4)

Was nützt uns aber die erbauliche Betrachtung solcher Prophetie, die bei Tocqueville überdies eine Randbemerkung ist, wenn wir keinen Antrieb verspüren, den Grund ihrer Möglichkeit zu erkennen? Er liegt in Tocquevilles tiefer Einsicht in das Wesensganze des epochalen Phänomens der neuzeitlichen Demokratie. Es gibt Jahresdenker, es gibt Jahrhundertdenker, und es gibt Denker, die das Wesensgepräge eines Zeitalters ans Licht heben. Zu den letzten gehört im politischen Bereich zweifellos Tocqueville.

Sein Werk „Uber die Demokratie in Amerika", dessen zweiter Teil 1840 erschien, verfolgt nicht nur die Absicht, über die politische Ordnung und die gesellschaftlichen Zustände in den Vereinigten Staaten zu berichten, erst recht nicht, die besondere amerikanische Form der Demokratie den europäischen Völkern als Vorbild zu empfehlen. Tocqueville sieht vielmehr in der Entwicklung zur Demokratie das unausweichliche Geschick für die abendländischen Völker. Die Amerikaner haben dieses Geschick nur unbefangener übernommen und bejaht, unbelasteter von traditionellen Institutionen und Bindungen; deshalb ist dort die Demokratie weiter fortgeschritten und daher in ihren allgemeinen Entwicklungstendenzen besser zu erkennen.

Die leitende Absicht des Werkes ist es vielmehr, unter der Voraussetzung der geschichtlichen Entwicklung zur Demokratie die Möglichkeiten und Gefährdungen politischer Freiheit zu erkunden. Diese Absicht hat Tocqueville selbst in einem Brief vom Dezember 1836, aus der Zeit also, da er am zweiten Teil arbeitete, klar ausgesprochen: „Den Menschen, wenn möglich, zu zeigen, was getan werden muß, um sich vor der Tyrannei und der Verkümmerung zu bewahren, die mit der Demokratie einhergehen, das* ist, denke ich, die Grundidee, in die sich mein Buch zusammenfassen läßt und die auf jeder Seite des Buches deutlich wird, das ich jetzt schreibe.“ Dem Nachweis, daß die „demokratische Revolution" ein unausweichliches geschichtliches Ereignis darstellt, ist die Einleitung des Hauptwerkes gewidmet. Sie nennt auch gleich im ersten Satz das elementare Prinzip dieser Entwicklung. Tocqueville faßt es in den Ausdruck „egalite des conditions'. Diese „Gleichheit der (gesellschaftlichen) Bedingungen" meint nicht, daß die Menschen alle gleich seien oder gar zu sein hätten; sie werden sich ja doch immer in vielfacher natürlicher Hinsicht unterscheiden. Tocqueville meint vielmehr die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Gesellschaftsverfassung ablöst, in welcher es absolute, durch Geburt und Herkommen festgelegte und von allen Gliedern der Gesellschaft als selbstverständlich anerkannte Unterschiede zwischen den Menschen gab. „In dem Maße, wie ich die amerikanische Gesellschaft studierte, erkannte ich daher immer mehr die Gleichheit der Bedingungen als die wirkende Ursache, aus der jede einzelne Tatsache hervorgeht, und ich sah sie ununterbrochen vor mir wie einen Mittelpunkt, in den alle meine Beobachtungen einmündeten.“ 6) Dieses Prinzip sieht Tocqueville auch in Europas Geschichte zur Herrschaft gelangen. Und es ist Prinzip im strengen Sinne seiner aristotelischen Fassung: als Ursprung, von dem her etwas ist, von dem her etwas wird und von dem her etwas erkannt wird.

Tocqueville zeigt in der Einleitung, daß die ganze abendländische Geschichte seit dem Mittelalter mit einer alles überwältigenden Konsequenz darauf hinarbeitet, die egalite des conditions hervorzubringen. Diese Entwicklung gewählt haben die Menschen nicht und gesucht, sie ist vielmehr „der stetigste, älteste und andauerndste Vorgang ..., den die Geschichte kennt" Wie wenig Menschen die in der Lage waren, ihn aufzuhalten, zeigt sich daran, daß gerade diejenigen Mächte und Tendenzen, die ihrer eigenen Natur nach entschiedene jeglicher -Gegner Demokratisie rung sein mußten, die Entwicklung ohne ihr Wissen, ja gegen ihren Willen beschleunigt und gefördert haben. Tocqueville zählt viele untereinander ganz verschiedene Prozesse und Bestrebungen mit ganz verschiedenen und gegensätzlichen Zielen auf, die doch alle auf dasselbe hinausgelaufen sind: auf die Demokratie, also die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, auf den Abbau der gesellschaftlichen Gliederung durch Herkunft und Geburt. So hat der Klerus schon sehr früh seine Reihen jedermann geöffnet, so daß ein Mensch, der von Geburt Leibeigener und Knecht war, sich als Priester über den Adel und manchmal sogar über Könige erheben konnte. Der Protestantismus hatte später gelehrt, daß alle Menschen in gleicher Weise imstande sind, den Weg zum Himmel zu finden. Durch die steigende Komplizierung der menschlichen Beziehungen traten die Rechtsgelehrten mit einer ganz neuartigen Macht auf den Plan. Während die Fürsten sich in langwierigen und opferreichen Privatfehden zugrunderichteten, stieg der Einfluß des Bürgertums durch den Handel; eine neue Gewalt war da: das Geld — eine Gewalt, der sich schließlich auch die Fürsten unterwerfen mußten, ob sie die Finanziers verachteten oder nicht. Mit dem Bürgertum breitete sich langsam die Bildung aus. Das Wissen wurde zu einem Element des Erfolgs. Die natürlichen Gaben des Geistes, „die der Himmel nach Belieben austeilt", die also an keinen Stand gebunden sind, wurden zu sozialen Mächten, welche die Demokratie förderten, auch wenn sie sich im Besitze der Gegner der Demokratie befanden. Denn alle Berufung auf geistige Gaben, auf Vernunft, Intelligenz und Erkenntnis, gleich welche Ziele sie im einzelnen verfolgen mag, führt notwendigerweise anders zur Gleichheit, der Mensch wesentlich vernünftiges Lebewesen ist, die Verschiedenheit der Menschen in der geistigen Begabung daher nur Gradunterschiede, aber absolute Unterschiede begründen kann. Tocqueville legt dar, daß sogar der Absolutismus die Entwicklung zur Gleichheit gefördert hat, weil absoluten die Könige das Bestreben hatten, den unendlichen Abstand zwischen sich und allen anderen zu etablieren und damit unterhalb des Thrones alles gleichzumachen.

Jeder neue Weg zur Macht läßt die vornehme Geburt in ihrem Wert absinken. „Geht man die Blätter unserer Geschichte durch, so trifft man sozusagen auf kein einziges bedeutendes Ereignis, das sich im Laufe von siebenhundert Jahren nicht zum Vorteil der Gleichheit aus-gewirkt hätte." Die Entwicklung zur Gleich-heit der Bedingungen ist ein Geschick, das sich aller Menschen und aller Ereignisse bedient hat, um sich langsam aber sicher durchzusetzen. „Man hat gesehen, wie sich überall die verschiedenen Vorgänge im Leben der Völker zum Vorteil der Demokratie wenden. Alle Menschen haben das Ihre dazu beigetragen, die, welche ihren Erfolg fördern wollten, wie jene, die ihm keineswegs zu dienen beabsichtigten; die, welche für sie kämpften, wie sogar jene, die sich als ihre Feinde erklärten; alle miteinander wurden auf den gleichen Weg geschoben, und alle haben gemeinsam gearbeitet, die einen wider Willen, die andern ohne ihr Wissen, alle als blinde Werkzeuge in Gottes Hand." 9)

Die Entwicklung zur Demokratie ist ein Geschick, so bestimmt, so beständig, so allgemein und so sehr der menschlichen Einwirkung entzogen, daß Tocqueville nicht zögert, in ihm den Willen Gottes zu erkennen. Diese Erkenntnis war damals so neu und so groß, daß wir es verstehen, wenn Tocqueville sagt, sein Buch sei „völlig untel dem Eindruck einer Art religiösen Erschauerns geschrieben, das den Verfasser angesichts der unaufhaltsamen Umwälzung befiel, die seit so vielen Jahrhunderten über alle Hindernisse hinweg voranschreitet" Alle Versuche, die Demokratie aufhalten zu wollen, erscheinen ihm demnach nicht nur als sinnlos, sondern als ein Kampf gegen Gott selbst.

An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Es scheint, wenn die Entwicklung zur Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen das unabwendbare Geschick der abendländischen Völker und damit schließlich der ganzen Menschheit ist, das sich über alle Hindernisse und Zuwiderhandlungen hinweg durchsetzt, wenn die Menschen blinde Werkzeuge in der Hand der Vorsehung sind, für das menschliche Verhalten nur die Alternative zu geben: entweder ist es völlig gleichgültig, was wir tun und wissen, ob wir uns gegen das unwiderstehliche Fatum auflehnen oder ob wir uns fügen — oder unsere Einsicht in den Gang der Geschichte hebt endlich unsere Blindheit auf und erhebt uns zu willentlichen Vollstreckern des Willens der Vorsehung. Diese Alternative scheint nur entscheidbar zu sein je nach unserem Verhältnis zur Geschichte und je nach der Bedeutung, die wir unserer Einsicht in das Entwicklungsgesetz der Geschichte beimessen. Daß Tocqueville jedoch eine Folgerung aus seiner Geschichtsbetrachtung zieht, welche die genannte Alternative vermeidet, kennzeichnet seine Überlegenheit über seine bedeutendsten Zeitgenossen wie z. B. Marx. Er hat sich mit dieser Folgerung aus dem Bann der neuzeitlichen Geschichtsmetaphysik befreit, zu der die Alternative Fatalismus oder willentliche Vollstreckung der erkannten geschichtlichen Gesetze als einzig mögliche gehört. In dem Maße aber, als auch heute noch die neuzeitliche Geschichtsmetaphysik die politische Besinnung beherrscht, ist die Abneigung Tocquevilles für uns unumgänglich.

Geschichte und Politik Für Tocqueville ist das Prinzip der geschichtlichen Entwicklung zwar im „Willen der Vorsehung" gegründet, aber er maßt sich weder an, dieses Prinzip aus dem Wesen des Absoluten und seiner Endzwecke abzuleiten und damit in seiner teleologischen Notwendigkeit zu erkennen, noch versucht er, es in einer zu ihrem endgültigen Selbstbewußtsein gelangten Natur des Menschen zu gründen und damit seine Notwendigkeit als erkannt zu behaupten. Er entspricht dem Anspruch der Geschichte vielmehr dadurch, daß er die Richtung einer geschichtlichen Entwicklung beobachtet und ihr inzwischen offensichtliches Prinzip erkennt als das, was aus verborgenen Anfängen allmählich und stetig ans Licht drängt. Deshalb sieht Tocqueville keine Möglichkeit, die Zukunft gemäß seiner Einsicht in den Gang der abendländischen Geschichte zu planen. Zwar nennt er die fortschreitende Entwicklung zur Gleichheit „zugleich die Vergangenheit und die Zukunft" unserer Geschichte, und er sagt auch am Schluß der Einleitung, daß er danach getrachtet habe, „nicht anders, aber weiter zu schauen als die Parteien; und während diese sich mit dem nächsten Tag befassen, wollte ich an die Zukunft denken". Das heißt aber nicht, daß wir in irgendeinem Sinne erkennend und damit handelnd über die Zukunft verfügen könnten. „Wohin gehen wir denn? Keiner vermag es zu sagen; denn schon fehlt uns die Vergleichsmöglichkeit. Die gesellschaftlichen Bedingungen der christlichen Völker gleichen sich heute mehr als irgendwann und irgendwo auf der Welt; so behindert die Größe des Getanen das Voraussehen dessen, das noch getan werden kann." Tocqueville hat also ein Verhältnis zur Geschichte, das dem der neuzeitlichen Geschichtsmetaphysik von Vico bis Marx diametral entgegengesetzt ist. Es gibt für ihn keinerlei Bewältigung der Geschichte, weder der Vergangenheit noch der Zukunft, weder in der Theorie noch in der Praxis.

Dieser Gegensatz erscheint in ironischer Beleuchtung, wenn man bedenkt, daß Tocquevilles Voraussagen der nächsten Zukunft, deren Möglichkeit ihm aus der Wesentlichkeit seines Einblicks in die Entwicklung zur Gleichheit der Bedingungen erwuchs, sich inzwischen in frappanter Weise bestätigt haben, während die Marx'schen Voraussagen der ganzen Zukunft, die er der Konstruktion der Geschichte in ihrer gesetzmäßigen Teleologie von einer Idee des natürlichen Menschen her entnahm, durch die nächste Zukunft bereits widerlegt worden sind.

Das neuzeitliche Denken gründet in dem Rückzug des abendländischen Menschen aus seiner Gottesbeziehung auf sich selbst. Damit wird der Sicherheitsanspruch von Gott auf das menschliche Erkennen übertragen. Das unter einem unbedingten Sicherheits-, d. h. Gewißheitsanspruch stehende Erkennen birgt ein tiefes Mißtrauen gegen das unübersehbare menschliche Handeln und damit gegen alle Politik in sich. Es betont demgegenüber die Geschichte als einen erkennbaren, dem Handeln einzelner übergeordneten Prozeß, worin wir eines der wichtigsten Motive für die Entpolitisierung des menschlichen Zusammenlebens in der Neuzeit erkennen. Das neuzeitliche Denken neigt dazu, Freiheit nicht als politisches Handelnkönnen, sondern als Freiheit von Politik aufzufassen. So fielen durch das Aufkommen des Bürgertums als des eigentlichen Trägers des neuzeitlichen Denkens Staat und Gesellschaft auseinander. Und wenn das zur Macht gelangte Bürgertum auch den Staat als seine Institution usurpierte, so ist doch die Tendenz unverkennbar, den Staat als eine Institution zur Garantie der privaten Geschäfte und Befriedigungen aufzufassen.

Die Verbindung zwischen der neuzeitlichen Erkenntnisauffassung und der Geschichte ist von Giambattista Vico (1668— 1744) hergestellt worden. Vico wollte eine neue Wissenschaft, die Wissenschaft von der Geschichte, gegen den cartesianischen Vorrang der Physik zur Geltung bringen. Sein entscheidendes Argument bestand darin, daß wir die Natur nicht wirklich erkennen könnten, weil wir sie nicht gemacht haben, daß es infolgedessen eigentliche Erkenntnis nur von der Geschichte geben könne, die wir Menschen ja doch selbst gemacht hätten. In einem frühen Werk, „De nostri temporis Studiorum ratione" von 1708 heißt es: „Das Geometrische beweisen wir, weil wir es hervorbringen; wenn wir das Physikalische beweisen könnten, würden wir es hervorbringen." Eigentliche Erkenntnis — und darin offenbart sich die bis heute herrschende cartesianische Grundauffassung vom Wesen der Erkenntnis — ist also nur von solchem möglich, was wir selbst hervorbringen können. Derselbe Grund indessen, der Vico den Vorrang der Physik bestreiten ließ, läßt heute gemeinhin den Vorrang der Physik behaupten, denn die moderne mathematische Naturwissenschaft ist ebendarum ihrer Erkenntnisse so sicher, weil sie das von ihr Erkannte experimentell und technisch herstellen kann, womit zugleich ihre Grenze bezeichnet ist. Vico hingegen meinte, daß doch nur das Geschichtliche von den Menschen gemacht würde, nicht aber die Natur, und daß deshalb im eigentlichen Sinne nur das Geschichtliche erkannt und gewußt werden könne. In seinem Hauptwerk „Nuova Scienza" von 1744 wird dieser Gedanke als das Prinzip der ganzen neuen Wissenschaft in Anspruch genommen: „Denn nach unserem ersten unbezweifelbaren Prinzip ist die historische Welt ganz gewiß von uns Menschen gemacht und kann darum in den Modifikationen unseres eigenen Geistes wiedergefunden werden. Es kann nirgends größere Gewißheit geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt.“

Bei Vico bleibt indessen der Begriff des „Machens" der Geschichte zweideutig, denn er sagt andererseits, daß der Mensch Werkzeug in der Hand der Vorsehung sei. Erst im Denken Hegels klärt sich das Verhältnis zwischen menschlichem Tun und göttlichem „Machen der Geschichte“, indem er die Geschichte als die Selbstherstellung des absoluten Geistes versteht, die aber, da sie ja die Geschichte des Geistes ist, den Gesetzen der Selbstbewegung des Begriffs unterworfen ist und deshalb von demjenigen Menschen, der die Selbstbewegung des Begriffs denkend nach-und mitvollzieht, von dem Philosophen also, erkannt werden kann. Damit war aber die Möglichkeit bereitet, die Selbstherstellung nun endlich doch vom absoluten Geist auf den Menschen zu verlegen, d. h. die theologische Voraussetzung, daß Gott die Geschichte mache, auszustreichen und den natürlichen Menschen als Gattungswesen zum absoluten Subjekt seiner Geschichte zu erklären, wie es Marx in seiner „Umkehrung" Hegels getan hat. Wenn der Mensch als Gattungswesen das sich selbst herstellende Wesen und als solches das absolute Subjekt seiner Geschichte ist, das sich dieser seiner Rolle „wissenschaftlich“ bewußt werden kann, dann muß alles Handeln der Menschen im Sinne der bedingungslosen Erfüllung oder Nichterfüllung der erkannten Gesetze der Selbstherstellung interpretiert werden, d. h. die Politik muß sich als Beförderung des fraglosen Endzwecks der Geschichte, nämlich der vollkommenen Selbstherstellung des Menschen, verstehen. Aus der Einsicht in die Gesetze der Selbstherstellung des Menschen muß sich dann unmittelbar die Anweisung zum politischen Handeln ergeben, besser: die Politik muß selbst der Vollzug der gesetzmäßigen Selbstherstellung des Menschen werden. So versteht sich Marx'Forderung, die Philosophie durch ihre Verwirklichung aufzuheben. Das Maß der Verwirklichung ist dann die Unterscheidung des im Sinne des Geschichtsprozesses Wesentlichen vom Unwesentlichen. Wenn Hegel in dem Entwurf „Die philosophische Weltgeschichte" von 1830 sagt: „Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfer nen’, so gilt das bei ihm nur erst für die „philosophische Betrachtung". Für denjenigen jedoch, der die Philosophie verwirklichen will, hat die Entfernung des Zufälligen einen ganz anderen und verhängnisvolleren Sinn, nämlich die faktische Beseitigung des im Sinne des Selbstherstellungsprozesses Unwesentlichen, also die faktische Bekämpfung des geschichtlich überwundenen durch Revolution.

Der bei Vico bereits deutliche Gedanke, daß das menschliche Handeln ein Herstellen des Endzwecks der Geschichte sei, enthüllt sich bei Marx in seinem bis dahin verborgenen Sinn, nämlich in der Forderung, daß Politik Geschichte zu machen habe. Das Machen von Geschichte wird aber im Sinne eines herstellenden Verfahrens begriffen. Damit wird jedoch die Eigenart des menschlichen Handelns verkannt. Die Verwechslung von Herstellen und Handeln ist neuerdings von Hannah Arendt „eine alte, vielleicht die älteste Sünde aller politischen Philosophie des Abendlandes" genannt worden

Es besteht aber ein fundamentaler Unterschied zwischen Herstellen und Handeln. Ein Herstellungsprozeß hat einen eindeutigen Anfang und ein eindeutiges Ende. Er ist zuende, wenn das herzustellende Werk fertig ist, aus dem Herstellungsprozeß entlassen wird und nun als ein selbständiges Ding zum Bestand alles Seienden hinzukommt. Der Sinn des Herstellens liegt also nicht in ihm selbst, sondern in dem Werk, das den Herstellungsprozeß beendet und überdauert. Das Herstellen bestimmt sich allein vom Werk her und ist daher vollständig verfügbar.

Wenn wir dagegen handeln, so setzen wir einen Anfang, aber da wir immer nur in einer welthaften Situation handeln können, d. h. in ein jeweils konkretes, aber nie völlig überschaubares Geflecht von bestimmten Handlungen anderer hineinhandeln, wodurch wir sofort wieder neue Handlungen der anderen hervorrufen, so bleiben uns die Prozesse, die wir handelnd entfesseln, grundsätzlich unverfügbar. Handeln heißt wesentlich: zusammen handeln. Handeln und Herstellen sind daher in ganz verschiedener Weise auf die Zukunft bezogen. Für den Herstellenden ist die Zukunft verfügbar, ein vorgezeichneter Weg, überschaubar und vom Ziel her beleuchtet, der nur durchschritten zu werden braucht. Der Handelnde hat keinen vom Ziel her konkret bestimmten Weg; für ihn eröffnet sich Zukunft nur, wenn er handelt und dadurch daß er handelt, d. h. mit anderen zusammen handelt. Der Herstellende schreitet in eine vorgegebene Zukunft hinein, der Handelnde läßt eine verborgene Zukunft entspringen. Er kann nichts auf die „objektiven" geschichtlichen Ziele und Gesetze abwälzen und verantwortet daher die Zukunft viel radikaler. Das Handeln hat seine Freiheit im jeweiligen Anfängen in einer konkreten Menschenwelt. Diese Welt entsteht nur durch das Zusammenhandeln der Menschen und hat keinerlei Existenz außerhalb des Handelns. Durch das Handeln entsteht also kein Werk, das die Tätigkeit, die es hervorbrachte, überdauern könnte. Das Handeln hat seinen Sinn in seinem eigenen freien Vollzug. Es konstituiert immer, da es ja nur als Zusammenhandeln wirklich ist, einen Raum des Öffentlichen, in welchem das freie Anfängen erscheinen und verstehbar werden kann. Daraus folgt nun: Freiheit, die nur wirklich ist im Handeln und als Handeln, liegt niemals in irgendeiner Zukunft, denn sie läßt allererst Zukunft entspringen. Freiheit kann also kein geschichtlicher Endzweck sein, demzuliebe unterwegs auch einmal die Freiheit abgeschafft werden dürfte. Freiheit ist vielmehr das stets gegenwärtige Prinzip des Handelns und damit aller Politik. Politik ist also nicht ein Geschichtemachen als Herstellen irgendeines Endzwecks, sondern Politik ist Miteinanderhandeln, das nur solange sein kann, als Freiheit im Handeln wirklich ist. Alle Vorstellungen, nach denen die Politik die Bewerkstelligung geschichtlicher Endzwecke und der Vollzug geschichtlicher Gesetze sein soll, tendieren daher im Grunde auf eine Abschaffung des Handelns und damit der Freiheit und der Politik, ja der Geschichte selbst, wie es sich bei Marx ganz deutlich zeigt.

So müssen wir sagen: Die Geschichte entsteht zwar durch menschliches Handeln, aber dieses Handeln ist auf keine Weise ein Herstellen, ein Machen der Geschichte durch den Menschen. Deshalb können wir Geschichte nie planen, sondern nur rückschauend verstehen. Der Sinn geschichtlicher Vorgänge, der sich in der rückschauenden Betrachtung erschließt und den alles Geschichtliche hat, weil es sonst nicht erzählt werden könnte, ergibt keine Endzweckvorstellungen, keine planbare Zukunft. Er erhellt nur den gegenwärtigen Bestand einer Situation, in der wir handeln, d. h. Zukunft eröffnen müssen. Der Entwurf einer Situation auf zukünftige Möglichkeiten hin, der sich in jedem handelnden Anfang manifestiert, wäre in sich widersinnig, wenn er, der doch nur aus Freiheit ist, die Freiheit irgendwelchen Endzwecken unterstellen wollte. Handeln selbst ist Freisein; Freiheit ist also nicht Zweck des Handelns, sondern vielmehr sein Prinzip, das keinem Zweck unterworfen sein kann. Handeln ist Selbstzweck, d. h.der einzige Zweck des Handelns ist sein Prinzip, die Freiheit. Damit zeichnet sich ein Begriff von Freiheit ab, den wir später noch konkreter auszulegen haben.

Solange die Politik im Banne des neuzeitlichen Geschichtsdenkens von Vico bis Marx und darüber hinaus steht, solange versteht sie sich als Geschichtemachen, bleibt sie also in einem verhängnisvollen Mißverständnis ihrer selbst befangen. Tocqueville hat diesen Bann gebrochen, indem er Geschichte und Politik durch ihre Prinzipien unterschieden hat. Zwar macht er diese Unterscheidung nirgends in dem Sinne thematisch, wie wir es hier versuchen. Aber sein Werk beruht auf dieser Unterscheidung, die ihm ganz selbstverständlich gewesen zu sein scheint. Die Forderung, in der die Einleitung zu seinem Hauptwerk gipfelt und die er in dem Werk selbst zu erfüllen sucht, lautet: „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.“ Das Neue besteht in der unausweichlichen Entwicklung zur Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen. Das ist eine geschichtliche Einsicht. Politisches Wissen aber leitet das Handeln, und der Sinn des Handelns kann es nur sein, den Raum menschlicher Freiheit zu eröffnen und offen zu halten. Freiheit ist jedoch mit Gleichheit nicht automatisch gegeben. Eine demokratische Gesellschaftsordnung, ja eine demokratische Staatsverfassung garantieren keineswegs das freie Handelnkönnen der Menschen. Freiheit ist überhaupt nicht zu garantieren, da sie ja nur im Vollzug des Handelns wirklich ist. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr handeln will oder kann, nützen auch die freiheitlichsten Institutionen nichts, um der Freiheit zum Sein zu verhelfen. Die Gleichheit dagegen macht sich sozusagen von selbst. Und sie hat Auswirkugen, die der Freiheit ungünstig sind. Da die Gleichheit den Grundcharakter der geschichtlichen Situation darstellt, die Politik aber ihr Prinzip an der Freiheit hat, ergibt sich als Grundthema der politischen Wissenschaft: die Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Freiheit.

Wenn wir heute froh sind, zur „freien Welt"

zu gehören, und wenn wir meinen, die demokratischen, also auf dem Prinzip der Gleichheit der Bedingungen beruhenden Gemeinschaftsordnungen garantierten bereits unsere Freiheit, so liegt darin ein gefährliches Mißverständnis. Freiheit als wirkliche Freiheit ist ihrem Wesen gemäß immer in Gefahr. Solange wir aber meinen, die Politik sei dazu da, einen wie auch immer formulierten Endzweck der Geschichte zu erreichen, solange die Politiker von letzten und umfassenden Zielen der Politik reden und daran glauben, bleibt die Freiheit sogar als Möglichkeit in immer anschwellender Gefahr. Wenn wir uns bewußt halten, was Handeln ist und sein kann, dann ist es nicht mehr möglich, eine Gesellschaftsordnung errichten zu wollen, in der Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit für immer garantiert seien. Wir vertun damit unsere Kräfte und ziehen sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Es gibt keine automatisch funktionierenden Garantien im menschlichen Zusammenleben. Jede Ordnungsform ist immer nur soviel wert, wie der Wille zur Freiheit wert ist, der sie trägt. Die Vorstellung, es könne einmal ein Zeitalter geben, in dem wir keinen Staat, keinerlei Herrschaftsverhältnisse mehr nötig hätten (Marx), in dem wir frei von aller Politik wären, ist in ihrer Verführungskraft die am meisten zu fürchtende Vorstellung in einer demokratischen Gemeinschaft. Freiheit kann grundsätzlich niemals wirklich sein als Freiheit von Politik, sondern nur als politische Freiheit, und das Handeinmüssen wird uns kein Gott und keine Natur und keine automatische Entwicklung abnehmen. Es könnte allerdings sein, daß wir eines Tages, obwohl wir handeln müßten, nicht mehr handeln könnten, weil wir uns die Fähigkeit zu handeln langsam aber sicher hätten entgleiten lassen, ohne es gemerkt zu haben. Alle Vorstellungen, nach denen man in irgendeinem Sinne Geschichte machen will, etwas Endgültiges errichten und letzte höchste Zwecke in der Politik befördern zu sollen glaubt — Vorstellungen, die heute vielleicht mehr denn je den Raum des Politischen erfüllen, und nicht nur im Herrschaftsbereich totalitärer Ideologien —, untergraben den Willen und das Wissen, deren äußerste Anstrengung gefordert ist, damit der Raum des politischen Handelns, d. h.der Raum der Freiheit und damit des Menschlichen erhalten bleibt.

Die erste Charakteristik, die Tocqueville in der Einleitung von der postulierten politischen Wissenschaft gibt, läßt schon erkennen, in welche Richtung das politische Wissen strebt.

Von einer Beförderung der Entwicklung zur Gleichheit ist da keine Rede, die Demokratie erscheint nirgendwo als Ziel des politischen Handelns, sondern immer nur als dessen Voraussetzung: „Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch die Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Ortes anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: das ist die erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist." So zieht sich die Vorstellung des Unterschiedes zwischen Geschichte und Politik durch das ganze Werk. In einer Anmerkung zu einem der letzten Kapitel des zweiten Teils tritt sie als Fazit der Analyse der Politik in folgender Gestalt in Erscheinung: „Für die Menschen liegt die Größe des Einheitsgedankens in den Mitteln, für Gott im Zweck; daher kommt es, daß diese Vorstellung der Größe uns zu tausend Kleinlichkeiten verleitet. Alle Menschen zwingen, im gleichen Schritt zu gehen und auf das gleiche Ziel hinzumarschieren, ist eine menschliche Vorstellung. — Den Handlungen eine unabsehbare Mannigfaltigkeit verleihen, sie aber so mit einander verbinden, daß alle Taten auf zahllosen verschiedenen Wegen den einen großen Plan vollbringen helfen, das ist eine göttliche Vorstellung. — Das menschliche Bild der Einheit ist fast immer unfruchtbar, dasjenige Gottes unfaßbar schöpferisch. Die Menschen wähnen ihre Größe zu beweisen durch Vereinfachung des Mittels: Gottes Ziel ist einfach, seine Mittel sind unendlich mannigfaltig." 17)

Alle Politik hat also die geschichtliche Situation und die wirksamen geschichtlichen Tendenzen so weit wie möglich zu erkennen und zu berücksichtigen, aber sie muß sich allein aus ihrem eigenen Prinzip, der Erhaltung der Freiheit, bestimmen. Jeder Versuch der Menschen, sich zu Vollstreckern des Willens der Vorsehung oder der natürlichen Geschichtsgesetze aufzuwerfen, läuft dem politischen Prinzip zuwider, weil er ein anderes Ziel anstrebt als das allein der Politik aufgegebene. Deshalb kommt Tocqueville auch nicht auf den Gedanken, die schon weiter fortgeschrittene demokratische Ordnung der Vereinigten Staaten auf europäische Verhältnisse übertragen zu wollen, denn damit würde er sich über die gegebene geschichtliche Situation der europäischen Völker hinwegsetzen. „Ich zweifle nicht daran, daß wir, wie die Amerikaner, früher oder später zu fast völliger Gleichheit gelangen werden. Ich leite daraus nicht ab, daß wir eines Tages aus einem solchen sozialen Zustand die gleichen politischen Folgerungen zu ziehen haben werden, zu denen die Amerikaner gelangten." Damit ist hinreichend deutlich, daß das politische Wissen nicht identisch ist mit einer wie auch immer gearteten Geschichtserkenntnis, daß es vielmehr darin bestehen muß, aus der Analyse der in einer gegebenen geschichtlichen Situation wirksamen Tendenzen die Mittel zu finden und gebrauchen zu lehren, die geeignet sind, in dieser Situation die Freiheit des Handelns zu ermöglichen und zu bewahren. Und wir sehen jetzt schon: die neue politische Wissenschaft, welche die gegebene geschichtliche Situation der Demokratie erfordert, kann sich überhaupt nur konstituieren, wenn die verhängnisvolle Indentifizierung von Geschichte und Politik, von Herstellen und Handeln als falsch durchschaut und aufgehoben wird.

Politisches Wissen ist demnach das Wissen um die Gefährdungen und die Möglichkeit der Freiheit in der Demokratie. Es ist uns natürlich in diesem Rahmen nicht möglich, den ganzen Umriß der politischen Wissenschaft, wie Tocqueville sie entworfen hat, wiederzugeben. Wir müssen uns in der Darstellung des Inhalts dieser Wissenschaft beschränken auf diejenigen Züge, die Gefährdung und Möglichkeit der Freiheit in unserer heutigen Situation besonders deutlich werden lassen. Aber auch in dieser Beschränkung wird sich die Bedeutung des politischen Wissens in der Demokratie sehr klar herausheben. Die Begründung einer neuen politischen Wissenschaft durch Tocqueville ist überdies eine eminent philosophische Leistung. Auch auf deren Darstellung verzichten wir und verweisen dafür auf einen Aufsatz von K. -H. Volkmann-Schluck, „Möglichkeit und Gefährdung der Freiheit in der Demokratie. Tocquevilles Idee einer politischen Wissenschaft“

Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie „Von allen politischen Wirkungen der gesellschaftlichen Gleichheit ist es diese Unabhängigkeitsliebe, die zuerst auffällt und die von ängstlichen Gemütern vor allem gefürchtet wird, und man kann nicht sagen, sie hätten darin völlig unrecht, denn in den demokratischen Ländern zeigt die Anarchie erschrecken-dere Züge als anderswo.“ Wenn die Entwicklung zur Gleichheit der Bedingungen keine Wirkung des Willens der Menschen gewesen ist, wie Tocqueville nachweist, so bedeutet das nicht, daß nunmehr, nachdem der Sinn der Entwicklung offen zutage tritt, die Gleichheit nicht auch gewollt würde. Tocque-ville nennt die „Liebe zur Gleichheit“ im Blick auf die Französische Revolution und ihre nächsten Folgen sogar die erste und heftigste Leidenschaft, welche die Gleichheit der Bedingungen entfacht. Die Gleichheit ist nicht die Wirkung der Liebe zur Unabhängigkeit, sondern die tatsächlich bereits erreichte Gleichheit der Bedingungen, der faktisch vollzogene Abbau der natürlichen und absoluten Autorität, wie sie der feudalen Gesellschaftsordnung selbstverständlich gewesen war, läßt umgekehrt die Liebe zur Unabhängigkeit zur beherrschenden Leidenschaft werden. Daß die Gleichheit der Bedingungen die beherrschende Tatsache der demokratischen Jahrhunderte ist, das erkläre schon zur Genüge, sagt Tocqueville, daß die Menschen dieser Epoche die Gleichheit allem anderen vorziehen. Denn der beherrschende Grundzug eines Zeitalters kann nur deshalb der beherrschende sein, weil er „schließlich alle Gefühle und alle Gedanken an sich zieht und sie alle mit sich reißt" 21). Die Entwicklung zur Gleichheit der Bedingungen umzukehren, würde bedeuten, die Gesellschaftsordnung, die Gesetze, alle Vorstellungen, Gefühle, Gewohnheiten und Sitten umzugestalten, also utopische Anstrengungen aller vorauszusetzen.

Insofern aber, als die Liebe zur Gleichheit mit der Liebe zur Unabhängigkeit identisch ist, scheinen auch Gleichheit und Freiheit identisch zu sein. Dieser Schein trügt allerdings. Der Trug besteht in der Verwechslung von bloßer Unabhängigkeit von Autorität und Herrschaft und Rangordnung mit der Freiheit, das heißt in der Verwechslung eines bloß negativen Begriffs von Freiheit mit ihrem positiven. Der negative Begriff der Freiheit ist jedoch für sich genommen widersinnig. Wir versuchen, diese Widersinnigkeit herauszuheben und gewinnen damit zugleich Hinweise auf den positiven Begriff der Freiheit.

„Die Gleichheit erzeugt in der Tat zweierlei Neigungen: die eine führt die Menschen unmittelbar zur Unabhängigkeit hin und kann sie plötzlich bis in die Anarchie treiben-, die andere lenkt sie auf einem längeren, verborgeneren aber sichereren Weg zur Knechtschaft.“ Daß die Liebe zur Unabhängigkeit in die Anarchie führen kann, liegt auf der Hand; man braucht sich nur die Unabhängigkeit absolut vorzustellen, dann löst sie jede Gemeinschaftsordnung auf, ein Zustand, der natürlich nicht Bestand haben kann, so daß er Anlaß zu unabsehbaren Versuchen der Errichtung neuer Ordnungen geben muß; der Ausgang solcher Versuche ist ungewiß, er kann unversehens eine Gewaltherrschaft von Wenigen über Alle und damit den empfindlichen Verlust der schon erreichten Unabhängigkeit erbringen, wie es der Verlauf der Französischen Revolution gezeigt hat. Dieser Unsicherheitsfaktor ist abschreckend, und deshalb hält Tocqueville die Gefahr der Anarchie für das geringste Übel angesichts der anderen Gefahren, die im Schoße der Demokratie schlummern. Die Liebe zur Gleichheit will unter keinen Umständen auf die Unabhängigkeit und deren Sicherung verzichten und führt damit gerade auf den zweiten Weg, also in eine Knechtschaft, die sich verborgen einschleicht und als Gefahr nicht leicht empfunden und erkannt wird. „Auf den Gedanken mittelbarer Befugnisse, die sich zwischen dem Oberhaupt und den Untergebenen einschalten, verfielen die aristokratischen Völker ganz natürlich, weil diese Befugnisse einzelne oder Familien in sich schlossen, deren Geburt, Bildung, Reichtum sie über alle hinaushoben und zum Regieren berufen erscheinen ließen. Diese selbe Vorstellung fehlt aus entgegengesetzten Gründen naturgemäß den Menschen der Gleichheitszeitalter; man kann sie nur künstlich einführen, und man hält sie immer nur mit Mühe darin fest; wogegen sie, sozusagen ohne daran zu denken, zur Vorstellung einer einzigen und zentralen Gewalt gelangen, die allein sämtliche Bürger lenkt.“ Die Idee einer einzigen Zentralgewalt ist also eine Wirkung der Gleichheit. Und diese Wirkung in ihrer ganzen Gefährlichkeit aufgewiesen zu haben, ist eines der Hauptverdienste Tocquevilles. Diese Wirkung ist indessen keine einheitliche; Tocqueville hat sie nach verschiedenen Richtungen analysiert und differenziert. Wir fragen also: Inwiefern tendiert eine demokratische Gesellschaftsordnung zur Zentralisierung aller Macht in einem Gemeinwesen? Die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen hat als erste politische Wirkung zur Folge die politische Gleichheit aller vor dem Gesetz. Dadurch wandelt sich der Charakter der Gesetze: sie werden notwendig allgemeiner, die Beziehung der einzelnen zu den Gesetzen werden abstrakter. Eine Gesetzgebung, die für alle in gleicher Weise gilt, muß zentralisiert sein. Mit der politischen Gleichheit spaltet sich zugleich der einzelne auf in den Staatsbürger und den Privatmann. Als Staatsbürger ist er mit jedem anderen gleich. Als Privatmann bleibt es ihm überlassen, welche Stellung er in der Gesellschaft einnehmen will und kann. Die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen gibt dem Privatmann eine Unabhängigkeit, die er als Staatsbürger nicht im selben Maße haben kann. Es wird daher nicht verwundern können, daß die Menschen ihre Freiheit in der Privatsphäre suchen, daß sie ihre eigentliche Initiative dort entwickeln und vom Staat nur die Garantie der Freiheit des Privatraumes erwarten. Was für eine Freiheit ist das aber? Es ist eine Unabhängigkeit des Individuums, die dieses in die ausschließliche Beziehung auf sich selbst (und auf seinen nächsten persönlichen Umkreis) freiläßt: „Ich habe dargelegt, wie in den Zeitaltern der Gleichheit jeder seinen Glauben in sich selber sucht; ich will zeigen, wie er in denselben Zeitaltern alle seine Gefühle auf sich allein richtet." 24)

Diesen „Individualismus“ unterscheidet Tocqueville vom Egoismus, der sozusagen ein natürliches Laster ist, das an keine besondere geschichtliche Situation gebunden erscheint. Der Individualismus dagegen „ist demokratischen Ursprungs, und er droht sich in dem Grade zu entfalten, wie die gesellschaftliche Einebnung zunimmt“ 25). Im Unterschied zum Egoismus, der aus einem „blinden Trieb" entsteht, entwickelt sich der Individualismus eher „aus einem irrigen Urteil“. „Er entspringt ebensosehr den Mängeln des Geistes wie den Fehlern des Herzens." 26) So zerstört der Individualismus zunächst „die öffentlichen Tugenden; mit der Zeit aber greift er alle andern an und zerstört sie und versinkt schließlich in die Selbstsucht" 27).

Durch die Angleichung der gesellschaftlichen Bedingungen löst sich das Gefühl des Angewiesenseins auf Schutz und Hilfe bestimmter anderer nach und nach auf. „Das Band menschlicher Zuneigungen dehnt und lockert sich." 28) Je mehr sich alle Lebensverhältnisse einander angleichen, um so größer wird die Zahl der einzelnen, die weder sehr starken Einfluß auf das Schicksal ihrer Mitmenschen ausüben könnoch auch auf andere angewiesen sind. Sie „sind niemanden etwas schuldig, sie erwarten sozusagen von niemanden etwas; sie gewöhnen sich daran, stets von den andern gesondert zu bleiben, sie bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen“ Das offenbart sich nicht nur im Verhältnis zu den Zeitgenossen, sondern sogar im Verhältnis zu den eigenen Vorfahren und Nachkommen; die Bande, die alle einzelnen in die Kette ihres Geschlechtes gebunden hatten, werden ebenfalls lockerer und schwächer. Wir konstatieren also als weitere Wirkung der Gleichheit, daß sie die einzelnen isoliert und privatisiert, womit sie in ein ungehemmtes privates Erfolgs-streben losgelassen werden. Die Demokratie neigt also dazu, die einzelnen voneinander zu trennen, alle unmittelbaren menschlichen Bande schwächer zu machen, indem sie die Menschen ständig auf sich selbst und sich allein verweist und sie schließlich „ganz und gar in die Einsamkeit ihres eigenen Herzens einzuschließen“ droht.

Der Mensch als bloßer einzelner ist aber mehr Lebewesen als Mensch. Die Unabhängigkeit des Privatmannes ist nur eine scheinbare Freiheit, weil er von ihr nur Gebrauch macht, um sich seine mannigfaltigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die bloße Freiheit des Privatmannes ist in sich widersinnig, denn sie ist letzten Endes nur eine Freiheit der Begehrungen, nicht aber die Freiheit eines vernünftigen Wesens. Tocqueville zitiert aus einer amerikanischen Rede: „Laßt uns nicht fehlgehen in dem, was wir unter unserer Unabhängigkeit zu verstehen haben. Es gibt in der Tat eine entartete Freiheit, die dem Tiere wie dem Menschen geläufig ist; sie besteht darin, alles zu tun, was einem gefällt.“ Es ist erschreckend, zu 28 sehen, wie dieser Unbegriff von Freiheit, diese widersinnige Vorstellung einer vernunftlosen, schrankenlosen Unabhängigkeit der Begehrungen in unserer Zeit die Gemüter beherrscht.

Durch die Angleichung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre privatisierende Wirkung wird also leicht eine Sucht nach Wohlstand und eine unmäßige Freude an materiellen Genüssen erzeugt, und zwar immer dann, wenn die einzelnen sich nur noch als Privatleute verstehen. Sich nur noch als Privatmann zu verstehen, bedeutet, eine Privation des Menschen für das Wesen des Menschen zu nehmen. „Nur auf das Reichwerden bedacht, bemerken sie nicht mehr das enge Band, welches das Wohlergehen jedes einzelnen von ihnen mit dem Gedeihen aller verknüpft. Man braucht solchen Bürgern die Rechte, die sie besitzen, nicht zu entreißen; sie lassen sie selber gern fahren. Die Ausübung ihrer politischen Rechte erscheint ihnen als eine ärgerliche Störung, die sie von ihrem Gewerbe abhält. ... es fehlt ihnen an Zeit; sie können diese so kostbare Zeit nicht mit unnützen Arbeiten vergeuden. (Dabei) vernachlässigen sie das Hauptgeschäft, nämlich Herr ihrer selbst zu bleiben." Damit ist ganz deutlich, wie sich die Privatisierung und Isolierung der einzelnen in der Demokratie auswirken kann: sie hat eine ungeheure Schwächung des Gemeinsinns zur Folge. Man fühlt sich nicht mehr verantwortlich für das Gemeinwesen, weil man der Ansicht ist, für sein Wohl sei schon gesorgt durch eine freiheitliche Verfassung oder durch eine starke Regierung oder durch eine gut funktionierende Verwaltung. Darin ist der Keim zu einer Art von Despotie gelegt, für die es in der ganzen Geschichte kein Vorbild gibt. Bevor wir jedoch diese neue Despotie genauer erörtern, bedenken wir noch eine weitere Folge der Angleichung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die gesellschaftliche Angleichung nivelliert nicht nur die allgemeinen Ausgangschancen. Die Tendenz zur Angleichung wird allmählich alle Lebensverhältnisse betreffen, und es ist sinnlos anzunehmen, daß irgend etwas davon für immer ausgenommen sein sollte. So ebnen sich selbstverständlich alle Rangverhältnisse ein. Die gesellschaftlich und politisch Gleichen scheinen in ihrer Vorstellung alle gleich mächtig zu sein, das heißt aber eigentlich gleich schwach: „In dem Grade wie in einem Volk die gesellschaftliche Einebnung fortschreitet, erscheinen die einzelnen kleiner und die Gesellschaft größer." 32) Die Gleichheit hat also sozusagen eine verkleinernde Wirkung auf die einzelnen. Das hat aber zur Folge, daß sie der ganzen Gesellschaft und ihrer Repräsentation eine um so größere Macht einzuräumen bereit sind: „Sie nehmen gerne an, das Interesse der Gesellschaft bedeute alles und das des einzelnen nichts. Sie geben recht willig zu, daß die Herrschaft, die die Gesellschaft vertritt, weit mehr Bildung und Weisheit besitzt als irgendeiner der Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, und es sei ihre Pflicht so gut wie ihr Recht, jeden Bürger bei der Hand zu nehmen und ihn zu führen.“

Diese Wesensgefahr der Demokratie, daß die einzelnen durch die allgemeine Gleichheit bereit werden, eine absolute Macht der Gesellschaft anzuerkennen, kann sich in drei verschiedenen Weisen auswirken: 1. Sie kann zur totalen Herrschaft werden, wenn der politische Wille der einzelnen sehr schwach geworden ist und zugleich das ungehemmte Erfolgsstreben zwar zu einer weitgehenden Isolierung geführt hat, durch einen Mangel an wirtschaftlichen Chancen aber kein rechtes Betätigungsfeld findet und sich in einer Sinnlosigkeit totläuft. Dann ist die Gefahr groß, daß eine sogenannte „Bewegung" die vielen schwachen und verzweifelten Einzelwillen zusammenfaßt, ausrichtet und die Tendenz der Demokratie zur Schwächung der Einzelwillen so verstärkt, daß schließlich das politische Wollen der einzelnen abgeschafft und durch den einzigen Willen des „Führers" ersetzt werden kann. Eine daraus resultierende totale Herrschaft ist etwas wesentlich anderes als alle aus der Geschichte bekannten Formen von Tyrannis und Despotie, denn die Führer eines totalitären Regimes wollen eigentlich nicht gegen den Willen der einzelnen, durch Gewalt und Furcht herrschen, wie in den altbekannten Formen der Despotie, sondern mit den durch die Gleichheit schwach gewordenen Willen der einzelnen. Sie erreichen auf diesem Wege viel, da der geschwächte Wille der einzelnen nicht mehr eigentlich vernunftgeleiteter Wille ist. Deshalb fällt es ihnen auch nicht schwer, das politische Denken vollends abzuschaffen und auf ideologisches Denken umzustellen, das heißt auf ein Denken, das auf seine Selbständigkeit radikal verzichtet hat. Tocqueville hat die Kraft des Aberglaubens sehr scharf gesehen, die von „absoluten Systemen" ausgeht, „die alle Ereignisse der Geschichte von primären großen Ursachen abhängig machen und sie so in eine Kette der Notwendigkeit binden, die es erlaubt, die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechtes zu eliminieren" Wir bemerken dabei die Verwandtschaft eines solchen Denkens zum neuzeitlichen Geschichtsdenken und seiner Verwechslung von Herstellen und Handeln. — Diese Gefahr der Demokratie ist indessen zumindest dann nicht mehr so groß, wenn man mit Versuchen der totalen Herrschaft Erfahrungen machen mußte. 2. Eine andere Auswirkung der Bereitschaft, eine einzige absolute Macht über allen Gleichen anzuerkenen, ist die Tendenz, der Mehrheit eine Allmacht einzuräumen. Dabei halten wir uns viel enger an den Wesensbereich der Demokratie, denn die Herrschaft der Mehrheit gehört ja unmittelbar zu den demokratischen Institutionen. Während die totale Herrschaft die äußeren demokratischen Institutionen abschafft, bleiben sie von einer allmächtigen Mehrheit unberührt. „Ich halte den Grundsatz, daß die Mehrheit des Volkes in bezug auf die Regierung das Recht hat, alles zu tun, für ruchlos und verabscheuungswürdig, und dennoch ist für mich der Wille der Mehrheit der Ursprung aller Gewalten. Widerspreche ich mir selbst?" Tocqueville ist der Meinung, daß man an irgendeiner Stelle immer eine staatliche Gewalt einsetzen muß, die allen anderen übergeordnet ist, aber er sieht eine Gefahr für die Freiheit, wenn diese Gewalt auf kein Hindernis stößt, das sie aufhalten und mäßigen könnte. „Allmacht dünkt mich eine an sich schlechte und gefährliche Sache. Ihre Ausübung scheint mir über die Kraft des Menschen, wer immer er sei, hinauszugehen, und ich sehe nur Gott, der ohne Gefahr allmächtig sein kann, weil seine Weisheit und seine Gerechtigkeit immer seiner Macht ebenbürtig sind. Es gibt demnach auf Erden keine Autorität, die als solche so ehrwürdig oder Trägerin eines so geheiligten Rechtes wäre, daß ich sie unbeaufsichtigt handeln und unbehindert herrschen lassen wollte." 36) Die Einsicht, daß all unsere Erkenntnis und Weisheit unaufhebbar endlich ist, gehört wesentlich zum politischen Wissen. Dieses muß also der Tendenz entgegenwirken, die die Gleichheit hervorruft, nämlich daß man die Mehrheit nicht nur für weiser und gerechter hält als die einzelnen, sondern für absolut weise und gerecht. Die Gleichung „vox populi, vox Dei“ bezeichnet einen politisch gefährlichen Aberglauben. Denn: „Was ist denn die Mehrheit im gesamten genommen anderes als ein einzelner, dessen Meinungen, und in den meisten Fällen dessen Vorteile einem anderen einzelnen entgegenstehen, den man die Minderheit nennt? ... Haben die Menschen durch ihren Zusammenschluß ihre Wesensart geändert? Sind sie, indem sie stärker wurden, gegenüber Hindernissen auch geduldiger geworden?“ Und in einer Anmerkung zu dieser Stelle sagt Tocqueville: „Niemand wird behaupten wollen, ein Volk könne gegen ein anderes keinen Machtmißbrauch begehen. ... Gibt man zu, daß ein Volk sich gegen ein anderes tyrannisch verhalten kann, wie könnte man bestreiten, daß eine Partei sich gegen eine andere Partei ebenso verhalten kann?“ Alle Tendenzen der Demokratie, die Macht der Mehrheit so zu verstärken, daß die Minderheit überhaupt nicht mehr zu Wort kommen kann, laufen auf einen besinnungslosen Konformismus hinaus. Diese Gefahr für die Freiheit ist um so größer, als in der Demokratie die Mehrheit herrschen muß. — Sie ist allerdings noch weitaus geringer gegenüber einer dritten, die wir jetzt nennen müssen. Es ist die Gefahr der totalen Verwaltung. 3. Tocqueville zieht einen Vergleich zwischen Despotismus und Gleichheit im Hinblick auf eine bestimmte gemeinsame Wirkung: „Der Despotismus, der seinem Wesen nach furcht-sam ist, sieht in der Vereinzelung der Menschen das sicherste Unterpfand seiner Dauer, und er bemüht sich gewöhnlich sehr sorgfältig, sie voneinander abzusondern. Kein Laster des menschlichen Herzens sagt ihm so sehr zu wie die Selbstsucht: Ein Gewaltherrscher verzeiht den Regierten gern, daß sie ihn nicht lieben, sofern sie sich gegenseitig nicht lieben . .. Somit sind die Laster, die der Despotismus erzeugt, gerade die, welche die Gleichheit begünstigt,.. Der Despotismus, der zu allen Zeiten gefährlich ist, ist also im demokratischen Zeitalter besonders zu fürchten." 38)

Und zwar, weil die Wirkungen der Gleichheit dem Despotismus entgegenkommen. Wie sieht aber nun die neue Despotie aus, die aus der Demokratie erwachsen kann, die keineswegs mit der totalen Herrschaft im geläufigen Sinne identisch ist und die deshalb am gefährlichsten ist, weil sie zunächst überhaupt nicht bemerkt wird?

Tocqueville sieht in der Liebe zur Gleichheit, sofern sie die herrschende Leidenschaft wird, oder auch schon im bloßen Anschein dieser Leidenschaft die erste und einzig notwendige Voraussetzung für die Zentralisation der öffentlichen Gewalt in einer demokratischen Gesellschaft. „Damit vereinfacht sich die einstmals so verwickelte Wissenschaft vom Despotismus: sie schrumpft sozusagen auf ein einziges Prinzip zusammen." Nun ist natürlich nicht jede Zentralisation von Macht schon Despotie. Aber damit sie nicht zur Despotie werden kann, müssen die Gewalten, die zur Zentralisation neigen, unterschieden werden.

Tocqueville führt zwei ganz verschiedene Arten der Zentralisation an. An bestimmten Fragen sind alle Teile einer Nation gemeinsam interessiert, an anderen nur einzelne Teile der Nation. Wenn nun die Macht zur Behandlung der gemeinsamen Fragen konzentriert wird, so spricht Tocqueville von „zentralisierter Regierung". Wenn dagegen alle Fragen, die jeweils nur einzelne Teile der Nation interessieren, zum Beispiel die Gemeinden oder Berufsgruppen, an einem einzigen Ort zusammengefaßt und geregelt werden, dann heißt das „zentralisierte Verwaltung". „Es leuchtet ein, daß die Zentralisierung der Re-gierung eine gewaltige Macht erhält, wenn sie sich mit der Verwaltungszentralisierung verbindet. Solcherweise gewöhnt sie die Menschen daran, von ihrem Willen vollkommen und beständig abzusehen; nicht nur einmal und in einem Punkte, sondern durchweg und täglich zu gehorchen. Sie bändigt sie alsdann nicht nur durch Gewalt, sondern sie packt sie außerdem bei ihren Gewohnheiten; sie gibt sie der Vereinzelung preis und bemächtigt sich daraufhin jedes einzelnen in der allgemeinen Masse. — Diese beiden Arten der Zentralisierung stützen sich wechselseitig, sie ziehen sich gegenseitig an; aber ich kann nicht glauben, daß sie untrennbar seien." In dieser Verbindung von zentralisierter Regierung, die für eine Nation unentbehrlich ist, und zentralisierter Verwaltung besteht die schlimmste Gefahr für die Freiheit in der Demokratie, um so schlimmer wiederum, als auch diese Form von Allmacht mit den äußeren freiheitlichen Institutionen zusammenbestehen kann.

Den Zustand, der auf diesem Wege erreicht wird, hat Tocqueville in einer Art Vision im 2. Band beschrieben. Sie ist für uns von überwältigender Eindruckskraft wegen ihrer unheimlichen Aktualität, die ihr erst in unserem Jahrhundert zugewachsen ist. Wir geben hier einige Auszüge:

„Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber ... er steht neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden . .. über diesen erhebt sich eine gewaltige bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild... sie sucht bloß, (die Menschen) unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, daß die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, daß sie nichts anderes im Sinne haben als sich zu belustigen ... sie sorgt für ihre Sicherheit, ermißt und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlaß; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen? — Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener; sie beschränkt die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum, und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst. Die Gleichheit hat die Menschen auf dies alles vorbereitet: sie macht sie geneigt, es zu ertragen und oft sogar als Wohltat anzusehen ... sie (seil, die bevormundende Macht) bedeckt die Oberfläche (der ganzen Gesellschaft) mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seeelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen; sie bricht ihren Willen nicht, aber sie weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; sie zwingt selten zu einem Tun, aber sie wendet sich fortwährend dagegen, daß man etwas tue; sie zerstört nicht, sie hindert, daß etwas entstehe; sie tyrannisiert nicht, sie hemmt, sie drückt nieder, sie zermürbt, sie löscht aus, sie stumpft ab, und schließlich bringt sie jedes Volk soweit herunter, daß es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist. — Ich war immer des Glaubens, daß diese Art von geregelter, milder und friedsamer Knechtschaft, deren Bild ich eben gezeichnet habe, sich mit einigen der äußeren Formen der Freiheit meist besser, als man denkt, verbinden ließe, und daß es ihr sogar nicht unmöglich wäre, sich geradezu im Schatten der Volkssouveränität einzunisten.“

Diese einzigartige Despotie, für die es in der älteren Geschichte kein Vorbild gibt, funktioniert fast ohne Gewalt, sie bleibt anonym und unfaßbar, ein formaler Apparat, der um so besser funktioniert, je entschiedener er die Neigung der Menschen verstärkt, all ihre Kraft und Initiative dem privaten Erfolgsstreben und der Sucht nach Wohlstand zu widmen. Das durch die Gleichheit begünstigte ungehemmte private Erfolgsstreben ist die Kraft, durch die sich die Macht der Zentralverwaltung speist, um alle einzelnen in eine Knechtschaft zu versetzen, die als solche gar nicht mehr empfunden wird und für die auch niemand mehr verantwortlich gemacht werden kann. Wenn der allgegenwärtige Verwaltungsstaat nur noch als Garant des Erfolgsstrebens verstanden wird, wenn das Interesse an Wohlstand und Sicherheit des Wohlstandes zur einzigen wirklichen Leidenschaft der Bürger geworden ist, dann ist ein Zustand erreicht, in dem die Freiheit überhaupt keinen Platz mehr findet und ihr Verlust nicht mehr empfunden wird. Ein Zustand, den die totalitären Regimes durch Organisation, Indoktrination und Terror erzeugen wollten. Dieser Zustand ist durch eine Entmenschlichung des Menschen gekennzeichnet, dem das allgemein herrschende Selbstverständnis als bloßes Lebewesen genau entspricht. Aber schon der Weg zu diesem Zustand — und es ist nicht zweifelhaft, daß wir uns heute auf ihm befinden — ist entwürdigend genug, um das Problem nicht mehr auf spätere Generationen hinausschieben zu dürfen, denn es gibt sicherlich einen Punkt auf diesem Weg, von wo an eine Umkehr ausgeschlossen ist.

Damit haben wir die Hauptgefahren der Gleichheit, das heißt der Demokratie, im Über-blick: Anarchie oder Despotie; diese in drei verschiedenen Weisen: als totale Herrschaft, als absolute Diktatur der Mehrheit und totaler Konformismus, als totale Verwaltung. Wir können dieser Darstellung nun eine Reihe von Hinweisen auf den positiven Begriff der Freiheit entnehmen.

Die Möglichkeit der Freiheit in der Demokratie Der negative Begriff der Freiheit, die bloße Unabhängigkeit, ist in sich widersinnig, weil er zum „Individualismus", zur Isolierung der einzelnen voneinander und vom Ganzen des Gemeinwesens, zur Privatisierung führt und somit, um nicht in die Anarchie zu fallen, jede Art von Zentralismus fördert. Bloße Unabhängigkeit kann also ihren Sinn nicht in sich selbst haben, Unabhängigkeit wird nur sinnvoll im Dienst eines überindividuellen Prin-zips. Dieses überindividuelle Prinzip ist aber bei Tocqueville niemals ein geschichtlicher Endzweck, sondern die Menschlichkeit des Menschen, die von keinem isolierten Individuum aufgebracht werden kann, sondern die nur in einer Menschengemeinschaft werden kann, das heißt im Zusammenhandeln aller einzelnen, für das sich alle einzelnen ebenso verantwortlich fühlen und wissen wie für ihr und ihrer Angehörigen persönliches Wohlergehen. Freiheit ist somit Selbstverantwortung: indem man sein Menschsein verantwortet, übernimmt man zugleich die Verantwortung dafür, daß es ein menschliches Leben in einer gemeinsamen Welt überhaupt geben kann. Selbstverantwortung ist identisch mit der Verantwortung für den menschlichen Charakter des Zusammenlebens. Diese Freiheit liegt im echten Handeln, das von einem politischen Wissen geleitet ist, dessen Maxime kategorisch so formulieren könnte: Handle so, daß durch dein Handeln die Freiheit des Handelns aller anderen ermöglicht und erhalten bleibt. Darin liegt die einzige Möglichkeit, den Unbegriff einer Freiheit von Politik zu überwinden. Entpolitisierung der einzelnen führt nicht nur nicht zur Freiheit, sondern zerstört sie gerade im Zeitalter der Gleichheit. Es kommt also alles darauf an, daß die einzelnen politikfähig werden, das heißt eine Haltung gewinnen, die derjenigen diametral entgegengesetzt ist, die da bereit ist, die Belange des Gemeinwesens ausschließlich in die Hände irgendeiner Zentralgewalt zu legen in der Meinung, der einzelne sei ja zu schwach, um einen wirksamen Einfluß auf das Geschick des Gemeinwesen auszuüben.

Es ist eine irrige Meinung, daß unter den totalitären Regimes das ganze Leben politisiert worden sei. Im Gegenteil: die Menschen sind entpolitisiert worden, und die totalitären Führer waren sich der Notwendigkeit der Entpolitisierung der einzelnen auch immer bewußt. Der Schein des Politischen bestand darin, daß einem jeden eine scheinbare Verantwortung für das Ganze auferlegt wurde, das heißt, daß ein jeder. in eine totale Organisation einbezogen wurde und sich ihr unbedingt zu unterwerfen hatte. Seine „Verantwortung“ lag also in seinem Funktionierenmüssen. Das aber ist das Gegenteil von Selbstverantwortung, denn es kommt dem Funktionär einer totalen Organisation nicht zu, darüber nachzudenken, ob die Organisation im Sinne eines menschenwürdigen Zusammenlebens aller richtig funktionierte. Politische Freiheit ist dagegen nur möglich, wenn die einzelnen fähig bleiben, das Wohl des Gemeinwesens im Sinne eines menschlichen Lebens mitzuverantworten. Dieses Wohl bestimmt sich also nicht aus den besonderen Zwecken dieses Gemeinwesens oder aus seinem vermeintlichen geschichtlichen Endzweck, sondern aus einer Idee von Menschlichkeit, nach der der Mensch frei, das heißt selbstverantwortlich in dem erörterten Sinne sein muß, um Mensch zu sein. Recht ist also nie, „was der Bewegung nützt" oder was dem Volke nützt oder auch nur was der Menschheit nützt — denn dabei bleibt der Nutzen mehrdeutig, sondern recht ist allein, was der Freiheit, der Menschlichkeit der Menschen, des Volkes, der Menschheit nützt.

Im Zeitalter der Gleichheit gilt: Die Gleichheit bedarf weniger des Gewolltseins als die Freiheit. Wenn nur noch die Gleichheit und bloße Unabhängigkeit zum herrschenden Ziel alles Strebens wird, dann hat die Freiheit keine Chance mehr. Sie bedarf zu allen Zeiten der Anstrengung des Wissens und Wollens, um wirklich zu sein; am meisten im demokratischen Zeitalter. Tocqueville leugnet nicht den natürlichen Hang der demokratischen Völker zur Freiheit und Selbstbestimmung des einzelnen. Aber er sieht die Liebe zur Gleichheit überwiegen und wird nicht müde, davor zu warnen: „ ... sie (die demokratischen Völker) wollen die Gleichheit in der Freiheit, und können sie diese nicht erlangen, so wollen sie sie noch in der Knechtschaft." Freiheit kann sich in demokratischen Gemeinwesen nur mit Hilfe der Gleichheit verwirklichen, aber die Gleichheit kann dem Despotismus ebenso behilflich sein: „Ich sehe in der Gleichheit deutlich zwei Strebungen: die eine trägt dem Geist jedes Menschen neue Gedanken zu, die andere möchte ihn gern von jeglichem Denken entbinden." Die durch die demokratische Gesellschaftsordnung begünstigte Geistes-freiheit ist ebensosehr wieder gefährdet. Die Freiheit hat also noch nie so sehr im Willen der einzelnen gestanden wie im demokratischen Zeitalter.

Die Gleichheit privatisiert die Menschen und macht sie im selben Maße abgeneigt, die Anstrengungen, die die Freiheit erfordert, auf sich zu nehmen. Während die Gleichheit die Menschen unablässig auf ihr eigenes Ich verweist, kann nur die Freiheit aufeinander verweisen. Die Gleichheit isoliert, nur die Freiheit kann verbinden. Die Gleichheit ist ein Geschenk der Geschichte, die Freiheit heute mehr denn je die Wirkung, die Verwirklichung des selbstverantwortlichen Wollens. Die Gleichheit räumt dem privaten Erfolgsstreben alle Hindernisse aus dem Weg, die Freiheit kann nur sein, wenn sich das private Erfolgs-streben mäßigt, wenn als das eigentlichere Interesse das Interesse an einem menschlichen Leben, das nur als Zusammenhandeln sein kann, erkannt wird.

Wenn Tocqueville in der Einleitung den programmatischen Satz aufstellt: „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft“, so sind wir jetzt in der Lage, diese Forderung genauer zu verstehen. Das Thema der Tocquevilleschen Analysen ist diese „durchaus neue Welt" mit ihrem Mißverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit. Die Analysen sind geführt durch den Hinblick auf die Gefährdungen und die Möglichkeiten der Freiheit. Die Darstellung der Gefährdungen der Freiheit mag den Anschein entstehen lassen, daß wir heute an den Möglichkeiten der Freiheit verzweifeln müßten. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Wir besitzen eine Reihe freiheitlicher Institutionen, die Tocqueville zum großen Teil noch fordern mußte. Es seien hier nur einige aufgezählt. Wir haben eine freiheitliche Verfassung, in der allerdings die Freiheit zu oft in ihrem bloß negativen Begriff formuliert ist. Wir haben eine gut funktionierende Trennung der Gewalten. Wir haben immer noch viele Selbstverwaltungsinstanzen zwischen den zentralen Gewalten und den einzelnen. Wir haben die Freiheit der Presse, die allerdings zu oft im Sinne einer Institutsgarantie verstanden wird und nicht im Sinne des hier dargestellten positiven Begriffs einer selbstverantwortlichen politischen Freiheit. Was wir jedoch nicht in ausreichendem Maße haben, das ist ein echtes politisches Wissen. Und die ganze Darstellung hat den Sinn, die Notwendigkeit des politischen Wissens für die Erhaltung der Freiheit zu demonstrieren. Zum politischen Wissen gehört notwendig die Einsicht, daß die freiheitlichen Institutionen allein unvermögend sind, die Freiheit zu bewahren, da sie ja erfüllt werden müssen vom selbstverantwortlichen Handeln aller. Wenn es nicht gelingt, immer mehr Menschen zur Einsicht in die Notwendigkeit des verantwortlichen Handelns zu bringen, dann nützen uns auch die freiheitlichen Institutionen nichts. Der Einwand aber, der in der Frage liegt, wo denn heute noch Möglichkeiten des politischen Handelns außer in der Partei-und Verbandspolitik und außer in den seltenen Wahlakten liegen, beruht auf dem mehrfach besprochenen Mißverständnis des politischen Handelns. Dieses fängt nicht erst da an, wo wir gemeinhin von Politik sprechen, sondern im persönlichen Tun und Verhalten aller einzelnen. Es gibt keine Tätigkeit und kein Verhalten, das politisch irrelevant wäre, und daß es das private Erfolgsstreben nicht ist, das sollte deutlich geworden sein. Das politische Wissen ist seinem Wesen nach keine Theorie der politischen Wirklichkeit; es schließt solche Theorie zwar ein, aber es geht darüber hinaus. Und wir beantworten die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit in der Demokratie am umfassendsten und zugleich am einfachsten, indem wir zum Schluß versuchen, das Wesen des politischen Wissens, die ihm eigentümliche Korrespondenz seiner Inhalte mit der Weise seines Wissendseins zu charakterisieren. Politisches Wissen ist interessiertes Wissen. Es ist jedoch primär nicht interessiert im Sinne eines bloßen Partei-oder Gruppeninteresses, erst recht nicht im Sinne eines persönlichen Interesses. Sein Interesse ist auf die Gestaltung des Gemeinwesens gerichtet, und zwar im Hinblick auf die Menschlichkeit des Zusammenlebens. Unter diesem Hinblick betrachtet es die gegebene Situation und entdeckt in ihr das Tunliche. Deshalb kann das politische Wissen keinen Kanon von Regeln aufstellen, die blindlings anzuwenden wären. Jeder mögliche Regelkanon wird vom politischen Wissen auf seine Anwendbarkeit in der gegebenen Situation beurteilt. Natürlich gehört dazu auch positive Kenntnis, aber die Kenntnisse geschichtlicher und staatskundlicher, auch rechtlicher Art machen nicht das Wesen des politischen Wissens aus. Dieses liegt vielmehr in der Urteilskraft, die das Prinzip der menschlichen Freiheit mit der jeweils gegebenen Situation zusammenhält, um das jeweils Tunliche zu entdecken.

Politisches Wissen ist kritisches Wissen, das den Maßstab seiner Kritik an seinem Prinzip der menschlichen Freiheit hat. Es ist daher kritisch in bezug auf die Situation, in der es sich jeweils bewähren muß, aber auch in bezug auf Ideen und Ideale oder Ideologien, ganz gleich welchen Ursprungs sie sind. So ist zum Beispiel die Idee einer absoluten Gleichheit aus der Verlängerung der bisherigen geschichtlichen Entwicklung ins Irreale entstanden. Tocqueville sagt: „Man kann sich Menschen vorstellen, die einen gewissen, sie voll befriedigenden Grad der Freiheit erlangen. Sie erfreuen sich dann ruhig und leidenschaftslos ihrer Unabhängigkeit. Nie aber werden die Menschen eine Gleichheit begründen, die ihnen genügt.“ Ebenso ist die Idee einer absoluten Herrschaftsfreiheit utopisch, und zwar gleichgültig, wie eine solche Idee begründet wird, ob sie wie bei Marx in einer Vorstellung vom notwendigen Ablauf der natürlichen Geschichte gründet, nach der mit Naturgesetzlichkeit dereinst alle Herrschaftsstrukturen verschwinden sollen, nach der der Staat absterben und die Geschichte sich selbst aufheben wird, oder ob sie sich technokratisch begründet, also in der Vorstellung, daß alle Herrschaftsfunktionen von Apparaturen, von Sachzwängen und Automatismen abgelöst werden. Die Demokratie ist naturgemäß herrschaftsfeindlich. Aber sie kann ohne Herrschaftsverhältnisse ebensowenig existieren wie ein anders gestaltetes Gemeinwesen. Ihre Herrschaftsfeindlichkeit führt dazu, daß die Bürger sich lieber einem anonymen Verwaltungsapparat oder technischen Notwendigkeiten unterwerfen als den Menschen, denen Herrschaftsfunktionen von der Gemeinschaft verliehen worden sind (die ihnen jederzeit wieder entzogen werden können). Ein zentraler Verwaltungsapparat und erst recht die Wissenschaften und die Technik haben eine quasi natürliche Autorität wie früher die Feudalherren, Menschen dagegen haben immer nur eine verliehene oder angemaßte Autorität, und es gehört politische Urteilskraft dazu, eine verliehene Autorität, da sie der Freiheit förderlicher ist, jeder „natürlichen“ Autorität vorzuziehen. Die technokratischen Heilsvorstellungen zeigen nur den Verfall der Demokratie in Verwaltungstotalitarismus an. Man konstruiert aus wirklicher Unfreiheit eine Notwendigkeit der Unfreiheit, so wie man leicht aus der Tatsache des Gehorsams das Recht zum Befehlen herzuleiten geneigt ist. Hier wie in vielen anderen Ideologien geht eine Überschätzung des Maßes der Notwendigkeit, der der Mensch unabdingbar unterworfen ist, mit einer Überschätzung der Reichweite der menschlichen Erkenntnis Hand in Hand. Das ideologische Denken ist ein Symptom der faktischen Unfreiheit. Das gilt für alle Ideologien insbesondere, die eine absolute Notwendigkeit geschichtlicher oder natürlicher oder technischer Art konstruieren, der der Mensch als blindes Objekt unterworfen sei. Das politische Wissen ist somit dem ideologischen Denken entgegengesetzt, aber es sieht seine Faktizität, die ja zu der Situation gehören kann, die es zu beurteilen hat.

Das politische Wissen ist also konkrete Erfahrenheit in der vom Prinzip der menschli-chen Freiheit engagierten Analyse einer Situation und steht damit im Gegensatz zu allen abstrakten Begründungen. Jeder Anspruch auf absolute Macht kann sich nur abstrakt begründen. Auch die Begründungen in einer volonte generale, in einer Volkssouveränität, in technischen Apparat-und Sachzwängen sind abstrakt. Denn alle möglichen Zwänge, unter denen der Mensch stehen kann, sind ebensowenig souverän, wie der Mensch souverän sein kann. Es ist die Idee einer Souveränität als absoluter Unabhängigkeit, die sich in all den angeführten Vorstellungen auswirkt und die selbst die abstrakteste, irrealste Idee ist. Nur in der Identifizierung der Freiheit mit irgendeiner absoluten Souveränität erscheint sie aporetisch: entweder man sieht ein, daß Menschen gerade nicht souverän sein können und schließt daraus, daß sie also auch nicht frei sein können, oder man meint, Freiheit sei nur für wenige möglich auf Kosten aller anderen, die ihre „Souveränität" dann opfern müßten. Es gehört aber zum Wesen menschlichen Existierens, daß ihm Freiheit nur zuwachsen kann unter der Bedingung der Nichtsouveränität. Alle Souveränität im menschlichen Leben ist Schein, auch die Souveränität einer Gemeinschaft. Nur dieser Schein ist der Freiheit entgegengesetzt, die ja nicht Unabhängigkeit ist, sondern die wirklich ist nur im Miteinander-Handeln. Diese Gefährdung des Freiheits-Begriffs, das heißt der Möglichkeit der Freiheit durch Ideen von absoluter Souveränität und durch die Identifizierung mit Souveränität in allen ihren Wirkgestalten aufzudecken und zu analysieren, ist also die Aufgabe des politischen Wissens, das selbst durch einen positiven Begriff von Freiheit konstituiert wird.

Da die Demokratie den Gefährdungen der Freiheit Vorschub leistet, kann sie als freiheitliche Verfassung menschlichen Zusammenlebens nicht ohne politisches Wissen bei möglichst vielen Bürgern existieren.

Das politische Wissen wird also wenig Gelegenheit haben, von hohen Zielen und Idealen, von letzten Endzwecken, für deren Erreichung alles, vorübergehend sogar die Freiheit, zu opfern wäre, zu handeln. Es hat aber ebensowenig Ursache, sich auf die Ebene empirischer Tatsachenforschung zu beschränken. Es ist aus dem Wesen der Demokratie gefordert, nicht als Theorie, die uninteressiert über allem schwebt und sich von den Gefahren, die sie vielleicht enthüllt, nicht angehen läßt, — nicht als Erkenntnis eines gesetzmäßigen Geschichtsverlaufes, dessen „Endziel" wir blindlings zu befördern hätten, sondern als Wissen um die konkreten Möglichkeiten der Freiheit und ihrer konkreten, jeweils jetzt und hier lauernden Gefahren, als Wissen um die Möglichkeiten, dem Anspruch einer jeweiligen Situation mit ihrem bestimmten Gewordensein und ihren wirksamen Tendenzen zu entsprechen gemäß dem Prinzip der menschlichen Freiheit. Es hat seinen Wesensraum also nicht im Bereich des immer Gleichbleibenden oder gar Ewigen, sondern im Bereich der konkreten, sich ständig wandelnden Situationen. Aber es hat seine Grundlage in einem Begriff des freien Handelns, der gegen jede Verwechslung mit dem Herstellen gefeit ist. Es schließt daher auch alle vorschnellen Vereinfachungen, Idealisierungen und Verklärungen von Menschen und Taten aus. Einfach ist nur sein Prinzip, das sich jedoch in unendlicher Mannigfaltigkeit verwirklicht. Die Einsicht, daß der Mensch nur Mensch sein kann, wenn er frei ist, und daß Freiheit nur wirklich ist als Miteinander-Handeln, ist keine in sich ruhende Idee, sondern Antrieb in allem Streben, Sichverhalten und Leiden. Eine der ältesten politischen Besinnungen unserer Geschichte hat für das politische Wissen, das in sich immer auch politisches Gewissen ist, einen Begriff entwickelt, der sich mit dem, was Tocqueville unter politischem Wissen verstanden haben will, weitgehend deckt: es ist der aristotelische Begriff der „Phronesis", ein Begriff für dasjenige Wissen, welches das Gute für den Menschen als das Tunliche in jeder Situation zu finden weiß und zu tun heißt. Nach Aristoteles ist die Phronesis auch das einzige Wissen, das in sich schon „Arete“, „Tugend", ist.

Tocqueville sagt am Schluß seines Werkes, daß ihn angesichts seines ganzen Weges Furcht und Hoffnung erfülle, daß er große Gefahren sehe, die sich aber bannen lassen. Auch wir haben allen Grund, von Furcht und Hoffnung erfüllt zu sein. Die Furcht sieht jedoch nichts Unabwendbares, und die Hoffnung wartet nicht, daß ihr das Erhoffte in den Schoß fällt. Wir sind selbst als endliche, nie völlig unabhängige, aber als vernünftige Wesen der einzig mögliche Grund für die Erfüllung unserer Hoffnungen. „Ich verkenne nicht, daß mehrere meiner Zeitgenossen der Ansicht huldigen, die Völker seien auf Erden nie ihre eigenen Herren, und notwendig gehorchten sie irgendeiner unüberwindbaren und vernunftlosen Kraft, die den früheren Geschehnissen, der Rasse, dem Boden oder dem Klima entspringt. — Das sind falsche und feige Lehren, aus denen stets nur schwache Menschen und kleinmütige Nationen hervorgehen können: die Vorsehung hat das Menschengeschlecht weder ganz unabhängig noch völlig sklavisch geschaffen. Freilich zieht sie um jeden Menschen einen Schicksalskreis, dem er nicht entrinnen kann; aber innerhalb dieser weiten Grenzen ist der Mensch mächtig und frei; so auch die Völker." 45) Dieser Schicksalskreis ist für die gegenwärtigen Völker umrissen durch die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen. Daß innerhalb dieses Kreises Freiheit sein kann, dazu bedarf es des politischen Wissens, denn: „Die Nationen unserer Tage können nicht bewirken, daß bei ihnen die gesellschaftlichen Bedingungen nicht gleich seien; von ihnen jedoch hängt es ab, ob die Gleichheit sie in die Knechtschaft oder in die Freiheit, zur Gesittung oder in die Barbarei, zum Wohlstand oder ins Elend führt."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu: Theodor Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, in: A.de Tocqueville, Werke und Briefe, Stuttgart 1959 ff., Bd. I, S. XVII ff.

  2. Wilh. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VII, Stuttgart—Göttingen 1958, S. 104.

  3. A.de Tocqueville, Werke und Briefe, Stuttgart 1959 ff., Bd. I, S. 478 f. — Die beiden ersten Bände dieser deutschen Ausgabe enthalten das vollständige Hauptwerk „Uber die Demokratie in Amerika", im folg, zitiert als „I“ und „II".

  4. A.de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hrsg v. S. Landshut, Stuttgart 1954, S. 273.

  5. 1, S. 5.

  6. I, S. 7

  7. I, S. 8f.

  8. I, S. 8.

  9. G. B. Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, Darmstadt 1963, S. 41.

  10. G. B Vico, La Scienza nuova, dt. Übersetzung von Auerbach, München 1924, S. 138 f.

  11. H. Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt/M. o. J., S. 103; zum Nächstfolgenden vgl. auch H. Arendt, Vita activa, Stuttgart 1960, 4. u. 5. Kap.

  12. I, S. 9.

  13. I, S. 9.

  14. I, S. 16.

  15. In: Philosophie und politische Bildung, hrsg. v. H. Holzapfel, Düsseldorf 1960.

  16. II, S. 310.

  17. II, S. 311

  18. II, S. 313.

  19. II, S. 114 f.

  20. I, S. 49.

  21. II, S. 158.

  22. II, S. 314

  23. zit. bei H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955, S. 551.

  24. 1, S. 289.

  25. I, S. 289 f.

  26. II, S. 326.

  27. I, S. 98 f.

  28. II, S. 342 f.

  29. II, S. 112.

  30. II, S. 23.

  31. II, S. 155.

  32. II, S. 358.

Weitere Inhalte

Erich Christian Schröder, Dr. phil., geb. 3. Juli 1925 in Elberfeld, seit 1961 Professor für Philosophie an der Pädogogischen Hochschule Bielefeld.