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Deutschland, Polen und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg | APuZ 10/1964 | bpb.de

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APuZ 10/1964 Artikel 1 Rußland und die Bolschewisierung der deutschen Kommunisten Stalin und die Machtergreifung Hitlers Deutschland, Polen und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Deutschland, Polen und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Hans Roos

An sich läge es nahe, die Betrachtung der Beziehungen zwischen Deutschland, Polen und der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg nach dem überlieferten Blickpunkt jenes Spiels politisch-militärischer Gegnerschaften oder Verbundenheiten vorzunehmen, das in der Zwischenkriegszeit zweifellos seine Gültigkeit haben mochte und in der Tat auch einen Grundzug der Kriegsentfesselung bildete. Die geschichtlich tief verwurzelten Gegensätze zwischen Deutschen und Polen einerseits, zwischen Polen und Russen andererseits, die nach dem ersten Weltkrieg vielfach eine geradezu dogmatische Verhärtung erfuhren, schienen es zu rechtfertigen, daß die außenpolitische Zuordnung der drei Mächte in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg schlechtweg im Bild eines funktionalen Nexus gesehen wurde, der die Geschicke Polens als eines schwächeren Mitgliedes von den Beziehungen der beiden großen Flügelmächte abhängig machte. So reichte die Skala der politischen Ausmünzungen dieser „Funktion" von dem Versuch guter Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und Deutschland -die ein immerhin erhebliches Motiv in der Niederhaltung, Reduktion oder gar Aufteilung Polens sah — bis zu der extremen Gegenkonzeption, Polen im Falle eines Zwistes zwischen seinen beiden großen Nachbarn an den einen Anrainerstaat durch eine Allianz zu binden, es abhängig zu machen oder auch zu unterwerfen, um es gegen den andern ausspielen zu können.

So wäre es gewiß aufschlußreich, die Gültigkeit dieses scheinbar evidenten außenpolitischen Grundgesetzes wie auch die Möglichkeiten seiner Anwendung in den drei Stadien der Entfesselung, der Durchführung und Beendigung des zweiten Weltkrieges im Osten nachzuprüfen. Freilich wird ein solcher Wertmaßstab kaum geeignet sein, die besonderen Wesenszüge dieser kriegerischen Auseinandersetzung voll zu erfassen. Das denkerische Schema einer funktionalen Zuordnung hatte seinen Ursprung in der älteren Vorstellung eines Konzerts europäischer Nationalstaaten, die in ihren auswärtigen Beziehungen sich nationaler Streitfragen als eines Gegenstandes politischer oder auch militärischer Kontroversen zwar gern bedienten, immerhin aber die Beachtung fremdnationaler Lebensfragen als Maxime der politischen Moral noch anerkannten. Fraglos hatte der erste Weltkrieg mit seinen weit ausgreifenden Imperialismen, die vornehmlich von alldeutschen und frühsowjetischen Impulsen herkamen, den Kanon politisch-militärischer Regeln und Gesetze des 19. Jahrhunderts durchbrochen; auch die Restitution des polnischen Staatswesens, die den aus dem pränationalen Zeitalter herrührenden staatenlosen Ausnahmezustand der polnischen Nation beendete, hatte temperamentvolle imperiale Züge aufzuweisen gehabt. Andererseits bildete gerade der Umstand, daß die Zurückwerfung Polens in die Staatenlosigkeit nach dem ersten Weltkrieg ernsthaft erwogen werden konnte, ein schwerwiegendes Indiz für den partiellen Verlust völkerrechtlicher Normen. Dennoch galten die traditionellen Formen diplomatischer und militärischer Auseinandersetzungen -und dies oftmals gerade deshalb, weil von nationalsozialistischer und sowjetischer Seite bedenkliche Präzedenzien ihrer Mißachtung vorlagen -bis in den Vorabend des zweiten Weltkrieges hinein als die eigentlich legitimen. So wurde jenes konzertante Spiel zwischenstaatlicher Beziehungen, das bei aller Schärfe der sachlichen Streitfälle eine gewisse Harmonie in den Mitteln ihrer Behandlung wahrte, durchaus noch als im Grunde verbindlich angesehen, und insofern war Carl Jacob Burckhardts Definition einer „discordia concors" der europäischen Staaten wenigstens noch nicht überholt.

Der zweite Weltkrieg im Osten brachte -gemäß den angedeuteten Vorbereitungen im ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit -Methoden der Politik und der Krieg-führung hervor, welche die älteren, rechtlich und moralisch immerhin noch gebundenen Anschauungen vollkommen umstürzten. Allein die Messung nach den Normen des „klassischen Krieges" wird imstande sein, die nahezu totale Entbindung kriegerischer Handlungen von den Überlieferungen des herkömmlichen Kriegs-und Völkerrechts deutlich zu machen. Unter den klassischen Kriegstheorien werden die eines Carl von Clausewitz um so eher die Werskala abgeben können, als sich die nationalsozialistische Kriegführung und die der Bolschewiki ausdrücklich auf sie beriefen. Vier Kriterien sind es vornehmlich, an denen die Frage nach der Andersartigkeit des zweiten Weltkriegs im Osten zu klären wäre:

Der Vorgang der Kriegsentfesselung -der die Begriffsbestimmung der Angreiferschaft einschließt -und der Kriegsbeendigung ohne Setzung eines Friedens;

die völkerrechtliche Fortexistenz von Nationen oder Staaten durch den Kriegsverlauf hindurch;

die Auflösung nationaler Streitfragen durch Umsiedlungen oder Vertreibungen;

der Charakter totalitärer Kriegführung schlechthin.

Bei dieser Gegenüberstellung der klassischen Kriegführung mit der des zweiten Weltkriegs im Osten wäre gewiß anzuerkennen, daß der von Deutschland über Polen nach der Sowjetunion sich hinziehende Kriegsschauplatz kein Monopol für die Ausbildung neuer Formen der totalen Kriegführung besaß. Neben der Betonung der eigentümlichen Mittelstellung, die der erste Weltkrieg zwischen einem klassischen und einem totalen Krieg einnahm, wird festzustellen sein, daß im zweiten Weltkrieg auch außerhalb des östlichen Europa starke Verletzungen der hergebrachten Kriegsregeln -etwa in Gestalt der Luftkriegführung und des Untergrundkrieges -begangen worden sind. Dennoch darf das Postulat festgehalten werden, daß die flagrante Mißachtung der überlieferten Kriegsmoral nirgends so umfassend und so allgemein zutage trat wie 1939-1945 im Bereich des östlichen Europa. Hier bildete sich geradezu eine neue Klassizität des gesetzlosen Krieges aus.

I Nach klassischen Begriffen ist die Definition der Angreiferschaft einfach genug vorzunehmen. Jeder Staat, der die Grenzen und mithin das Territorium eines fremden Staates verletzte, indem er seine Streitkräfte dorthin einmarschieren ließ, wäre kraft dieser Grenzverletzung als Aggressor zu betrachten. Wesentlich auf dieser begrifflichen Bestimmung beruhte doch die Auslastung der Kriegsschuld auf Deutschland im ersten Weltkrieg, da der Einmarsch der deutschen Truppen in das neutrale Belgien als erhebliches Merkmal der Kriegsentfesselung herangezogen wurde. Freilich trug das ständig wiederholte deutsche Vorgehen gegen diese „Kriegsschuldlüge“, die stetige, durch historische Forschungen unterbaute Anprangerung der These von der deutschen Alleinschuld nicht wenig zu der Erkenntnis bei, daß die überlieferte Bestimmung der

Angreiferschaft und damit der Kriegsschuldfrage ungenügend sei. So knüpfte sich an den bekannten Versuch, im Kriegsächtungspakt von 1928 zu einer friedlichen Beilegung aller internationalen Streitfälle vor dem Forum des Völkerbundes oder anderen überstaatlichen Gremien zu kommen, eine lebhafte Erörterung der Kriegsursachen oder Kriegsschuldfragen und mithin des Wesens der Angreiferschaft; indessen konnte bis zu Beginn des zweiten Weltkrieges hin keine Definition der Aggression gefunden werden, die allgemein anerkannt und für alle Staaten verbindlich gewesen wäre.

Dieses Versagen der internationalen Diplomatie, eine gemeinverbindliche Begriffsbestimmung der Angreiferschaft zustande zu bringen, entbehrte nicht einer gewissen inneren Notwendigkeit. Als Vorgang und Vorstellung bestand ja bereits die „indirekte Aggression“, welche die Entfesselung eines Krieges nicht durch den militärischen Einmarsch in ein fremdes Territorium vomahm, sondern durch die Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Staates, die ihrerseits einen plausiblen Vorwand zum endlichen militärischen Eingriff zu geben geeignet schienen. So war die Gründung der UdSSR als einer Föderation theoretisch souveräner Sowjet-Republiken nach dem ersten Weltkriege allein in der Weise möglich gewesen, daß eine Reihe bürgerlicher oder sozialistischer, auf dem Territorium des einstigen russischen Reiches entstandener Staaten durch innere Unruhen in ihrem gesellschaftlichen Charakter verändert und schließlich mit Waffengewalt zum Wiederanschluß an die „RSFSR" genötigt wurden. Es konnte hier der Prätext verwendet werden, daß diese an sich nichtsowjetischen Staaten ja gar nicht den eigentlichen Volkswillen repräsentierten, sondern allein den einer dünnen bourgeoisen Oberschicht: Die Waffenhilfe der Roten Armee für die subversiven Kräfte in diesen Staaten, die nach klassischen Begriffen eine unverhüllte Aggression dargestellt hätte, wurde hier als bloße Erfüllung des Willens der „Massen“ einer Nation oder Nationalität deklariert. Hier zeigte sich die Kehrseite des im ersten Weltkrieg nach amerikanischen Vorbildern zum Durchbruch gelangten Grundsatzes des „Selbstbestimmungsrechtes der Nationen", weil diese Selbstbestimmung von der klaren Definition der Territorialverletzung wegführte auf das weniger exakt faßbare Begriffsgebiet der nationalen Willensbildung bestimmter Personengruppen. So konnte eben die entscheidende Frage, welche dieser Perso-nengruppen die „volonte generale" der Nation verkörperten, offen bleiben und damit manipuliert werden. Für die auswärtige Politik der Sowjetregierung blieb diese Möglichkeit einer Handhabung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, die sich schon 1920 in der Erwägung einer Ausweitung der Sowjetföderation zur Konföderation und insofern auch der Bildung von „Satellitenstaaten" nach dem sozialen Typus des Mutterstaates offenbarte, bis in den zweiten Weltkrieg hinein und vornehmlich in diesem ein leitendes Prinzip.

Es hatte in der Endphase des ersten Weltkriegs auch auf deutscher Seite an Versuchen nicht gefehlt, gerade im Bereich der polnischen und westrussischen Territorien eine Zone satellitärer „Schachtelstaaten" zu schaffen, die in ihrer eher konservativen Gestalt dem sowjetischen Ausgreifen entgegenwirken sollten. Obgleich die Idee der „Selbstbestimmung" bei der Verwirklichung dieser deutschen Kriegs-ziele kaum berücksichtigt worden war, wurde sie nach der deutschen Niederlage im national-deutschen Interesse in den Vordergrund jeglicher außenpolitischer Argumentation geschoben. Die Unrichtigkeit der alliierten These von der deutschen „Alleinschuld" am Krieg, das Empfinden einer lang anhaltenden Deklassierung Deutschlands in der Gesellschaft der Staaten und das subjektiv ehrliche Bewußtsein, im guten Recht gekränkt zu sein, führten in Deutschland zu einer entschlossenen Abkehr von den überkommenen Regeln der Kriegsverantwortlichkeit. Jetzt konnte die Überbewertung des mißverstandenen britischen Prinzips vom „Right or wrong, my country" ebenso Platz greifen wie die Vergottung des nationalen Egoismus, der nicht allein mehr als gesund, sondern geradezu als heilig betrachtet wurde. Mit der Erkenntnis des Verlustes der Weltmachtstellung paarte sich der schreckliche Komplex, bei der Verteilung der Welt zu spät gekommen zu sein-, Deutschland sah sich zu einer Zeit, in der die Imperien der Vereinigten Staaten, Großbritanniens oder der Sowjetunion gefestigt bestanden, nicht allein auf seine ethnischen Grenzen zurückgeworfen, sondern -kraft des Verbots eines Anschlusses von Österreich und Deutsch-Böhmen -sogar noch hinter diese. Gewiß verkannten die wohlmeinenden Deutschen nicht, daß eben aus dem schlechten Gewissen vieler alliierter Friedensschöpfer moralisches Kapital für Deutschland zu schlagen sei, das sich irgendwann einmal in die klingende Münze einer vernünftigen territorialen Revision umsetzen ließe. Siegreich blieb indessen doch die Auffassung, Deutschland solle sich bewußt aus der unpraktischen Vergangenheit eines Volkes der „Dichter und Denker" in eine neue Barbarei flüchten, um endlich sein Recht der nationalen Selbstbestimmung durchzusetzen, geschähe dies auch nach der kohlhaasischen Weise einer Kampfansage an die ganze Welt. Hier vermochte die Anschauung des Nationalsozialismus anzusetzen, es sei im Interesse nicht bloß der nationalen Eigen-sucht, sondern auch der völkischen Herrenmission der Deutschen erlaubt und geboten, einen Krieg ohne die klassische Einleitung mit einer formellen Erklärung und öffentlicher Mobilmachung zu entfesseln. Die verhängnisvolle Rechtfertigung des präventiven Krieges nach der Kategorie des Erfolgs war mindestens für die nationalsozialistische Führerschaft bestimmend, wenn sie zu dem Schluß kam, daß nach einem gewonnenen Krieg niemand mehr frage, wer ihn eigentlich angefangen habe.

Zur Verhüllung einer solchen Kriegseröffnung, die in der Münchener Krise um ein Haar gelungen-wäre und im Falle des deutsch-polnischen Konflikts von 1939 nicht mehr zu verhindern war, eignete sich die Losung des Selbstbestimmungsrechts der deutschen Nation vortrefflich. Gewiß stellte der Ruf nach der deutschen Selbstbestimmung niemals einen bloßen Vorwand, sondern stets ein echtes und starkes Motiv der Kriegsdrohung dar; dennoch aber standen hinter diesen vorangestellten Beweggründen die weitergreifenden Triebkräfte, den Gegner mit Hilfe der Parole einer Bedrükkung der deutschen Minderheiten, die eine bewaffnete deutsche Intervention unabdingbar machte, zu vernichten. Nach offiziöser Lesart eröffnete Adolf Hitler den zweiten Weltkrieg nur deshalb, weil er den unerträglichen „mazedonischen Zuständen" einer Verfolgung der deutschen Volksgruppe in Polen ein Ende zu setzen sich verpflichtet sah. Damit erhob er die Belange dieser Volksgruppe, die er selbst jahrelang bedenkenlos preisgegeben hatte, nach außen hin in den Rang des höchsten nationalen Anliegens, während er sie im Grunde doch nur als Werkzeug für die überfallartige Zerschlagung Polens benutzte. Diese Handhabung des nationalen Selbstbestimmungsrechts begründete nach der frühsowjetischen, die eher klassenmäßig bedingt gewesen war, die neue Form der völkisch bedingten Manipulation. Nach machiavellistischen Begriffen war diese Methode genial; sie sprach in der deutschen Öffentlichkeit die scheinbare Unerschütterlichkeit der älteren Revisionsforderungen gegenüber Polen ebenso an wie die of-fenkundige Selbstverständlichkeit der nationalen Solidarität. Unter den ausländischen Diplomatien hatte vorzüglich die britische nach den Versailler Erfahrungen einer gewissen moralischen Wehrlosigkeit gegenüber der Verwendung des Selbstbestimmungsrechtes niemals ganz Herr werden können. Daher war es doch in erheblichem Maß, der vorzeitigen Decouvrierung dieser Taktik in der tschechoslowakischen Frage zuzuschreiben, wenn nunmehr die britische Außenpolitik energisch reagierte, die Mehrheit der Deutschen im Reich die Frage nach der inneren Berechtigung dieses Krieges immerhin stellte und selbst unter den betroffenen Ausländsdeutschen erste Stimmen der Besorgnis über den Mißbrauch ihres nationalen Bekenntnisses laut wurden. Jedenfalls erschien es Hitler erforderlich, die Kriegsschuld und Kriegsverantwortung des Gegners durch einen eigens von deutschen Stellen inszenierten, angeblich polnischen Überfall vor aller Welt evident zu machen. Die Regierung der Sowjetunion sah sich, als sie nach den Teilungsverträgen hinsichtlich Polens unter sanfter deutscher Nachhilfe den Einmarsch in das östliche Polen schließlich anordnete, noch stärkeren Bedenklichkeiten gegenübergestellt als die deutsche Regierung. Jeder irgendwie gearteten rechtlichen Begründung eines solchen Einmarsches stand neben den älteren Friedens-und Nichtangriftsverträgen vor allem die Legaldefinition der Aggression von 1933 entgegen, die ausdrücklich feststellte, daß weder auswärtige kriegerische Verwicklungen noch innere Wirren irgendeine Angriffshandlung -und geschähe diese auch ohne Kriegserklärung -rechtfertigen könnten. Das Bestehen einer solchen Begriffsbestimmung der Angreiferschaft, die an den Kriegsächtungspakt anknüpfte und für den Bereich der UdSSR sowie ihrer westlichen und südlichen Randstaaten regionale Verbindlichkeit besaß, stellte -soweit die Randstaaten der Sowjetunion betroffen waren -die Frucht jener geschichtlichen Erfahrungen aus der Gründungszeit der UdSSR dar, in der die Regierung der Bolschewiki den klassischen, territorial gebundenen Souveränitätsbegriff durch die Einmischung in die inneren Verhältnisse hatte aushöhlen können; sie selbst war seinerzeit genötigt gewesen, den Preis dieser Legaldefinition zu bezahlen, um vor fremder, gleichfalls innerpolitisch begründeter Intervention zeitweilig sicher zu sein. Jedenfalls standen ihr im September 1939 die diplomatischen Waffen Hitlers nicht zur Verfügung. So nahm sie schließlich ihre Zuflucht zu der Fiktion, der polnische Staat habe, zusammengebrochen unter den Schlägen der deutschen Waffen, bereits aufgehört zu bestehen, und es wohne folglich den mit ihm abgeschlossenen Verträgen keine rechtsverbindliche Kraft mehr inne. Erst nach dem Vollzug dieses dialektischen Kunstgriffs eines Erlöschens der polnischen Staatsgewalt war sodann die Einführung des nationalen Selbstbestimmungsrechts möglich, das den Einmarsch der Sowjetarmeen mit dem Schutz der weißruthenischen und ukrainischen Bevölkerung im östlichen Polen begründete. Die nachträgliche Legalitätsbemühung einer Abhaltung von -überdies gelenkten -Plebisziten konnte gegenüber den voraufgegangenen klaren Rechts-verletzungen kaum Indemnität schaffen. Noch weniger traf dies für die Annexion der Baltischen Staaten zu, mit der Josef Stalin in der Zeit der deutschen Bindung in Frankreich den nationalsozialistischen Machtzuwachs zu kompensieren suchte. Die erweiterte Konstitution der Sowjetunion als eines Bundes von 16 Unions-Republiken, welche die Phase der indirekten Aggressionen und Annexionen abschloß, hatte verbindlichen Charakter vielleicht für das sowjetische Staatsrecht, nicht aber für das internationale Rechtsdenken, das auf den bisher verbindlichen Normen beharrte. Freilich war nunmehr die Methode des „unerklärten Krieges", welche die beliebige Verwendung der nationalen Selbstbestimmung mit der begrifflichen Entleerung der klassischen Aggression verband, sowohl von nationalsozialistischer als auch von sowjetischer Seite ausdrücklich zum Mittel der Kriegsentfesselung erhoben worden; auch an der Eröffnung späterer Kriegshandlungen im Verlauf des zweiten Weltkrieges im Osten sind typische Züge dieser Verfahrensart nachweisbar. Von hier war es nur ein Schritt bis zur Setzung eines Kriegsendes in Gestalt des „unerklärten Friedens", wie sie die Potsdamer Konferenz vornahm. Sicherlich war die unerwartete Dauerhaftigkeit der bloß provisorisch gedachten Potsdamer Entscheidungen von Elementen bestimmt, die mit derKriegseröffnung nur noch in loser Konnexion standen; dennoch wird dieser Art der Kriegsbeendigung, dessen Beurteilung von dem Extrem des Waffenstillstands bis zu dem des Präliminarfriedens schwankt, der aber in keinem Falle eine wirkliche Friedensordnung heraufführte, nicht ohne eine gewisse innere Logik an die Art dei Kriegsent-tesselung anzuschließen sein II Nach den älteren klassischen Begriffen mußte ein Staatswesen neben den Attributen der Staatsgewalt und des Staatsvolkes auch das des Staatsterritoriums aufweisen, und insofern kam den Staatsgrenzen eine erhebliche definitorische Bedeutung für das Wesen eines Staates überhaupt zu. Es wurde schon bemerkt, daß diese Territorialdefinition durch neue Inhalte des Nationsbegriffs vornehmlich im östlichen Europa erheblich erschüttert worden war; dennoch wurde sie eigentlich erst im zweiten Weltkrieg gänzlich außer Kraft gesetzt. Zuvor galt die Sicherung eines Staatswesens durch die Garantie seiner Grenzen als die stärkste mögliche Form eines völkerrechtlichen Schutzes überhaupt, wie das eindrucksvolle Beispiel des Rheinpaktes von Locarno bewies. Schließlich war eine derartige Garantie nach klassischen Begriffen durchaus hinreichend, eine Aggression in Gestalt der Grenzüberschreitung gegnerischer Truppen in praxi zu verhindern, da sie diese mit dem automatischen militärischen Eingreifen der Garantiemacht unauflöslich verband.

Am Vorabend des zweiten Weltkriegs -und dies war eben nur auf Grund der Handhabung der „indirekten Aggression" durch den Nationalsozialismus zu verstehen -trat erstmalig in der Geschichte der gesamten modernen Diplomatie eine andere Fassung der völkerrechtlichen Garantie in Erscheinung. Die britische Garantie vom März 1939, die für das vom deutschen Angriff unmittelbar bedroht scheinende Polen abgegeben wurde, betraf nicht mehr die Grenzen oder das Territorium, sondern die Unabhängigkeit und Integrität der polnischen Nation. Hier verlagerte sich mithin die begriffliche Fassung des Nationalstaats vom territorialen Grundsatz auf den personalen; nicht mehr das Staats-Gebiet war ausschlaggebend, sondern das Staats-Volk. Es dürfte durchaus verständlich sein, daß diese weniger präzise Garantieformel bemüht war, eine indirekte Aggression unter dem Deckmantel der nationalen Selbstbestimung einerseits zu verhindern, andererseits aber territo-

riale Veränderungen selbst erheblicher Art, sofern diese nur auf dem Wege friedlicher Revision vor sich gingen, offen zu lassen. Die von deutscher Seite scharf kritisierte Bedenklichkeit, kraft einer solchen Fassung der Garantie die Entscheidung über den casus foederis und damit über den Casus belli aus den Händen geben und der garantierten polnischen Regierung überlassen zu müssen, wurde anscheinend von der britischen Regierung angesichts ihrer wirklichen Notlage in Kauf genommen. Diese Garantie schuf eine Präzedenz von ungeahnten Ausmaßen, wenn dies auch in der Zeit der Garantieerteilung nicht als ein solches erkannt oder gar beabsichtigt war. Hier offenbarte sich der erste Ansatz einer Denkweise, von der im zweiten Weltkrieg einmal die Wandlung des Begriffs der Fortexistenz eines Staates durch den Kriegsverlauf hindurch abhängen sollte, zum andern aber auch das allmähliche Wachstum der Vorstellung, das Territorium eines Staatsvolkes gleichsam auf der Landkarte verschieben zu können. Beide Vorstellungen standen, wie namentlich am Exempel Polens und seiner künftigen „Westverschiebung" deutlich wurde, in unauflöslichem Zusammenhang. Nach den überlieferten Begriffen gab die vollkommene Eroberung des Staatsgebiets, sofern diese mit dem Erlöschen jeglichen organisierten Widerstandes zusammenfiel, dem Eroberer die Souveränität über das eroberte Territorium und mithin auch das Recht einer politischen Neuordnung; so mußte, war nur der Widerstand der regulären Feld-armee endgültig niedergeworfen, der militärischen Eroberung oder „debellatio“ des gesamtstaatlichen Territoriums die politische Unterwerfung oder „subjugatio“ folgen -wobei freilich die Intention der siegreichen Regierung, das debellierte Territorium dauernd zu behalten, also ihr „animus possidendi", eine entscheidende Vorbedingung darstellte. Diese Auffassung dürfte die Regierungen des nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion bei der zweiten Aufteilung des nieder-geworfenen Polen geleitet haben, wenn auch in wenig bestimmter und unklarer Weise; sie vermieden es, jemals eine Erklärung über die Beendigung der Existenz der polnischen Republik oder die Rechtsgrundlage ihrer neuen politischen Ordnung abzugeben, zumal sie ja eine Debellation Polens wegen des „friedlichen“ Einmarsches der Sowjetarmeen nicht voraussetzen durften. Andererseits sah sich die polnische Regierung, im rumänischen Exil interniert, zur vollkommenen Handlungsunfähigkeit verurteilt und der letzten organisierten Feldtruppen beraubt, bei der Postulation der Fortexistenz ihres Staates in einer schwierigen Lage; sie konnte diese Fortexistenz zunächst nur auf staatsrechtlichem Wege behaupten, indem sie die Übertragung der an das Staatspräsidium geknüpften Staatssouveränität der geltenden Verfassung von 1935 vornahm. Erst von diesem Akt her war die Neubildung einer Exilregierung, eines Exil-Parlamentes und schließlich einer Exilarmee zunächst in Frankreich, sodann in Großbritannien und der Sowjetunion als legitim anzusehen. So bildete die polnische Translation der staatlichen Souveränität vom Staatsterritorium in das Exil ein Beispiel für die neue Möglichkeit, die Kontinuität eines Staatswesens auch nach dem Verlust des Territoriums und dem der regulären Armee -die nach bisherigen Vorstellungen gleichsam das Staatsterritorium mit sich getragen hatte, sofern sie über ihre Staatsgrenzen zu weichen gezwungen war -zu wahren und fortzuführen. Ohne Frage hatten schon die letzten Jahre des ersten Weltkriegs denkerische Ansätze zur Möglichkeit des Exilstaatswesens gebracht, vornehmlich in der alliierten Anerkennung der Nationalkomitees der Polen, der Tschechen und anderer Völker, mochten diese nun in der Form der „reconnaissance comme nation“ oder der „reconnaissance comme Tetat" erfolgt sein; allerdings hatte es sich hier um die Anerkennung einer Staatsgewalt gehandelt, die sich ihres -an sich als schon bestehend vorausgesetzten -Territoriums noch nicht hatte bemächtigen können. So wird die staatliche Kontinuität der Polnischen Republik durch den zweiten Weltkrieg hindurch als das erste vollendete Exempel der Lösung von territorialen Denkweisen und der Hinwendung zu rein personalen Kategorien zu werten sein.

Die damit verwandte Frage der „Verschiebung" eines nationalen und staatlichen Territoriums ging in ähnlicher Weise aus dem Ansatz der britischen Garantie vom März 1939 hervor. An sich hatte die britische Regierung, als die Kriegsgefahr sich deutlicher abzeichnete und die Möglichkeit einer friedlichen territorialen Revision dahinschwand, im August 1939 nach dem Vorgang des deutsch-sowjetischen Pakts zur klassischen Form einer Militärallianz mit Polen zurückgefunden, einer Militärallianz, die bei einem deutschen Angriff durch Grenzverletzung wirksam werden sollte. Nach der vollbrachten Teilung Polens orientierte sie sich freilich erneut an jener Konzeption, aus der die Abfassung der Garantie vom März 1939 entsprungen war. Im Oktober 1939 erklärte Lord Halifax namens der britischen Regierung, daß die Sowjetregierung unbeschadet der mangelnden Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens ihre Westgrenzen bei der Teilung Polens doch nur bis zu einer Linie vorgeschoben habe, die in etwa der 1920 vorgeschlagenen polnisch-russischen Grenze (Curzon-Linie) entspräche. Damit war wiederum -wenngleich noch ohne Rechtsverbindlichkeit -der Grund-satz der territorialen Unverletzlichkeit zugunsten der vagen Fassung des Nationsbegriffs nach der rein ethnischen Konfiguration preisgegeben worden. Gewiß konnte dieses an sich erstaunliche britische Zugeständnis an die sowjetische Auffassung nur aus der heiklen Lage heraus verstanden werden, dem Kriegsgegner Deutschland den Interessenpartner abspenstig machen zu wollen; dennoch war damit ein andauerndes Präjudiz geschaffen worden, das der Sowjetregierung durch den gesamten Krieg hindurch die Chance gab, ihre Ansprüche auf das östliche Polen mit einem Schein des Rechts zu umkleiden. Von der Garantie Chamberlains und der Erklärung Halifax’ aus -und beide galten auch Churchill als verbindlicher für den britischen Standpunkt denn der „klassische" Beistandspakt vom August 1939 -war es nur folgerichtig, wenn in den britisch-polnisch-sowjetischen Beistandsverhandlungen von 1941 die Teilungsabmachungen von 1939 zwar verworfen wurden, die polnisch-sowjeschen Vorkriegsgrenzen aber mindestens nach britischer und sowjetischer Auffassung nicht ipso facto wieder in Kraft traten, sondern offen blieben. Der weitere Schritt einer endgültigen Hinnahme der Curzon-Linie und der territorialen Entschädigung Polens mit deutschem Territorium erschien um so unvermeidlicher, als Stalin selbst in der Zeit der größten militärischen Bedrängnis der Sowjetunion die Restitution der Vorkriegsgrenzen unnachgiebig abgewiesen hatte. Die Idee der Westverschiebung Polens und ganz Mitteleuropas war damit in den Kreis der praktikablen politischen Möglichkeiten eingerückt.

III Der Prozeß des Umdenkens nationalstaatlicher Vorstellungen von territorialen Kriterien zu personalen hatte freilich über die Erschütterung alter Rechtskategorien hinaus noch andere, tiefere Wurzeln. In dem Gebiet zwischen dem deutschen Nationalstaat und der sowjetischen Völkerföderation war der Sachverhalt der „Balkanisierung Mitteleuropas“ vorgegeben, nämlich der Sachverhalt einer Schaffung nationaler Staaten in einem Bereich, der von alters her keine festumrissenen Volkstums-grenzen kannte, sondern viel eher das klassische Beispielfeld ethnischer Durchmischungen, Überschichtungen oder Verwerfungen darstellte. Hier war mithin seit dem ersten Weltkrieg ein vom westlichen Europa abgezogenes Staatsmodell -und meist das der „Nationaldemokratie* — ungeprüft übertragen worden. Gerade hier mußte das Vorhandensein von Minderheiten oder Gruppen fremder Nationa-lität im Rahmen eines Staatswesens mit nationalstaatlichem Anspruch zu besonders schweren Spannungen führen. An sich hätte die demokratische Idee -und hier vorzüglich die staatsbürgerliche Gleichheit aller Bürger, auch des minoritärenVolkstums — ausgleichend und versöhnend wirken sollen; indessen hatten die meisten Staaten dieses Bereichs im letzten Jahrzehnt der Zwischenkriegszeit die demokratische Regierungsform preisgegeben und eine Regierungspraxis angenommen, die nicht totalitär wie die der beiden Flügelmächte Deutschland und die UdSSR, wohl aber autoritär war. So suchte jeder dieser Staaten -auch wenn er die Grundsätze des Rechtsstaates noch achtete und anerkannte -fremdvölkische Gruppen in seinem Staatsterritorium unter administrativem Druck zu assimilieren, seinem Staats-Volkstum ethnisch und sprachlich anzugleichen, während er umgekehrt freilich für die ihm stammverwandte oder ethnisch gleiche Volksgruppe in einem fremden Staat als selbstverständlich legitimer „Anwalt" auftrat. Auch diese merkwürdig grundsatzlose, aber praktische Verfahrensart war vom ersten Weltkrieg und in ihm durch eine entsprechende Politik, namentlich des russischen Reiches, schon präformiert worden.

Hier steckte freilich der Ausgang einer nationalen Denkweise, die in ihrer folgerichtigen Durchführung zu einem seltsamen Zirkelschluß führen mußte. An sich hätte doch in einem Bereich, in dem die Idee des Nationalstaats im reinen Sinne nicht anwendbar war, eine geistige Revision des territorial gebundenen Nationalstaatsgedankens stattfinden sollen, und damit ein Hinfinden zu föderalen Ordnungen auf der Basis personaler Gruppen. Gewiß waren hierzu in der Zwischenkriegszeit verheißungsvolle Ansätze vorhanden, die von den Überlieferungen der zerstreuten „Generalität der Jüdischen Nation" des 18. Jahrhunderts über die Programme der jüdischen „Bundisten“ und „Folkisten" bis zur Wiener sozialdemokratischen Schule, zu einzelnen Elementen der Minderheitenschutzverträge oder der Kulturautonomie für die deutsche Volksgruppe in Estland hin reichten. Im Regelfall war indessen doch die Konzeption des unitarischen, territorial geschlossenen Nationalstaats siegreich geblieben, sogar in abseitig scheinenden Beispielfällen wie in der extremen territorialen Durchgliederung der Sowjetunion auch nach kleinsten ethnischen Gruppen, oder in der Ideenwelt des jüdischenZionismus, der ein seit rund achtzehn Jahrhunderten verlorenes Heimatland wiederzuerlangen sich bemühte. In jedem Falle wurde durch die moderne Wirklichkeit des Nationalstaats die ältere Möglichkeit eines landlosen rein personalen Consensus entschieden negiert. War diese scheinbare Selbstverständlichkeit der territorialen Geschlossenheit einer Nation einmal als richtig anerkannt, so konnte der zweite Schritt getan werden, den Staat -der doch an sich Mittel sein sollte -zum Zweck selbst zu setzen, und ihn schließlich als entscheidendes konstitutives Element der Nationsbildung anzusehen. Aus dieser Denkweise heraus prägte Roman Dmowski seinen nationalen Grundsatz: „Nicht die Nation schafft den Staat, sondern der Staat schafft die Nation." In der Tat nahmen die meisten Staaten des östlichen Europa in der Zwischenkriegszeit diese Konzeption zur Richtschnur ihres nationalen Handelns. So wurde endlich die Staatsgestaltung nicht der organisch gewachsenen ethnischen Wirklichkeit angepaßt, sondern umgekehrt die ethnische Wirklichkeit um der Adaption an die Idee des Nationalstaats willen verändert, wenn nicht zerstört.

Die letzte Folgerung freilich, Volksgruppen und ganze Völker einfach als „ethnisches Rohmaterial“ -zu behandeln, sie im Dienst einer vorgeworfenen nationalen oder sozialen Mission aus ihrer angestammten Heimat zu entfernen, zogen erst Adolf Hitler und Josef Stalin. Gewiß hatten schon vor dem zweiten Weltkrieg einzelne ethnische Gruppen zum Mittel der auswärtigen Politik und schließlich zur Kriegsentfesselung mißbraucht werden können, und gewiß war der an sich reine Gedanke einer „Anwaltschaft“ der Minderheiten längst schon entartet, wenn auch nicht im Bewußtsein der Betroffenen; immerhin aber hatte sich das überlieferte Gefüge der Völker im Raum zwischen Deutschland und dem eigentlichen Rußland trotz aller Versuche der Assimilation oder Verdrängung im Grundsatz noch bewahren können. Der zweite Weltkrieg griff mit seinem Beginn die geschichtliche Verwurzelung der Menschen in ihren Heimatlandschaften an. Die herrenvölkische Mission des Nationalsozialismus wie auch die klassen-kämpferische Aufgabe der Bolschewik! schienen das grausame Experiment großangelegter Vertreibungen oder Verschleppungen zu fordern. Vom Herbst 1939 an ließ Hitler in den für das Deutsche Reich annektierten polnischen Westprovinzen altansässige Einwohner vertreiben, um für jene Angehörigen des Streudeutschtums aus dem weiteren Osten Siedlungsland zu schaffen, die er selbst eben erst durch die Teilungsverträge unter sowje-tische Hoheit gestellt hatte. Für ihn war die Vorstellung einer Stärkung der territorialen Geschlossenheit des Deutschtums wesentlicher denn alle Rücksichten auf die Betroffenen. Stalin ordnete zur gleichen Zeit jene Verschleppungen oder Ausrottungen der älteren polnischen Führungsschicht im östlichen Polen an, welche den als Beweggrund des Einmarsches angegebenen weißruthenischen oder ukrainischen Charakter dieses Landes nun erst wirklich herausstellten. Der Fortgang des Krieges brachte sodann -namentlich nach der Eröffnung des Feldzuges gegen die UdSSR -die nationalsozialistische Intention zutage, das neu zu gründende großdeutsche Kolonialreich im Osten auf geradezu megalomane Völker-verpflanzungen zu bauen, die erhebliche Anteile der Polen, der Russen, Ukrainer und Weißruthenen, der baltischen und kaukasischen Völker umfassen sollten und kraft der damit notwendigen Ausbreitung der Deutschen die eben mühsam erzielte nationale Geschlossenheit wieder zerrissen; wenn auch nur ein Teilstück dieser oft geänderten Pläne in die Tat umgesetzt werden konnte, wenn auch militärische Erfordernisse wie die Arbeitergestellung, Räumung oder Flucht an dieser Wanderungsbewegung mitwirkten, so überstieg sie doch immer noch bei weitem die Größenordnung der klassischen Völkerwanderung. Andererseits trug Stalin keine Bedenken, im Verlaufe der an sich militärisch notwendigen Evakuierung oder Rücksiedlung ganze Bevölkerungsschichten in neuen Gebieten ansetzen zu lassen oder auch ganze Völker -wie die der Kooperation mit der deutschen Macht verdächtigen Wolgadeutschen, Krimtataren oder kaukasischen Bergstämme -im Exil zu zerstreuen.

Für das geschichtlich geformte Bewußtsein der Völker der Sowjetunion waren solche Völker-bewegungen unbeschadet ihrer Schrecknisse nicht völlig ungewohnt; hier hatte die sowjetische Verpflanzungstechnik an ältere russische Vorbilder anknüpfen können. Für das mitteleuropäische Empfinden war diese Praxis -mochte sie auch im ersten Weltkrieg und seinen Folgejahren geistig schon vorgeformt sein -jedenfalls in dieser Verwirklichung neuartig und furchtbar.

Es war nach den Vorgängen namentlich der nationalsozialistischen Vertreibungen kaum unbegreiflich, wenn nun auch bei den westlichen Staatsmännern die Bereitschaft wuchs, neben der territorialen auch die personale Westverschiebung Mitteleuropas zu vollziehen und damit die Methode der Verpflanzung auf Deutschland zurückfallen zu lassen. Hier war neben den nationalsozialistischen Präzedenzien und den Wünschen Stalins doch wohl die Vorstellung maßgebend, es gälte durch großzügige Umsiedlungen ein für allemal jene nationalen Unruheherde auszuräumen, die so vortreffliche Prätexte für die Entfesselung national deklarierter Kriege abgegeben hatten.

Eben in diese Richtung zielte auch das Argument von Benesch, die CSR der Zwischenkriegszeit sei durch den Mißbrauch der sudetendeutschen Selbstbestimmung zerstört worden.

Für eine derartige Anpassung nationaler Siedlungsbereiche an einmal gezogene staatliche Grenzen lagen in der neueren Geschichte immerhin die Vorgänge der Umsiedlungsverträge vor, welche die Balkankriege von 1912/13 im Gefolge gehabt hatten; auch insofern traf das Vergleichsbild einer „Balkanisierung Mittel-europas" zu. Mochte es umstritten sein, ob diese Verträge für die Entscheidungen Churchills und Roosevelts überhaupt von Einfluß waren, so hatten doch sicher jene Umsiedlungen, die nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1920/1922 ursprünglich wilde Vertreibungen in geordnete Bahnen lenkten, ihre erhebliche Bedeutung. Maßgebend war ferner die durch die Erfahrung genährte Verzweiflung an der Möglichkeit, die Gefahren der ethnischen Mischungszone Mitteleuropa durch kondominiale oder föderale Lösungen bändigen zu können. Schließlich wird für die endgültige Zustimmung zu den Umsiedlungsplänen auch ein Stück Rache und Vergeltung wirksam geworden sein. Dennoch war die hier gefundene Entwirrung des nationalen Knotens im Grunde friedenssichernd gemeint, wie auch die geplante Methode einer geordneten und humanen Umsiedlung kaum das Recht zu der nachfolgenden Praxis einer weithin regellosen Vertreibung gab. So wird der furchtbare Rückfall der Vertreibungen auf Deutschland zwar menschlich verständlich, nicht eigentlich aber zu exkulpieren sein. Umgekehrt freilich ist das Argument des „tu quoque", das von den unversöhnlichen Hassern der Nachkriegszeit so oft den westlichen Staatsmännern entgegengehalten wurde, nicht allein schlecht und unmoralisch, sondern im Grunde sachlich auch unzutreffend.

IV Gemäß den herkömmlichen, bis zum ersten Weltkrieg hin gültigen Vorstellungen lag der Sinn des Krieges als eines Mittels der Politik darin, die Militärmacht des Gegners mit rein militärischen Operationen zu zerschlagen, um damit den Gegner zu lähmen, ihm seinen Willen und seine Handlungsfähigkeit zu nehmen und ihn schließlich einem Frieden nach den Wünschen des Siegers geneigt zu machen.

Dieser Friede hatte sodann die bewaffnete Auseinandersetzung mit ausschließlich politischen Methoden zu beenden, indem er eine für die Dauer gedachte neue politische Ordnung schuf. Insofern eignete dem „klassischen Krieg" eine strenge Trennung der politischen von der militärischen Sphäre, ihrer Methoden und Ziele, und zugleich auch die genaue Unterscheidung von zivilen und militärischen Personengruppen, von Kombattanten und Nichtkombattanten. Die moderne Kriegführung hatte -beginnend schon im Burenkrieg mit der Guerillataktik der burischen Streitkräfte und den britischen Repressionsmaßnahmen der Konzentrationslager und schon breiter entfaltet in der umfassenden Einbeziehung der zivilen Einwohnerschaft in die militärischen Handlungen des ersten Weltkrieges -Ansätze zur Vermischung politischer und militärischer Elemente des Kriegsbegriffs überhaupt gebracht. Die allumfassende In-Eins-Setzung militärischer und ziviler Kriegführung, und mithin die volle Ausbildung der Formen des „Volkskrieges" als eines totalen Krieges, der auch vor dem Völkermord nicht zurückschreckte, blieb freilich wiederum dem zweiten Weltkrieg vor allem im östlichen Europa vorbehalten.

Die fortschreitende Vermengung politischer und militärischer Kriterien der Kriegführung äußerte sich im zweiten Weltkrieg zunächst in der von Anfang an beabsichtigten Politisierung der militärischen Operationen, die einen Gegentypus zu dem schon aus dem ersten Weltkrieg bekannten Phänomen der Unterstellung politischer Entscheidungen unter militärische Gesichtspunkte schuf. Das bekannte Schlagwort des „Militarismus" meinte, sofern es auf seine ursprüngliche Bedeutung reduziert wurde, das unzulässige Ubergreifen militärisch operativer Kriterien auf politische Entschließungen; dafür bot der erste Weltkrieg namentlich in den Verhaltensweisen der Obersten Heeresleitung hinsichtlich der territorialen Kriegsziele Beispiele genug. Im zweiten Weltkrieg standen die militärischen Operationen und deren Planung von Kriegsbeginn an nicht unter den strategischen Kriterien einer militärischen Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte, sondern unter dem politischen Aspekt der Eroberung von bestimmten Gebieten und der Unterjochung ihrer Einwohnerschaft mit dem Endziel, diese Eroberungen mit oder ohne Friedensschluß für dauernd zu behalten. Die erste Äußerung solcher Denkweisen brachte schon dei -an sich nach den Regeln der klassischen Vernichtungsstrategie angelegte -Septemberfeldzug gegen Polen, in dem Hitler das Ausreisen der militärischen Niederlage des polnischen Gegners nicht abwartete, sondern vorzeitig den Rückzug auf die mit der Sowjetregierung vereinbarte Grenzlinie befahl und dergestalt selbst den regulären polnischen Widerstand noch um Wochen verlängerte. Schlechthin bezeichnend aber für Hitlers Vorstellung, die militärische Operation habe der territorialen Eroberung zu dienen, war die erste Weisung für die Vorbereitung des „Barbarossa" -Feldzugs gegen die Sowjetunion vom Dezember 1940, in der entgegen den Absichten des deutschen Generalstabs festgestellt wurde: „Das Endziel der Operation ist die Abschirmung gegen das asiatische Rußland aus der allgemeinen Linie Wolga-Archangelsk." Eben bis zu dieser Demarkationslinie sollte, wie aus zahlreichen Entwürfen der Zeit hervorging, auch das neue deutsche Kolonialreich im Osten sich erstrekken. Hier wirkte das angestrebte Endziel auf die Methode seiner Erreichung zurück. Clausewitz und mit ihm die klassische Kriegswissenschaft hatten wohl gewußt, daß die gelungene militärische Operation eine territoriale Eroberung überflüssig mache, weil das angestrebte Gebiet nach der Vernichtung der feindlichen Streitkräfte wie eine reife Frucht dem Sieger in den Schoß fallen würde. Hitler führte die deutschen Angriffsoperationen von 1941-1943 zwar mit den technischen Mitteln der hergebrachten Umfassungs-und Einkesselungsschlachten, verstieß aber in einer für die deutsche Kriegführung verhängnisvollen Weise gegen die Grundidee der von ihm angewandten Strategie, indem er den Ansatz aller deutschen Operationen nach allzu weit und allzu vielfältig raumgreifenden Vorstellungen befahl, anstatt die verhältnismäßig bescheidenen deutschen Kräfte auf das operative Hauptziel Moskau zu konzentrieren. So waren die anfänglichen deutschen Erfolge wesentlich auch darauf zurückzuführen, daß Stalin in derselben Konzeption einer Politisierung der Operation befangen war und seine Heerführer an die starre Verteidigung einer Provinz, an das Festklammern in einer festgelegten Linie band, ihnen die bewegliche Kampfführung unmöglich machte und insofern die deutschen Operationen ungewollt erleichterte. Dergestalt bildete die Schlacht von Moskau im Dezember 1941 eigentlich die Wende des Krieges. Hitler vermochte, wenn er gleich die Moskauer Katastrophe durch die voraufgegangene Verzettelung der deutschen Kräfte (die sich 1942 wiederholen sollte) und durch den zu späten Ansatz selbst verschuldet hatte, doch einer wirklichen Panik durch die Losung des Festhaltens um jeden Preis noch einmal zu steuern; andererseits aber konnte er der Verallgemeinerung der in diesem Fall als richtig erkannten Methode nicht mehr entrinnen. Die von ihm von nun an bis zum Ende des Krieges angewandte Taktik des zähen Verbleibens in festen Plätzen, Brückenköpfen, Frontbaikonen oder Kesseln -die 1942 die Kapitulation einer ganzen Armee, 1944 sogar die Vernichtung einer ganzen Heeresgruppe zur notwendigen Folge hatte -leitete ihre vordergründige Rechtfertigung gewiß aus der Erwägung ab, Paniken, Frontdurchbrüche oder Flucht-katastrophen zu verhindern; wesentlichere Triebkraft aber blieb stets der Wunschtraum, das einmal gewonnene Gebiet -über das politisch schon verfügt war -behalten zu können. So kam diese -wider die Meinung der deut-Generalität erzwungene -Bewegungslosigkeit der deutschen Abwehr der sowjetischen Strategie zugute, die seit 1942 immer mehr zur klassischen Angriffsoperation zurückfand. Insofern ging dank der von Hitler angewandten Methode der Mißachtung anerkannter klassischer Kriegstheorien -einer Mißachtung, deren verhängnisvolle Auswirkung Stalin noch rechtzeitig genug erkannte -sowohl das eroberte Territorium als auch die militärische Operation verloren und endlich der Krieg überhaupt.

Freilich bildete diese eigentümliche Politisierung der militärischen Operationen nur das äußere Kennzeichen einer Grundgesinnung, welche sich zwar nie völlig von der Vorstellung des Krieges als einer Aktion der Soldaten oder Kombattanten löste, die bürgerliche Einwohnerschaft des eigennationalen und der fremdnationalen Gebiete aber von vornherein gewaltsam in die Kriegshandlungen einbezog.

Eben aus der Intention der auch politischen Eroberung traten Deutschland und die UdSSR in den ihrer Gewalt unterworfenen Territorien von 1939 an nicht als Besatzungsmächte auf, nicht als bloße militärische Administratoren einer Bevölkerung, über deren politische Schicksale erst bei Kriegsende zu entscheiden war, sondern als politische Neugestalter. Hieraus entsprang zunächst das mißtrauische Bestreben sowohl des Nationalsozialismus als auch der Bolschewik!, die Kompetenz militärischer Behörden tunlichst zugunsten der politischen Stellen einzugrenzen, vor allem aber die kaum eroberten Gebiete sogleich zivilen Verwaltungen zu unterstellen; bezeichnenderweise folgten den Armeen auf dem Fuße Dienststellen, Behörden oder Verwaltungen, die den „zivilen Krieg" zu führen hatten. Entscheidend war die Absicht, über die militärische Aktion hinaus die zivile Gesellschaft der eroberten oder noch zu erobernden Territorien einer tiefgreifenden sozialen Umformung zu unterwerfen. Die klaren, im 19. Jahrhundert ausgearbeiteten Regeln oder Definitionen der klassischen Kriegführung -und vorzüglich die auf den Schutz der bürgerlichen Einwohner oder der Gefangenen bezogenen -wurden nicht allein stillschweigend mißachtet, sondern gerade für die östlichen Kriegsschauplätze ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Nächst der schon angedeuteten Praxis der Verpflanzung oder Verschleppung ganzer Volksgruppen offenbarte sich hier die Konzeption, alle Schichten der zivilen Bevölkerung, die nur irgendwie zu einem politischen oder auch nur geistigen Widerstand befähigt schienen, auszuschalten und endlich sogar physisch zu vernichten. Vom Herbst 1939 an suchten Nationalsozialisten und Bolschewik! den ganzen Krieg hindurch — und dies mindestens anfänglich ohne die geringste militärische Notwendigkeit oder Herausforderung -die Nationen des Ostens ihrer Elite, ja ihrer Intelligenz zu berauben; die Verschickung der gesamten Universitätslehrerschaft von Krakau in Konzentrationslager, in denen die meisten Betroffenen um-kamen, oder die bekannten Morde von Katyn bildeten nur die ersten spektakulären Beispiele solcher Intentionen des geistigen und physischen Völkermordes. Wenngleich hierbei die Nationalsozialisten eher den nationalen, die Bolschewiki eher den sozialen Akzent setzten, so war doch in beiden Fällen die nationale mit der sozialen Transformation unauflöslich verkettet. Die nationalsozialistische Praxis bediente sich häufig der gröbsten Beraubung aller Bildungswerte und des Verbots jeder nicht technisch verwertbaren, allgemeinen Bildung bis herab zur Grenze der bloßen Schriftkundigkeit; es sollte auch hier die vorgängige weltanschauliche Setzung einer Minderwertigkeit der östlichen Völker nachträglich gewaltsam erzwungen werden. Die Bolschewiki gingen, indem sie nationale Ideen und geistige Werte überhaupt mit formaler Schonung behandelten, zumeist feiner, durchdachter und subtiler vor, ließen indessen durch ihre noch radikalere Durchführung der gesellschaftlichen Transformation den lebendigen sozialen Untergrund geistiger Leistungen absterben und damit diese selbst gleichsam verdorren. Insofern war ihre Methode noch wirksamer und gewiß noch furchtbarer als die des National-Sozialismus. Diese Ansätze zum Völkermord hatten, mochten sie auch nur partiell durchgeführt werden, doch immerhin die Gewalt, die Bevölkerungszunahme von mehreren Jahrzehnten zu verschlingen -und dies ungeachtet dessen, daß ja gerade die geistig führenden Schichten betroffen waren. Dem Nationalsozialismus blieb vorbehalten, mit der bis auf geringe Reste vollendetenExtermination des osteuropäischen Judentums das seither klassische Beispiel des verwirklichten Völkermordes zu erbringen. Der rassisch begründete, von der Vorstellung eines Kampfes auf Leben und Tod ausgehende Antisemitismus Hitlers vollbrachte hier eine Tat, welcher der rein sozial bedingte Antisemitismus der Polen oder der eher instinktive der Russen niemals fähig gewesen wäre. Sicher war an der Steigerung der nationalsozialistischen Ausrottungsmaßnahmen von der Diffamierung über die Einsperrung in Ghettos, die Zwangsarbeitsverpflichtung und den kalkulierten Erschöpfungstod bis zum krassen Mord hin die wechselwirkende Verknüpfung von älterer nationalsozialistischer Judenverfolgung und außerdeutscher jüdischer Gegenaktion, von Antisemitismus an sich und Zionismus mitbeteiligt; hier offenbarte sich aber doch die vollkommene -auf anderer Ebene früher schon im sowjetischen Denken vollzogene -Umkehrung aller sittlichen Werte, die im millionenfachen Mord nicht allein eine Wohltat für die gesamte Menschheit, sondern auch eine an sich rühmenswerte und anständige Handlung sehen konnte.

Wenn mithin in der Intention der deutschen und der sowjetischen Eroberer der Plan eines recht-und regellosen Kampfes gegen die zivile Bevölkerung überhaupt und vor allem gegen deren führende Schichten bestand, so war auch die umstrittene Frage des Untergrundes, der Resistance oder des Partisanen-wesens anders zu beurteilen als allein vom Standort der klassischen Kriegsgesetze her. Gewiß waren namentlich bei den Polen, den Russen und den Ukrainern die Kräfte einer inneren Bereitschaft zum militärischen und zivilen Untergrundkampf schon vor dem zweiten Weltkrieg reich entfaltet. Neben den großen geschichtlichen Überlieferungen der Volksaufstände und der Guerillakriegführung seit dem 17. Jahrhundert war doch erheblich, daß sowohl die polnischen als auch die sowjetischen Streitkräfte eher aus konspirativen Kampf-verbänden denn aus regulären Armeetruppen hervorgegangen waren und daß die Pflege dieser Tradition für beide Armeen ein konstitutives Element ihrer Ausbildung darstellte.

Dennoch waren die Anfänge der von ihnen geformten Untergrundbewegungen -der zunächst rein passiven Resistance in Polen seit 1939 und des früh aktiven Partisanenwesens in der Sowjetunion seit 1941 -noch bescheiden und nicht allzu weitgreifend. Gegen die Ausbildung einer umfassenden Untergrundbewegung wirkte bei den Polen der betäubende Schock der Septemberkatastrophe und das noch unverlorene Vertrauen in ein gewisses Maß deutscher Redlichkeit, bei den Sowjetvölkern zwei Jahre später (und vornehmlich bei den Ukrainern) die geringe Bereitschaft zum militärischen Widerstand, die doch schon das Beste zu den großen deutschen Waffenerfolgen von 1941 beigetragen hatte. Erst die allgemeine, schließlich bis zum letzten Einwohner hin dringende Erkenntnis, daß der nationalsozialistische Krieg nicht allein der bewaffneten Macht, sondern eben den zivilen Einwohnern selbst gelte, machte die geringe latente Neigung zum irregulären Widerstand virulent und allgemein. Bei erheblichen Volks-teilen der Polen, der Ukrainer, der baltischen Völker und auch der Russen selber richtete sich diese Widerstandsbereitschaft nicht gegen die deutsche, sondern gegen die sowjetische Kriegführungspraxis. Es war also die voraufgegangene und stetig andauernde Verletzung aller überlieferten Rechtsbegriffe durch die Nationalsozialisten und die Bolschewiki selbst, welche das rechte Wachstum der Untergrund-bewegungen herausforderte und im Grunde erst ermöglichte.

Angesichts der Kriegführung der Eroberer war es verständlich, daß die einzelnen Resistancegruppen sich häufig -aber durchaus nicht immer -vom positiv geltenden Kriegsrecht nunmehr ihrerseits lossprachen. Nicht selten war der Typus der Partisanen, der -als Soldat unter militärischem Kommando und in seiner Aktion mit den Operationen des regulären Militärs koordiniert -auf den Status und den Rechtsschutz des friedlichen Bürgers sich verließ und insofern mit Recht der Vergeltung verfiel. Andererseits erhielten die Untergrund-bewegungen eine echte Legitimation in solchen Fällen, in denen sie sich die Rettung der bedrohten Bevölkerungsschichten oder der nationalen Kultur überhaupt zur Aufgabe machten und insofern als nationale Selbstschutz-organisationen auftraten. So reicht die Skala der Widerstandshandlungen von der passiven Ausbildung verschwörerischer Geheimbünde bis zur aktiven Diversion, von der Exekution als verbrecherisch erkannter Polizeichefs bis zum gewöhnlichen Raubüberfall und von der Sabotage der Rüstungswirtschaft bis zur untergründigen Bewahrung verfolgter geistiger Werte, wie sie vornehmlich im Aufbau von Untergrundkirchen und Untergrunduniversitäten sich manifestierte. Im Grundsatz war freilich der Rekurs auf das letzte Recht des Menschen, das der Beschirmung seines Lebens, seiner Familie, seiner Freiheit, seines Vermögens und der Güter seiner Bildung, wesentlicher denn die bloße Furcht den Unterdrückern oder der Haß gegen sie.

Der deutsche Soldat stand zunächst fassungslos vor der ihm ungewohnten Kampfesart der Partisanen, die ihm als die Verkörperung der Bosheit, Heimtücke und Hinterhältigkeit erscheinen mußte. An sich hatte es in der deutschen Heerestradition mindestens noch im frühen 19. Jahrhundert -wie die Entwürfe von 1809-1813 bewiesen-Elemente des Volkskrieges gegeben, die selbst vor den Extremen des Überfalls auf Lazarette oder der Brunnenvergiftung theoretisch nicht zurückschreckten. Indessen waren diese Überlieferungen im Gefolge der Regulierung der Landwehridee und der rein monarchischen Formung namentlich des preußischen Heerwesens längst verschüttet und tot. Das seitdem entwickelte Bewußtsein, der Krieg sei Sache allein der „gelernten Soldaten", das instinktive Mißtrauen des Troupiers gegen jede bürgerliche „Anmaßung“

und vollends gegen jede irreguläre Kampf-weise war herrschend geworden, und der Komplex dieser Überzeugungen hatte deutsche Generale schon im ersten Weltkrieg zu über-scharfen Strafaktionen gegen Guerillas verleitet. Der für das deutsche Denken spezifische Schauder Schillers vor der Vorstellung, daß der „ruhige Bürger“ zur Wehr greifen könne, um „Würgerbanden" zu bilden, schlug sich gerade noch im zweiten Weltkrieg in dem Befehl Partisanengruppen, nieder, welcher Art auch immer, als „Banden" zu bezeichnen und zu behandeln. War die nationalsozialistische Führung kurzsichtig innere Konnexion die zwischen dem von ihr entfachten Völkerkrieg und der raschen Entfaltung irregulären Widerstandes nicht oder doch erst viel zu spät zu erkennen, so meinte sie zugleich auch in fast naiver Weise, diesen Widerstand mit verdoppeltem Terror ersticken zu können. Für die Mehrheit der deutschen Offiziere und Soldaten war neben ihrer hergebrachten Unkenntnis des Untergrundkampfes auch ihre Ahnungslosigkeit bezeichnend, die sie den Mißbrauch ihres tapferen Einsatzes und ihres gutgläubigen Mutes zu unedlen Zielen kaum je erkennen ließ. Insofern hatte das deutsche Soldatentum im zweiten Weltkrieg eine ähnlich tragische Rolle zu übernehmen wie das Grenzlanddeutschtum bei der Entfesselung dieses Krieges.

In der vielfachen Verknüpfung, Verschlingung oder auch Verkehrung der irregulären Elemente der Kriegsführung im Osten offenbarte sich, daß die Totalität der kriegerischen Mittel bis Adolf zu wirklichen Paradoxa gelangte. Hitler erwies sich in der Schrankenlosigkeit seiner Ziele und in der Hybris seiner Methoden als der beste Helfer und treueste Verbündete der Sowjetmacht gerade deshalb, weil er gegen sie einen totalitären Krieg entfesselt hatte. Umgekehrt verwirkte Josef Stalin jeden Anspruch darauf, als Befreier der vom Nationalsozialismus unterworfenen Völker gelten zu können. Es wird gegen die nationalsozialistische Verkennung der Resistance stets die Bedenkenlosigkeit zu stellen sein, mit der die sowjetische Führung dank ihres Partisanen-einsatzes ihre eigenen Bürger oft genug vor die schaurige Wahl stellte, entweder durch eine deutsche oder eine sowjetische Kugel zu fallen. In solchen Fällen schien die deutsche Partisanenbekämpfung im Interesse des Schutzes der betroffenen Einwohner schon fast wieder sinnvoll zu werden. Andererseits freilich brachte es das nationalsozialistische Regime zuwege, die an sich bei allen östlichen Völkern ursprünglich vorhandenen Ansätze zur Zusammenarbeit im Keim zu ersticken, die zum Kampfe gegen die Bolschewik! bereiten, spontan entstandenen Verbände erst viel zu spät zum Einsatz zuzulassen und sogar die vielfach glaubwürdige Idee einer „Abwehr des Bolschewismus", die namentlich in den westlichen Ländern erfolgreich an die gemeineuropäische Solidarität appelliert hatte, ihrer anfänglichen Zauberkraft zu berauben. Dennoch lag in dieser Verstoßung hilfsbereiter, ideal gesonnener durch den auch Menschen Nationalsozialismus nicht der Schein einer Rechtfertigung der Sowjetmacht. Die siegreichen Divisionen Stalins hatten nach Kriegsende jahrelang zu kämpfen, bis sie die nationalen Untergrundarmeen namentlich der Ukrainer und der Polen niedergerungen hatten.

Aus alledem konnte endlich ersichtlich werden, daß der Krieg im Osten, mochte er auch als ein Krieg der imperial ausgeweiteten nationalen Egoismen begonnen haben und als ein Kampf zweier Weltanschauungen oder Ideologien deklariert worden sein, zum regel-losen Krieg der Völker in ihrer Gesamtheit entartete und damit den vollkommenen Verlust jener Rechtsgrundsätze hervorbrachte, die der erste Weltkrieg immerhin im Prinzip noch beachtet hatte. In dieser Entäußerung des Rechtes, in der Einbeziehung auch der zivilen Einwohnerschaft und in der Entfaltung des irregulären Kampfes enthüllte sich, daß dieser Krieg eine eigentümliche und spezifische Vermischung der Kennzeichen des auswärtigen Krieges und des Bürgerkrieges aufwies, ein Staatenkrieg klassischer Prägung also in keinem Falle mehr sein konnte. Hier lag indessen zugleich auch die stärkste Triebkraft der Erkenntnis, daß dieser Krieg im letzten Grunde schon nicht mehr Sache der nationalen Solidarität sein durfte. Von hier aus konnte auch die bisher als unerschütterlich und heilig geglaubte Auffassung abgeworfen werden, daß die oberste Loyalität jedes Bürgers und jedes Soldaten der nationalen Gemeinschaft gehöre. Von hier aus war endlich die Entscheidung jener Menschen zu verstehen, welche die Rettung des Rechtes als einer Idee höher stellten als die Bewahrung der nationalen -oder scheinnationalen -Belange. Für die Angehörigen der östlichen Völker entfiel dieser Entschluß zumeist, da die Idee des Rechts für sie in Einklang mit der patriotischen Sache zu bringen war und insofern ihr Widerstand der seelischen Belastungen entbehrte. Für die Deutschen aber wog angesichts des klaren und augenscheinlichen Widerspruchs des Rechts gegen das nationale Interesse auch der Grenzverteidigung und der Beschützung der eigenen Landsleute ein solcher Entscheid viel schwerer. Hier warf sich die Hauptfrage aller im Osten kämpfenden Deutschen und zahlreicher ihnen verbundener Menschen anderer Nationalität auf, die Frage nämlich, ob denn der Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht einer gleich bösen oder noch schlimmeren imperialen Gesetzlosigkeit -der der Sowjetmacht -die Wege ebnen würde. Diese Entschließung war freilich nur mühsam, verworren und düster zu vollziehen; und so viele Zweifelsfragen es gab, so viele Entscheidungen wurden getroffen. Diese sollen hier nicht gewertet werden. Möglich wird hier allein der Versuch sein, das Empfinden für die rätsel-volle Wahl zwischen nationaler Verpflichtung und humanitärer Bindung, zwischen der Reinheit der Gesinnung und der vollen Erkenntnis der möglichen Verantwortung zu wecken. Es war gewiß ein Stück besonderer Tragik eines so aufgefaßten Widerstandes, daß seine Träger -welcher Nationalität sie auch immer angehören mochten -in dem ausweglosen Dilemma solcher Entscheidungen sich zerrieben.

V Die Entfaltung einer neuen Klassizität des totalitären Krieges, wie sie der zweite Weltkrieg im Osten hervorgebracht hat, wird ihre Bedeutung nicht allein für die Prüfung der geistigen Grundlegung künftiger Nachbarschaft haben müssen, sondern auch für die Frage nach der Praktikabilität jener politischen oder militärischen Vorstellungen, die aus der Zeit vor diesem Kriege überliefert sind. So sollte für das staatlich-politische Gefüge des östlichen Nachkriegseuropa doch die Wahrnehmung berechtigt sein, daß die einstige Funktionsverbindung des außenpolitischen Verhältnisses von Deutschland, Polen und der Sowjetunion nicht mehr zu spielen vermag. Das Absinken Deutschlands zu einer Macht zweiten Ranges trägt dafür in gleicher Weise die Verantwortung wie die Inkorporation Polens in den intersozialistischen Staatenverband. Insofern steht die deutsche Ostpolitik zum ersten-mal in der neueren Geschichte nicht mehr unter der zerstörerischen Scheinnotwendigkeit, entweder mit der Unterstützung Rußlands auf Kosten Polens sich zu arrangieren oder mit Hilfe Polens gegen Rußland vorgehen zu sollen -während umgekehrt die sowjetische Westpolitik, als beata possidens der polnischen Abhängigkeit und auch des polnischen Beistandes sicher, der deutschen Beteiligung an der Lösung der polnischen Frage nicht mehr bedarf. Mithin ist die Weimarer Rapallo-Idee ebenso wesenlos geworden wie die spätere Vorstellung eines gemeinsamen Kreuzzuges gegen den Bolschewismus. Angesichts dieser Tatsachen sollten emotional deutsche Empfindungen wie das Bewußtsein, allzu einseitig mit Unrecht oder Schuld beladen zu sein, oder die Anschauung, es werde über den Kopf der Deutschen hinweg über Deutschland bestimmt, und endlich auch die Forderung nach territorialer und personaler Restauration des alten Nationsbereichs bei aller geglaubten subjektiven Berechtigung nicht soviel Raum gewinnen, daß sie den Blick für die kaum umkehrbare Neugestaltung der Mächteverhältnisse zu verstellen imstande sind.

Im national-politischen Bereich des östlichen Europa hat sich die geschichtliche Veränderung fraglos noch tiefer eingegraben als im rein machtpolitischen. Sicherlich sind die Denkweisen des Nationalstaates und des Nationalen schlechthin nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt, wohl aber infolge eines lange vorbereiteten Umsturzes sämtlicher nationalen Werte pervertiert und ad absurdum geführt worden. Die 1945 kulminierenden, von nationalsoziali-stischer wie von kommunistischer Seite erzwungenen und von westlicher Seite gebilligten Migrationen, welche nahezu überall die irreguläre Form der Vertreibungen annahmen, hatten sich vorgefaßten, scheinbar natürlichen Grenzen anzupassen: der Oder-Neiße-Linie und komplementär zu ihr der Bug-San-Linie. Solche Lösungen ethnischer Streitfragen durch operative Entwirrungen oder auch Zerschneidungen stellten gewiß den letzten und höchsten Triumph des etatistischen und territorialen Denkens dar, das Stalin, wenngleich in formaler Weise, früher schon in der UdSSR bis zur äußerster Verfeinerung hin durchgeführt hatte, während Hitler immerhin anfangs der Faszination einer nach Osten vorgeschobenen Volkstumsgrenze erlegen war. Zugleich sollte diese Völkertrennung wegen der doppelten Auflösung des Gefüges der „Heimat“ -einer topisch-ortsgebundenen und einer sozial-gruppengebundenen -die wohl tiefste und beschämendste Niederlage des älteren personalen und korporativen Denkens hervorbringen, das vordem im östlichen Europa doch erhebliche Tragkraft besessen hatte.

Eben an diesem Punkt wird indessen die Vollendung -und zugleich die Nullifikation -des dialektischen Zirkelschlags in der nationalen Frage sichtbar. Das nationale Denken zog seine innere und äußere Legitimation ursprünglich aus dem Ansprüche, den in ihrer Landschaft verwurzelten ethnischen Gruppen am ehesten ihr Lebensrecht sichern zu können. Indem nun aber die territorial gebundene Nationalidee ihre eigene anfängliche Vorbedingung auslöschte und zunichte machte, zerstörte sie auch ihr selbstgesetzes Recht. Dergestalt verknüpft sich mit dem materiellen und faktischen Endsieg der territorialen Ordnung unauflöslich ihre ideelle mors voluntaria, ihr geistiger Selbstmord. Die praktische Durchführung einer künftigen Umsiedlung oder Vertreibung wird durchaus vollziehbar sein -niemals aber deren Anerkennung als einer dauerhaften, denkerisch möglichen Friedensordnung. Daher bleibt die Frage nach einem neuen geistigen Ansatz bezüglich des Schicksals der Deutschen, Polen und Russen insofern noch offen, als sie wohl nur durch die Kategorien der personalen Korporation beantwortet werden kann. Indessen läßt sich erkennen, daß diese Frage bereits eine sichere Hoffnung in sich birgt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Roos, Dr. phil., o. Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Göttingen, geb. 15. Dezember 1919 in Kün zelsau. Veröffentlichungen u. a.: Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik 1932— 1939, Köln 1955; Beiträge in Osteuropa-Handbuch: Polen, hersg. v. Werner Markert, Köln 1958; Geschichte der polnischen Nation 1916— 1960, Stuttgart 1962.