Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Staatsfeinde -Politische Häftlinge in der Sowjetzone | APuZ 51-52/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 51-52/1963 Staatsfeinde -Politische Häftlinge in der Sowjetzone

Staatsfeinde -Politische Häftlinge in der Sowjetzone

Erika von Hornstein

Vorwort

Abbildung 1

Der Mensch von heute, gleich wo er lebt, wehrt sich gegen die Vorstellung der Unmenschlichkeit. Er will sich weder dessen erinnern, was geschehen ist, noch soll ihm das vorgestellt werden, was täglich um ihn herum an vielen Orten der Welt immer noch an Grauenhaftem geschieht und mit dem Menschen „gemacht"

wird. Die geradezu ungeheuerlichen Greuel, die den Herrschaftsweg der Diktatur kennzeichnen, sind über Menschenmaß hinausgewachsen, und es ist fast schon eine natürliche Folge dieses Umstandes, daß Figuren wie Berija, wie Stalin, Eichmann und Hitler mehr Buchhaltern des Todes, als den finsteren, tyrannischen Gestalten früherer Zeiten gleichen. Das Grauen hat sich bürotechnisch vervollkommnet. Millionenfache Morde lassen sich nicht mehr in einer Klage fassen; sie erstickt in einem maßlosen Unheil, und trotzdem hängt unsere Freiheit und die ganze Ordnung der menschlichen Dinge davon ab, daß wir fähig bleiben, auch das Ungeheure zu sehen und immer wieder als etwas zu empfinden, was einem einzelnen zugefügt wird. Kein Mensch, der in freien Verhältnissen lebt, in rechtsstaatlichen und gesicherten Ordnungen, ist in Wahrheit frei und nur dem Recht unterworfen, solange diese Dinge anhalten, solange wir in uns nicht die Fähigkeit erhalten, in der Organisation gewesener und währender Brutalität eine ständige Provokation unseres Gewissens zu sehen, auf die wir zu antworten haben. Die Heilsverkündungen des 20. Jahrhunderts in der Form des Kommunismus und des Faschismus sind Verkündigungen des Todes für alle, die ihr Gewissen bewahrt haben. Das Gewesene ist ebenso furchtbar wie das Gegenwärtige. In einer so unmittelbaren Nähe, in den Zuchthäusern und Gefängnissen des anderen Teils von Deutschland — den wir die sowjetische Besatzungszone zu nennen übereingekommen sind —, in denen Deutsche zu leben oder zu sterben verurteilt sind, wider Recht und Gesetz, nur weil sie sich der Gewalt nicht unterwerfen wollten, lebt die düstere Vergangenheit, die in Deutschland im Jahre 1933 begann, fort. Die Ausmaße des Terrors und Leides dicht neben uns sind nicht einmal bekannt. Wenn sie bekannt werden, werden sie bagatellisiert. Die Deutschen in der Bundesrepublik beschäftigen sich ungern mit diesen Fragen, es sei denn in einem allgemeinen Mitleidsgefühl in den obligatorischen Feiertagsreden des 17. Juni. In dem anderen, von uns abgetrennten Deutschland, ist die Rechtsidee zerstört. Es gibt kein Recht, das für alle gleich ist, es gibt keine unabhängigen Richter, es gibt keinen unabhängigen Gerichtshof, es gibt nur das gnadenlose Diktat der Partei.

Die politische Strafjustiz der „DDR" verurteit je nach Grad der „Gesellschaftsgefährlichkeit" wirkliche oder auch nur vermutete Gegner des Systems. Weil sie das Verbrechen begehen, anderer Meinung zu sein, andere Vorstellun-gen und Ideale zu haben, deshalb wird mit ihnen abgerechnet. Es sind Menschen, die sich nicht unterwerfen, deren Gewissen nicht eingeschlafen ist, die sich nicht anpassen wollen, die Lüge nicht für Wahrheit nehmen wollen und für ihre eigene Person das tun, was wir alle tun müßten. Es sind nicht immer Menschen, die ein Opfer ihres Mutes werden. Viele von ihnen verlangt es gar nicht nach der gefährlichen Demonstration gegen das Unrecht, viele von ihnen sind auf eine geradezu erbarmungswürdige Weise in die Hand der Teufelsjustiz gefallen.

Die Kommunisten erfinden Täter und Taten, um die Richtigkeit ihrer Thesen vom „westlichen Revanchismus", der „Diversions-und Agententätigkeit", dem „Klerikal-Fasdiismus'und wie die Schlagworte immer lauten, zu beweisen. Es ist aufschlußreich, wer im Arbeiter-und Bauernstaat zu Zuchthausstrafen aus politischen Gründen verurteilt wird: fast zur Hälfte sind es Arbeiter und Bauern. Und in einem Staat, der so Zukunft auf die lautstark seine Jugend baut, bestehen 30 Prozent politischer Häftlinge aus Jugendlichen unter 25 Jahren. Wie bei den Gerichtsverfahren in der Sowjetunion ist es für die Aburteilungen in der „Deutschen Demokratischen Republik" entscheidend, zu welcher Klasse der zu Verurteilende gehört, aus welchem Milieu er kommt, welche Erziehung er genossen und welchen Beruf er ausgeübt hat.

Der Ulbrichtsche Staatssicherheitsdienst, für den ein eigenes Ministerium errichtet wurde — bis Anfang 1950 als K 5 bezeichnet —, besteht aus einem Apparat von 13 000— 14 000 Offizieren, Unteroffizieren und Verwaltungsangestellten und aus 100 000— 150 000 Spitzeln. Er vereinigt in sich die Erfahrungen der russischen Tscheka und der deutschen Gestapo. Er arbeitet nach Methoden, wie sie im Mittelalter gebräuchlich waren und in unserer Zeit in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten, im spanischen Bürgerkrieg und in der OAS in Algerien.

Torturen wie Wasserkarzer, Stehkarzer, Eis-zellen und Heißluitzellen, „Krummschließen" in Hand-und Fußfesseln wurden vor allem in dei Stalin-Ära angewandt, um Menschen zu brechen Man ließ die Gefangenen frieren — erfrieren, ließ sie hungern — verhungern. Thomas Mann appellierte in einem Briet „An den Herrn Stellvertretenden Ministerpräsidenten Walter Ulbricht" für die Freilassung der „unglückseligen, schon zertretenen, seelisch zerbrochenen und blutspuckenden, einem schnellen oder langsameren Tode anheim-gegebenen Menschenreste".

Seit 1945 wurden in Deutschland zwischen Ostsee und Erzgebirge fast eine Viertelmillion Menschen aus politischen Gründen eingekerkert. Bis 1948 starben nach unvollständigen Angaben etwa 90 000.

In dieser Ausgabe wird nur von dreien berichtet Diese drei überlebten ihre Strafzeit, — wurden amnestiert — sie konnten nach ihrer Entlassung in den freien Teil Deutschlands herübergehn und über sich und ihre Leidensgefährten berichten. Sie sind die letzten, die uns berichten können. Die nach dem 13. August 1961, nach der Absperrung Berlins, aus den Strafvollzugsanstalten entlassen werden, können dem großen Gefängnis der Zone nicht mehr entrinnen — es sei denn, die haben das Glück, Bürger West-Berlins oder der Bundesrepublik zu sein.

Bevor ich dieses Buch schrieb, kannte ich keinen dieser ehemaligen Häftlinge, ihre Leidensgeschichte war auch für mich anonym.

Ich habe sie nicht willkürlich für dieses Buch ausgewählt, jeder ist stellvertretend für eine bestimmte politische Gruppe, für die unendlichen und doch wieder leicht überschaubaren Variationen der Proteste des Menschen gegen die Schande, die ihm angetan wird. Ich wollte, daß jeder von ihnen für Plünderte, für Tausende spricht.

Keinem derjenigen, deren Schicksal ich niederschrieb, wurde es leicht, von seinen Kämpfen und Niederlagen, all den Hoffnungen, Irrtümern und Verzweiflungen zu erzählen, denen jeder von ihnen ausgeliefert war. Sie taten es, um den Tausenden, die weiter hinter Ulbrichts Mauern stumm bleiben müssen, eine Stimme zu geben, denen, die stellvertretend für uns, unseren Anteil an Schuld, unseren Anspruch auf Freiheit, ins Zuchthaus gingen.

Sie kennen die Wirklichkeit und sie wissen die Wahrheit, sie erlitten die Wirklichkeit und litten für die Wahrheit. Wird es in der Bundesrepublik Menschen geben, die behaupten, diese Berichte seien Produkte des Kalten Krieges?

Keiner von ihnen kam durch ein Versehen oder einen Zufall in die Mühle der Terror-justiz — denn auch solche „Versehen" gab es zu Tausenden. Sie waren von ihrem „Typ"

her jeder in seiner unterschiedlichen Art geiadezu vorherbestimmt, unter einer Diktatur das Schicksal eines politischen Häftlings zu erleiden: Sie sind der „Tätertyp Feind", der beseitigt werden muß. Es scheint wie eine düstere Paradoxie unserer jüngsten Geschichte, daß immer wieder dieselben Menschen in die Gefängnisse geraten, die von einer Diktatur gegen Feinde der Diktatur errichtet werden, der nationalsozialistischen wie der kommunistischen. In dem Staate selbst werden Gefängnisse und Zuchthäuser, bei uns und in der ganzen zivilisierten Welt zum Schutze der Gesellschaft vor Mördern und Verbrechein bestimmt, zu Schinderstätten derjenigen, die Recht und Ordnung wahren und sich der Mörder und Verbrecher erwehren wollen.

Ich habe zu erkunden versucht, welcher Rechtsgrund zur Verurteilung dieser Menschen führte. Ich konnte keinen finden. Ich habe nur Vorwände gefunden: Vorwände für die Verhaftung, für die Verhöre, Vorwände, um diese Menschen abzuurteilen — zu beseitigen. Jedes Urteil war Willkür, der Urteilstenor eine sinnlose Aneinanderreihung sinnloser Beschuldigungen in dem tödlichen Kauderwelsch der kommunistischen Justizsprache.

Was der einzelne getan oder nicht getan hat, was er gedacht und gewollt hat, war immer jenseits der Anklage des Staatsanwalts. Eva Fischer, die dem BDM angehörte, ist nicht für „Unrechtstaten" bestraft worden — sie hat keine begangen, es sei denn, man nimmt Irrtum für Unrecht —, ihr wurden „Unrechtstaten" unterstellt. Die anderen sind ebenfalls nicht für ihren moralischen und politischen Widerstand verurteilt worden, das Gericht machte aus ihnen „Spione", „Saboteure", „Diversanten". Sie wurden bestraft, weil sie Unrecht unterließen, bestraft, weil sie nicht falsch dachten oder ihr Denken korrigierten. Sie sind gefoltert, verhöhnt und eingekerkert worden für das, was anderwärts unter Menschen für eine Tugend gilt: für Tapferkeit, für Courage, für ihre Vorstellung von einer gerechten Ordnung der Gesellschaft, für ihre Vorstellung von der Freiheit des Menschen.

Jetzt, in der westlichen Freiheit, kann es ihnen passieren, daß sie für „Zuchthäusler" gehalten werden. Hier erst wurde mancher gebrochen, der viele Jahre der Unfreiheit Überstand.

Die Aufzeichnungen werden sich von einem bestimmten Augenblick an alle ähnlich: Sobald der Mensch in die Terrormaschine gerät, scheint seine Individualität zu verschwindei, Vorgänge, Wortwendungen, Reaktionen und Schauplätze sind immer wieder dieselben in einer tausendfachen, ermüdenden Gleichförmigkeit. Der Leser darf nicht vergessen, daß diese Gleichförmigkeit nur Schein ist, daß derjenige, der allen Qualen unterworfen wird, immer ein anderer Mensch ist, daß der einzelne nicht weniger leidet, weil ungezählte andere dasselbe erleiden. Es erleidet auch niemand das gleiche; der unendlichen Kette des Leidens ist der eine mehr und der andere weniger gewachsen. Bei der Arbeit an diesem Buch überkamen midi immer wieder Schrecken, Grauen vor so viel gestohlenem Leben — während unser Leben daneben weitergeht mit unserem selbstverständlichen Anspruch auf Schutz und Sicherheit, unserer Sorglosigkeit, unserer Gleichgültigkeit. Die Rührung, die sich einem kranken Tier gegenüber einstellt, ist einem geschundenen Menschen gegenüber nicht mehr selbstverständlich.

Und doch will ich versuchen, mit diesem Buch Menschen für Menschen zu Mit-Leid aufzurufen, sie zu alarmieren — denn das Ungeheuerliche, das seit achtzehn Jahren dicht neben uns an Menschen geschieht: zu jeder Stunde geschieht es weiter, jetzt, in diesem Augenblick.

Eva Fischer

Am 4. Januar 1962 kam eine zierliche Person allein und zu Fuß über die Oberbaumbrücke, einen der wenigen Übergänge von Ost-nach West-Berlin. Sie trug eine Tasche mit ihren Papieren und den gleichen blauen Mantel wie vor vier Jahren, als fünf Männer des Staatssicherheitsdienstes sie auf dem Stadtbahnhof Stalinallee festnahmen. Eva Fischer kam von ihrer dritten Verhaftung zurück; von ihren 33 Lebensjahren hatte sie elf hinter KZ-und Zuchthausmauern verbracht. Der SSD-Mann, der ihr auf der östlichen Brückenseite den Entlassungsschein aushändigte, hatte darauf zu achten, daß diese Frau „das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik" auch verließ, einen Staat, in dem sie nur sieben Untersuchungsgefängnisse der Staatssicherheit, ein Konzentrationslager, zwei Gefängnisse und fünf Zuchthäuser kennengelernt hatte.

Eva Fischer sah sich nicht mehr um. Sie lief über die Brücke auf den Westberliner Zollbeamten zu, setzte ihre Tasche auf die Erde nieder und sagte nichts als: Gott sei Dank!

Wieso? fragte der Zollbeamte, war's das letzte Mal? Sind Sie Grenzgänger?

Ach nein, es ist das erste Mal, — bitte —. Sie hielt dem Mann in der grünen Uniform ihren Entlassungsschein bin.

Ach sol Es war nicht das erste Mal, daß sie einen Entlassungsschein vorwies. Aber als sie acht Jahre zuvor, am 21. Januar 1954 — immer war es im kalten Januar —• aus dem Zuchthaus Brandenburg freigelassen wurde, existierte noch keine Mauer zwischen Berlin und Berlin.

In Berlin war Eva geboren und groß geworden, schon 1945 wurde die Grenzziehung durch die Stadt ihr Verhängnis. Die Wohnung ihrer Eltern lag draußen am Stadtrand an der großen Heerstraße. Im Juli 1945 schien die Familie Fischer gerettet: Von einem Tag zum anderen gehörte der Straßenteil, in dem sie wohnten, zum britischen Sektor.

Aber die Russen verlangten von den Briten die ganze Straße als Zufahrt zu ihrem Flugplatz Staaken, sie wurde eine Art Niemandsland. Für Eva ein Verhängnis!

Das Haus lag weiß gestrichen in einem Garten hinter hohen Papeln. Die Wohnung war eng für sechs Menschen. Zu Beginn der Hitlerära hatte der Vater als alter SPD-Mann Stellung und Existenz verloren, das harte Leben machte ihn bitter und schweigsam. Keiner sagte dem Kind Eva, was es denken und an was es glauben sollte. Die Eltern ließen ihre jüngste Tochter wie eine wilde Pflanze aufwachsen. Sie spielte noch im Garten, als ihre Schulkameradinnen längst als Jungmädel Hitlers gedrillt wurden.

Laßt mich doch auch in den Jungmädel-Bund eintreten, fing das Kind eines Tages zu drängen an. Alle sagen, es mache solchen Spaß; bitte, erlaubt es!

Die Eltern fühlten sich hilflos. Was sollen wir machen, dann geh schon.

Eva war begeistert. In der Schule war sie Klassensprecherin; daß sie bald zur Jungmädelführerin gemacht wurde, wunderte niemand. Als der Krieg ausbrach, lernte die Zehnjährige in der Schule und bei den Jungmädeln, daß es ein großer und gerechter Krieg wäre. Mit vierzehn Jahren konnte sie sich zum Katastropheneinsatz melden — endlich —, sie wurde „Einsatzleiterin".

Wenn nachts die Sirenen aufheulten, stand Eva auf, zog ihre Jungmädeluniform über und rannte mit ihrer Gruppe zu den „Einsatzpunkten". 1943 — der Krieg kam jetzt furchtbar über Berlin — in den Nächten brannte der Himmel. Die Kinder schippten in zusammenstürzenden Häusern, retteten, löschten die Feuer, so gut sie vermochten. Dicht neben Eva wurden andere Kinder verschüttet und getötet.

Eva aber kam immer wieder heil aus diesen Nächten heraus, ihre Mutter begann beinah, an die Unverletzlichkeit dieses Kindes zu glauben. Eva fühlte sich geradezu in Hoch-stimmung — die Vierzehnjährige verteidigte ihr Vaterland!

Als die Schule der Fliegerangriffe wegen nach Posen verlegt wurde, erschien das Mädchen einige Tage später bereits wieder in Berlin. Ich bin ausgerissen, erklärte sie den erschrokkenen Eltern. Ich ohne Berlin und Berlin ohne mich, das geht doch nicht, das müßt ihr doch einsehen.

Die Fünfzehnjährige war unbeirrbar. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, bei der Lufthansa in Staaken zu arbeiten, und es gelang ihr, dort im Chemielabor als „Jungwerkerin" eingestellt zu werden. Sie wurde auch noch in die Flieger-HJ ausgenommen — als sollte nichts das Verhängnis aufhalten, keine Warnung, kein Verbot eines Erwachsenen!

Eva fand, das Leben war aufregend und großartig. Das Vaterland brauchte sie! Wieder stand sie bei den Angriffen auf dem Gelände des Fliegerhorstes im Einsatz zusammen mit ihren HJ-Kameraden und mit den Fremdarbeitern. Sie beobachtete, wie die Funktionäre sich in den sicheren Bunkern verkrochen. Sie hielt darüber nicht den Mund, sie empörte sich laut: Die Fremdarbeiter schuften im Einsatz wie wir, und nach der Entwarnung, wenn die Gefahr vorbei ist, sollen sie wieder Menschen zweiter Klasse sein. Dann sollen wir nicht mehr mit ihnen reden, nein, das kann ich nicht verstehen!

Sie erhielt eine Parteiverwarnung: Du als Jungmädelführerin hast auch in der Gesinnung Pflichtbewußtsein zu zeigen!

Ja eben, sagte Eva, gerade als Jungmädelführerin empört mich so was Unrechtes.

Als der Krieg seinem Ende zuging, war Eva Fischer als Rote-Kreuz-Hilfsschwester verpflichtet. Sie schlief, wenn sie überhaupt in diesen letzten Kriegsnächten zum Schlafen kam, immer noch zu Haus bei den Eltern. Evas Mutter lag krank im Luftschutzkeller, und ihr Vater war ein schwerleidender Mann, sein Herzasthma ließ ihn kaum noch leben.

Das Mädchen lief auch am 27. April mittags heim, um nach den Eltern zu sehen. Qualm und Rauch verdunkelten den Tag über den Trümmern. Alle Bewohner des Hauses hatten sich in den Keller verkrochen, die Mauern bebten unter Artilleriebeschuß. Eva versuchte, in der Küche etwas Eßbares zusammenzu-suchen, Sie war so beschäftigt damit, daß die Stille, die sich draußen ausbreitete, gar nicht in ihr Bewußtsein drang, bis Gewehrkolben gegen die Haustür schlugen. Sie dachte: Sicherlich wieder deutsche Soldaten, die sich verstecken wollen.

Sie öffnete: Russen!

Eva hatte während der Straßenkämpfe in den letzten Tagen schon diese graugrünen Gestalten irgendwo in der Ferne auftauchen und wieder verschwinden sehen. Jetzt in der Haustür drängten sie schwerfällig und geschmeidig zugleich das Mädchen beiseite, liefen durch alle Stockwerke und plünderten.

Schlimmeres geschah noch nicht. Am Abend erst betrat ein Soldat das Haus mit einer Liste in der Hand: Fischer, Eva? MitkommenI Auf dem Flugplatz Staaken war in einer der Baracken eine Komendatura errichtet worden. Hier, in einem kahlen Raum, verhörte ein Russe das Mädchen — sie wußte nicht, war es ein Offizier oder ein Soldat —, dann ein anderer Russe, dann wieder ein anderer. Und immer wieder wurde sie vergewaltigt. Jedem sollte sie bei den Verhören die gleichen Fragen beantworten: Wie Namen vön HJ-Kameraden? Außerdem wollten sie von ihr die Stärke der deutschen Einheiten wissen, die in Staaken gelegen hatten.

Aber ich weiß es nicht, ich bin doch nicht der Fliegerhorst-Kommandant!

Eine Ohrfeige für diese Antwort, so hart, daß Eva hinstürzte.

Zwei Tage später hatten deutsche Truppen für kurze Zeit den Flugplatz wieder freigekämpft. Das Mädchen lief durch Beschuß und Brände in ihre Straße zurück. Das Elternhaus stand noch, aber dort zu bleiben, wagte Eva jetzt nicht mehr; sie versteckte sich in einem Lazarett.

Sechzehn Jahre ist Eva Fischer alt. Sie kann nicht zurückdenken, was ihr geschah. Sie läuft herum mit einem weißen Schwesternkittel über ihrer blauen Jungmädeluniform, hebt die Verwundeten vom Straßenpflaster auf, schleppt sie x in Keller, die als Notlazarette eingerichtet sind, rennt nach Hause zu den Eltern, rennt zurück zu den Verwundeten, findet nirgends Ruhe. Und dann wird Eva krank. Als sowjetische Offiziere in der Wohnung erschienen, um Eva Fischer zu verhaften, lag sie fiebernd in ihrem Bett. Das war keine Krankheit, das war ein Zusammenbruch!

Du mitkommen!

Eva solle sich anziehen und mitkommen, die ganze HJ-Führerschaft wäre schon abgeholt. Sie würden alle nach Moskau geschickt zur Umschulung und später eingesetzt zum Aufbau der antifaschistischen Jugendbewegung.

Ist es in Rußland Mode, fragte das Mädchen zurück, daß man von einer gestürzten Partei in die andere springt?

Der Offizier brüllte sie an: Sonst man sagt gute Besserung, aber du krepieren, dann ein Nazischwein weniger, und verließ mit seinen Genossen das Zimmer.

Wenn einer der Familie Fischer von nun ab die grünen Mützen des NKWD auf der Straße auftauchen sah, verschwand Eva jedesmal durch die Hintertür und hielt sich eine Weile irgendwo verborgen.

Am 1. Juli besetzten die Briten den Teil der Heerstraße, der zu ihrem Sektor gehörte, und überließen ihn kurz darauf wieder den Sowjets zur Benutzung. Damit wohnte die Familie Fischer in einer Art Niemandsland. Eva war im sowjetischen Besatzungsgebiet auf dem . Gelände des ehemaligen Fliegerhorstes zum Jugendnotdienst verpflichtet. Sie schippte Schutt und Trümmer beiseite und versuchte in der vergifteten Erde wieder etwas anzupflanzen, Kohl und Kartoffeln.

Die neue Zeit sollte beginnen. Der Antifa-Ausschuß hatte sich gebildet, und dort redeten sie dem Mädchen zu: Komm, Eva, bau die antifaschistische Jugendbewegung mit auf.

Zu Hause sagte Eva zu ihrer Mutter: Ich versteh'das nicht, an meiner ehemaligen BDM-Zugehörigkeit scheinen die sich überhaupt nicht zu stoßen! Aber ich habe ein schlechtes Gewissen meinen Kameraden gegenüber. Wenn die eines Tages aus der Haft zurückkommen und fragen: Wo bist du geblieben, Eva, hast immer einen großen Mund gehabt und dann, als es aus war mit der Herrlichkeit, hast du dich hinter’n Ofen gesetzt.

Ihren „großen Mund" riskierte Eva auch jetzt in den Versammlungen des Antifa beim „freien Meinungsaustausch im Namen der Demokratie". Sie war überzeugt, daß die Bemühungen um Demokratie echt und ehrlich wären, und sie wollte ihren Teil an der deutschen Schuld abtragen: Denn was sie jetzt erfuhr von Konzentrationslagern, von Juden-vernichtungen während der Nazizeit, war entsetzlich! Eva Fischer sprach in den Diskussionen so aufrichtig und heftig gegen Zwang und Lüge, gegen die Diktatur, daß sie dem Antifa-Ausschuß ärgerlich wurde.

Am 3. August 1946 nahm deutsche Polizei das Mädchen auf dem Antifagelände nach einem Sporttreffen fest und übergab es den Russen. Eva war siebzehn Jahre, als sie in die Maschinerie des NKWD geriet.

Im NKWD-Keller von Nauen sagte sich das Mädchen: Es ist gut so. Jetzt können die Kameraden wenigstens nicht später einmal sagen, ich hätte mich gedrückt!

Eva Fischer wurde weitertransportiert nach Potsdam in das berüchtigte NKWD-Gefängnis, dessen Vernehmungsoffiziere hier zur „Bewährung" eingesetzt waren. Ein NKWD-Mann brüllte Eva gleich beim ersten Verhör entgegen: Faschist, ja?

Also Faschist bin ich, dachte das Mädchen voller Trotz, ganz recht! Von allen Erwachsenen ist es heute anscheinend keiner gewesen. Aber die Russen sollen nicht denken, daß alle Deutschen solche Feiglinge sind.

Ja, antwortete sie, ja, ich bin ein Nazi!

Ja —? schrie der NKWD-Mann verblüfft, holte aus und schlug Eva mit aller Kraft ins Gesicht, daß sie hinstürzte.

Schon einmal war sie so geschlagen worden bei einer ihrer ersten Vernehmungen.

Die deutsche Polizei hatte Eva unter dem Vorwand verhaftet, sie sei an Sabotage-Aktionen der Bevölkerung gegen ein neu errichtetes sowjetisches Kriegerdenkmal beteiligt gewesen. Bei den NKWD-Verhören aber ging es um ganz etwas anderes: Sie sollte Namen von HJ-Führern nennen. Die NKWD benutzte ihre bewährte Methoden: Scheinwerferlampen, Schläge, drohendes Schweigen. Aber Eva war zäh und trotzig, sie gab keinen Namen preis. Der NKWD-Mann brummte einmal anerkennend vor sich hin: Nu Faschiist, aber choroscho.

Faschist! brüllte ein Wachtposten vom Erdgeschoß herauf, es hallte durch alle Stockwerke des Gefängnisses. Daraufhin schloß der Wachtposten des oberen Ganges die Zelle auf und rief herein: Faschist, dawai, Verhör! • Eines Tages sagte er mit gewichtiger Miene: Nu, Faschist, Tribunal!

Eva wußte, was das bedeutete — Tribunal; der Offizier hatte es ihr bei den letzten Vernehmungen brutal angekündigt: Todesurteil oder zehn Jahre.

Im Potsdamer Gefängnis lag Eva mit einer Russin in der Zelle, Ljudmilla, einer ehemaligen Ostarbeiterin; weil sie nicht in die Sowjetunion zurückkehren wollte, war sie des Vaterlandsverrates angeklagt. Ljudmilla konnte Eva über die russischen Gesetzes-paragraphen und Strafen aufklären. Beide Mädchen waren überzeugt: für Eva gäbe es nur das Todesurteil.

Die Todeszelle lag auf demselben Gang. Nachts drangen manchmal Geräusche durch, wenn einer aus dieser Zelle geholt wurde.

Eva hatte in ihrer Zelle Zeit gehabt, sich auszumalen, wie es sein würde zu sterben. Binde vor die Augen, also das gibt's nicht, sagte sie zu Ljudmilla. Ich will keine Binde, ich will mich vor dem Tod nicht fürchten. Glaubst du, daß es so etwas wie Gott und Weiterleben gibt? Ich bin konfirmiert, aber ich weiß nicht, an was ich glauben soll. Die Welt ist so schlecht. Seit ich diese ganze Schlechtigkeit jetzt erfahren habe, finde ich, das Leben lohnt sich nicht mehr. — — — Im Gerichtssaal saßen ein Offizier und zwei Soldaten hinter einem langen, mit rotem Tuch bedeckten Tisch. Von der Anklageschrift, die der Dolmetscher übersetzte, verstand Eva Fischer nur soviel, daß sie antisowjetische Propaganda getrieben habe und der faschistischen Verseuchung anheimgefallen sei. Dann fragte der Offizier: Haben Sie einen letzten Wunsch?

Sie hatte keinen. Sie mußte den Gerichtssaal verlassen und dachte: Letzter Wunsch —? Todesurteil also!

Eine Viertelstunde später wurde sie zurückgerufen, hatte wieder vor dem rotverhängten Richtertisch zu stehen. Der Offizier verkündete auf Russisch das Urteil, der Dolmetscher übersetzte:

10 Jahre Wieder verstand die Verurteilte aus der Anklageschrift nur etwas von „antisowjetischer Propaganda" und „faschistischer Verseuchung". Wann hätte sie antisowjetische Propaganda treiben sollen? Der Faschismus, ja, an den hatte sie geglaubt, ein Kind, von niemandem gewarnt oder aufgeklärt. Hatte sie für den schuldlosen Irrtum eines Kindes jetzt mit zehn Jahren Haft zu büßen?

Als Eva Fischer wieder auf den Gang herausgeführt wurde, fragten die Wachtposten aufgeregt: Nu, Faschist, skolko let, wieviel Jahr?

Zehn Jahre, rief Eva, zehn Jahre habe ich. — Sie strahlte, sie durfte leben! Zehn. Jahre? Nu, nicht viel, drei Jahre sitzen, dann nach Haus.

Eva kam in die Zelle für Verurteilte, zwei Frauen saßen schon darin, und Eva meldete mit heiterer Miene: Zehn Jahre Arbeitslager! Die beiden Frauen regten sich auf: Um Gottes willen, zehn Jahre, und da lacht das Kind noch. In den folgenden Tagen kamen immer mehr verurteilte Frauen in die Zelle. Sie blieben acht Wochen lang zusammengepfercht, dann kamen sie auf Transport. Am ersten Weihnachtstag rief der Wachtposten die Namen auf, unter ihnen Eva Fischer, aber Eva Fischer meldete sich nicht. Sie lag seit Tagen im Wasserkarzer.

Der Wasserkarzer: eine Doppelzelle, durch ein Gitter unterteilt, darin nur der Rahmen eines Bettgestells stand. Auf der harten Kante hockte der Sträfling mit angezogenen Füßen, oder er setzte die Beine bis zu den Knöcheln oder bis zu den Knien in das Wasser. Der Wasserstand wechselte.

Eva Fischer bekam Wasserkarzer, weil sie ein Gedicht verfaßt und auf ein Stückchen Papier gekritzelt hatte. Dafür saß sie Tag und Nacht bei geöffnetem Fenster in der Strafzelle, nur mit einem Hemd bekleidet — es war Dezember. Zum Transport wurde sie herausgeholt und erst einmal in der Wach-stube nahe an die Heizung gelegt zum „Auftauen".

Hitlers SD hatte das Konzentrationslager Sachsenhausen durch Stacheldraht von der Außenwelt abgesichert. Die Mauern um das KZ waren auf Befehl des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes neu erbaut worden.

Eva Fischer kam in die zweite Zone. Im Laufe der Zeit füllte sich die Baracke mit 150 Frauen. Der Raum war in Kammern unterteilt, jede für 10 Häftlinge, für jeden Häftling auf den Lattenpritschen 42 cm Breite. Keine Matratzen, kein Strohsack, die abgemagerten Körper drückten sich auf den harten Rosten. Eva litt unter den schmerzenden Druckstellen, besonders auf den Hüften, sie begannen zu eitern und bedeckten sich später mit Schorf. Mit ihrer Nachbarin teilte Eva einen Fetzen Decke, unter den Kopf kamen ihre zusammengerollten Kleider. Die Häftlinge konnten in der abgeschlossenen Baracke von einer Kammer in die andere gehen, graue Gespenster im Dämmerlicht — die Fenster waren mit schwarzer Ölfarbe zugestrichen, elektrische Birnen gab es nicht. Zum Morgen-und Abend-appell und noch einmal für zwanzig Minuten am Tag wurden sie an die Luft hinausgelassen.

Zur Essensausgabe schlossen die Posten die Baracke auf, stellten den Kübel draußen auf der Lagerstraße nieder, und die Frauen schleppten ihn herein.

Sauerkrautsuppe — Sauerkrautsuppe —, mal dicker, mal wieder dünner, in den ersten Wochen auch manchmal Graupen oder Tataren-hirse in Wasser gekocht, das Kommißbrot im zugemessenen Grammgewicht wog schwer vom Wasser. Abends gab es Tee.

Im NKWD-Gefängnis in Potsdam hatte Eva sich ab und zu von einem Wachtposten seinen Kamm ausleihen können. In Sachsenhausen wurde der Kampf um Hygiene hoffnungslos. Bei den Appellen standen sie in Reih und Glied, ungekämmt, grau und verwahrlost.

Und nachts die Wanzen! Es war nicht auszuhalten auf den Pritschen! Manche Frauen legten sich auf den Boden des Mittelganges, hier war es modrig, hierhin krabbelten die Wanzen nicht, aber der begehrte Raum auf dem Boden war begrenzt. Und so wanderte ein Teil der Frauen in den kleinen Seiten-gängen vor den Pritschen auf und ab, und die Wanzen fielen ihnen von der Baracken-decke auf den Nacken.

Eva fürchtete, verrückt zu werden. Das war nicht zu überleben — 10 Jahre lang! Sie hockte in ihrer verdrückten und verdreckten BDM-Uniform auf der Pritsche. Sie hatte die weiße Bluse und den blauen Rock getragen, als sie verhaftet wurde. Der Stoff war wenigstens haltbar. Sie hockte auf der Pritsche und versuchte manchmal zu singen, aber die Simme kam mühsam aus der Brust, stickig und faulig war die Luft in der Baracke, sie tief einzuatmen machte übel, aber die Kameradinnen baten: Sing doch, Eva.

Und dann sang Eva, und hier und dort in den Kammern erhoben sich andere Stimmen. Im zweiten Winter brach im Lager eine Ruhrepidemie aus. Auch Eva erkrankte; eine Nierenbeckenentzündung kam hinzu. Sie glühte im Fieber; der Russe, der das Mädchen zum Krankenrevier zu bringen hatte, ging mit ihr über den Platz, alle paar Schritte mußte Eva Stehenbleiben, die Schneefläche schwankte unter ihr, sie stürzte. Sie fühlte, wie der Wachtposten sie hochzog, in den Armen hielt, schüttelte, mit rauher Stimme auf sie einschrie: Nu, Faschist, nix sterben, versteh?, nix sterben!

Nix sterben, hallt es in ihr nach, nix sterben, sie wurde ohnmächtig. Der Russe nahm das Mädchen auf seine Arme und trug es ins Krankenrevier, es wog nur noch 44 Kilo. Die Krankenkost: rohe Kartoffeln in Wasser hineingerieben ohne Fett und Salz und dazu getrocknetes Brot. Als Medikament ein einziges Mal etwas Kohle.

Trotzdem stand Eva ein Vierteljahr später wieder zwischen den anderen Häftlingen auf dem Appellplatz. Es war der gleiche Russe, der jetzt rief: Zusammentreten, Zusammentreten I Da erblickte er in der Reihe das Mädchen, die großen Augen in dem schmalen Gesicht auf ihn gerichtet, und er schrie erfreut hinüber: Ux, Faschist, zäh wie Katze!

Die Frauen lagen jetzt nur noch auf ihren Pritschen, von Hunger ausgehöhlt. Sie lagen in ihren lichtlosen Verschlägen und starben — starben — Vom Sommer 1948 an wurden die Baracken tagsüber aufgeschlossen. Die Gefangenen konnten auf den Hof gehen und sich in die Sonne setzen, wenn es Sonne gab. Die fahlen, ausgemergelten Menschen hockten auf dem Erdboden vor den Baracken, viele holten sich einen Sonnenstich.

Für die Pritschen hatte es im Februar Strohsäcke gegeben. Im Februar war auch die schwarze Ölfarbe von den Fensterscheiben heruntergekratzt worden; jetzt erblickten Evas Augen, in welcher Elendswelt sie seit zwei Jahren dahinvegetierte. Es schauderte sie! Von dem Tag an, da die Häftlinge an die Luft gelassen wurden, war es, als habe das Schlimmste sich von ihnen gewendet, als gäbe es in äußerster Ferne einen Lichtschein der Hoffnung. Jahrelang die tägliche Sauerkraut-suppe hatte zwar Skorbut verhindert, aber die Folgen der Unterernährung nicht aufhalten können: Hungerödeme, Kreislaufschwächen. Von 1948 ab wurden die Schläge aus dem Essenskübel reichlicher, und in die Sauerkraut-suppe kamen roh hineingeriebene Kartoffeln. Eva stand als Torwache an der frischen Luft von früh bis zum Abend und bekam außerdem Nachschlag. Sie war jung, sie erholte sich bereits, die Luft bräunte ihre helle Haut. Man sah ihr kaum mehr an, daß sie zwei Jahre KZ-FIaft hinter sich hatte. Die einzige Beschäftigung, die sich die Frauen verschaffen konnten, waren Handarbeiten. Evas erste Nadel hatte ein Häftling aus einem Menschen-knochen geschnitzt; einem Menschenknochen aus der Hitlerzeit, hieß es, er hätte sich hinter dem Krematorium gefunden. Auch Stricknadeln ließen sich aus Menschenknochen schnitzen. Tausende gefangener Männer lagen in Baracken, die an die Unterkünfte der Frauen grenzten. Es gab immer Möglichkeiten, etwas über die Zäune hin und her zu schmuggeln.

Evas Finger zogen geduldig Faden um Faden aus einem Männerschlips, den sie gegen Brot eingetauscht hatte; Brot war die Währung. Auf ein ausgetrenntes Mantelfutter, das sie sich gemeinsam mit einer Kameradin erworben hatte — für einen allein wäre die Ration an Brot nicht aufzubringen gewesen —, stickte sie mit bunten Fädchen Blumenmuster und kleine Vögel. Diese mühevolle Handarbeit — manchmal saß eine Gefangene ein Jahr lang über einer Stickerei — war die einzige Abwehr gegen Lethargie.

Auf der anderen Seite des Drahtzaunes bei den Männern entstanden nicht weniger kunstvolle Handarbeiten. Da wurden ganze Wand-teppiche gestickt, buntfarbige Bilder, jeder Stich eine Notwehr gegen letzte Verzweiflung. 1948 kamen die Frauen in die Vorzone zur Arbeit. Die beiden ersten Jahre, die sie nur dahinvegetierten, waren selbst für jemand wie Eva — optimistisch und heiter von Natur — kaum zu überleben gewesen. Die geringen Erleichterungen bedeuteten schon etwas wie Glück: das Offnen der Barackentür, rohe Kartoffeln in der Sauerkrautsuppe. — Aber der Einsatz zur Arbeit war für die Häftlinge eine Wende. Eva meldete sich als Ankerwicklerin in die Radioabteilung.

Das hatten wir noch gar nicht, ein Mädchen als Radiotechnikerin, sagte der Meister der Werkstatt.

Ich habe keine Ahnung von Radios oder Ankerwickeln, lachte Eva, ich habe mich bloß dafür gemeldet, weil ich keine Lust hatte zum Kartoffelschälen, ich wollte aus dem Bataillon raus.

Die Männer lernten das Mädchen an, damit es bei ihnen in der Werkstatt bliebe. Es wurde viel gelacht. In der Werkstatt hatten sie alle das Gefühl, mit der Welt wieder in Verbindung zu sein, weil sie aus der Welt Nachrichten empfingen. Die kontrollierenden Russen konnten nicht verhindern, daß die Radios von den Gefangenen, die sie bauten, auch zum Nachrichtenempfang benutzt wurden. Einer der russischen Bewacher hatte es auf das hübsche und heitere Mädchen abgesehen. Scher dich weg, schrie sie ihn an, meine Jungens schlagen, das kannst du, und bei mir willst du Liebkind spielen, da hast du dich aber geirrt! Aus Rache zeigte er Eva Fischer beim Politoffizier an: Häftling Fischer höre und verbreite feindliche Nachrichten im Lager!

Der Politoffizier entfernte die Fischer sofort aus den Radiowerkstätten, aber sie machte einen guten Tausch: sie kam zur Theater-gruppe. Diese Gruppe war 1946 von dem KZ-Insassen Heinrich George in Sachsenhausen gegründet worden. Die geschwächten und ausgehungerten Menschen spielten leidenschaftlich Theater. Sie nähten sich Kostüme aus Zuckersäcken, pinselten sie mit allen möglichen Farben an und probten hingebungsvoll. Unter Leitung eines Häftling — ehemals bulgarischer Ballettmeister — hatte Eva jeden Morgen Ballett-Exerzitien. Sie fühlte jetzt wieder das Leben, es regte sich in ihren Gliedern. Unter den abgemagerten Gesichtern in den Zuschauerreihen sah sie immer nur ein einziges Gesicht. Das Mädchen, zwanzig Jahre alt, hatte sich zum ersten-mal in einen Mann verliebt, einen der namenlosen Gefangenen von der anderen Seite des Drahtzaunes. Sie konnte nicht mit ihm sprechen, konnte ihn nicht treffen — sie konnte ihn nur von fern betrachten — ein Zettel, den man sich unter Gefahr zusteckte, ein geflüstertes Wort im Vorbeigehen. Dann war das übermächtige Glück schon zu Ende:

Der Politoffizier hatte entdeckt, daß diese Fischer, die er doch gerade erst aus der Radioabteilung hinausgeworten hatte, jetzt in der Theatergruppe saß, dem begehrtesten Posten im ganzen Lager. Er warf sie auch da heraus. Also saß Eva wieder tatenlos vor der Baracke. Aber sie war verwandelt, erlöst aus der Starre, die sie zwei Jahre lang wie ein Panzer eingeschlossen hatte. Sie liebte.

Zwei Jahre lang in der Dämmerung der Baracken hatten die Frauen in einer Art von Betäubung verbracht. Ihre Gedanken, ihre Wünsche und Sehnsüchte nach draußen starben langsam ab, blieben innerhalb der Mauern. Mit den ersten Nachrichten von draußen, den ersten Briefen, die 1948 erlaubt wurden, riß das Bewußtsein schmerzvoll wieder aut. Eva erhielt aut ihre zwölf Zeilen einen Brief der Mutter: Mit den vertrauten Schriftzügen war das angestrengte Gesicht der alten Frau, war ihre Stimme wieder da, war der Garten hinter dem Haus da, der Vater — die Mutter schrieb, der Vater sei zwei Monate zuvor gestorben in der Gewißheit, daß seine jüngste Tochter Eva nicht mehr lebte.

Sie lebte. Mühsam und schmerzvoll lebte sie weiter nach diesem ersten Brief der Mutter.

Im Konzentrationslager Sachsenhausen erschienen im Januar 1950 Offiziere der Volkspolizei. Es hieß, die Sowjets würden sämtliche SMT-Verurteilten den deutschen Justizbehörden übergeben.

Eine Welle der Hoffnung ging über das Lager hin. Jetzt mit den Deutschen mußte die Freiheit kommen, die Erlösung!

Die Häftlinge waren nur unvollkommen über die Zustände draußen in der Welt informiert. Sie lachten den sowjetischen Wachtposten aus, der zu ihnen sagte: Wartet nur, ihr werdet weinen, wenn ihr zu euren deutschen Brüdern kommt!

Die Frauen begriffen nicht. Als sie am Lager-tor VP und Offiziere stehen sahen, freie deutsche Menschen, die ersten, die sie seit Jahren erblickten, liefen sie jubelnd auf sie zu.

Eva war auf halbem Weg stehen geblieben, denn was sie sah, war unfaßlich: Die VP-Offiziere spuckten aus, spuckten vor den Frauen aus.

Die VP-Offiziere wollten den sowjetischen, die dabeistanden, deutlich zeigen, daß sie mit diesen Deutschen in Häftlingskluft nichts gemein hatten.

Eva fühlte, wie ihr der Hoß hochstieg.

Die deutschen VP-Offiziere übernahmen vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst die Akten von 10 513 SMT-Verurteilten aus Strafvollzugsanstalten und Konzentrationslagern der Zone.

„Der hohe Kommissar der UdSSR in Deutschland, G. M. Puschkin, teilt der Regierung der DDR mit, daß die entsprechenden sowjetischen Organe den Beschluß faßten, alle Bürger, die zu verschiedener Zeit für Verbrechen gegen die sowjetische Streitmacht verurteilt wurden und auf dem Territorium der DDR ihre Strafe verbüßten, den Behörden der Deutschen Demokratischen Republik zu übergeben."

Im Konzentrationslager Sachsenhausen waren ein Offizier und ein Soldat des MGB bei der Übergabe der Häftlinge zugegen. Ein VP-Offizier übernahm jeden Häftling und dazu einen Bogen aus der Akte des Verurteilten; den Auszug des Urteils, die eigentliche Akte mit den Protokollen und der Niederschrift des Urteils übergab der MGB-Offizier einem Soldaten, der sie sogleich in einen Sack steckte. Die Säcke wurden anschließend von MGB-Leuten auf Lastwagen forgeschafft, unbekannt wohin.

Die SMT-Verurteilten kamen zum Abtransport in verplombte Viehwaggons. Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde aufgelöst.

Die Anstaltsleitung des Zuchthauses Burg Hoheneck bei Stollberg (Erzgebirge) erwartete 120 Frauen. Irgendeiner hatte anscheinend eine . Null übersehen, es kamen 1200, unter ihnen die SMT-Verurteilte Eva Fischer. Auf den Boden der Zuchthaussäle wurde Stroh geschüttet, aber das war nicht das Schlimmste —.

Das Schlimmste für Eva war der Empfang durch das Wachpersonal, die Bosheit und Feindseligkeit, die ihnen entgegenschlug! Wie Raubtiere wurden die Gefangenen von den Wachtmeisterinnen durch die Gitter betrachtet. Haßerfüllt schrien sie: Hach, wer hat unsere Väter umgebracht, wer ist schuld an den Nazimorden?! Aber nach einigen Tagen stellte sich heraus, daß unter den Wachtmeisterinnen junge Frauen waren, eben erst aus Fabriken verpflichtet, die fassungslos der Aufgabe gegenüberstanden, andere Frauen zu bewachen und zu kommandieren. Sie verhielten sich den Gefangenen gegenüber, als seien sie alle gleich: Gefangene und Gefangenenwärter, alle gezwungen unter den gleichen Befehl. Daß sie tatsächlich unter der gleichen Befehlsgewalt standen, sollten sie bald merken.

Eva sprach mit einer Wachtmeisterin, die bei der FDJ war: Warum läßt man uns nicht mittun, uns Jugendliche aus der ehemaligen FU, beim Aufbau des neuen Staates, warum stößt man uns aus der Gesellschaft aus, wir stehen da, wir wissen nicht, wohin.

Sie verfaßte einen Brief ähnlichen Inhalts und adressierte ihn an den Weltjugendbund zu Händen der FDJ. Die Wachtmeisterin beförderte das Schreiben.

Bis zum Weltjugendbund gelangte dieser Brief nie, aber er tat seine Wirkung bei der FDJ-Zentrale in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Die FDJ-Funktionäre beschlossen, daß die Zentrale über diese Jugendlichen im Zuchthaus Hoheneck die Patenschaft übernehmen sollte. Sie schickten den Gefangenen Bücher, und mit den Wachtmeisterinnen wurden Diskussionen veranstaltet, auch „Bunte Abende". Die Frauen sangen zusammen, es wurde sogar gelacht.

Doch jetzt bekamen Wachtmeisterinnen und Gefangene die Befehlsgewalt zu spüren: Die Anstaltsleiterin ließ überall im Zuchthaus Anschläge anbringen: Ab sofort ist jedes private Wort zwischen Wachtmeisterinnen und Häftlingen verboten. Das Wachpersonal sollte bedenken, daß es mit verbrecherischen Subjekten und asozialen Elementen zu tun hätte. Bleib doch! Wenn ihr weg seid, dann sind wir diesen Biestern ausgeliefert, baten die Gefangenen flehentlich manche Wachtmeisterin, die jetzt gehen wollte. Ein Teil der Wachtmeisterinnen verließ das Zuchthaus, aber andere blieben aus Anstand und Mitgefühl. Die politischen Häftlinge hielten zusammen, vor allem gegen die Kriminellen. Wenn sie bei Außenarbeiten eingesetzt waren, beim Bau eines Kulturhauses oder in den Gärtnereien, spürten sie die Sympathie der Bevölkerung. Sie hörten, wie der und jener zu einer Wachtmeisterin sagte: Was haltet ihr die Mädels da oben auf der Burg fest? Daß ihr sie ja anständig behandelt! Als die Zuchthausleitung von solchen Äußerungen erfuhr, wurden nur noch kriminelle Häftlinge für Außenarbeiten eingesetzt.

Die Strafgefangenen durften jetzt endlich die ersten Besuche bekommen. Evas Mutter reiste von Berlin ins Erzgebirge, um nach vier Jahren ihre Tochter wiederzusehen. Sie fuhr nach dem kurzen Besuch wieder fort im tröstlichen Bewußtsein: Eva war kräftig, sie schien ausgeglichen, sie würde die lange Strafzeit durchhalten. Eva jedoch blieb nach dem Wiedersehen verzweifelt zurück. Sie begriff selbst nicht, wieso der Besuch ihrer Mutter eine so tiefe Niedergeschlagenheit auslöste. Die Kräfte, die das Mädchen mühsam wieder angesammelt hatte in den letzten zwei KZ-Jahren, verlor sie wieder — sie verlor 40 Pfund an Gewicht. Es blieb der einzige Besuch der Mutter in Hoheneck, denn kurze Zeit später wurden Besuche von Westberlinern in den mitteldeutschen Strafanstalten verboten. Und Evas Mutter wohnte ja immer noch auf der Seite der Straße, die zum britischen Sektor gehörte.

Eva schlief in einem der großen Schlafsäle für dreihundert Frauen mit zweistöckigen Bettgestellen. Von der Anstaltsleitung wurde sogar Bettwäsche ausgegeben, aber weder Eßbestecke noch Geschirr standen für die Häftlinge zur Verfügung. Das Zuchthaus besaß keine Kanalisation, die Gefangenen behalfen sich weiter mit Kübeln. Eva arbeitete in der Schneiderei für einen Lohn von 25 Pfennig pro Tag; zu fünf saßen sie in einem Raum und schneiderten dunkelblaue Maßuniformen für ihre Bewacher. Außerdem nähten sie aus Ballen von grauem Drillichzeug Anstalts-kleidung für sich selbst, für 1200 Häftlinge: Eine lose Jacke mit einem breiten grünen Streifen über dem Rücken und auf den Ärmeln, dazu lange Hosen, ebenfalls mit dem grünen Streifen besetzt.

Tagsüber hinter der Nähmaschine und nachts auf ihrem Bettgestell, immer dachte Eva an das Gesicht des Mannes in Sachsenhausen. Wohin war es entschwunden? Wohin war dieser Mann nach der Auflösung des Konzentrationslagers gekommen? Zurück in die Freiheit?

Eva arbeitete gern in der Schneiderei; sie konnten untereinander schwatzen und sogar mit den Wachtmeisterinnen, die sich ihre Uniformen abmessen ließen, hier und da ins Gespräch kommen. Das tägliche Leben schien sich jetzt leidlich zu arrangieren. Bis die neue Politrätin auftauchte! Sie hatte die politische Abteilung des Zuchthauses unter sich und griff vom ersten Tag an hart durch. Sie verkündete mit allem Nachdruck: Die politischen Häftlinge ständen außerhalb der Gesellschaft, die Gesellschaft lege keinen Wert auf solche Elemente! Eva begann diese Frau mit dem harten Gesicht eines Mannes zu hassen. Um diese Zeit — zu Ende des Jahres 1953 — war im Zuchthaus Hoheneck unter den Gefangenen sowieso eine gereizte Stimmung. Einige Frauen hatten ein Stück Zeitung erwischt und hatten daraus erfahren, daß Kriegsgefangene aus der UdSSR auf Grund einer großen Amnestie entlassen und nach Deutschland heimgekehrt waren. In der Namensliste fanden sie die Namen von Mithäftlingen aus Sachsenhausen, die als „Haupträdelsführer", als Werwölfe und dergleichen bei der Auflösung des KZ’s nach Rußland abtransportiert worden waren. Die Frauen gerieten in Erregung und Empörung. Sie begriffen nicht: Die Anführer, die großen Nazis durften in die Freiheit zurück und sie, die kleinen Mitläufer, saßen weiter in den Zuchthäusern der „DDR".

Uns haben sie aufs Abstellgleis geschoben, sagte Eva aufgebracht zu ihren Kameradinnen. Wenn unsere Angehörigen ein Gesuch um Entlassung einreichen, heißt es: Wenden Sie sich nach Moskau! Und in Moskau tun sie nichts für uns kleine Lichter hier, aber die dicken Hunde lassen sie dort frei! Also jetzt muß was geschehen! Die Politrätin hat ihre Uniform bei uns in der Schneiderei hängen, die muß sie vor Sonntag abholen, sobald sie auftaucht, rede ich mit ihr!

Als die Politrätin eilig und abweisend wie immer in die Schneiderwerkstatt trat, stand

Eva hinter der Nähmaschine auf: Frau Politrätin, unter den Gefangenen herrscht große Unruhe. Sie wissen, worum es geht: Die Entlassungen! Wieso kommen die großen Nazis aus Rußland heim und wir kleinen Lichter sitzen weiter? Ich möchte Sie bitten, mir eine Antwort zu geben, damit ich meine Kameradinnen beruhigen kann.

Die Politrätin war nicht bereit, mit dieser Gefangenen zu sprechen. Sie wollte wortlos mit ihrer neuen Uniform über dem Arm die Werkstatt verlassen.

Frau Politrätin, rief Eva ihr nach, Sie tragen jetzt die Verantwortung, weil keiner von uns jemand von der Anstaltsleitung erreichen kann, und wir müssen eine Antwort haben. Die Frauen lassen sich nicht mehr mit Redensarten beruhigen. In Sachsenhausen konnten wir uns immer an die Russen wenden und haben von ihnen auch eine Antwort bekommen. Geben Sie uns die Zusicherung, daß wir uns schriftlich an die sowjetische Kommandantur wenden können oder aber, daß Sie etwas für uns unternehmen.

Die Politrätin hatte sich in der Tür umgedreht, mit giftiger Stimme sagte sie jetzt: Fischer, das sage ich Ihnen, wenn einmal Entlassungen sind, dann bestimmen wir, wer geht. Und solche Elemente wie Sie, die hier das große Wort führen, die brauchen überhaupt nicht mit Entlassung zu rechnen.

Ach, Frau Rätin, das hätten Sie mir vor vier Jahren erzählen können, dann hätte ich Ihnen das noch geglaubt. Aber heute weiß ich, wenn der Russe sagt, Fischer geht nach Hause, dann geht sie. Da können Sie gar nichts machen. Außerdem handelt es sich hier nicht um mich, sondern um 1200 Frauen, und wenn ich denen das wiederhole, was Sie da geredet haben, dann werden Sie was erleben! Geben Sie mir endlich eine verbindliche Auskunft, damit ich die Frauen beruhigen kann.

Ich habe es nicht nötig, mit Ihnen zu verhandeln, mit diesen Worten verließ die Politrätin die Werkstatt.

Unten auf dem Hof des Zuchthauses'— es war gerade Arbeitsschluß — hatten sich Plünderte gefangener Frauen versammelt: was mochte Eva Fischer bei der Politrätin ausgerichtet haben?

Als Eva Fischer klein und mager in ihrem grauen Drillichanzug auf den Hof heraustrat, wuchs die Erregung. Alle schauten auf das Mädchen. Eva sagte nur: Morgen früh Hunger-streik! Sie hat es nicht nötig, mit uns zu verhandeln, die Politrätinl Ein Aufschrei! Hunderte gefangener Frauen schrien auf, eine einzige Stimme! Die Erregung drohte in Panik umzuschlagen. Das Wort Hungerstreik ging seit Tagen unter den Gefangenen um. Keine der unterernährten Frauen wünschte den Hungerstreik, sie fürchteten ihn — aber er war ihre einzige Waffel Vom nächsten Tag an wurde gestreikt, über tausend Gefangene weigerten sich, Essen anzunehmen. Frühmorgens bei der ersten Brot-verteilung blieben die mit Marmelade beschmierten Schnitten auf den Brettern liegen. Mittags bei der Suppe dasselbe, niemand nahm eine Kelle an.

Hungerstreik im Zuchthaus Hoheneck! — Die Volkspolizei befand sich in heller Aufregung. Und jetzt ließ sich endlich auch die Anstaltsleitung blicken, aber nur, um mit drakonischen Maßnahmen zu drohen. Hunderte Frauenstimmen schrien ihnen entgegen, schrien im Chor: Wir wollen kein Essen, wir wollen den Russen!

Mit Gummiknüppeln stand die Volkspolizei bei eit, um bei dem geringsten Anlaß zuzuschlagen, aber die mehr als tausend Frauen verloren nicht ihre Beherrschung, riefen immer nur wieder in Sprechchören: Wir wollen den Russen — den Russen.

Und dann schrien sie: Freiheit — Freiheit. Die Leute in den Straßen von Hoheneck und in den Häusern unterhalb der Burg hörten ihre gellenden Stimmen.

Eva Fischer kam mit einigen anderen „Rädelsführerinnen" schon Stunden später in Isolierung. In der Zelle stand ein Topf mit Wasser, sie schob ihn mit dem Fuß tiefer unter die Pritsche. In das Waschwasser wurde Chlor geschüttet, um es ungenießbar zu machen, aber Eva hätte das Wasser sowieso nicht angerührt. Die ersten zwei Tage waren am schwierigsten zu überstehen, dann wurde es leichter, denn der Körper wurde schwächer, das bohrende Hungergefühl ließ langsam nach. Benommen lag Eva auf der Pritsche, -wenn sie sich aufrichtete, schwammen und kreisten die Wände um sie herum. In den ersten Tagen stellten die Posten den Essennapf in die Zelle, nahmen ihn dann unberührt wieder heraus. Später hörte Eva nur noch eine fragende Stimme durch die Tür: Wollen Sie essen?

Nein!

Die Frauen außerhalb der Isolierung hielten den Hungerstreik drei Tage und vier Nächte durch, Eva in der Isolierung eine Woche.

Und dann kam die russische Kommission.

Eines Nachts um zwölf Uhr trat ein Posten in die Isolierzelle: Fischer, aufstehen!

Als Eva über den von Scheinwerfern erhellten Hof geführt wurde, hörte sie aus einem Fenster rufen: Da geht sie, da geht sie! Ein VP-Kommando verlud Eva Fischer und elf andere Häftlinge bei Nacht in einen Gefängniswagen. Das Auto fuhr ins Morgenlicht hinein, und als sie am späten Vormittag in einen Gefängnis-hof einfuhren, hörten sie, daß dies das Zuchthaus Brandenburg sei, ein Männerzuchthaus.

Noch zwölf andere „Rädelsführerinnen" wurden einige Tage später ebenfalls ins Zuchthaus Brandenburg transportiert. Von allen Seiten hörten sie harte Worte: Meuterer, Verbrecher. Währenddessen begannen im Zuchthaus Hoheneck die Entlassungen. Mit der stumpfen Waffe des Hungerstreiks hatten die Gefangenen gesiegt. Der Name Eva Fischer wurde als erster aufgerufen zur Entlassung, aber sie war nicht mehr hier. Abgeschoben ins Zuchthaus Brandenburg wartete sie dort vergeblich.

Drei Monate vergingen. Einmal erblickte sie beim Rundgang durch ein Fenster einige Wachtmeisterinnen aus Hoheneck im Büro und dachte sich: Das hat ganz bestimmt mit uns zu tun. Vielleicht werden wir jetzt entlassen.

Am gleichen Tag trat in ihre Zelle ein VP-Otfizier und sagte grimmig: Fischer, sehen Sie, hätten Sie nicht gemeutert, wären Sie jetzt auch entlassen worden; die Entlassungen sind vorbei.

Also gut, die Entlassungen sind vorbei! Was soll man da machen? Eva glaubt schon lange nicht mehr an ihr Glück.

Am nächsten Morgen ruft ein Politoffizier in die Zelle: Eva Fischer aus Staaken?

Eva lag auf ihrem Bettgestell. Sie war schon so geschwächt im achten Jahr ihrer Haft, daß sie tagsüber Liegeerlaubnis hatte. Sie wog nur noch 78 Pfund.

Sie richtete sich auf.

Kommen Sie mit, schnell! sagte der VP-Offizier. Sie lief hinter ihm den Gang hinunter. Als der Offizier die Tür seines Büros hinter sich geschlossen hatte, packte er Eva an ihren dünnen Armen und sagte aufgeregt: Mädel, jetzt wirst du entlassen!

Ich glaub’s nicht mehr, Eva schüttelte den Kopf. Ich glaub’s einfach nicht. Ich bin eine, die schon am längsten hier sitzt, schon über sieben Jahre.

Aber wenn ich's dir sage, Mädel kannst du's mir doch glauben. Eva sah erstaunt in sein Gesicht, er schien sich wirklich zu freuen. Die anderen in der Zelle waren . außer sich, als sie zurückkam: Du kommst frei, Eva, und wir? — Im Laufe des Tages erfuhren weitere zehn, daß sie entlassen werden sollten. Wir kommen frei? Das ist eine Finte, wir kommen nach Ruß-land, ganz bestimmt! Erst als ein Wachtmeister sie in eine andere leere Zelle führte und ihnen ihre Effekten aushändigte, begannen sie, an ihre Entlassung zu glauben.

Eva zog ihren blauen Rock an und den Mantel, den sie in Sachsenhausen von einer Verstorbenen geerbt hatte, eine Freundin lieh ihr ein Kopftuch. Die restlichen Habseligkeiten packte sie in einen Karton; so ging Eva Fischer nach acht Jahren zurück in die Freiheit.

Im Zug nach Berlin sangen sie, sie sangen ihr altes Sachsenhausener Lied:

Uns geht die Sonne nicht unter.

Die übrigen Reisenden im Abteil begannen zu weinen, als sie begriffen, woher diese Mädchen kamen.

Eva weinte nicht. In ihren Ohren gellte immer noch das Schreien derjenigen, die im Zuchthaus zurückbleiben mußten. Ihre Augen sahen immer noch das Bild, wie sie an die Gitter der Fenster geklammert denen nachschrien, die in die Freiheit gingen. Wäre ihr in diesem letzten Augenblick auf dem Zuchthaushof freigestellt worden zu gehen oder zu bleiben — sie wäre bei den Schicksalsgefährtinnen vieler Jahre geblieben, sie wäre in ihre Zelle zurückgegangen.

Zehn Mark hatte jeder Häftling auf den Weg in die Freiheit mitbekommen. Von diesen zehn Mark kaufte Eva am Ostbahnhof Blumen für ihre Mutter und stieg in die S-Bahn, um quer durch die große Stadt nach Hause zu fahren, durch ein Berlin, das weder in ihrer Erinnerung noch in ihrer Vorstellung zerteilt war.

Auf dem letzten Westberliner Bahnhof stieg sie aus und wanderte zu Fuß die Straße herauf zur alten Wohnung. Das Stück Straße, das sie jetzt hinunterging, gehörte doch zum westlichen Sektor? Wieso war kein Mensch hier zu sehen? Sie blickte angstvoll zur anderen Straßenseite hinüber. Laub und Schmutz von Jahren lagen dort, Gras wuchs zwischen den Pflastersteinen. Naßkalter Nebel deckte die Welt zu. Eva wurde unheimlich zumute. Mit einem-mal tauchte jemand aus dem Nebel auf, fuchtelte wild mit den Armen, brüllte: Hallo, hallo, was suchen Sie da? Kommen Sie rüber um Gottes willen, oder wollen Sie eine Kugel in den Bauch haben?

Ein Polizist! Aber keiner von der Volkspolizei, die Uniform, die er trug, war Eva unbekannt.

Sind Sie ein Westberliner Polizist? fragte sie zaghaft.

Aber Mädchen, wo kommen Sie denn her?

Eben aus dem Zuchthaus.

Von drüben? Sie nickte.

Der fremde Polizist nahm sie einfach in die Arme: Mädel, Mädel — Und dann sagte er aufgeregt: Wo willst du denn hin? Da lang kannst du doch nicht gehen, da ist gleich der Russe, alles verbarrikadiert, die ganze Straße. Seit 1952 ist doch von hier ab Sowjetgebiet, Zone, weißt du das denn nicht? Nur eine kleine Grenzberichtigung!

Komm mit zur Wache, und wir benachrichtigen von da aus deine Mutter, die wohnt jetzt im Sowjetsektor, die holt dich dann bei uns ab, allein findest du nicht nach Hause, so wie es jetzt hier ist, in dieser verdammten Ecke.

Aber Eva wollte auf keine Polizeiwache mehr, sie wollte nach Hause. Sie ging die lange Strecke zurück, einen großen Umweg über den Flugplatz Staaken. Der Flugplatz! Der Fliegerhorst, der Krieg! Wann war das gewesen? In einem anderen Leben?

Sie ging an dem Schild vorbei: Achtung! Sie verlassen jetzt den britischen Sektor! Sie wohnte also nicht in West-Berlin, wie sie geglaubt hatte, sie wohnte in der „DDR“. Immer öder wurde die Gegend. Eva hielt den Karton an sich gedrückt und die Blumen für die Mutter. Auf der anderen Seite der Straß, kommt ein junger Mann entgegen. Sie erschrickt, ist das nicht ihr Bruder? Sie ruft vorsichtig: Klaus?

Der junge Mann bleibt stehen, starrt sie an, schreit auf: Eva? Eva bist du's?

Es ist nicht ihr Bruder, es ist der Sohn ihrer Schwester — so klein war er damals noch, reichte ihr knapp bis zur Schulter — acht Jahre!

Sie hat ihm die Blumen für die Mutter in den Arm gedrückt: Geh voraus, Manfred, sag Mutti, daß ich entlassen bin und daß ich mit dem nächsten Zug komme, ja? Damit sie nicht so erschrickt.

Eva hatte den Jungen vorausgehen lassen, war leise um das Haus herumgegangen, den vertrauten Pfad durch den Garten, und blieb vor der Hintertür stehen.

Wie der Junge klingelt und Evas Mutter die Vordertür aufmacht — reicht ihr nur stumm die Blumen entgegen mit ausgestrecktem Arm, kann nicht sprechen, hält nur die Blumen — da schreit die Mutter auf: Eva! Und dreht sich um und rennt durch die Wohnung zur Hintertür, reißt sie auf: Eva.

Sie steht da, den Karton an sich gedrückt, zittert am ganzen Körper.

Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist, Mutti. Ich fühle mich innerlich wie tot. Ich kann nicht einmal weinen.

Oder Eva sagte: Wenn ein Auto die Straße heraufkommt, wenn ich nur das Geräusch von einem Motor höre, kriege ich rasendes Herzklopfen; vielleicht holen sie mich wieder.

Um halb 4 Uhr früh fuhr sie aus dem Schlaf: Jetzt ist Wecken in der Zelle — sie hatte den Rhythmus des Zuchthausdaseins noch im Blut. Von halb 4 Uhr an lag sie mit offenen Augen und horchte auf die Stimmen in ihr, die Schreie der Zurückgebliebenen.

Eva Fischer wartete auf die Ausstellung eines Personalausweises der „DDR", denn die Straße am Westrand Berlins war ja während Evas Abwesenheit Gebiet der „DDR" geworden. Sobald Eva Fischer von der Volkspolizei ihren neuen Ausweis erhalten hatte, packte sie einen kleinen Koffer und fuhr mit der Stadtbahn nach West-Berlin hinüber, stieg am Bahnhof Marienfelde aus und begab sich ins Notaufnahmelager. Und hier traf sie fast hundert „alte Hohenecker" wieder! Eva schlief mit den Kameradinnen in Betten übereinander im Lager, wie sie es seit Jahren gewohnt war, und endlich konnte sie wieder lachen, so wie sie miteinander im Zuchthaus gelacht hatten, über die albernsten Dinge.

Die neue Freiheit hatte die meisten von ihnen verwirrt und verstört.

Nach Absolvierung aller Formalitäten, die es braucht, um von einem Deutschland im anderen ausgenommen zu werden, mit dem Anrecht auf Arbeit und Wohnung, suchte Eva nun beides — Arbeit und Wohnung.

Zuerst einmal ein möbliertes Zimmer. Jedes-mal, wenn die Zimmervermieterin auf ihre Frage nach Arbeit und Verdienst von dem Mädchen erfuhr, es sei soeben aus einem Zuchthaus der Zone entlassen und müsse sich um Arbeit und Verdienst erst bemühen, hatten sie das Zimmer gerade leider einem anderen versprochen!

Oder sie bekannten offen: Wissen Sie, Fräulein, wenn der Russe mal nach West-Berlin kommen sollte, dann kriege ich Ihretwegen vielleicht Schwierigkeiten.

Eine Kameradin aus Hoheneck nahm Eva schließlich mit zu einer Dienststelle der SPD, ob dort nicht einer Rat wüßte!

Es ist so schrecklich, daß uns keiner aufnehmen will, erzählten die Mädchen einem Sekretär des Parteibüros. Immer noch müssen wir im Flüchtlingslager hausen — nach acht Jahren Lagerdasein im Zuchthaus!

Der Sekretär der Dienststelle ging mit ihnen zur Zimmervermittlung, er bürgte für die Miete der entlassenen Zuchthäuslerinnen, und so fanden sie endlich ein Zimmer. Eva Fischer konnte auch in der SPD-Dienststelle arbeiten, sie half in der Flüchtlingsbetreuung.

Seit sie in Freiheit war, suchte sie nach dem Mann aus Sachsenhausen. Sie konnte sein Gesicht immer noch nicht vergessen. Sie fragte beim Roten Kreuz, schrieb an westdeutsche Flüchtlingslager und erfuhr schließlich, daß er damals in Sachsenhausen entlassen worden war. Aber wo dieser Mann jetzt lebte, konnte ihr keiner sagen.

Sie dachte immer an ihn, sie mochte keinen anderen. Da sie ihn nicht mehr wiederfand, blieb sie lieber allein.

Aber was sollte überhaupt weiter mit ihr werden? Sie mußte endlich einen Beruf erlernen.

Sie war 25 Jahre alt. Eva entschied sich für eine Ausbildung als Pressephotographin und bekam vom Senat dafür ein Stipendium, 115 Mark anfangs, später etwas mehr.

Eva Fischer trat wieder in eine große Gemeinschaft ein: in die Sozialdemokratische Partei. Eva gehörte in eine solche Gemeinschaft, sie war kein Einzelgänger. Mit anderen Haft-kameraden zusammen baute sie die „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger politischer Häftlinge“ in der Berliner SPD auf, eine karitative Organisation. Die aus den Zonen-Strafanstalten nach West-Berlin kamen und es schwer hatten in der neuen Freiheit, fanden in dieser Gemeinschaft Hilfe.

Eva selbst hatte die Zeit der Depressionen und Verstörtheit hinter sich. Das Leben gefiel ihr jetzt, sie war voller Energie und Heiterkeit.

Im Januar 1958 nahm sie an einem Lehrgang der Heimvolkshochschule in Bergneustadt im Bergischen Land teil. Sie hatte sich zu diesem Acht-Tage-Kursus gemeldet, weil sie mehr lernen wollte. Vor allem aber suchte sie eine neue Grundlage. Seit die Weltanschauung, der sie schuldlos als Kind verfallen war, ihr vor acht Jahren zerstört wurde, hatte sie ohne einen Glauben weiterleben müssen. Den Gott ihrer Kindheit konnte sie im Zuchthaus nicht mehr wiederfinden.

Als Eva Fischer sich zu dem Kursus ihrer neuen Partei meldete, ging sie ihren Weg folgerichtig weiter. Das Schicksal gab sie nicht frei.

Der Staatssicherheistdienst setzte seine Leute auf die Fährte der Eva Fischer, nachdem er die Meldung seines Spitzels aus der Heimvolkshochschule erhalten hatte.

Acht Jahre Zuchthaus hatten Eva ihre Naivität nicht austreiben können, und so hatte sie im Kreis der Kursusteilnehmer erzählt, daß sie ab und zu ihre Schwester in Ost-Berlin besuche.

Evas Mutter wohnte immer noch in dem Haus an der Heerstraße, also in der Zone. Eva hatte sich monatelang um eine kleine Wohnung in West-Berlin bemüht, um ihre Mutter bei sich aufnehmen zu können. Endlich war eine hübsche Dreizimmer-Wohnung gefunden, und Frau Fischer erhielt ihre Zuzugsgenehmigung für West-Berlin zum 1. April.

Es war noch März, da kam ein Brief von Evas Schwester aus Ost-Berlin. Sie schrieb, die Mutter läge krank bei ihr und ob Eva nicht Medikamente und Obst schicken könne, es ginge der Mutter sehr schlecht.

Eva schickte sofort ein Paket, und als Sonnabend wurde, sagte sie zu ihrer Nachbarin: Ich fahre nur schnell mal rüber, ich bin so unruhig wegen meiner Mutter.

Sonnabend, 8. März 1959: Eva Fischer stieg am S-Bahnhof Schöneberg, Westsektor, in die Stadtbahn und stieg am Bahnhof Stalinallee, Ostsektor, aus. Sie trug eine große Tasche, gefüllt mit Apfelsinen und Zitronen.

Nach dem kurzen Krankenbesuch bei der Mutter stand sie mit der leeren Tasche wieder auf dem Stadtbahnhof Stalinallee und wartete auf den Zug Richtung Westen. Er fuhr ein, hielt nur für eine halbe Minute, viele Leute stiegen aus. Eva, zur Seite gedrängt, wartete, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, eine halblaute Stimme sprach: Halt, Sie müssen mal mitkommen, Kriminalpolizei!

Ein kalter, schneidender Schmerz durchfuhr ihren Körper. Die automatischen Türen des Zuges schlossen sich, Wagen um Wagen zog immer schneller an ihren Augen vorbei, und Eva blieb auf dem Bahnsteig zurück, von fünf Männern umringt.

Hinter dem Bahnhof wartete eine graue Limousine. Eva sagt sich, als sie einstieg: Ruhe, bloß jetzt ruhig bleiben.

Das Auto fuhr an, Eva saß eingequetscht zwischen zwei fremden Männern — sie können dir ja gar nichts, du hast im Westen nie etwas Politisches gegen sie unternommen, hast nie im Radio oder sonst offiziell über deine Haftzeit geredet, also alles Quatsch, diese ganze Verhaftung! In der ersten Nacht, blendendes Scheinwerferlicht in den Augen, saß Eva dem SSD-Mann gegenüber und dachte immer noch: Der ganze Irrtum mit der Verhaftung wird sich ja herausstellen. Erste Frage des Vernehmers: Na, wie war es denn in Bergneustadt beim Kursus?

Was wollen die? dachte Eva. Die können mich ja nicht wegen des Kursus einsperrenl Sie schilderte ausführlich ihren Lebenslauf, beantwortete gewissenhaft die Fragen und war der Meinung, damit sei alles geklärt; sie hatte wirklich weiter nichts zu berichten.

Aber dieser Meinung war der Staatssicherheitsdienst keineswegs. Diese Eva Fischer mußte ein gefähliches politisches Element sein, ein geschulter Agent des Ostbüros der SPD. Weshalb wäre sie sonst auf die Parteischule geschickt worden?

Eva Fischer war nach dem ersten nächtlichen Verhör in der Magdalenenstraße ins Untersuchungsgefängnis des Staatssicherheitsdienstes nach Hohenschönhausen weitertransportiert worden. Sie mußte ihre Kleidung abgeben und bekam eine alte VP-Uniform dafür, blaue Jacke und Hose, Unterhose und gestreiftes Hemd. Dann hinein in die Dunkelzelle, kahle Steinwände ohne Fenster, es roch nach Moder.

Ja, da bist du also wieder drin, es riecht genauso wie im NKWD-Keller, — wie in einer Friedhofsgruft. Nur komisch, daß die Posten vor den Zellen nicht Russisch sprechen, sondern Deutsch-Sächsisch. Aber es ist ja nicht mehr 1946, sondern 1959, und du bist bei den Deutschen — sie redete sich selbst Mut zu! — Jetzt herrscht deutsches Recht, die denken doch logisch: Ich kann meine Unschuld beweisen.

Nach den ersten Vernehmungen in Hohenschönhausen dachte sie: Mein Vernehmet ist nicht übel, ein ordentlicher Junge, jedenfalls benimmt er sich anständig und korrekt. Aber er ist überzeugt von der Gerechtigkeit seiner Sache, und außerdem hat er Angst vor seinem Chef, und darum muß er mich mürbe machen.

In einer Vernehmung sagte sie einfach zu ihm: Ich lüge Sie nicht an, ich kann keine falschen Angaben machen, meinetwegen nicht; ich will ein reines Gewissen behalten, nichts als ein reines Gewissen gibt Kraft. Wir können uns die ganze Sache sehr vereinfachen: Wenn Sie mich etwas fragen und ich weiß das, dann sage ich, ich weiß, aber ich möchte darüber keine Angaben machen. Dann können Sie sich auf den Kopf stellen, dann mache ich keine! Wenn ich aber sage, ich weiß das nicht, dann weiß ich es wirklich nicht, dann brauchen Sie gar nicht stundenlang darauf herumzureiten. Und wenn ich nein sage, dann heißt das nein!

Da der SSD-Mann eine solche Sprache nicht glaubte — er hätte sonst den Glauben an die Methode seiner Vernehmungen aufgeben müssen —, fuhr er vier Monate fort, Eva Fischer mit immer den gleichen Fragen und Unterstellungen zu attackieren.

Der Chefvernehmer versuchte einmal eine andere Tour: Wenn Sie mit uns arbeiten, Fräulein Fischer, werden Sie sofort in Freiheit gesetzt, wenn Sie uns nur die Namen Ihrer Mit-agenten von der SPD nennen. Sie bekommen bei uns eine schöne Wohnung und Sie haben ganz andere Möglichkeiten als in West-Berlin, z. B. Stipendium.

Eva Fischer konnte keine Namen nennen — sie hätte niemals Namen genannt. Sie wurde bis zur nächsten Vernehmung wieder in ihre Zelle zurückgeführt. Der Wachtposten, der sie begleitete, schaltete die rote Lampe ein. Auf den Gängen des Untersuchungsgefängnisses waren Lampen nach dem System der Verkehrsampeln angebracht: rote und grüne. Leuchteten an den Kreuzungen der Gänge rote Lampen auf, hieß das: Achtung, ein Häftling wird über die Gänge geführt, kein anderer darf solange den Gang betreten.

Eva saß grübelnd in der Zelle und versuchte, einen Sinn in ihrem Schicksal zu finden. An was sollte sie sich jetzt halten? Sie dachte sehnsüchtig an ihren verlorenen christlichen Glauben zurück — den Rest dieses Glaubens hatte sie bei Diskussionen in Bergneustadt verloren. Sie erinnerte sich, wie wohl es ihr getan hatte, in der düsteren Baracke von Sachsenhausen zu beten. Könnte sie die kindliche Sicherheit, die Geborgenheit in Gott . wieder zurückgewinnen!

Manchmal dachte sie: Habe ich denn überhaupt Ursache, an Gott zu zweifeln? Vielleicht glaube ich doch noch?

Vier Monate später sagte der SSD-Vernehmer zu Eva Fischer: Also, Ihre Sache ist abgeschlossen und geht jetzt an den Oberstaatsanwalt. Dann kommt es zur Anklage. Weshalb werde ich denn eigentlich angeklagt? Das haben Sie mir in den ganzen vier Monaten nicht gesagt. Na, das wissen Sie ja selber.

Eva Fischer wußte es nicht. Sie mußte am folgenden Tag in einen Gefängniswagen steigen. Als sie merkte, daß dieser Wagen aus Berlin hinausfuhr, erschrak sie. Wohin wurde sie transportiert? Der Wagen fuhr und fuhr, und mit der zunehmenden Entfernung von ihrer Heimatstadt Berlin glaubt Eva mit jedem Kilometer einen Teil ihrer Widerstandskraft zu verlieren.

Es war Frankfurt/Oder, das Untersuchungsgefängnis des SSD, in das man sie brachte. Vier Wochen lang kümmerte sich hier niemand um sie; der Blechnapf mit dem Essen wurde nur mit dem Fuß durch die Zellentür geschoben, wie für einen Hund.

In Hohenschönhausen hatte Eva Fischer Sonderverpflegung bekommen, Milch, Butter, Fleisch, weil der SSD noch hoffte, diese „Agentin" zu Geständnissen zu bewegen. Jetzt in Frankfurt enthielt der Blechnapf einen Fraß, den Eva anzurühren sich weigerte. Der Anstaltsleiter, ein Hauptmann, trat bei seinem täglichen Rundgang in jede Zelle. Wenn die Tür aufging, hatte sich der U-Häftling mit dem Gesicht zur Wand zu drehen, die Hände auf den Rücken zu legen und seine Meldung zu machen: Zelle 371 belegt mit einer U-Gefangenen meldet U-Gefangene Fischer.

Haben Sie Beschwerden?, brüllte der Anstaltsleiter. Er verständigte sich nur durch Brüllen. Haben Sie Krankheiten?

Ich habe mich zum Arzt gemeldet.

Warum?

Ich bin leberleidend, ich habe in Hohenschönhausen Diät bekommen. Hier kann ich so gut wie gar nichts essen und müßte deshalb zum Arzt.

Wir sind hier nicht in Hohenschönhausen, hier gibt es keine Sonderverpflegung; hier behaupten sie alle, krank zu sein, aber Spionage treiben konnten siel Herr Hauptmann, wenn Sie sich mit einem U-Häftling unterhalten, erkundigen Sie sich doch vorher, weshalb er sitzt, ehe Sie solche Behauptungen aufstellen. Ich sitze weder wegen Spionage, noch hat man mir überhaupt verraten, weshalb man mich eingesperrt hat. Ach, dann sind Sie wohl unschuldig, was?

Ja, im Sinne der erhobenen Beschuldigungen bin ich unschuldig. Na, das wird das Gericht schon feststellen, brüllte der Anstaltsleiter. Eva sagte nur: Darauf warte ichl

Eva Fischer reichte bei der Anstaltsleitung eine Beschwerde ein: Sie säße nun über fünf Monate in der Untersuchungshaft und wüßte immer noch nicht, weshalb.

Auf die Beschwerde hin brachte ein Läufer ihr ein Papier in die Zelle: Lesen Sie durch und unterschreiben Sie!

Auf dem Papier stand, daß der Rechtsanwalt Wedendorf beauftragt sei, ihre Verteidigung zu übernehmen.

Das kann ich nicht unterschreiben, ich habe schon in Berlin einem Rechtsanwalt meine Vollmacht gegeben, den hat meine Schwester geschickt und bezahlt.

Der Läufer verschwand mit diesem Bescheid, kehrte nach einigen Minuten zurück und meldete: Der Rechtsanwalt in Berlin ist vom Gericht abgelehnt worden.

Zwei Tage später wurde Eva ihrem zugewiesenen Rechtsanwalt vorgeführt, er fragte sie: Weshalb sind Sie denn eigentlich angeklagt? Eva sah ihn fassungslos an: Das fragen Sie mich? Ich habe gehofft, daß ich das von Ihnen erfahren werde.

Ja, haben Sie denn noch keine Anklageschrift? Na, hören Sie mal, Sie müssen doch wissen, weshalb Sie hier sind.

Nichts weiß ich, antwortete Eva. Als sie ihm ihren Lebenslauf geschildert hatte, meinte er: Na, das kann ja keine große Sache sein.

Am nächsten Tag wurde ihr die elf Seiten lange Anklageschrift überreicht. Sie las, daß sie ein faschistisch verseuchtes Element sei, ein politisch und moralisch verkommenes Subjekt, das in West-Berlin auf Kosten der Arbeiterschaft ein Drohnenleben geführt habe: anstatt einer Arbeit nachzugehen, habe sie ein Stipendium bezogen. Sie habe in West-Berlin über ihre Haftzeit beim MGB und SSD Lügen berichtet, für diese Berichte Geld genommen und sich ein gutes Leben verschafft. Den feindlichen Agenturen und verbrecherischen Organisationen — wie den Alliierten und den Senatsdienststellen im Notaufnahmelager — habe sie Aussagen gemacht. Die Schule in Bergneustadt sei eine Agentenschule.

Ein Schock, diese Anklage! Aber als Eva sie zum dritten Mal las, begann sie zu lachen: Das konnte sie ja Wort für Wort wiederlegen, diesen Quatsch!

Sie wünschte ihren Anwalt zu sprechen. Der hätte keine Zeit, wurde ihr gemeldet.

Die Anklageschrift war ihr an einem Freitag zugestellt worden, der Termin stand für den darauffolgenden Dienstag fest. Am Dienstag früh erhielt Eva Fischer ihre eigene Unterwäsche, ihre eigenen Kleider — Rock und Pullover mit weißem Blüschen, dessen Kragen sie am Hals aufschlug —, der Wachtposten führte sie in einen Raum des Gerichtsgebäudes.

Ein schmaler Mann stand am Fenster, gegen die Helligkeit erkannte sie ihn nicht gleich. Es war ihr Vernehmer aus Hohenschönhausen. Sie freute sich, ihn zu sehen.

Na, heute ist der große Tag, sagte er — selbst ganz aufgeregt —, haben Sie Ihre Anklageschrift da? Eva reichte sie ihm, und er begann zu lesen. Er wurde blaß.

Na, Oberleutnant, Sie sehen doch selbst, jedes Wort ist eine Lüge. Das hat nichts mehr mit den Protokollen zu tun, die Sie in Berlin ausgenommen haben, nicht wahr?

Der Oberleutnant drehte sich von ihr ab zum Fenster und sagte kein Wort, Man könnte heulen über den Jungen, dachte Eva voll Mitleid. Jetzt ist ihm so etwas noch schrecklich, man sieht es ihm ja an, aber er lernt zu schweigen — aus Selbsterhaltungstrieb, Laut sagte sie: Jetzt haben Sie noch ein schlechtes Gewissen bei so was, ein paar Monate oder ein paar Jahre später wird es Ihnen schon nichts mehr ausmachen, ob ein Mensch unschuldig verurteilt wird.

Der SSD-Mann antwortete leise — immer noch mit abgewandtem Gesicht —: Belasten Sie sich doch nicht noch mit anderen Leuten, Fräulein Fischer.

Mittags wurde Eva den Korridor des Gerichts-gebäudes entlanggeführt zur Verhandlung. Am Ende des Ganges bemerkte sie eine ältere Frau, die sich von einer Bank erhob — plötzlich erkannte sie: Mutter!

Es war Evas Mutter, die da weinend im Gang des Gerichtsgebäudes stand.

Kein Wort durften sie wechseln. Die Tochter wurde eilig an der alten Frau vorbeigetrieben. Auch Eva brach jetzt in Tränen aus. Dem Rechtsanwalt war, wie sich herausstellte, ein Irrtum unterlaufen, als er Evas Mutter als Zeugin zu diesem Prozeß aus Berlin bestellt hatte. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen! Das Gericht erteilte dem Rechtsanwalt einen scharfen Verweis.

Von ihrer Bank seitlich an der Wand des Gerichtssaals blickte sie verweint zum Richter-tisch hinüber. Die Richterin — eine dicke Frau in heller Bluse, das Haar von grauen Strähnen durchzogen, rechts und links von ihr die beiden Schöffen, deren Gesichter Eva gleich wieder vergaß. Es war geradezu tröstlich, den Vernehmer aus Hohenschönhausen im Gerichtssaal zu wissen. Er saß einsam auf der ersten Zeugenbank und schien ihr fast wie ein Freund.

Ein jüngerer Mann im grauen Anzug marschierte jetzt — knapp zum Richtertisch hinübergrüßend, Akten unter dem Arm — auf ein Pult zu. Eva merkte erst später, daß dies der Staatsanwalt war. Er schien einen Kursus für Schauspieler hinter sich zu haben, jedenfalls bemühte er sich um gewähltes und akzentuiertes Sprechen. Evas Nerven waren sowieso bis zum äußersten gespannt; als der Staatsanwalt nun die Worte geradezu herausschmetterte: Faschistisch verseuchtes Element — reagierte sie mit einem hemmungslosen Gelächter. Sparen Sie sich ihr Bühnenlachen, schrie der Staatsanwalt sie an; Sie sind hier nicht im Theaterl Als Eva zu ihrem Vernehmer hinüber-blickte und sah, daß auch er sein Lachen mühsam hinter einer erhobenen Akte verbarg, war es um ihre Fassung ganz und gar geschehen, sie schüttelte sich vor Lachen.

Hilflos und beschwichtigend zischelte der Anwalt ihr etwas zu. Es half alles nichts, Eva lachte und lachte.

Als sie später von der Richterin aufgefordert wurde, sich zu der Anklageschrift zu äußern, war sie versucht zu rufen: Natürlich sind wir hier im Theater! Machen Sie's doch kurz, sprechen Sie das Urteil, es steht ja doch schon fest. Aber sie bemerkte den impertinenten Blick, den die Richterin dem Staatsanwalt zuwarf, und entschloß sich doch, zu sprechen: Wie konnte ich als Westberliner Bürger wissen, daß unsere Dienststellen und Senatsbehörden und die Parteischule der SPD für Sie verbrecherische Organisationen sind? In den Gesetzesparagraphen steht: Verbindung mit feindlichen Organisationen sind nur strafbar, wenn der Betreffende weiß, daß es sich hier um verbrecherische Personen handelt, nicht wahr?

Zu dem Anklagepunkt „Verrat" hatte der Staatsanwalt einfach unterstellt: Jeder in der Situation der Angeklagten habe in West-Berlin über seine Haftzeit gesprochen, und die Angeklagte wird keine Ausnahme gemacht haben! Fünf Monate haben Sie Zeit gehabt, die Beweise dafür heranzuschaffen, rief Eva Fischer, und nichts haben Sie mir beweisen können! Dem Rechtsanwalt schien dieser Fall Fischer jetzt im Gerichtssaal doch recht kritisch. Eva konnte ihm seine Angst schon an seinem Rücken ansehen. Er brachte nichts zu ihrer Verteidigung vor.

Drei Tage später erst wurde Eva das Urteil verlesen: Drei Jahre Gefängnis wegen Verbindung zu feindlichen Organisationen und zwei Jahre Zuchthaus für Verrat.

Die Angeklagte ist hinreichend verdächtig, hieß es im Urteil. Beweise konnten nicht aufgeführt werden.

Eva Fischer verzichtete auf das sogenannte Schlußwort. Sie sagte nur: Ich nehme das Urteil nicht an!

Es war ihr nur recht, daß die dreijährige Gefängnisstrafe in zwei Jahre Zuchthaus umgewandelt wurde, denn im Strafvollzug kam es auf das gleiche heraus, und so hatte sie also zusammen vier Jahre Zuchthaus abzusitzen. Weil sie Berufung eingelegt hatte, wurde sie in das Untersuchungsgefängnis verlegt. Sie verlangte Kassation, d. h. Annullierung des Urteils.

Vier Monate später kam vom Obersten Gericht der Bescheid: Kassation abgelehnt! Eva Fischer wurde zum Strafvollzug ins Zuchthaus Görlitz eingewiesen.

Nun saß sie also wieder in einer richtigen Haftanstalt. Das Zuchthaus Görlitz, ein riesiger alter Kreuzbau, reichte vier Stockwerke hoch, über der Treppenhalle ein Glasdach. Zwischen die einzelnen Stockwerke waren Drahtgitter gespannt gegen Selbstmordversuche.

Eva erschrak, als sie die Gänge entlanggeführt wurde. Sie hatte durch langjährige Erfahrung eine Witterung für Zuchthäuser. Die Wachtmeisterinnen erteilten ihre Befehle nur in brüllendem Ton. In der sogenannten Freistunde, wenn die Häftlinge im Hof ihre Runde abgingen, Hände auf dem Rücken im Gleichschritt — rechts — links — rechts — links — stand alle paar Meter eine Wachtmeisterin und paßte auf. Einige von ihnen kannten und erkannten diese Eva Fischer, diese gefährliche, renitente Person! Vorsichtshalber wurde sie in eine Einzelzelle gesteckt. Es sollte zugleich eine Strafe sein, aber für Eva Fischer war es die Rettung. Sie hatte keine Angst vor dem Alleinsein. Nach allen Aufregungen der Untersuchungshaft kam sie zur Besinnung. Tagsüber saß sie mit anderen Häftlingen zusammen in der Schneiderei, doch entfernte man sie dort bald wieder, weil die Anstaltsleitung fürchtete, diese Fischer würde die übrigen Frauen aufwiegeln wie damals in Hoheneck. Eva Fischer hatte keine Scheu, sich über Schikanen, wie Leibesvisita-tionen und Gehässigkeiten des Wachtpersonals, zu beschweren.

Sie wurde in einer anderen Abteilung untergebracht und in der Freistunde zum Ballentragen eingesetzt. Aus Textilfabriken der Umgegend kamen auf Lastwagen Stoffballen im Zuchthaus an, um von Häftlingen auf Fehler durchgesehen zu werden. Weibliche Häftlinge luden die Ballen von den Lastwagen ab und schleppten sie zwei Stockwerke hinauf und wieder herunter. Eva Fischer trug auf ihrem Rücken ein Gewicht von 32 Kilo, sie selbst wog nur noch 39 Kilo.

Sie merkte, wie sich nicht nur ihr Rückgrat unter der ständigen Last verbog, sondern auch ihre inneren Organe verschoben. Sie hatte Schmerzen und sie hatte Angst. Von den ersten Haftjahren her hatte sie einen Leberschaden und litt an Kreislaufstörungen. Aber was ihrem Körper jetzt angetan wurde, war schlimmer. Sie konnte fast keine Nahrung mehr aufnehmen, ihr Magen hatte sich anscheinend durch die Abmagerung gesenkt. Dazu das dauernde Gehetztwerden. Kaum hatten sich die Frauen mit ihrer Essenschüssel niedergesetzt, tönte der Befehl: Weiter Ballen tragen! Eva hatte Ohnmachtsanfälle; wenn sie in ihrer kleinen Zelle hin und herging, wurde ihr schlecht. Sie spürte allzu deutlich, wie ihre Kräfte sie verließen.

Eine Staatsanwältin, die ab und zu durch die Zellen ging, gab Eva Fischer zu verstehen: Wenn Sie Ihre Schuld gegen die DDR einsehen und sich entschließen, hierzubleiben, könnten Sie früher entlassen werden.

Aber Eva Fischer, körperlich aufs äußerste geschwächt und erschöpft, war keinen Augenblick bereit, sich kaufen zu lassen.

Nach anderthalb Jahren im Zuchthaus Görlitz wurde die Strafgefangene Fischer nach Halle in den berüchtigten „Roten Ochsen" verlegt. Als sie hörte „Roter Ochse", wurde ihr vor Angst übel; sie redete sich selbst Mut zu: Schlimmer als Görlitz kann es nicht sein, den Roten Ochsen hältst du auch noch durch, denen zum Trotz! Obwohl der erste Eindruck des mächtigen dunkelroten Bauwerks vernichtend war, stellte sich nach kurzer Zeit heraus, daß es wirklich in Halle nicht schlimmer war als in Görlitz, eher besser.

Eva erhielt nun Tbc-Verpflegung und Traubenzuckerspritzen, denn sie war mit ihrem Gewicht auf 78 Pfund herunter.

In Halle traf sie einen weiblichen Politleutnant aus Hoheneck wieder, die damals dort Ober-wachtmeisterin gewesen war und von der Eva wußte: Die ist ein Mensch! Die tut ihre Arbeit aus Überzeugung und Idealismus, mit der kann man offen reden. Die Frau Politleutnant hat im Zuchthaus für die politische Schulung zu sorgen und erweiterte das Programm: Außer Politinfoimationen und Presseschau gab es jetzt Vorträge, Filmvorführungen und Diskussionen. Kurz nach dem 13. August 1961 hatten die Strafgefangenen zu Ehren des Regierungsbeschlusses eine Sonderschicht zu leisten. Die Errichtung der Mauer in Berlin habe den Krieg verhindert, also sollten die Brigaden der Zuchthäuser durch Sonderleistungen die Maßnahme der Regierung unterstützen.

Die Frauen im „Roten Ochsen" sollten unterschreiben, daß sie zu Ehren der Mauer unentgeltlich eine Sonntagsschicht einlegen würden. Die Zeugen Jehovas verweigerten ihre Unterschrift geschlossen. Auch Eva Fischer unterschrieb nicht.

Warum haben Sie nicht unterschrieben? fragte die Frau Politleutnant.

Ich bin Westberlinerin. Aber auch wenn ich Ostberlinerin wäre, für mich ist diese Mauer das Schlimmste, was ich erleben muß. Berlin ist das Herz Deutschlands. Berlin durch eine Mauer zu teilen ist unmenschlich, unverantwortlich. Deshalb kann ich mich zu keiner Sonderschicht verpflichten.

Es ist uns lieber, wenn Sie uns ehrlich Ihre Meinung sagen, als wenn Sie hinter unserm Rücken hetzen, antwortete die Frau Politleutnant. Eva Fischer mußte diese Sonderschicht mitarbeiten, andernfalls wäre sie wegen Arbeitsverweigerung in den Bunker gekommen.

Nach dem 13. August schien der Staatssicherheitsdienst sich um manche Insassen der Zuchthäuser besonders zu bemühen. Eva Fischer nahmen sie sich extra vor: Sehen Sie endlich ein, daß hier in der DDR der richtige Weg ist? Bleiben Sie bei uns, solche Leute wie Sie brauchen wir!

Ist ja komisch, daß Sie die im Zuchthaus suchen müssen, antwortete ihnen die Strafgefangene. Ja, gerade wegen Ihrer Erfahrungen! Solange Sie mir nicht beweisen, daß mein Fall ein Einzelfall ist, sagte Eva Fischer, daß es vielleicht wirklich ein Justizirrtum war, solange Sie mich nicht rehabilitieren, können Sie doch von mir nicht verlangen, daß ich Ihnen vertraue. Ich kann nicht verstehen, weshalb halten Sie mich hier fest?

Der SSD-Mann holte jetzt zu einer langen Erklärung aus: Ja, sehen Sie, Fräulein Fischer, wir wollten ein Verbrechen verhindern. Wir wußten ganz genau, daß das Ostbüro der SPD ein großes Interesse an Ihnen hatte, daß Sie unbedingt zur Mitarbeit herangezogen worden wären. Und wenn wir Sie dann erwischt hätten, hätten Sie 10 oder 15 Jahre bekommen.

Aha, so ist das, sagte Eva ironisch, und was gibt Ihnen die Berechtigung anzunehmen, daß ich ja und amen sage, wenn meine Partei mir einen solchen Antrag gemacht hätte? Letzten Endes soll ich Ihnen wohl noch dafür dankbar sein, daß ich nur vier Jahre sitzen darf. — Eva Fischer war jetzt wirklich in Wut — Dann würde ich Ihnen den Vorschlag machen: Sperren Sie jeden Buchhalter ein, damit er nicht mal in seinem Leben auf die Idee kommt, Unterschlagungen zu begehen. Mit dem gleichen Recht können Sie den vorher einsperren.

Eines Tages im Oktober 1960 wurde Eva zur Frau Politleutnant beordert. Fischer, Sie haben die beste Führung und die beste Arbeitsleistung. Ich will Ihnen sagen, daß jetzt in der DDR ein großer Straferlaß losgeht. Alle, die nur ein Jahr haben, und diejenigen, die Zweidrittel ihrer Strafe verbüßt haben, werden entlassen. Darunter fallen Sie!

Frau Leutnant, ich glaube es einfach nicht, daß der Staatssicherheitsdienst mich freiläßt.

Aber Fischer, warum sollte der Staatssicherheitsdienst Ihre Entlassung ablehnen? Wir haben Sie vorgeschlagen. Sie kommen frei, glauben Sie mir.

Eva Fischers Entlassungspapiere wurden in der Anstalt tatsächlich fertiggemacht und die Ettekten überprüft. Sie kam zum Entlassungsarzt und wurde sogar geröntgt. Es kann jeden Tag losgehen, sagte die Wachtmeisterin. Wir warten nur noch auf Bescheid von Berlin. Die Entlassungen begannen, die Frauen machten sich bereit, sowie sie aufgerufen wurden. Eva wartete Der letzte Tag der Entlassungen kam heran, immer noch nicht war ihr Name gefallen. Dann auf ihre Frage von der Wachtmeisterin der Bescheid: Fischer, Sie müssen bleiben, Berlin hat s abgelehnt! Weihnachten rückte heran, der Termin von Evas regulärer Entlassung. Am zweiten Weihnachtstag ließ die Frau Politleutnant die Strafgefangene Fischer rufen: Sie kommen heute schon in die Abgangszelle, Sie sind körperlich so weit herunter, wir wollen nicht, daß Sie uns vollkommen zusammenbrechen vor der Entlassung.

Ach, wirklich, Frau Leutnant?!

Es ging so schnell, Eva konnte sich kaum von ihren Zellengefährtinnen verabschieden, da saß sie schon in der Abgangszelle an einem Tisch mit Tischtuch und Blumenvase. Sie hätte lesen können, schreiben — aber sie ertrug das Warten nicht, und nicht die Vorstellung, daß zur Stunde weiter die Kameradinnen zu ihren Arbeitsplätzen getrieben wurden. Sie hatte in langen Jahren der Haft gelernt, daß es unerträglich ist, sein Herz an einen Mitgefangenen zu hängen, von dem ein Befehl der Anstaltsleitung einen stündlich wieder trennen kann. Sie hatte sich bewußt in innerer Distanz zu ihren Zellengefährtinnen gehalten, und doch konnte sie jetzt kaum an anderes denken, als an sie, die weiter in Unfreiheit blieben.

Wieder hatte die Frau Politrätin einen falschen Bescheid gegeben: Eva Fischer blieb keineswegs eine Woche lang in der Abgangszelle, sondern wurde 24 Stunden später auf Transport geschickt — eingesperrt in die Grüne Minna — zusammen mit anderen Sträflingen, die in ein Heim eingewiesen wurden. Aber wohin kam sie selbst?

Auf dem Bahnhof von Halle wurden die Frauen in den Gefängnistransportzug umgeladen, der im Sträflingsjargon der „Grotewohlexpreß“ heißt. Er durchfährt die „Deutsche Demokratische Republik" in allen Richtungen, von einer Haftanstalt zur anderen mit seiner Menschen-fracht in abgegitterten Zellen.

In ihrer Zivilkleidung, die ihr bereits im „Roten Ochsen" ausgehändigt worden war, hockte Eva mit drei anderen Frauen in einer Einmannzelle des Waggons. Sie konnten weder sitzen noch liegen noch sich bewegen in der Enge, die Glieder starben ab. Dazu drang Winterkälte durch die dünnen Wände.

Nach dreißig Stunden in der Zelle des hin und her fahrenden Zuges fürchtete Eva, jetzt — am Ende — würde sie den Verstand verlieren — sie war wirklich am Ende! Sollte die ganze Qual von vorn beginnen?

Schließlich fuhr der Zug am Bahnhof Berlin-Lichtenberg ein, Eva Fischer wurde ausgeladen und zum Gefängnis Berlin-Alexanderplatz transportiert. Ihr bißchen Gepäck hatte man ihr abgenommen, die Tür einer Einmannzelle schloß sich hinter ihr.

Eva Fischer blickte sich verzweifelt in der Zelle um: Gab es denn gar nichts, womit sie sich umbringen konnte? Sie war am Ende! Sie wollte sich das Leben nehmen!

Tage und Nächte so — kein Zeichen von außen — sinnlos jede Hoffnung. Eva saß auf dem Bettgestell und heulte und heulte. In Halle hatte sie ihres kranken Rückens wegen Liegeerlaubnis gehabt, hier im „Alex" gab es das nicht. Dann wird Eva Fischer aus der Zelle geholt in einen Dienstraum des Staatssicherheitsdienstes. Einige SSD-Leute erwarteten sie. Wir können nichts dafür, daß Sie auf Transport gekommen sind, Fräulein Fischer, sagte einer von ihnen trocken. Aber seit dem 13. August besteht eine Anordnung, daß jeder, der entlassen wird, über Berlin gehen muß. Morgen, am 4. Januar, ist Ihre Strafzeit abgelaufen. Sie werden morgen früh entlassen. Vorher kommen Sie noch zum Arzt.

Als Eva Fischer am nächsten Vormittag durch das Gefängnistor herausgelassen wurde, stand am Bordstein wieder eine graue Limousine. Einer von der Staatssicherheit saß im Fond, einer am Steuer, einer stand neben dem Auto, der sagte: Nun haben wir's geschafft, steigen Sie ein!

Geleitet von der Staatssicherheit kam Eva Fischer in der grauen Limousine am Ufer des Kanals an. Das Auto hielt an der Oberbaumbrücke — der Grenze.

Westberliner Presse und Rundfunk meldeten in den ersten Januartagen 1962:

Eya Fischer aus sowjetzonalen Zuchthäusern zurück.

Eva Fischer nach elf Jahren Haft wieder in Freiheit.

Die SPD veranstaltete eine Pressekonferenz, der Sender Freies Berlin ein Fernsehinterview. Was Eva Fischer sprach war fern von Klage und Haß; sie berichtete in ihrem trockenen Berliner Ton.

Diesmal, sagte sie am Schluß, war das Heimkommen nicht so schlimm, ach — längst nicht so schlimm wie im Januar 1954. Aber Heimkommen aus dem Knast ist immer schwer. Die ganzen Jahre im Zuchthaus wurde man geschoben: Jetzt hast du zu essen, jetzt hast du zu arbeiten, jetzt ist Schlafenszeit. Und nun steht man da, muß alles selbst ankurbeln, ach, das fällt schwer.

Eine halbe Stunde nach der Fernsehsendung kam ein Anruf von irgendwoher, aus einer westdeutschen Stadt: Es meldete sich der Mann aus Sachsenhausen, nach dem Eva viele Jahre vergeblich gesucht hatte. Zwölf Jahre später erkannte er das Mädchen aus Sachsenhausen auf dem Bildschirm wieder----------Nach dem Wirbel der ersten Zeit wurde es wieder still um Eva Fischer. Ein Jahr hat sie gebraucht, um ihre Leiden auszuheilen. Dann bemühte sie sich um einen Beruf.

Eva Fischer hat nach elf Jahren Häftlings-dasein einen sozialen Beruf gewählt, den Dienst an gefährdeten Jugendlichen in ihrer Heimatstadt Berlin. Wer achtet jetzt in den Straßen, wenn die Leute morgens zur Arbeit eilen, auf die kleine blasse Person, die wie alle mit einer Aktentasche zur Arbeit geht. —

Werner Dirksen

Die Abriegelung in Berlin schnitt am 13. August 1961 die Versöhnungskirche von der Bernauer Straße ab. Die Kirchenportale zum Bürgersteig des Westsektors wurden zugemauert, ebenso der Eingang zum Pfarrhaus. Zu Beginn dieses Jahrhunderts waren drei Pfarrer mit ihren Familien in dieses Pfarrhaus eingezogen: Pasior Schwartzkopf, Pastor Burckhardt und Pastor Dirksen. Die siebzehn Pfarrerskinder hatten einen ausgedehnten Spielplatz: Den Friedhof neben der Versöhnungskirche. Heute darf niemand die Toten besuchen, nur die Stiefel von Volkspolizisten marschieren zwischen den Gräbern hin und her. Die vier Söhne des Pfarrers Dirksen saßen mit den Arbeiterjungen vom Wedding zusammen auf den Schulbänken des Humboldtgymnasiums. Für drei von ihnen stand fest: Sie wollten Pfarrer werden Der Zweitälteste, Werner, begann in Tübingen Theologie zu studieren und trat in eine aktive, christliche Verbindung ein. Sie fochten dort keine Mensuren, zu ihren Prinzipien gehörten Abstinenz und Keuschheit, aber genau wie die schlagenden Verbindungen unterwarfen sie sich einer strengen Gemeinschaftsordnung.

Zusammen mit den Theologiestudenten aus seiner Verbindung meldete sich Werner Dirksen 1914 als Kriegsfreiwilliger. Der alte Pastor Dirksen nahm am 11. Oktober 1914 auf dem Truppenübungsplatz Döberitz bei Berlin Abschied von seinem Sohn Werner. Die Grenadiere des zweiten Garderegimenies fuhren singend über den Rhein, hinein ins Feindes-land Belgien — in die Vernichtungsschlacht von Langemark. Fünf Tage marschierten sie, ehe sie sich bei Bowekerke (Niedrige Kirche) eingruben. Als am Morgen des 21. Oktober die Studenten in Soldatenuniformen über die Schlachtfelder ausschwärmten, waren sie 250 in der Kompanie. Am Abend lebten noch dreißig.

Der Grenadier Dirksen kroch auf Knien mit durchschossenem Unterschenkel durch zertrampelte Kohlfelder zurück. Im Lazarus-Krankenhaus in Berlin, das in den Gemeindebezirk seines Vaters gehörte, lag der Verwundete lange, die Wunde heilte nicht zu. Als Dirksen sich zum Offizierslehrgang meldete, humpelte er noch. In Leutnantsuniform zog er wieder ins Feld.

Drei Jahre Fronteinsatz. In der großen Schlacht an der Somme durchschlug ein Maschinengewehrgeschoß Dirksens Arm, zerriß ihm die Schlagader. Er mußte zurück, zuerst auf einem Munitionswagen und dann weiter zu Fuß auf den Weg zum nächsten Lazarett. Aber jedesmal, wenn Dirksen die Stelle erreichte, wo das Lazarett stehen sollte, war es bereits abgebrochen. Der Leutnant lief jetzt mit dem Tod um die Wette. Als er endlich ein Lazarett erreichte, verlor er im Zelt das Bewußtsein.

Sein Arm war bereits operiert, als er wieder zum Bewußtsein kam, er vernahm Rufe, Hammerschläge: Das Lazarett wurde wieder abgebrochen, der Feind drängte nach. Dirksen lief weiter zu Fuß, jetzt schon mit hohem Fieber. Als er Deutschland erreichte, den Rhein, über den sie einmal singend in diesen Krieg gefahren waren, brannte hier schon die Revolution. Sie verbrannte das Kaiserreich, die alte Zeit, deren Kind er war.

Dirksen zog den Leutnantsrock aus, der Krieg war zu Ende. Gott hatte seinem Vater, dem alten Pfarrer, den Tod vor Revolution und Zusammenbruch geschenkt. Sein Sohn Werner fürchtete die neue Zeit nicht. Sein Lebensweg lag deutlich vorgezeichnet da: Als evangelischer Geistlicher konnte er in der neuen Ara falscher Propheten, wie Karl Marx, den Verirrten und den Suchenden beistehen.

Dirksen studierte wieder Theologie. In Potsdam, wo er jetzt mit seiner Mutter wohnte, ging er jeden Morgen zum Verbinden ins Garnisonlazarett (sein Arm konnte erhalten werden, aber er eiterte immer noch, Ellbogen und Finger blieben steif) und von dort zum Bahnhof. Bis zu seinem Examen 1920 fuhr er jeden Tag von Potsdam nach Berlin zur Universität. Nach seinem zweiten Examen predigte er in der alten, traditionsreichen Garnison-kirche. Dann führte Werner Dirksen, jung verheiratet, in dem idyllischen märkischen Dorf

Stücken sieben Jahre lang das Leben eines Landpfarrers, bis er eine freigewordene Pfarrstelle in Rothenburg, einer kleinen Kreisstadt in der Lausitz, einen halben Kilometer westlich der Neiße, übernahm.

Dieses Städtchen sollte für ihn die Bühne seines Schicksals werden. Friedlich lag es inmitten hügliger Landschaft, seine Einwohner, vornehmlich Beamte, führten das Leben kleiner Bürger.

Zwei Jahre später trug fast jeder von ihnen das runde Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz am Aufschlag. Sie bildeten plötzlich die neue Sorte Deutscher, die sonntags mit der braunen Uniform den Fanatismus anzogen.

Dirksen wurde nun gemieden. Wer es weder mit Adolf Hitler noch mit dem lieben Gott verderben wollte konnte sich unter die „Deutschen Christen“ einreihen. Pastor Dirksen kannte keinen Kompromiß zwischen der Kirche und der neuen Diktatur. Die Mitglieder seiner Gemeinde sollten sich zu ihrem Glauben bekennen und Christen sein. Während die „Deutschen Christen" sich um den zweiten Pfarrer des Städtchens sammelten, scharte Pastor Dirksen die „Bekennenden Christen", die Aufrechten und Mutigen, um sich. Als Männer der Bekennenden Kirche in Zuchthäusern und Konzentrationslagern des Dritten Reiches verschwanden, verlas Pfarrer Dirksen — gegen das Verbot des Staates — von der Kanzel ihre Namen und gedachte ihrer in fürbittendem Gebet; mit kräftiger Stimme betete er für alle, die um ihres Glaubens willen ihre Freiheit verloren hatten.

In den Kirchenbänken saßen die Aufpasser und meldeten der Gestapo jede hinter Bibel-zitaten verborgene Aufsässigkeit!

Werner Dirksen war der Vertrauensmann der Bekennenden Kirche für den ganzen Kirchen-kreis; er redete in Versammlungen, hielt kirchenpolitische Vorträge, in denen er vor den Verführungen des Satans warnte. An neuen und alten Feiertagen ließ Pastor Dirksen immer nur die Kirchenfahne am Turm aufziehen. Als die Partei verbot, die Kirchenfahne ohne die Hakenkreuzfahne zu hissen, blieb der Kirchturm auf Weisung des Pfarrers ohne Fahnenschmuck. Auf seiner Kirche sollte die Hakenkreuzfahne nicht wehen!

Nachdem Pastor Dirksen das „Bekenntnis der e Barmer Synode" im Auftrag der Bekennenden Kirche beim Gottesdienst verlesen hatte, schickte die Parteileitung von Rothenburg ihre „Deutschen Christen" gegen diesen dickköpfigen, rückständigen Pastor ins Feld, der die neue Zeit nicht begreifen wollte. Ein Flugblatt, unterzeichnet „Der Evangelische Gemeinde-kirchenrat" wurde in allen Häusern verteilt:

Aufruf an alle Glieder der Ev. Kirchengemeinde Rothenburg (Lausitz).

Herr Pfarrer Dirksen hat, anscheinend als einziger Pfarrer in unserem Kirchenkreise, entgegen einem ausdrücklichen Beschluß des Gemeindekirchenrates im letzten Gottesdienst eine gegen die Reichskirchenregierung gerichtete „Botschaft der Bekenntnissynode" verlesen und sich damit nicht nur von der Reichskirchenregierung, sondern auch vom Gemeindekirchenrat unter erneutem Mißbrauch des Gottesdienstes in schroffster und unverantwortlicher Form getrennt. Der Gemeindekirchenrat spricht ihm dafür öffentlich seine Mißbilligung aus.

Wir bitten alle Glieder der Gemeinde, zu uns zu stehen als der ordnungsmäßig gewählten und rechtmäßigen Vertretung der Kirchengemeinde und dadurch den Versuch einer Spaltung im Keime zu ersticken.

Wir wollen die einige Deutsche Evangelische Kirche im geeinten Dritten Reich bauen helfen, das nicht durch neue Glaubenskämpfe zerrissen und in seinem Bestände bedroht werden darf. Dazu helfe uns Gott!

Werner Dirksen wurde zur Geheimen Staatspolizei nach Görlitz bestellt und verwarnt. Da er den Weisungen der Gestapo nicht folgte, wurde er das nächste Mal, gerade am Grün-donnerstag — was ihn besondern ärgern sollte — zur Geheimen Staatspolizei in Breslau beordert. Hier verkündete ihm die Gestapo, er habe zur Bestrafung tausend Reichsmark „Schweigegeld" zu zahlen. Eine solche Strafe wurde Pfarrern der Bekennenden Kirche auferlegt, um sie mundtot zu machen. Der Pfarrer hatte das Geld, bei seinem bescheidenen Gehalt eine sehr hohe Summe, auf ein Sparkassenkonto einzuzahlen. Wenn er drei Jahre im Sinne der NSDAP „geschwiegen" hatte, so würde er sein Geld mit Zinsen zurückerhalten. Diese Geldstrafe verhängte die Gestapo „zur Bewährung"; bei der kleinsten Renitenz erfolgte Verhaftung.

Dirksen zahlte im Laufe der Monate und Jahre sein „Schweigegeld" ab. Tausend Mark! Er nahm sich in acht, das Ende des Dritten Reiches stand nahe bevor. Hitlers Krieg verbrannte nun auch schon deutsche Erde.

An einem Februartag 1945 befahl der Kreisleiter die Räumung Rothenburgs. Zweitausend Einwohner wurden innerhalb von Stunden in Omnibussen, Personen-und Güterzügen ins Innere des Reiches transportiert. Pastor Dirksen fand sich mit seiner Familie im Fichtelgebirge wieder, die Mitglieder seiner Gemeinde waren über viele Dörfer verteilt. Mit dem Rad fuhr der Pastor über Land zu jedem einzelnen. Seine Amtsstube war zugleich das Zimmer, in dem er mit Frau und Kind schlief.

Würde Gott sie jemals alle wieder heimführen?

Sie kamen wieder heim — jedenfalls die, die heim wollten, die es wagten, nach dem verlorenen Krieg ihr Leben unter russischer Besatzung weiterzuführen. Die amerikanische Kommandantur hatte die Flüchtlinge aufgefordert, in ihre Heimat an der Neiße zurückzukehren. In ungeheizten Güterwagen fuhren die Rothenburger in diesem kalten ersten Nachkriegswinter heim in den Osten, in ihre von Schlachten, Bränden und Russenbesatzung verwundete, ausgeplünderte Stadt. Kirche und Pfarrhaus waren zerstört.

Der Pfarrer verkündete das Wort Gottes in einer Notkirche. Die Kommunistische Partei verkündete ein anderes Heil. Werner Dirksen war diesem gegenüber ebenso skeptisch, wie er es den Heilslehren des Nationalsozialismus gegenüber gewesen war. Aus seiner Gemeinde kamen sie von allen Seiten zu ihm: Herr Pastor, Sie haben uns die ganzen Jahre während der Naziherrschaft gelehrt, für unseren Glauben einzustehen. Jetzt soll es eine Partei mit christlichen, demokratischen Grundsätzen geben, Sie müssen dieser Partei beitreten, gerade Siel Als lutherischer Christ wußte Werner Dirksen, daß er niemals durch sein Handeln gerechtfertigt wäre. Justificatio sola gratia. Nur durch die Gnade! Und doch mußte jetzt gehandelt werden! Dirksen gründete in Rothenburg die Ortsgruppe der Christlich-Demokratischen Union und wurde Vorstandsmitglied.

Auch der katholische Pfarrer in Rothenburg wurde Mitglied der Christlich-Demokratischen Union. Aber keiner der beiden Geistlichen machte sich Illusionen über die Zukunft der Kirche Christi unter atheistischer Diktatur.

Nach den Gemeindewahlen im Herbst 1946 erhielt die CDU einen Stadtratsposten neben zwei Stadträten der SED zugewiesen. Werner Dirksen wurde dieser Stadtrat. Als Fraktionsvorsitzender der CDU vertrat er zugleich die Belange der zweiten bürgerlichen Partei, der Liberal-Demokratischen Partei. Der Pastor und Stadtrat wurde verdächtigt und angegriffen, er nähme die Familien der Staatsfeinde in Schutz, der alten Nazis, die jetzt ihre gerechte Strafe in Haftanstalten verbüßten. Dirksen entgegnete, seine seelsorgerische Tätigkeit verlange von ihm den Einsatz für die Schwachen, die Ausgestoßenen und Verfolgten, überdies geböte es die christliche Nächstenliebe. Solche Argumente entlasteten ihn in den Augen der Kommunisten nicht. Pastor Dirksen verlas nun wieder, wie in der Zeit der Nazidiktatur, von der Kanzel die Fürbitteliste mit den Namen der verhafteten Pfarrer, Vikare und Bruderratsmitglieder. Kommunistische Staatsfunktionäre verlangten in manchen Fällen, daß die Kirche einen beerdigte, der aus der Kirche ausgetreten war. Für Atheisten bedeutet eine kirchliche Beerdigung keine kirchliche Amtshaltung, sondern einen gesellschaftlichen Akt! Obwohl Pastor Dirksen wußte, daß Amtsbrüder verhaftet worden waren, weil sie eine solche „christliche" Beerdigung eines Atheisten verweigert hatten, ließ er sich nicht von seinen Prinzipien abbringen. Für Gott oder gegen Gott — diese Entscheidung hatte der Mensch zu treffen! „Du sollst Gott mehr gehorchen, denn den Menschen.“

Für ihn als Christen war die Verantwortung gegen Gott und gegen die Menschen unteilbar. Das allo genos, die Andersartigkeit seiner geistlichen Existenz enthob ihn nicht der Verpflichtungen gegen die irdischen Ordnungen — die Kirche Christi war hier auf Erden, für ihn, den Pfarrer hier auf diesem kleinen Fleck Erde in der Lausitz. Sie war unter dem kommunistischen Regime in Gefahr, so mußte der Pfarrer sich auf die politische Kampfbahn stellen.

Sie hatten viel Ärger mit ihm, die SED-Funktionäre und ihre Helfer und Helfershelfer in der Stadt und in der Stadtverwaltung. Dirksens gefährlichster Gegner war der in Moskau ausgebildete und von den Russen eingesetzte Bürgermeister von Rothenburg. Und doch schienen die Funktionäre vor rigorosen Maßnahmen gegen diesen Pastor, der allzuviel Anhänger in seiner Gemeinde hatte, zurückzuschrecken. Wäre er isoliert gewesen, ein Landpfarrer irgendwo in einer schwachen Gemeinde, sie hätten nicht gezögert, ihn mit Hilfe der politischen Polizei, der K 5, mundtot zu machen.

In der Stadtverwaltung scheiterte die reibungslose Kommunikation mit den russischen Offizieren der SMAD immer wieder an der Person des Stadtrates Dirksen. Bei der ersten

Sitzung, die er mitmachte, wurde er aufgefordert, mit seiner Unterschrift den Etat zu billigen. Wo ist der Etat? fragte Dirksen.

Ja, der ist schon bei der SMAD eingereicht, Sie brauchen bloß noch zu unterschreiben. Kommt gar nicht in Frage! Der Etat ist nicht von uns gemeinsam beschlossen worden; ich unterschreibe nicht!

Dann werden wir Ihre Weigerung der SMAD melden!

Bitte, tun Sie das!

Der 24. Juli schien der heißeste Tag des Jahres 1947 zu werden. In seiner hellen Leinenjacke schritt der Pastor am Nachmittag über den Marktplatz von Rothenburg. Er war eben erst den Fremden losgeworden, der mit irgendeiner nichtigen Frage in seinem Amtszim mer aufgetaucht war.

Jetzt sprach eine alte Frau den Pastor an. Sie war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden und wollte von ihren Leiden erzählen. Dirksen stand auf einen Spazierstock gestützt und hörte geduldig zu. Dabei beobachtete er das blaue Auto, das sich langsam vom Ende der Straße her näherte. Dieses Auto des MGB kam nie von ungefähr. Der Pastor sagte mehr zu sich selbst als zu der alten Frau: „Wen werden die Kerle wieder holen?"

Da hielt der Wagen bereits neben ihm am Bordstein. Ein Offizier mit der grünen Mütze des MGB stieg aus.

Sind Sie Herr Dirksen?

Ja.

Der General möchte Sie kennenlernen. Wollen Sie bitte einsteigen.

Aber dann möchte ich vorher noch nach Hause und mich umziehen. Ich hab ja nur meine älteste Hose und die Leinenjacke an.

Nicht nötig. Steigen Sie ein.

Der Pastor kletterte auf den hintersten Sitz. Vor ihm zwei Offiziere und ein Zivilist. Dirksen sah nur seinen Nacken unter einer tief-gezogenen Mütze.

Als sie vor dem Polizeigebäude alle mit ihm ausstiegen, erkannte der Pastor den Mann plötzlich: Es war der Fremde, der vorhin in seinem Amtszimmer mit irgendeiner nichtigen Frage erschienen war. Jetzt verschwand er, ohne den Pfarrer anzublicken, im Polizeigebäude. Seine Aufgabe war erfüllt.

Der Pastor wartete in einem Dienstraum, saß auf einem altmodischen Sofa und sah den Uniformierten und Zivilisten zu, Russen und Deutschen, die geschäftig aus-und eingingen. Er fühlte sich seelenruhig. Er hatte nichts getan, gesagt und gepredigt, was nicht jeder wußte, der es wissen wollte. Er hatte niemals gegen das Regime oder gegen Personen des Regimes konspiriert. Offen und unmißverständlich war sein Kampf von Anfang an bis heute gewesen.

Dirksen mußte wieder in das blaue Auto steigen, die gleichen MGB-Offiziere — es fehlte nur der Zivilist — fuhren mit ihm weiter. Sie fuhren aus der Stadt heraus. Als kein Mensch und keine menschliche Behausung rechts und links der Landstraße mehr zu sehen waren, stoppte der Wagen. Der Offizier drehte sich zu ihm um, zielte mit einer Pistole auf seine Brust und sagte barsch: Sachen herausgeben!

Dirksen leerte seine Taschen.

Stock auch, ist Zeichen von freiem Mann.

Dirksen reichte ihm seinen Spazierstock. Es war jetzt klar, daß dies kein freundlicher Besuch beim „General" werden würde! Sie brachten ihn tatsächlich in die Villa des „Generals" in Görlitz, jedoch nicht durch das Vorderportal, sondern durch den Hintereingang direkt in den Keller.

Der Pastor schien in dem großen Kellerraum mit mehreren Pritschen der einzige „Gast" des „Generals" zu sein. Es wurde ihm nichts zu trinken oder zu essen angeboten. So legte er sich auf eine der Pritschen und horchte auf die Stiefeltritte vor dem Kellerfenster hin und her, hin und her. Unter dem tak — tak, tak — tak schlief er ein wie unter dem Ticken einer Kirchturmuhr.

Das ungewohnt harte Lager störte ihn nicht. Früh wurde er geweckt; es ging weiter mit seinen Bewachern nach Bautzen. Dort verschwanden zwei der MGB-Leute in einem ziegelroten Gebäude und kamen sichtlich verärgert wieder heraus — anscheinend hatten sie vergeblich versucht, ihren Häftling hier abzugeben. Die Fahrt ging weiter, an den Wegweisern sah Dirksen: Nach Dresden. Seit gestern hatte keiner der MGB-Offiziere ein Wort an ihn gerichtet außer dawei, dawei (aufstehen) — dawei (ins Auto steigen).

Jetzt ließen sie das Auto an einer Wiese mit Obstbäumen neben der Landstraße stehen. Zwei Offiziere kletterten über den Zaun und pflückten sich die Taschen voll Äpfel. Sie reichten ihrem Gefangenen ein paar dieser kleinen unreifen grünen Dinger, das erste, was er seit seiner Verhaftung zu essen bekam, dazu ein Stück trockenes Brot. Auch die Russen aßen nichts anderes.

Während der Weiterfahrt verdüsterte sich der Himmel, ein Gewitter rollte über sie hinweg. Die MGB-Leute machten sich das Vergnügen, den Pfarrer zu verhöhnen, ob sein Gott wohl seine Donnerstimme für ihn erhöbe.

Der Gewitterregen hatte aufgehört, das Auto fuhr durch hüglige Vorstadtstraßen Dresdens und bog in ein Tor, von grünbemützten Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht.

Eine große Stuckvilla in einem Park mit hohen alten Bäumen und einer zertrampelten Rasen-fläche. Dirksen durfte aussteigen. Er war zum erstenmal sich selbst überlassen. Ein Entkommen war gar nicht möglich. Abenddämmerung senkte sich über die weiße Villenfassade, hinter der alle Fenster wie festlich erleuchtet waren. Dirksen hatte sich auf den Rasen gesetzt. Nur noch Geduld half; Ergebenheit in das Schicksal. Er war in Gottes Hand, auch hier.

Die vier Russen kamen aus der Villa heraus und bedeuteten ihrem Häftling, wieder in das blaue Auto zu steigen. Wieder waren sie ihn nicht losgeworden!

Sie mußten ihn weiter mit sich herumschleppen, unerklärlich warum! In einem Haus im Stadtinnern übernachteten sie alle; es war ein Zimmer mit sechs Betten, in dem sie unter-kamen. Dirksen drehte sich auf dem ihm zugewiesenen Lager mit dem Gesicht gegen die Wand. Er hörte wie dieMGB-Leute schwatzend am Tisch saßen, tranken und aßen. Er hatte wieder nichts zu trinken oder zu essen bekommen. Er lag abgewandt, betete und versuchte einzuschlafen.

Im Morgengrauen brachen sie mit ihm auf. Er war hungrig, ungewaschen, unrasiert. Schwarze Stoppeln bedeckten den unteren Teil seines Gesichts wie eine Schmutzschicht. Er fühlte sich schmutzig und klebrig von oben bis unten. Seine Leinenjacke war zerdrückt, auch nachts war die Julihitze nicht aus den Räumen gewichen.

Jetzt schien die Fahrt geradewegs nach Berlin zu gehen, von Autopannen unterbrochen; in einem großen Zellenbunker in Berlin endete die dreitägige Odyssee.

Hier verließen ihn seine vier Bewacher. Neue Bewacher nahmen den Häftling in Empfang, durchsuchten noch einmal seine schon geleerten Taschen, nahmen ihm die Brille ab, Schlips, Schnürsenkel, Hosenträger, schnitten ihm sämtliche Knöpfe von der Hose und der Jacke. Keiner sollte sich selbst ums Leben bringen. Wenn das zu besorgen war, würde es das MGB tun!

Der neue Häftling wurde jetzt einen langen unterirdischen Gang hinuntergeführt, der mit Gummiläufern belegt war; die Schritte blieben lautlos. Dirksen hielt seine Hose fest und versuchte, ohne Brille etwas zu erkennen. Der Wachtposten rief stoj und schloß eine der Türen auf. Dirksen erblickte undeutlich sechs oder sieben Gestalten im künstlichen Licht. Lumpen schlotterten um ausgemergelte Glieder. Große Augen in verhungerten, bärtigen Gesichtern starrten ihn an. Dirksen konnte keinen Schritt vorwärts tun, regungslos vor Entsetzen blieb er stehen.

Eine Stimme: Na, komm schon rein!

Er stolperte in die Zelle, hinter ihm schloß der Posten die Tür ab.

Die sieben Zellengenossen stellten sich vor: Ein Jurist, ein Journalist, ein Philologe, ein Kaufmann, ein Obsthändler (später erfuhr Dirksen, er war der Zellenspitzel), zwei Beamte. Sie informierten Dirksen, wo er sich befand: im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen, der zentralen Sammelstelle des MGB.

Diese dritte Nacht als Gefangener war die furchtbarste. Unentrinnbar — endgültig — sein Schicksal in der unterirdischen Zelle. Bald würde er im gleichen Zustand wie diese Verwahrlosten sein, mit denen er, eng aneinandergedrückt, auf der Pritsche lag. Luft kam nur durch einen viereckigen, holzumkleideten Luftkanal, ein Exhaustor drückte sie in die fensterlose Innenzelle. Die Betonwände fühlten sich feucht an wie in einer Gruft.

Am nächsten Morgen betrat ein Wachtposten mit einer Liste in der Hand die Zelle und fragte jeden einzelnen: Kak familija? (welcher Name?). Als der Name Werner Dirksen fiel, rief er: Mitkommen, dawei!

Auf dem Gang wollte er die Hände des Häftlings fesseln, aber Dirksen streckte ihm seinen verkrüppelten Arm entgegen und sagte nur: Invalid. Dai aufhin verzichtete der Posten darauf, ihm Handschellen anzulegen (das sollten später erst die Deutschen tun), und ließ den Pastor, der seine Leinenjacke ohne Knöpfe anhatte und seine Hose festhalten mußte, vor sich her die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufgehen. Wieder ein langer kahler Gang. Durch die Türen tönten die Stimmen der Vernehmungsoffiziere. Dirksen erhielt einen Stoß in den Rücken, der ihn mit dem Gesicht gegen die Wand warf. Stoj!

Der Posten trat in eines der Zimmer, machte dort Meldung und holte den Häftling herein.

Ein junger Offizier saß hinter einem schräg vor das Fenster gestellten Schreibtisch und bedeutete Dirksen, sich auf einen* Schemel neben der Tür zu setzen.

Der Pfarrer saß wie befohlen mit nebeneinandergestellten Füßen, die Hände auf die Knie gelegt, und wartete auf den Beginn des Verhörs. Der MGB-Offizier verhielt sich, als wäre er allein im Raum, zog eine Zeitung und Zigaietten aus der Schreibtischschublade, zündete sich eine lange Papyrosa an und las.

Der Pfarrer wartete.

Nach etwa einer halben Stunde hob der Offizier den Kopf und sagte in ruhig befehlendem Ton: Erzällen Sie Ihre verrbrecherische Tättigkeit!

Ich bin evangelischer Pastor, ich habe keine verbrecherische Tätigkeit ausgeübt, erwiderte Dirksen.

Der Offizier vertiefte sich erneut in seine Zeitungslektüre und unterbrach sie wieder nach einer halben Stunde: Erzällen Sie Ihre verrbrecherische Tättigkeit!

Ich bin evangelischer Pastor und kein Verbrecher. Dieses mechanische Frage-und Antwortspiel wiederholte sich in fünf Stunden zehnmal.

Dann hob der Offizier den Telefonhörer ab und sprach ein paar Worte in Russisch hinein.

Als der Wachtposten eintrat, um den Häftling abzuholen, sagte der Offizier: Überleggen Sie in Zelle.

Dann wurde Dirksen abgeführt.

Zwei Wochen lang spielte sich täglich fünf Stunden das gleiche ab. Der Offizier verbrachte die „Verhöre" vornehmlich mit Rauchen und Zeitunglesen — der Pfarrer mit stummem Warten.

Am Schluß jedesmal die Aufforderung: überleggen Sie in Zelle.

Eines Tages trat zur ersten Frage eine zweite: Erzällen Sie Ihre, verrbrecherische Tättigkeit. Kennen Sie Noß?

Nein, ich kenne keinen Noß.

überleggen Sie in Zelle!

In der Zelle grübelte Dirksen. Wer sollte das sein, Noß? Was war das für ein Name? Endlich — nach Tagen und Nächten angestrengten Nachdenkens tauchte eine vage Erinnerung auf: Seine Amtsstube in Rothenburg. Er selbst am Tisch, darauf Kaffeetassen und die Kaffeekanne, und gegenüber im Stuhl ein Mann. Dirksen erinnerte sich kaum an sein Gesicht. Er kam als Begleiter einer Frau, die •während des Krieges von Berlin nach Rothenburg evakuiert worden war und jetzt ihre hier noch zurückgebliebenen Sachen holen wollte, von denen ein Teil eingemauert in der Sakristei lag.

Die Frau hatte Pastor Dirksen vor ihrer Reise gebeten, er möge für sie und ihren Begleiter beim Bürgermeister die Einreiseerlaubnis nach Rothenburg erwirken. Die Stadt lag innerhalb der Zehn-Kilometer-Sperrzone entlang der Neiße; sie konnte nur mit besonderer Erlaubnis betreten werden.

Pastor Dirksen war mit dem Brief der Frau zum Bürgermeister gegangen. Kennen Sie denn die Leute? hatte der Bürgermeister gefragt.

Nur die Frau.

Trotzdem erhielt sie auch für ihren Begleiter die Einreiseerlaubnis. Dirksen erinnerte sich jetzt in der Zelle deutlich an die Szene, als seine kleine Tochter auf den Schoß des Fremden gekrabbelt war und gefragt hatte: Onkel, wie heißt du?

Er hatte an seine Nase gefaßt und geantwortet: Noß! Die Nase!

Von diesem Tag an mußte Dirksen bei jeder Vernehmung den ganzen Hergang von neuem erzählen. Jedesmal wurde ein langes Protokoll angefertigt, das er zu unterschreiben hatte. Ein halbes Jahr lang dieselbe Frage, darauf dieselbe Geschichte, darauf dasselbe Protokoll mit Unterschrift!

In den Monaten als Untersuchungsgefangener im „U-Boot" — wie die Häftlinge ihren Zellen-bunker nannten — waren dem Pfarrer die meisten Gepflogenheiten und Gegebenheiten des Gefängnisdaseins nicht mehr fremd. Er hatte unterdessen gelernt, sich auf die Weise Gefangener zu informieren: Die Lüftungskanäle erwiesen sich als gute Telefonleitungen, und bewährte „Klopfer" in der Zelle brachten wichtige Nachrichten für Dirksen aus dem ganzen Untersuchungsgefängnis zusammen. So erfuhr er, daß noch andere außer ihm wegen „Noß" in Hohenschönhausen saßen, daß dieser Mann mit dem Decknamen „Noß" für einen amerikanischen Geheimdienst arbeitete. Sein Chef, bekannt unter dem Decknamen Jonath, wäre die Schlüsselfigur. „Noß" hätte damals auf seiner Reise außer Pastor Dirksen mehrer Personen ausgesucht, die jetzt ebenfalls hier in den unterirdischen Zellen lagen.

Der Vernehmungsoffizier verlangte immer mehr Einzelheiten über „Noß" von Dirksen zu erfahren: Pop — er nannte den Pastor Pop — Du amerikanischer Spion für Noß, wir wissen! Um Gottes willen nein! Ich bin Pastor und kein Spion! Stellen Sie midi endlich diesem „Noß“ gegenüber. Ich bitte Sie immer wieder darum! Dann wird sich erweisen, daß ich nichts mit ihm, nichts mit Spionage zu tun habe!

„Noß kommt vor höheres Gericht", erwiderte der Vernehmungsoffizier jedesmal pathetisch.

Die Verhöre wegen „Noß“ schienen kein Ende zu nehmen. Dirksen wurde von seinem Vernehmungsoffizier nicht geschlagen, vielleicht hatte er einem „Pop" gegenüber Hemmungen. Aber andere wurden geschlagen! Dirksen erfuhr durch die Klopfer, daß sie am Ende ihrer Kräfte waren. Eines Tages würden sie doch noch die Geständnisse ablegen, die von ihnen verlangt wurden!

In Dirksens Zelle berieten sie. Der Jurist erklärte: Nur ein Gerichtstermin beendet die ganze Schinderei. Für den Termin müssen die Untersuchungen abgeschlossen sein, die Protokolle müssen vorliegen. Nach deutschem Recht ist die Unterschrift unter einem Protokoll nur rechtsgültig, wenn derjenige, der sie geleistet hat, die Sprache versteht, in der das Protokoll abgefaßt ist.

Die „Klopfer" in den Zellen arbeiteten jetzt fieberhaft: Eine Verabredung wurde getroffen, nach der jeder die geforderten Geständnisse unterschreiben und vor Gericht widerrufen sollte.

Der sowjetische Staatssicherheitsdienst konnte nun nach siebenmonatelangen Verhören seine Vernehmungen über den „Fall Jonath“ abschließen. Die Protokolle umfaßten 2424 Seiten. Jeder der Angeklagten — darunter eine Frau — erhielt das Recht zugebilligt, sich sämtliche Protokolle vorlesen zu lassen, die zu diesem Zweck in fünf Teile aufgeteilt wurden.

Werner Dirksen verzichtete darauf — sie würden ja doch alles widerrufen! —, er wünschte nur, den Inhalt von drei Protokollen zu erfahren: 1. über die Vernehmung seiner Frau (Gertrud Dirksen hatte angegeben, einen Noß nicht zu kennen);

2. einen Brief von „Noß“ an „Jonath" mit dem Satz: Ich halte Pfarrer Dirksen geeignet, für unsere Zwecke geworben zu werden; 3. die Antwort von „Jonath" an „Noß": Bringen Sie bitte den Pfarrer Dirksen, von dem ich nicht mal weiß, ob er evangelisch oder katholisch ist, zu mir, wenn er gelegentlich nach Berlin kommt. (Wie war das MGB in den Besitz dieser Briefe gelangt? Auf diese Frage gab es nur die Antwort: Noß mußte für beide Seiten als Spion gearbeitet haben!)

In einer Nacht wurden die Fünfundzwanzig aus dem Bunkergefängnis Hohenschönhausen weggebracht und ins Gefängnis Berlin-Lichten-berg transportiert. Am 22. Juli 1948, ein Jahr nach Dirksens Verhaftung, begann der Prozeß: „Fall Jonath".

In drei Reihen saßen die Angeklagten auf Gartenstühlen, in der letzten Reihe allein die Frau, eine Angestellte der Inneren Mission. In der ersten Reihe, weit voneinander getrennt, die drei „Residenten" (Agenten, die wieder Agenten zu werben haben). Diese drei hatten tatsächlich für „Jonath" gearbeitet, alle anderen Angeklagten hatten mit „Noß" nicht mehr zu tun, als z. B.der eine, ein Gastwirt, der „Noß“ ein Glas Bier ausgeschenkt und ein paar belanglose Worte mit ihm gewechselt hatte, oder als ein Taxifahrer, der „Noß" irgendwohin gefahren hatte.

Der Angeklagte Dirksen konnte sich nur noch erinnern, daß er sich mit „Noß" während der halben Stunde in seinem Amtszimmer des längeren über den Genuß einer Tasse Kaffee unterhalten hatte.

In der als Gerichtssaal dekorierten Gefängnis-kapelle sah sich der Pfarrer unter seinen Mitangeklagten um: Keinen einzigen hatte er jemals in seinem Leben gesehen, er hatte nur durch die „Klopfer" Verbindung mit ihnen bekommen. Der Vorsitzende in Majorsuniform richtete jetzt an jeden einzelnen die Frage — der Dolmetscher übersetzte: Fühlen Sie sich schuldig? Und nun geschah das für Dirksen Unfaßbare: Sie sagten ja! Ja, ich fühle mich schuldig! Zerstört — zermürbt von monate-, manchmal jahrelanger Bearbeitung durch das MGB waren ihre Seelen nach bewährten Methoden „zertrümmert", ihr Geist durch „Gehirnwäsche" unfähig und willenlos gemacht worden.

Der Pfarrer unterschied sich in seinem Aussehen in nichts von den übrigen Angeklagten. Auch er war ausgemergelt, unrasiert, die alte Leinenjacke hing an ihm herunter. Aber er wußte, daß ihn sein tägliches Gebet, daß ihn Gottes Gnade, Gottes Wille vor dem bewahrt hatte, was den anderen widerfahren war.

Als der Vorsitzende den Pfarrer fragte: Fühlen Sie sich schuldig? anwortete er mit klarer, deutlicher Stimme: Nein! Unschuldig!

Die vier Angeklagten, die nach Dirksen ihre Schuld bekennen sollten, erwiderten dem Vorsitzenden nun ebenfalls: Nein! Unschuldig!

Schon bei seiner letzten Vernehmung hatte Dirksen verkündet, er würde vor Gericht seine Aussagen widerrufen, woraufhin der Vernehmet in große Aufregung geraten war und drohte: Wenn Sie Ihre Schuld nicht eingestehen, werden Sie zu 25 Jahren verurteilt! Wenn Sie sich schuldig bekennen, nur zu drei Jahren!

Dann wollen Sie mich zwingen, zu lügen, hatte Dirksen erwidert, ich bin evangelischer Pfarrer, nur Gott und meinem Gewissen verantwortlich. Ich werde vor Gericht keine Lüge aussprechen!

Als Dirksen im Gerichtssaal vortrat, um seine Aussage zu machen, bot der Staatsanwalt ihm als Schwerkriegsbeschädigten einen Stuhl an, wobei er halblaut zu ihm sagte: Wie kommt Saul unter die Propheten?

Dirksen sah ihn erstaunt an. Der Russe hatte sich bisher nicht anmerken lassen, daß er fehlerlos Deutsch sprach.

Nach drei Tagen erfolgte die Urteilsverkündung: Werner Dirksen und zwanzig weitere Angeklagte 25 Jahre Arbeitslager wegen „Spionage", vier Angeklagte zwanzig Jahre Arbeitslager wegen Spionage.

Bei Werner Dirksen hieß es bei der Urteilsverlesung: Hat Namen sowjetischer Offiziere an den amerikanischen Geheimdienst weitergegeben (diese Version tauchte erstmalig bei der Urteilsverkündung aufl).

Jedenfalls hatten die, die ihre erpreßten Geständnisse abgelegt hatten, das gleiche Strafmaß zudiktiert bekommen wie die, die sich unschuldig bekannten. Keiner der fünfundzwanzig hatte Recht oder Gnade erwartet, keiner brach bei seiner Verurteilung zusammen, schweigend ließen sie sich von MGB-Soldaten mit Karabinern aus dem Gerichtssaal führen.

Als der Pfarrer Werner Dirksen zur Verbüßung seiner Strafe ins Zuchthaus Bautzen transportiert wurde, ging es schon auf den Winter zu. Im „gelben Elend“ sollten die „Internierten" und die MTS-Verurteilten, die hier zusammenlagen, frieren, aber nicht erfrieren, hungern, aber nicht verhungern. Dennoch sah der Strafgefangene Dirksen, wie jeden Morgen das Pony den langen, niedrigen Kastenwagen über den Flos zum Lagertor hinauszog. Er war beladen mit den Toten der letzten Nacht. Die Menschen hier starben — starben — an Tbc und Hungertyphus. 1950, als die Russen das Zuchthaus Bautzen der deutschen Volkspolizei übergaben, nahmen sie diejenigen mit, die zum „Leichenkommando" gehört hatten. Niemand sollte erfahren, wie-viel Tote im Laufe der fünf Jahre, nackt, wie sie einmal auf diese Welt gekommen waren, der Erde zurückgegeben wurden. Man schüttete mit den Leichen die alten Schützengräben in Bautzen zu oder verscharrte sie in Massengräbern auf dem „Karnickelberg".

Nach eineinhalb Jahren unter russischem Strafvollzug wurde Werner Dirksen zusammen mit den anderen, von sowjetischen Militärgerichten Verurteilten, dem deutschen Strafvollzug übergeben. Offiziell waren es zweitausend, die im Februar 1950 von der Volkspolizei übernommen werden sollten. Tatsächlich handelte es sich aber um zehntausend Häftlingei Damit war alle „Planung" für Verpflegung über den Haufen geworfen. Eine Katastrophe bahnte sich an.

Die Volkskammer hatte beschlossen, Zuchthäusler, Staatsfeinde seien nicht einmal die unterste Lebensmittelkarte der Deutschen Demokratischen Republik wert, und so ließ man die Zehntausende im „gelben Elend" hungern — verhungern!

Der Sträfling Dirksen lag im Saal der Dystrophiker, der über einmeterachtzig Großen, die um eine Spur besser verpflegt wurden, und doch war er auf 51 Kilo abgemagert, Herz und Galle schmerzten ununterbrochen.

Es war am Morgen des 13. März 1950, als die Bewohner der Häuser um das „gelbe Elend" Schreien hörten, ein Schreien wie aus tausend Kehlen. Es kam von dem Kreuzbau auf dem oberen Hügel. Leute liefen aus der Stadt zusammen, sie sammelten sich unterhalb der Zuchthausmauern, erschrocken, entsetzt blickten sie an den gelben Wänden hoch: Aus allen Zellen wurden weiße Laken geschüttelt, die Gefangenen schrien:

Wir müssen verhungern!

Wir müssen verrecken!

Wo bleibt das Rote Kreuz?

Wo bleibt die Kirche?

Warum hilft uns niemand?

Die Leute am Hügel unterhalb des Zuchthauses schrien jetzt zurück:

Wir wollen unsere Männer wiederhaben! Wir wollen unsere Väter wiederhaben!

Ihr laßt sie verhungern!

Nach diesem ersten Hungerstreik versprach die Anstaltsleitung den Gefangenen bessere Verpflegung. Als sich nichts besserte, begann am 31. März der zweite Hungerstreik.

Jetzt ließ die Anstaltsleitung nicht mehr mit sich reden, sie handelte: Zwei Hunderschaften Kasernierter Volkspolizei rückten an. Sie begannen mit der Niederschlagung der Hunger-revolte bei den Schwächsten, den Tbc-Kranken. Mit Feuerwehrschläuchen spritzten sie in die Säle. Laßt sie in Frieden, schrie der Arzt ihnen zu, es sind Sterbende. Der Arzt wurde von Volkspolizisten niedergeschlagen.

Die erste Hundertschaft rückte nun in den Kreuzbau vor. Sie öffneten die Zellentüren und schrien: Raus! Alle raus! Von der ersten, der norddeutschen Hundertschaft riefen einige den Sträflingen zu: Schnell verkriecht euch unter die Pritschen — denn sie wußten, die von der sächsischenHundertschaft würden erbarmungslos vorgehen. Diese holten die Häftlinge auch unter den Pritschen hervor, trieben sie über die Gänge zum Spießrutenlaufen, und am Abend konnten sie melden: Revolte niedergeschlagen. Vier Tote, über hundert Verletzte!

Tage später ging eine sowjetische Kommission durch die Anstalt und fragte die Häftlinge: Wer ist geschlagen worden?

Fast alle meldeten sich.

Wer ist während der letzten Monate geschlagen worden? Die Russen notierten die Namen. Nach dem Besuch dieser Kommission trat eine Erleichterung für die Strafgefangenen ein: Sie durften Post und Pakete mit Lebensmitteln erhalten. Aber diese Tausende schienen weiter ein gefährlicher Zündstoff zu sein, und so wurden sie im Juli auf andere Strafvollzugsanstalten verteilt.

Der Strafgefangene Werner Dirksen kam mit dem dritten Transport ins Zuchthaus Brandenburg-Goerden. Fünf Züge mit je zweihundert-fünfzig Mann fuhren in den Bahnhof von Brandenburg ein; der Wagen, in dem Dirksen lag, wurde einen Tag und eine Nacht auf einem Nebengleis abgestellt, ehe das Zuchthaus zum Empfang bereit war. Es wurde ein haßerfüllter, häßlicher Empfang — Volkspolizisten mit Karabinern im Anschlag vor dem Eingang, in den Ecken des Zuchthaushofes, auf allen Gängen.

Werner Dirksen kam in eine Viermann-Zelle, die mit vierzehn Mann belegt wurde. In Bautzen hatte er nicht gearbeitet, und er arbeitete auch in Brandenburg nicht. Anfänglich konnten sich die Häftlinge freiwillig zur Arbeit melden, später wurde es Zwang. Aber Dirksen schützte seine Kriegsverletzung vor; er war nicht bereit', auch noch im Zuchthaus für diesen Staat zu arbeitenl Der Pfarrer hatte seine besonderen seelsorgerischen Pflichten, gerade im Zuchthaus. Es gab Sträflinge, die sich in seine Zelle verlegen ließen, als sie hörten, daß dort ein evangelischer Pfarrer sei. Du hast es besser als wir, sagte mancher zu ihm, Du hast Deinen Glauben. Wir haben gar nichts mehr. Sie fragten drängend: Was ist die Schuld unseres Lebens? Sie fragten voller Zorn: Warum sind wir hier als Gefangene, und die Lumpen, die uns angezeigt haben, sind frei? Wo ist da Gottes Gerechtigkeit? In Bautzen, wo sie zu achtundzwanzig Mann in einer Zelle gelegen hatten, ging der Pastor mit ihnen während solcher Gespräche im Gang zwischen den Pritschen, der sogenannten Stalin-allee, auf und ab. Wir als Christen, erwiderte er, wir wissen, alles steht in Gottes Hand. Er leitet unsere Wege, und wenn uns der Weg oft dunkel erscheint, so hat doch alles seinen Sinn und seinen Auftrag.

Was für einen Sinn? Was für einen Auftrag?

Wir haben den Auftrag, uns da zu bewähren, wo Gott uns hingestellt hat.

Aber hier werden wir sterben-------„Denn unser keiner lebt ihm selber, und keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn." (Gal. 2, 20. Thess. 5, 10).

Einige Male erteilte der Pastor einem, der darum bat, das Abendmahl, verborgen in einer Ecke des Saales, mit Wasser und Brot. Er hielt Andachten ab: In seiner abgerissenen Kleidung hockte er in der Mitte der großen Pritschen, und die ihm zuhören wollten, deckten ihn mit ihren Rücken gegen die Sicht ab. Diese Andachten waren streng verboten. Dirksen erwartete täglich eine Anzeige bei der Anstaltsleitung. Doch keiner der Zellengenossen zeigte ihn an. Wer im Saal an den Andachten nicht teilnehmen wollte, ignorierte sie.

Zum offiziellen Gottesdienst alle vier bis sechs Wochen wurde der Sträfling Dirksen nur selten zugelassen, obwohl er sich jedesmal dafür meldete. Er entsprach in seinem Äußeren nicht den Erfordernissen für die Teilnahme am Gottesdienst; er sah zu verhungert und zu zerlumpt aus. — In Bautzen hatte der Bischof für die Häftlinge bei der Anstaltsleitung erreichen können, daß für jeden Saal ein Neues Testament ausgegeben würde. Dirksen las seinen Kameraden vor allen aus den Briefen des Apostels Paulus vor, der selbst Gefangener war.

„Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie ich es finde. Ich kann beides, satt sein und hungern, übrig haben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus." (Philipper 4, 11— 13)

Eines Tages in Brandenburg beorderte ihn der Politoffizier zu sich und fragte: Sie sind evangelischer Pastor, da müssen Sie ja die Wahrheit sagen, nicht wahr? Mir liegt die Meldung vor, Sie hätten behauptet, das Leben hier sei wie in der Hölle! Haben Sie das gesagt? Himmel und Hölle sind bei uns Theologen Begriffe, die immer wieder vorkommen, erwiderte der Häftling. Zur Strafe für seinen Vergleich mit der Hölle kam er in den Karzer.

Nach Jahren zum erstenmal allein! Welche Erlösung! Endlich konnte er sich in der stillen Zelle sammeln, ungestört nachdenken und beten.

Nach der Verbüßung seiner Karzerstrafe wurde Dirksen für ein Jahr in eine Einzelzelle gesteckt. Sein einziger Gesprächspartner war der Anstaltsgeistliche, einer der SED-Pfarrer, der sich mit der Partei arrangiert hatte. Außerdem hörte bei der Sprechstunde ein Wachtmeister zu. Pastor Dirksen gab diese Gespräche wieder auf.

Seit Jahren bemühte sich seine Frau bei der Anstaltsleitung um eine Besuchserlaubnis. Die lakonische Antwort lautete jedesmal: „Bezugnehmend auf Ihr Schreiben teilen wir Ihnen mit, daß ein Besuch Ihres Mannes zur Zeit nicht möglich ist. Sie erhalten zur Zeit diesbezüglich Nachricht. Weitere Anfragen sind zwecklos. V. P. Inspekteur" Seinen ersten Weihnachtsbrief aus dem Zuchthaus Brandenburg durfte der Strafgefangene Werner Dirksen am 10. Dezember 1950 schreiben:

„Mir ist eine große Tür aufgetan", gilt auch von mir. Haltet an mit Eurem Gebet wie ich es für Euch und alle Lieben und Getreuen tue. Wie trostreich ist mitten in der großen Finsternis, vom Heiligen Geist zu wissen! Die Freude eines Gefangenen Paulus im Philipperbrief ist so beglückend. Auch in Tränen gibt es ein freudiges Danken und das „Trotzdem" des felsenfesten Vertrauens — „Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl."

Als er nach Jahren zum erstenmal in einem Brief Fotografien seiner jüngsten Tochter erhielt, schrieb er:

Erschütternd war der Anblick der Bilder von Ute! Heute sind es genau sechs Jahre, daß ich sie das letztemal sah. Völlig fremd ist sie mir geworden. Auch daß sie nicht meine Hoffnung betr. ihrer Zukunft teilt, ist mir so weh, aber sie soll sich ja nicht gegen ihre Neigung ihr Leben aufbauenl

Seine Frau kämpfte nicht nur um eine Besuchserlaubnis. Sie hatte sich um Hilfe für ihren Mann auch an die Kirche gewandt. Der Bischof antwortete ihr, auf Beschluß der Synode seien für Pfarrer Dirksen Gesuche an folgende Stellen gerichtet worden:

Am 15. Oktober 1948 an die Innere Abteilung (Geheime Staatspolizei) in Dresden-Neustadt, Bautzener Straße.

Am 1. Februar 1948 an den Prokur bei der Sowjetischen Militäradministration in Dresden. Am 9. März 1949 an General Dubrowski bei der Sowjetischen Militäradministration Dresden.

Am 12. Oktober 1949 an den Kapitän Rudakow bei der Sowjetischen Militäradministration in Dresden.

Am 20. Juni 1950 an die Leitung der Strafanstalt. Alle diese Gesuche seien ohne Antwort geblieben, schrieb der Bischof. Nebenbei seien wegen Pfarrer Dirksen ebensoviel persönliche Verhandlungen von Männern der evangelischen Landeskirche mit sowjetischen und deutschen Stellen geführt worden, -alle ohne Erfolg!

Am 22. Dezember 1953 — ihrem Geburtstag — durfte Gertrud Dirksen ihren Mann in dem Besucherzimmer des Zuchthauses Brandenburg nach sieben Jahren wiedersehen. Drei Wochen später, am 16. Januar 1954, fuhr im Morgen-dunkel ein offener Polizeiwagen vom Zuchthaus zum Bahnhof von Brandenburg. Der VP-Offizier, der die entlassenen Strafgefangenen an den Zug brachte, wollte ihnen zum Abschied die Hand reichen, keiner nahm sie.

Werner Dirksen trat an den HO-Kiosk des Bahnsteigs und bestellte sich nach sieben Jahren die erste Tasse Bohnenkaffee. Im Zug nach Berlin dröhnten durch die Abteile Lautsprecher mit Rundfunknachrichten:

— — — sechstausend Strafgefangene heute durch Amnestie entlassen-----------

Sie sahen sich an: Das sind wir!

Am Ostbahnhof Berlin dösten die Leute im Wartesaal vor sich hin, als eine Gruppe Männer eintrat, alle mit den gleichen Schirmmützen und mit den gleichen Provianttüten im Arm. Stumm und vorsichtig ließen sie sich an den Tischen nieder. Und da kamen schon von allen Seiten Spenden: Schnaps, Kaffee, Zigaretten. Auch durch den Lautsprecher des Wartesaals war die Nachricht von der Amnestie gekommen! Seine Frau war allein im Pfarrhaus, als Werner Dirksen unerwartet und unangemeldet nach sieben Jahren eintrat. Die Tochter Ute kam abends aus dem Kino heim, blickte ins Wohnzimmer, schloß schnell wieder die Tür, lief zur Mutter in die Küche und fragte: Wer ist denn dieser fremde Mann, der da sitzt?

Er blieb für sie lange Zeit ein „fremder Mann", dieser Vater, der aus dem Zuchthaus kam. Seit Jahren hatte das Kind in der Schule und in der FDJ gelernt, daß in den Zuchthäusern die Feinde der Republik ihre verdiente Strafe absäßen. Also war der Vater ein Feind der Deutschen Demokratischen Republik!

Sie war fünfzehn Jahre alt und hatte als Tochter eines Staatsfeindes mühsam das Recht auf den Besuch der Oberschule erworben. Sie war begeistert für die Freie Deutsche Jugend, für die Deutsche Demokratische Republik. Für sein Kind wurde der aus dem Zuchthaus heimgekehrte Vater eine schwere seelische und äußere Belastung.

Am Morgen nach seiner Heimkehr blies der kirchliche Posaunenchor seinem alten Pfarrer ein Willkommen. Es war ein Sonntag. Werner Dirksen saß beim Gottesdienst neben seiner Frau. Von den Stufen des Altars begrüßte der Pfarrer, der die verwaiste Gemeinde vor sieben Jahren übernommen hatte, den heimgekehrten Amtsbruder. Am nächsten Sonntag stand Pastor Dirksen wieder auf seiner alten Kanzel.

Aber er war der Alte geblieben, er kannte keinen Kompromiß. Eingriffe des Staates in die Kirchenordnungen wollte er auch jetzt nicht dulden. Er weigerte sich, die Jungen und Mädchen zu konfirmieren, die sich zugleich der kommunistischen Jugendweihe in einem pseudosakralen atheistischen Festakt unterzogen. Auch der junge Christ hatte sich für oder gegen Gott zu entscheiden.

Ein Jahr später mußte der Pastor seine Gemeinde wieder verlassen. Erneut war er durch

I Denunzianten gefährdet. So erteilte der Bischof — ausnahmsweise — dem Pfarrer Werner Dirksen die Erlaubnis, die „DDR" zu verlassen und nach Westdeutschland zu gehen, damit er nicht wieder ins Zuchthaus gehen müßte.

Christus sagt zu denen, die an ihn glauben: Ihr sollt meine Zeugen sein. Doch das Regime der . Deutschen Demokratischen Republik" weiß zu verhindern, daß ein solches Zeugnis durch die Wände des Gerichtssaales dringt, weiß zu verhindern, daß einer als christlicher Märtyrer ins Zuchthaus geht. Nur als Zeugnis hat das Martyrium seinen Sinn. Die Zeugen eines Glaubens werden als Spione und Diversanten, als Agenten und Saboteure verurteilt. Für die Kommunisten ist jeder Gegner ein Staatsverbrecher.

Fritz Drescher

Blind hätte der Mann den Weg vom B/D-Flügel des Zuchthauses über den kleinen Hof finden können, vorbei an der ehemaligen Hinrichtungsstätte der Gestapo. Als ihr Gefangener war er den gleichen Weg geführt worden, den ihn jetzt der MGB-Soldat vorantrieb. Der Mann blickte im Vorbeigehn auf die Zellentür, hinter der er, zermürbt von den Torturen der Gestapo, versucht hatte, sich umzubringen — damals 1936.

Jetzt, zwölf Jahre später, dachte er: Werden sie mich nun beim sowjetischen Staatssicherheitsdienst auch so zurichten wie damals deutsche Gestapo?

Die Gestapo hatte ihn so furchtbar zugerichtet, daß ihn seine Genossen Tage später auf dem Gefängnishof nicht wiedererkannten.

Und er dachte mit einem Blick über die Gänge: Die richtige Russenwirtschaft! Alles bereits verwahrlost!

Fritz Drescher lernte als Kind eines schlesischen Metallarbeiters die Not kennen, noch ehe sie ihm bewußt wurde. Der Vater war als sozialdemokratischer Streikführer durch Aus-sperrung auf die schwarze Liste der Unternehmer gekommen, keiner stellte ihn mehr ein. Statt dessen holte sich August Bebel diesen intelligenten Mann, auf seinen Vorschlag wurde er 1906 als dritter Bezirkssekretär der Sozialdemokratischen Partei in Halle gewählt. Jetzt konnte er sich aus dem Proletariermilieu herausarbeiten; die Familie zog in einen besseren Stadteil von Halle, und für Fritz begann und endete in dieser neuen Wohnung die kurze Spanne Glück seiner Kinderjahre.

Der Vater verließ sie — er ertrug die Ehe mit der elf Jahre älteren Frau nicht länger — als Fritz sieben Jahre alt war. Fünf Kinder hatte sie aus einer anderen Ehe mitgebracht, drei Kinder dem Vater geboren, darunter Fritz als einzigen Sohn. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, siedelte die Mutter — verbittert und verzweifelt — mit den Kindern nach Dresden über, wieder in eine schäbige Proletarierwohnung, die Fritz haßte, seit er wußte, daß es schöne, helle, saubere Häuser gab!

Er sehnte sich sehr nach dem Vater. Die Mutter erkannte in dem Jungen Wesenszüge des Mannes wieder, der ihrer überdrüssig geworden war; bei dem Kind versuchte sie durch Prügel, durch unbarmherzige Strenge, solche Wesensart auszutreiben. In Halle hatte Fritz die Mittelschule besuchen dürfen, in Dresden gab ihn die Mutter wieder auf die Volksschule, und nachmittags trug er Zeitschriften aus, denn jeder mußte zum Unterhalt der Familie beitragen.

Der kräftige, dunkeläugige Bursche war aufsässig gegen Mutter und Schwestern. Die „Weiberwirtschaft", die beengten Verhältnisse erschienen ihm unerträglich. Er wartete immer nur ungeduldig, daß der Vater käme, der ab und zu nach Dresden herüberreiste, um nach seinen Kindern zu sehen.

Lange bevor der Vater überhaupt da sein konnte, stand der Junge schon an der Haltestelle der Straßenbahn; wenn dann die kleine Gestalt mit dem gleichen schwarzen Haar wie sein Sohn und mit den Henkeltaschen aus der Straßenbahn stieg, begannen die wenigen glücklichen Stunden für Fritz. Stolz trug er die Taschen, aus denen er zu Hause Kostbarkeiten wie Butter und Marmelade für die Familie auspacken durfte. Das Ende jedes Besuches: Ein bitterer Abschied an der Haltestelle.

Brennend gern wäre Fritz mit dem Vater gefahren, weit fort aus diesem muffigen Milieu. In ihrer Einsamkeit hatte sich die Mutter den Baptisten angeschlossen und beschwor ihren Sohn, Baptistenprediger zu werden, um Gottes willen nicht seinem Vater nachzueifern, nicht den gleichen falschen Weg irdischer Wunschträume zu gehen.

Fritz kannte keine anderen Wunschträume, als dem Vater nachzueifern, seiner nüchternen Anschauung des Lebens, seiner Entschlossenheit für ein großes und erreichbares Ziel: den Sozialismus.

Mit vierzehn Jahren trat Fritz — gegen den Widerstand seiner Mutter — der Sozialistischen Jugend bei, es war das Jahr des Kriegs-endes, der großen Umwälzung in Deutschland. Fritz wußte: Für den Vater war die Revolution mit heißen Hoffnungen verknüpft, er selbst wurde auf der Handelslehranstalt, die er besuchte, von seinen Mitschülern zum Vorsitzenden des Schülerrates gewählt — seine erste Position in der Gemeinschaft Gleichgesinnter. Dem Vierzehnjährigen war bewußt, daß sein Vater und er im Abstand einer Generation für das gleiche Ziel zu kämpfen hätten: Die Erneuerung der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage der Gleichheit, Einheit und Brüderlichkeit. Auch der Vater schien sich in dem Sohn wiederzuerkennen, jedenfalls tat er den entscheidenden Schritt: Er nahm ihn der Mutter fort und in seine Nähe. Seit 1919 war er Landtagsabgeordneter der Sozialdemokratischen Partei im preußischen Landtag. Endlich konnte sein Sohn Fritz seinem eigenen heißen Wunsch folgen — der auch der Wunsch seines Vaters war: Er trat in die Sozialdemokratische Partei ein.

Ein Mindestalter von achtzehn Jahren war für Parteimitglieder vorgesehen, Fritz Drescher war erst siebzehn. Da er jedoch auf Rat des Vaters in die Parteipresse gegangen war, konnte er zugleich der Partei beitreten.

Beim Halberstädter Tageblatt lernte der junge Volontär, sich mit all dem abzuquälen, wozu die älteren Kollegen keine Lust hatten, er lernte das Handwerk des Journalisten.

Manchen Sonntag setzte sich Fritz in seinem selbstverdienten, guten blauen Anzug auf die Bahn und fuhr zum Vater nach Halle. Sie konnten miteinander diskutieren, sie konnten auch miteinander schweigen; der Sohn lernte die Redelust, der Vater verlor sie bereits wieder.

Eine glückliche, die erste glückliche Zeit für Fritz Drescher in seinem bewußten Leben. Die alte Frau, die ihm in Halberstadt ein bescheidenes Zimmer vermietet hatte, bemutterte ihn zugleich — auch das hatte der Achtzehnjährige bis jetzt nicht gekannt. Sein Zuhause fand er in der Sozialistischen Jugend.

Trotz seiner Begeisterungsfähigkeit hatte der junge Drescher nichts von einem Revolutionär. Jeglicher Radikalismus war ihm zuwider. Er war temperamentvoll und bedächtig zugleich, gut zu brauchen für die Partei! Die Wirkung seiner Reden verdankte er nicht einem Fanatismus, sondern seinen vernünftigen Argumenten. Ohne jede Scheu kletterte er beim ersten Internationalen Jugendtag in Bielefeld nach Paul Löbe auf die Rednertribüne und sprach, erst achtzehn Jahre alt, auf der Ochsenheide vor zwanzigtausend Menschen. Von dem Jungen ging eine gesammelte Kraft aus. Er spürte sie selbst und er wußte: Hier ist die Welt mir offen — meine Welt. 1922 brach die so schön begonnene Laufbahn schon wieder ab — durch eine Wendung in der Parteipolitik. Damit geschah zum ersten-mal, was sich schicksalhaft im Leben dieses Mannes wiederholen sollte. Auf dem Parteitag von Gotha vereinigten sich die USPD, die Unabhängigen und die SPD, die Mehrheitssozialisten, die sich 1917 gespalten hatten, wieder zu einer Partei. Die Parteizeitungen wurden zusammengelegt, und in den Redaktionen mußten die überzähligen, zumeist die Jüngsten, über die Klinge springen, auch Fritz Drescher.

Er entschloß sich jetzt, in einen Betrieb zu gehen, er wollte die Auswirkungen des Betriebsrätegesetzes kennenlernen. In den Stickstoffwerken von Piesteritz verdingte er sich als Hilfswickler; er mußte sich anstrengen, denn vordem hatte er nie eine manuelle Arbeit geleistet. Als Fritz Drescher meinte, er habe nun genug Erfahrung in einem Betrieb gesammelt, bewarb er sich beim Dresdener Polizeipräsidium. Immer noch war er sehr jung, verhielt sich aber keineswegs wie seine Altersgenossen: Beim Einwohnermeldeamt im Präsidium über Akten, Listen und Zahlenkolonnen empfand er tiefe Befriedigung beim Ordnen und Verwalten. Er konnte hier die Gesetzmäßigkeit und den Mechanismus des menschlichen Zusammenlebens verfolgen. Dies alles, glaubte er, müßte in einer sozialistischen Gesellschaft noch besser und sinnvoller zu organisieren sein.

Ein politischer Stoß von außen beförderte Fritz Drescher das zweite Mal aus seiner Stellung: 1924 setzte der Reichspräsident Friedrich Ebert gegen eine sozialdemokratisch-kommunistische Regierung in Sachsen die Reichsexekutive ein, Reichswehrsoldaten besetzten die Ministerien und Polizeipräsidien, bauten sich mit Maschinengewehren in den Eingängen auf und sämtliche Funktionäre der linken Parteien, darunter der junge Drescher, wurden von ihren Posten vertrieben.

So ging Drescher jetzt aus Sachsen fort. In Schlesien übernahm er die Redaktion einer kleinen Zeitung und gründete mit Genossen in einem Landkreis das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zur gleichen Zeit, als der alte Drescher in Sachsen-Anhalt das Reichsbanner mitbegründete. Aber Fritz kehrte nach einem Jahr wieder in die Heimat zurück. Tagsüber arbeitete er in einem kaufmännischen Betrieb in Halle, abends saß er als Gasthörer in der Universität. Er nahm an Kursen teil: Nationalökonomie, Soziologie, Finanzwissenschaft, Verfassungsrecht, Arbeitsrecht. Er arbeitete wie ein Besessener, auf eine stille, nachdrückliche Art; Privatvergnügungen kannte er nicht. Vor allem aber war er für seine Partei tätig. Das Arbeitr-Sport-und -Kulturkartell in Halle hatte vierzig kommunistische Delegierte und einen einzigen sozialdemokratischen Delegierten: Fritz Drescher.

Halle/Merseburg war ein roter Bezirk. Drescher erhielt 1927 von der Zentralkommission für Arbeitersport in Berlin den Auftrag, dieses Kartell neu zu organisieren: Nach einiger Zeit hatten die Kommunisten dort eine ihrer sichersten Positionen verloren.

Die Heirat dieses engagierten jungen Funktionärs mit einem Mädchen aus streng sozialdemokratischer Familie (der Großvater war der erste sozialdemokratische Landtagspräsident in Deutschland gewesen) änderten an seinem Lebenswandel nichts, auch nicht die Geburt des Sohnes.

Die junge Frau beklagte sich nicht. Sie war ausgewachsen im Bewußtsein der sozialen Aufgaben, die erfüllt werden mußten, damit ihr Sohn einmal eine bessere Zukunft erlebte. Beide waren Stadtmenschen, ihre Familien hatten seit Generationen in Enge und begrenzten Räumen gelebt, aber auch zu seiner Wohnung hatte Drescher keine Beziehung, er benutzte sie nur zum Schlafen. Er brauchte nur fünf Stunden Schlaf in der Nacht, mehr nicht, die anderen Stunden brauchte er zur Arbeit für die Partei Die Partei verlangte vom Genossen Drescher, er solle in Bitterfeld eine Parteiaufgabe übernehmen, also verschaffte er sich in Bitterfeld eine Anstellung bei der Ortskrankenkasse, die ihm genügend Zeit für politische Arbeit ließ.

Der 21. März 1933, der Tag von Potsdam. Zum dritten Mal kostete ein Wendepunkt in der Politik den jungen Drescher die Stellung: Als er sah, wie über dem Dach der Ortskrankenkasse, genau wie an allen anderen öffentlichen Gebäuden, die Hakenkreuzfahnen hochgingen, stand er von seinem Schreibtisch auf, verkündete seinem Vorgesetzten, niemals würde er unter der Hakenkreuzfahne weiterarbeiten, und verließ das Gebäude.

Sein Schwiegervater verlor am gleichen Tag seine Stellung als Leiter des Städtischen Bau-hofs. Sie waren jetzt beide auf unabsehbare Zeit arbeitslos. Fritz Drescher zog mit Frau und Sohn zu den Schwiegereltern in ein kleines Zimmer. Fünf Personen hatten jetzt von 24, 50 Mark Arbeitslosenunterstützung wöchentlich mehr zu darben als zu leben. (Fritz Drescher erhielt 13, 50 Mark, sein Schwiegervater 11 Mark pro Woche.)

Einen Monat später schlug die neue, nationalsozialistische Regierung zu: Fritz Drescher hörte am Morgen des 2. Mai 1933 durch den Rundfunk, daß sämtliche Büros der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei von SS und SA besetzt wären. Er nahm den nächsten Zug nach Halle, in großer Sorge um seinen Vater. Es gelang ihm, im Gewerkschaftshaus an den SS-Posten vorbeizukommen. Im Büro des Vaters starrte er auf die über den Boden verstreuten Akten, Bücher und Papiere.

Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Ein SS-Mann stand plötzlich im Türrahmen und brüllte den Eindringling an.

Ich bin Fritz Drescher und das hier ist das Büro meines Vaters. Was wird mit all den Sachen? Er deutete auf den Haufen am Fußboden. Wird alles verbranntl Und wo ist mein Vater?

Verhaftet.

Verhaftet? Wo sitzt er?

Im Polizeipräsidium, wie alle anderen auch. Durch das Tor des Polizeipräsidiums liefen SS-Leute herein — heraus — lieferten immer neue Verhaftete ab. Fritz Drescher drückte sich zwischen ihnen durch und gelangte in einen Gang und von dort in eine Wachstube. Keiner der Sekretäre der Gewerkschaft und der Partei, die hier zusammengesperrt warteten, wun-derte sich, als Fritz Drescher eintrat, nur sein Vater erschrak.

Wie kommst du her, Junge, haben sie dich auch mit einkassiert?

Sie konnten nur ein paar hastige Worte wechseln, SS-Stiefel näherten sich bereits. Als Fritz Drescher wieder auf der Straße stand, wußte er kaum, wie er aus dem Polizeipräsidium wieder herausgelangt war.

Zur gleichen Stunde wurde er von der SS in Bitterfeld gesucht. Nur weil er nicht anwesend war und weil die SS bereits neue Aktionen angesetzt hatte, entging er seiner Verhaftung, entging er für dieses Mal noch seinem vorgezeichneten Schicksal.

Aber nicht mehr das nächste Mal!

Am 27. Juli 1933 abends holte die Polizei ihn aus seiner Wohnung.

Sie hatten Fritz Drescher eines Flugblattes wegen verhaftet, und er kam für dieses Mal noch glimpflich davon: Sieben Monate Gefängnis! Daß dieser Drescher im ganzen Bezirk Weißen-fels einen illegalen Arbeitskreis organisiert hatte, der von Berlin seine Weisungen bekam, wußten sie nicht, — noch nicht! Drescher war sofort nach dem Verbot seiner Partei in die Illegalität gegangen, und sofort nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nahm er seine illegale Arbeit wieder auf.

Für ihn bedeutete dieser Einsatz nicht nur Gefahr: Die ganze Familie litt Not.

Ein Hundedasein führen wir, sagte er oft zu seiner Frau. So ein Leben hast du wirklich nicht verdient.

Aber seine Frau beklagte sich auch jetzt nicht, sie wußten beide, wofür diese Opfer gebracht werden mußten. Sein Vater, dessen Haft einige Wochen gedauert hatte, befand sich zwar wieder in Freiheit, aber ebenfalls in Not. ------Drescher ging im Herbst mit zwei Parteifreunden über die tschechische Grenze, um sich über die Richtlinien für die Weiterführung der illegalen Arbeit mit Vertretern des nach Prag emigrierten Parteivorstandes abzustimmen.

Es kam zu harten Auseinandersetzungen. Ihr kennt die Zustände bei uns nicht mehr, sagte Drescher immer wieder mit Nachdruck. Wir sind im Land geblieben, befinden uns in andauernder Gefahr, da müßt Ihr uns überlassen, nach welchen Methoden wir arbeiten. Die Weisungen, die Ihr uns hier von Eurem sicheren Ort aus gebt, werden der wirklichen Lage nicht gerecht. Ich jedenfalls mache das nicht mit!

Die drei kehrten wieder über die grüne Grenze nach Deutschland zurück. Sie waren auf sich allein gestellt, wenige Zuverlässige gegen eine Übermacht. Der moralische Mut, den diese wenigen für ihren Kampf im Untergrund aufbrachten, mußte sich immer wieder aus sich selbst erneuern, keine Hilfe von außen stärkte sie.

Von seiner Rückkehr aus der Tschechoslowakei an gab Fritz Drescher die Anweisungen an seinen Arbeitskreis aus eigener Initiative und Verantwortung.

Unterdessen war die Not der kleinen Familie unerträglich geworden — Fritz Drescher mußte für eine Weile die Parteiarbeit zurückstellen und nach einer Verdienstmöglichkeit suchen. Es war schwer für einen bekannten sozialdemokratischen Funktionär, der politisch verurteilt im Gefängnis gesessen hatte, Arbeit zu finden. Mit Mühe kam Fritz Drescher schließlich in einem Fabrikbüro unter.

Er atmete auf. Für eine kleine Weile durfte er jeden Monat mit einer gesicherten, bescheidenen Summe heimkommen und sich abends im Bewußtsein des normalen Bürgers schlafen legen, daß nichts ihn nachts aufschrecken konnte, was Gefahr, Verhängnis, Verhaftung bedeutete. ------------Sie kamen aber gar nicht nachts, die zwei von der neuen Geheimen Staatspolizei, sie traten mitten am Tag in das kleine Büro, und einer sagte zu dem Mann am Schreibtisch: Sind Sie Fritz Drescher? Sie müssen mal mitkommen. Es dauert nicht lange.

Auch innerlich blieb Drescher noch ruhig, überzeugt, daß seine Verbindungen nicht verraten waren. Was wollen Sie eigentlich von mir, sagte er auf dem Polizeipräsidium zum Gestapovernehmer, mich ohne Grund einfach von der Arbeit wegzuholen.

Der Gestapomann erhob sich hinter seinem Tisch, trat mit schnellen Schritten auf Drescher zu und schlug ihm ins Gesicht!

Durch die Akten da, schrie er und wies auf einen Stoß Papiere, zieht sich der Name Fritz Drescher wie ein roter Faden! Wagen Sie nicht, hier vor uns den Harmlosen zu spielen!

Die Ohrfeige war ein Auftakt für das, was Drescher bevorstand. Er war ins Polizeipräsidium nach Halle weitertransportiert worden, und hier begannen die Vernehmungen einer Dienststelle der Gestapo, die im ganzen Reich berüchtigt war.

Sechs riesenhafte, gewalttätige Kerle, auf den Ärmeln ihrer Zivilanzüge SS-Runen, umstellten den Häftling. Der, den er gerade anblickte, brüllte: Ich will deine dämliche Schnauze nicht sehen, — und schlug mit dem Gummiknüppel zu. Drehte der Häftling sich um, schlug der nächste, schrie die gleichen Worte. Sie schrien und schlugen, bis der Häftling zusammenbrach, schleppten ihn unter die Kaltwasserdusche, schrien und schlugen weiter.

Einer der Gestapoleute saß in einer Ecke am Tisch und schrieb auf, was die anderen aus dem Häftling „herausschlugen". Drescher sollte Namen preisgeben, Namen seiner Genossen. Nach fünftägiger — und nächtlicher Tortur war er mit seiner Widerstandskraft am Ende. Da er keinen Namen preisgeben würde, blieb ihm nur, sich umzubringen — denn weitere Torturen, das wußte er, konnte er nicht mehr aushalten.

Sie hatten den Häftling an Händen und Füßen gefesselt, und so lag er in seiner Zelle bis zur nächsten Vernehmung, zu nächsten Schlägen. Trotz der Fesselung gelang ihm mit letzter, qualvoller Anstrengung, sich in der Zelle während eines unbewachten Augenblicks mit einem zusammengedrehten Taschentuch aufzuhängen. Unter der eisigen Wasserdusche tauchte er wieder aus tiefer Bewußtlosigkeit auf, vernahm Brüllen:

Feiges Schwein! Will sich aus dem Leben schleichen! Hat nicht mal den Mut, für seine Sache einzustehen!

— Nach diesem Selbstmordversuch hörte die Gestapo jedoch mit Schlagen auf.

Dreschers Frau erhielt seinen Anzug zurück, blutverkrustet, das Futter ausgerissen! Ob die Gestapo das aus Gleichgültigkeit oder aus Sadismus tat, wußte niemand, seine Frau jedenfalls erfuhr auf diese Weise, wohin ihr Mann transportiert worden war — und was sie dort mit ihm gemacht hatten!

Nach einem Jahr hatte die Gestapo neunzig Angeklagte zusammengebracht, die wegen „Vorbereitung zum Hochverrat" verurteilt werden sollten.

Fritz Drescher erfuhr in der Untersuchungshaft, daß die beiden Parteitreunde, mit denen zusammen er 1934 schwarz über die tschechische Grenze gegangen war, gleichzeitig mit ihm verhaftet worden waren, und daß die Gestapo bei den Vernehmungen den einen tot — und den anderen blind geschlagen hatte.

Als der Blinde bei der Verhandlung von zwei Justizwachtmeistern in den Gerichtssaal geführt wurde und sich zu seinem Sitz hintappte, schrie eine alte Frau in der Anklagebank auf, schrie hilflos wie ein Tier — sie hatte es nicht gewußt bis zu diesem Augenblick — seine Mutter! Die Anklage gegen Fritz Drescher lautete wie alle übrigen:

Vorbereitung zum Hochverrat Seine Verbindungen zu den sozialdemokratischen Emigranten in der Tschechoslowakei waren erwiesen, er wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt und in die Strafvollzugs-anstalt am Kirchtor in Halle eingewiesen.

Hier hatte er schon einmal, 1933, seine ersten sieben Monate Gefängnis abgesessen. Damals war die Anstalt am Kirchtor noch Gefängnis, jetzt war sie zum Zuchthaus umgewandelt worden.

Drescher kämpfte um eine Einzelzelle. Als er sie zugewiesen bekam, tagsüber in der Buchbinderei arbeitete und abends in seiner Zelle lesen und studieren konnte, schienen die vier Jahre, die vor ihm lagen, immerhin erträglich.

Als das deutsche Volk sich den Riemen enger-schnallen und für Hitlers Utopie eines Groß-deutschland in den Krieg marschieren mußte, wurden die „Staatsfeinde" in den Zuchthäusern auf Hungerration gesetzt. Fritz Drescher hatte an Gewicht und Kräften verloren, er war mürbe geworden vom Warten. Seiner Über-zeugung, daß mit diesem Krieg das Dritte Reich in sein Grab marschiere, tönten von allen Fronten Siegesmeldungen entgegen. Die Nationalsozialisten siegten — siegten an allen Fronten und brachten ihre politischen Gegner im eigenen Land in Konzentrationslagern um. Was würden sie mit einem Fritz Drescher tun an dem Tag, an dem seine Zuchthausstrafe verbüßt war?

Dieser Tag rückte heran, der 6. April 1940. Die Gestapo hatte Dreschers Frau schon informiert: Wahrscheinlich kommt Ihr Mann gleich weiter ins KZ Buchenwald.

Drescher war bereits zur Gestapo nach Halle transportiert worden. Der 6. April ging vorbei wie jeder andere Hafttag, nichts geschah. Die nächtliche Einsamkeit wurde jetzt zur Qual. Der Häftling zählte die Tage — zu welchem Ziel? Zum Abtransport ins Konzentrationslager? Am 20. April morgens, die Stimme eines Wachtmeisters in den Treppenschacht, in dem vier Sträflinge beim Kartoffelschälen hockten: Drescher, rauf an die Gestapotür!

Gestapotür — das Wort jagt Angst ein!

Hinter der Gestapotür erwartete den Strafgefangenen Drescher der Kriminalobersekretär Nestler, einer seiner Peiniger in den ersten Vernehmungen. Er herrschte den abgemagerten Mann in seiner schäbigen Kluft an:

Geh mal ans Fenster!

Der Sträfling näherte sich dem Fenster. Was siehst du, wenn du aus dem Fenster herausguckst?

Fahnen, nichts als Fahnen.

So! Und warum hängen heute da draußen die Fahnen?

Weil der Führer Geburtstag hat.

Siehst du, sagt der Gestapomann mit Befriedigung im Ton, das hast du also mittlerweile begriffen! Nun will ich dir mal was sagen: Wenn der Führer Geburtstag hat, dann macht er manchen Leuten eine Freude, dir auch, und darum werden Sie heute entlassen. Betäubt, wie unter einer Schlagwirkung, blickte der Strafgefangene den Gestapomann an und sagte leise: Mit solchen Sachen soll man keine Scherze machen!

Du Rindvieh, brüllte der Gestapomann, wenn ich sage, Sie werden entlassen, dann werden Sie entlassen!

Die Gestapo behielt auch auf den entlassenen Sozialdemokraten ein wachsames Auge. Beim Arbeitsamt in Weißenfels erfuhr Fritz Drescher, daß ein gerichtsnotorischer Hochverräter wie er keinesfalls wieder mit einer Angestelltenposition rechnen könne. Alles, was ihm übrig bliebe, sei, sich als Hilfsarbeiter zu verdingen. Drescher fragte den Beamten: Wenn ich irgendeine andere Arbeit finde, bekomme ich dann die Erlaubnis dazu?

Das werden wir sehen, war die lakonische Antwort.

Fritz Drescher fand eine kaufmännische Tätigkeit in einem kleinen Baugeschäft. Er hauste immer noch mit Frau und Sohn in dem einen Zimmer, isoliert von ehemaligen Freunden und Bekannten. Kaum einer wagte, aus Angst um die eigene Sicherheit, mit einem „Hochverräter" auf offener Straße ein paar Worte zu wechseln.

Der Mann hatte in vier Jahren der Abgeschlossenheit Geduld und Gleichmut gegenüber menschlichen Schwächen gelernt. Er hatte zu schweigen und zu warten gelernt — wartete auf das Ende des „Tausendjährigen Reiches“. Dieses Ende näherte sich immer schneller und schrecklicher. Die Menschen wagten wieder — vorsichtig noch — sich ihrer Natur entsprechend zu verhalten, mutig oder furchtsam. Fritz Drescher wurde jetzt — aus Furcht oder Mut — gegrüßt und ausgesucht: Der Staatsfeind von heute würde vielleicht der Politiker von morgen sein.

General Kotikow, Repräsentant der Sowjetischen Militäradministration in Sachsen-Anhalt, hatte am 22. Juli 1945 in seinem imposanten Sitzungszimmer in Halle eine Reihe bewährter deutscher Antifaschisten um sich versammelt, mit denen er die neue Provinzialregierung und die Bezirksverwaltungen bilden wollte.

Unter ihnen ein kräftiger Mann mit lebhaften, dunklen Augen: Der erste Vorsitzende der wiedergegründeten Sozialdemokratischen Partei in Weißenfels, Fritz Drescher, Widerstandskämpfer im Dritten Reich.

Feierlich ernannte der General den ehemaligen Landeshauptmann Dr. Hübener zum Präsidenten der Provinz Sachsen. Er ernannte Landes-rat Dr. Siegfried Berger zum Bezirkspräsidenten, den Kommunisten Otto Gotsche zum ersten und den Sozialdemokraten Fritz Drescher zum zweiten . Vizepräsidenten.

Sofort nach dem Zusammenbruch hatte Drescher in Weißenfels mit dem Aufbau der Gewerkschaft begonnen; sein Organisationstalent bewährte sich bereits, und General Kotikow hätte diesen tüchtigen Mann gern zum Minister in Sachsen-Anhalt gemacht, aber Drescher wollte nur eine Aufgabe übernehmen, der er sich gewachsen fühlte. Als Vizepräsident unterstanden ihm sämtliche Wirtschaftsdezernate des Verwaltungsbezirks Halle/Mersebürg, und Verwaltungsarbeit war ihm vertraut. Eine funktionierende Verwaltung aus den Trümmern wieder aufzubauen, dazu sollten sich unter seiner Leitung alle zusammenfinden: Kommunisten, Sozialdemokraten und der einzige Liberaldemokrat in seinem Amt. Drescher unternahm diese Sisyphusarbeit mit der gleichen Leidenschaft und gleichen Systematik, die er in seiner Parteiarbeit bewiesen hatte. Er fühlte sich frei in jeder Weise, frei von Ressentiments gegen das Vergangene, frei von Vorurteilen gegen den neuen Sozialis-mus! Jeden Morgen fuhr er mit einem Dienstwagen von Weißenfels nach Merseburg hinüber. Er wohnte weiter mit seiner Familie in der bescheidenen Wohnung, die seine Frau während seiner Zuchthaushaft im Haus ihres Vaters bezogen hatte, obwohl die Offiziere der SMAD ihm immer wieder die requirierte Villa eines ehemaligen Nazis als „standesgemäße" Dienstwohnung anboten. Unbegreiflich für kommunistisch geschulte Hirne, daß ein aus dem Arbeiterstand gewachsener hoher Wirtschaftsfunktionär nicht die Privilegien der „herrschenden Klasse" für sich in Anspruch nehmen wollte.

In den ersten Wochen seiner Tätigkeit erlebte der Vizepräsident, wie hart so mancher alte Kommunist an seiner Enttäuschung über dumme und gewalttätige Besatzungsmethoden der Sowjets trug. Drescher hoffte, daß eben durch diese bitteren Erfahrungen belehrt, die alten Kämpfer der Kommunistischen Partei sich auf die Seite der Sozialdemokraten stellen und mit ihnen gemeinsam ein neues, von Moskau unabhängiges, sozialistisches Deutschland aufbauen würden.

Aus diesem Wunschdenken und aus der historischen Erfahrung der Arbeiterbewegung bejahte Drescher den Gedanken einer Vereinigung der beiden großen deutschen Arbeiterparteien. Er war immer der Überzeugung gewesen: Eine geschlossene Arbeiterbewegung hätte 1933 den Machtanstieg der Nationalsozialisten verhindern können.

Die braunen Machthaber hatten ihre beiden gefährlichsten Gegner, Kommunisten und Sozialdemokraten, zusammen in Zuchthäuser und Konzentrationslager gesperrt: Hier hatten die feindlichen Brüder sich in ihrer Leidensgemeinschaft verbunden. Hier hatte Fritz Drescher über Jahre mit Kommunisten Gespräche geführt und die Überzeugung gewonnen, daß sie gemeinsam nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur den schweren Aufbau bewerkstelligen müßten.

Als die Vereinigung der beiden Parteien auf Befehl der Besatzungsmacht im April 1946 in Berlin vollzogen wurde, hatte der Sozialdemokrat Drescher schon zehn Monate Erfahrung mit den Sowjets hinter sich. Er machte sich über die Konsequenzen dieser Zwangsvereinigung keine Illusionen mehr. Er konnte nichts anderes tun, als auf dem Vereinigungsparteitag in Berlin gegen das Organisationsstatut der Sozialistischen Einheitspartei stimmen.

Mehr als zweitausend Delegierte gaben in geheimer Wahl ihre Ja-Stimme zur Vereinigung, dreiundzwanzig brachten den Mut zu einem Nein auf, einer von ihnen war Drescher.

Zwei Jahre lang führte der Vizepräsident in seinem Amt einen immer hoffnungsloser werdenden Kampf gegen die fortschreitende Bolschewisierung. Am 30. Juli 1947 wurden in Mitteldeutschland die bisherigen Bezirksverwaltungen aufgelöst. Für Fritz Drescher eine Befreiung! Der politische Boden wurde ihm langsam heiß unter den Füßen. Auf einer öffentlichen Kundgebung in Naumburg hatte dieser Mann, der über die Gabe des Volksredners verfügte, von der Tribüne herunter deutlich und energisch gegen die „Oder-NeißeFriedensgrenze" protestiert. Die SMAD erteilte diesem renitenten Genossen, der seinen politischen Dickschädel schon gegen die Zuchthausmauern des Nazireiches gerannt hatte, einen unmißverständlichen Verweis. Auch sie besäßen Zuchthäuser und Konzentrationslager, gaben sie zu verstehen!

Fritz Drescher erlag einem verhängnisvollen Irrtum: Er glaubte, wenn er seinen bisherigen Arbeitsbereich verließe und eine reine Verwaltungstätigkeit betriebe, hätte er immer noch die Möglichkeit für eine positive Arbeit und entkäme dem politischen Zwang. Das Angebot, Ministerialdirektor im Ministerium für Land-und Forstwirtschaft zu werden, erschien ihm als Lösung der Probleme.

Im Sommer 1947 übernahm er sein neues Amt.

Er übernahm einen Apparat von tausend Angestellten und von dreizehn-bis vierzehn-tausend Arbeitern, mit 304 Revierförstereien, 25 Oberförstereien und 74 Forstämtern. Ein Waldgebiet von 568 000 Hektar unterstand seiner Verwaltung.

Obwohl Drescher keinerlei Vorkenntnisse aus der Forstwirtschaft mitbrachte, wußte er, daß mit guten Fachleuten ein solcher Apparat zu lenken war, wenn er richtig durchorganisiert wurde.

Seine erste Amtshandlung: Er entzog den Kommunisten in der Personalabteilung die Unterschriftsbefugnis. Daraufhin begann eine Kette von unterirdischen Kämpfen und Intrigen; die SED-Parteiinstanzen wollten ihre Parteipolitik durchsetzen wie bisher.

Der Ministerialdirektor versuchte, mit seinen nichtkommunistischen Mitarbeitern den Raubbau der sowjetischen Besatzungsmacht in den Wäldern zu verhindern. Die Fichtenborkenkäfer vernichteten ganze Waldbestände, ihr Aufkommen wurde von der SED für antiamerikanische Propaganda benutzt (aus amerikanischen Flugzeugen wären Legionen von Borkenkäfern abgeregnet worden!), während sich die Fachleute in der Landesforstverwaltung verzweifelt mit der Schädlingsbekämpfung abmühten.

Ein Jahr lang konnte der Ministerialdirektor mit Aufbietung aller Energie manches verhindern und einiges bewirken. Die ungeheure Anstrengung stand in keinem Verhältnis zum Erfolg — und doch fühlte Fritz Drescher sich immer wieder befriedigt und belohnt.

Er wußte, die einzige Möglichkeit, bei den Offizieren der SMAD etwas durchzusetzen, war Mut. In einem Land, dessen Menschen in Furcht leben, wird jede Geste der Furchtlosigkeit in weitem Umkreis wahrgenommen, sie wird zur moralischen Stärkung derjenigen, die sich unterdrückt und mutlos fühlen.

Dies war die Position Fritz Dreschers, seine moralische Position, der er sich bewußt war. Aber sie war auch der SED-Parteileitung bewußt — und deshalb konnte sie diesen eigenmächtigen Mann auf einem solchen Posten nicht dulden. Im Januar 1948 wurde er das erste Mal zur Landesleitung der SED zitiert. In drohendem Ton wurde ihm bedeutet, die Weisungen der Partei zu befolgen!

Er befolgte sie nicht.

Im Juni erhielt er die zweite Vorladung vor die Landesleitung der SED. Sogar zwei Mitglieder des Parteivorstandes waren dazu aus Berlin erschienen. Fritz Drescher sah sie in der Reihe der Genossen sitzen, der zehn Kommunisten und der zehn Sozialdemokraten (immer noch setzte die Landesleitung der SED sich formell paritätisch zusammen). Er stand wie vor einem Tribunal. Der Vorsitzende verlangte erneut von ihm, die Weisungen der Partei zu befolgen.

Es gab eine Zeit, da der Genosse Drescher die Weisungen seiner Partei befolgte — als seine eigenen Überzeugungen mit diesen Weisungen übereinstimmten.

Die SED war nicht mehr „seine Partei", und ihre Weisungen waren für ihn unannehmbar!

Er blickte den Vorsitzenden mit brennenden Augen an und sagte: Ich handle nach meinem Gewissen und nicht nach Befehl. Ich fühle mich ausschließlich meinem Gewissen und dem deutschen Volk verantwortlich. Wenn ihr etwas anderes von mir verlangt, stelle ich mein Amt zur Verfügung!

Du weißt, was für schwere Folgen ein Rücktritt für Dich haben wird, erwiderte der Vorsitzende drohend. Fritz Drescher sah sich um: Am langen Tisch die alten Genossen, die alten Sozialdemokraten, wagten nicht, ihm beizustehen, kein einziger erhob seine Stimme für den Parteifreund. Drescher erwartete schon längst nichts mehr von ihnen. Seit Jahren mußte er mitansehen, was Angst aus Menschen macht. Und doch hatte er sich niemals bisher so allein gefühlt. Er stand auf und verließ das Sitzungszimmer.

Er fuhr in sein Amt zurück und räumte seinen Schreibtisch leer, dann bestellte er sich seinen Dienstwagen.

Wahrscheinlich bin ich heute den letzten Tag Ministerialdirektor gewesen, sagte er zu Hause zu seiner Frau, ich bin sicher, irgend etwas passiert jetzt mit mir!

Seine Frau war wie immer in das Unvermeidliche ergeben, nur der Junge rief vergnügt: Vater, dann bleibst du endlich mal zu Hause, dann gehörst du endlich mal uns.

Sie berieten in der Familie: Er würde sich vorerst in ein Krankenhaus zurückziehen, zur Tarnung, zum Schutz. Er fühlte sich tatsächlich elend, sein Herz streikte, die Nerven waren über alle Maßen strapaziert und sein Lungenleiden — eine Folge der Zuchthaus-jahre — machte sich wieder bemerkbar.

In dem kleinen Krankenhaus im Harz erhielt Drescher von vertrauten Mitarbeitern geheime Mitteilungen, daß jetzt, während seiner Abwesenheit, auf Befehl der SED grundsätzliche Änderungen in seinem Amt durchgeführt würden, die Drescher bisher hatte aufhalten können. Willfährig wurden jetzt rigorose Anordnungen der SMAD befolgt und tüchtige Fachleute gegen Parteifunktionäre ausgewechselt

In der Stille und Abgeschlossenheit seines Krankenzimmers gewann Fritz Drescher endlich den inneren Abstand, der zu jeder grundsätzlichen Entscheidung nötig ist. Er hatte geglaubt, dem politischen Druck in einer Verwaltungsstelle ausweichen zu können, ein Irrtum, für den er jetzt bezahlte.

Es blieb ihm nur noch als Ausweg, seine Heimat, dieses Land unter sowjetischer Besatzung, zu verlassen.

Er reiste heimlich für einen Tag nach West-Berlin, um dort mit Freunden den Tag, an dem er die Zone verlassen wollte, festzusetzen: der 8. September 19481 Am 4. September wurde der Ministerialdirektor Drescher von Angehörigen der K 5 und vier russischen Offizieren verhaftet. Ein wahrhaft gewaltiges Aufgebot, um einen Kranken dingfest zu machen, der gerade dabei war, sich morgens im Bademantel vor dem Spiegel zu rasieren.

Der erste, der in das Krankenzimmer trat, zog eine Pistole aus dem Schulterhalfter und sagte: Machen Sie sich fertig, Sie müssen mal mitkommen.

Immer die gleichen Wortwendungen, dachte Drescher und packte seinen Rasierapparat zusammen. Er fühlte sich nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt gekräftigt, seine Nerven gehorchten ihm wieder. Er zog sich in Ruhe an, trug dem erschrocken eintretenden Stationsarzt noch Grüße an seine Frau auf und folgte zum Auto.

Einer der Russen hatte Dreschers private Dinge — Anzüge, Wäsche, Schreibzeug — in den Bademantel gewickelt und trug das Bündel unter dem Arm heraus — zur eigenen Verwendung.

In einer Eskorte von drei PKW's ging die Fahrt nach Halle. Als Drescher zum dritten Mal in seinem Leben als Verhafteter in das gleiche Zuchthaus eingeliefert wurde, schien ihn seine Kraft zu verlassen: Das war entsetzlich, war in seinen infernalischen Wiederholungen kaum zu ertragen. Dieselben Gänge, dieselbe graugrüne Farbe der Zellentüren — nur der Geruch, der in allen von Russen benutzten Gebäuden klebte, war neu.

Der Verhaftete hatte sich sofort seiner Zivilkleidung zu entledigen, in Unterjacke und blauer Hose mit gelben Streifen wurde er von einem MGB-Soldaten den vertrauten Weg vom B/D-Flügel, vorbei an seiner alten Zelle zu seiner neuen im ersten Stock heraufgeführt. Durch das Fenster des Treppenhauses sah er Sowjet-Soldaten unten im Hof Ball spielen, die Sonne warf gelbe Flecken auf das Gemäuer.

Bei seinem ersten Verhör protestierte Drescher sofort gegen seine Inhaftierung.

Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie zu tun haben? Diesen Irrtum wird der MGB noch teuer bezahlen! Und mich in diese dreckige Häftlingskluft zu stecken — Wir wissen viel zu viel über Ihre Spionage-tätigkeit, unterbrach ihn barsch der Kapitän, Sie haben kein Recht, so zu sprechen mit uns. Außerdem vernehmen wir und nicht Siel

Spionagetätigkeit? Jetzt war Drescher ganz sicher, daß sie ihm nichts anhaben könnten, denn alles, was er je für oder gegen dieses Regime getan hatte, war von „Spionage" weit entfernt.

Kennen Sie Kurt Brenner, war die erste Frage des Kapitäns.

Den ehemaligen Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei, der 1948 nach Westdeutschland flüchtete? Gewiß kenne ich den, noch aus meiner Jugendzeit, als er Sozialdemokrat war.

Nun, was haben Sie im Auftrag von Kurt Brenner für eine Spionagetätigkeit ausgeübt?

Das ist wirklich das Dümmste, was mir je vorgeworfen wurde, rief Drescher aus.

Während der wochenlangen Verhöre bekam er nach und nach heraus, was für eine Bewandtnis es mit diesem Kurt Brenner hatte: Ein Kurier des Ostbüros der SPD aus Hannover war in die Zone geschickt und dort gefaßt worden. Sie fanden bei ihm eine Liste mit den Namen von zweiunddreißig alten Sozialdemokraten, darunter den von Dreschers Vater.

Der alte Mann von fünfundsiebzig Jahren war 1945 in Halle sofort als Sekretär der Sozialdemokratischen Partei tätig gewesen und nach dem Zwangszusammenschluß der SPD und KPD von diesem Posten entfernt worden, obendrein erhielt er durch die SMAD Redeverbot.

Hinter dem Namen von Dreschers Vater stand auf der Liste ein Vermerk: Brief Kurt Brenners an Sohn Fritz weiterleiten. Der Brief enthielt außer Gründen nur die vage Frage, wie Fritz mit „den bekannten Schwierigkeiten fertig würde" — dieser Brief gelangte nie in die Hände Fritz Dreschers, aber er machte ihn zu einem „Spion".

Verbissen saß der Kapitän an seinem Schreibtisch vor dem vergitterten Fenster und fragte und bohrte: Was für Spionagtetätigkeit für Brenner?

Im Dezember mußte er die Vernehmungen unterbrechen, der Häftling war nicht mehr vernehmungsfähig. Seit seiner Einiieferung ins Zuchthaus hatte er nicht ein einziges Mal frische Luft geatmet, er war von 130 Pfund auf 88 Pfund abgemagert. Die Haut spannte sich wie Pergament über den Wangenknochen, tief lagen die Augen in den Höhlen. Um sich von der Pritsche aufzurichten, mußte der Häftling sich mühsam mit den Händen an die Kanten geklammert hochziehen, wobei ihm schwindlig und übel wurde. Sie hatten Fritz Drescher fast verhungern lassen, um ihn schwach und zu Geständnissen über „Spionagetätigkeit" gefügig zu machen.

Der Kapitän nahm die Vernehmungen mit diesem Wrack eines Häftlings wieder auf, quälte ihn noch ein halbes Jahr lang und verzichtete schließlich. Dieser Mensch war mit keinem Mittel zu irgendwelchen „brauchbaren" Aussagen zu bringen.

Mit Abschluß der Verhöre erhielt Drescher Zusatzverpflegung in Form von Kartoffelbrei. Staunend beobachtete er, wie sein heruntergewirtschafteter Körper mit diesem Minimum an Nahrungszufuhr sich wieder zu kräftigen begann.

Die dreizehn Angeklagten, bärtige, verwahrloste Hungergestalten, waren für ihre Verurteilung nicht einmal rasiert worden.

Fritz Drescher, mit blassem, kleingewordenem Gesicht im Kranz wirrer, schwarzer Haare, blickte die übrigen Angeklagten in den Bank-reihen des Gerichtssaales an, zwölf alte Sozialdemokraten, er war der dreizehnte.

Durch den Vorsitzenden, einen Oberstleutnant, erfuhr Drescher, daß er mit diesen zwölf zu einer „Gruppe" gehöre, die im Untergrund agiert habe. Von den Angeklagten kannte Drescher nur einige, die „Gruppe" setzte sich aus Angestellten und Beamten der Landesregierung und ein paar Privatleuten zusammen.

Jetzt beim Tribunal ließ der Vorsitzende gegen den ehemaligen Ministerialdirektor Drescher zwei Belastungszeugen aufmarschieren. Der erste: Waldemar Kasparek, einst Mitglied der NSDAP und der SA, später Häftling der NKWD und zu Spitzeldiensten wieder freigelassen, um auf das Ostbüro der SPD in Hannover angesetzt zu werden.

Kasparek behauptete mit lauter und harter Stimme, ohne den Blick einmal zur Anklagebank zu wenden, Drescher und ein gewisser Peters seien die Anführer der sozialdemokratischen Untergrundbewegung in Mitteldeutsch-land gewesen, ohne ihre ausdrückliche Genehmigung habe er selbst, Kasparek, keine Aktionen und keine Reisen nach Westdeutschland unternehmen dürfen.

Der Angeklagte Drescher erhob sich und fragte den Zeugen, wo und wann dieser jemals mit ihm zusammengekommen sein wolle.

Aus der ausweichenden Antwort ging deutlich hervor, daß Kasparek niemals den Angeklagten getroffen hatte, trotzdem blieb seine Aussage unberichtigt bestehen.

Der zweite Belastungszeuge hieß Hans Büttner, ehemals Referent in der Landesforstverwaitung und von Drescher wegen dienstlicher Vergehen entlassen.

Ungeniert bekannte er im Zeugenstand, den Ministerialdirektor bespitzelt zu haben und gab zu, dieser habe in Vorträgen immer wieder in schärfster Form die Besatzungsmacht angegriffen, sie des Raubbaus am deutschen Wald, der unsachgemäßen Jagdausübung und währungspolitischer Manipulationen bei Holzausfuhren beschuldigt.

Nach vier Verhandlungstagen wurden in der Nacht zum 17. Juni 1949 die Urteile verlesen: 9 Angeklagte: je 25 Jahre Arbeitslager, 2 Angeklagte: je 20 Jahre Arbeitslager, 2 Angeklagte: (Fritz Drescher und Willy Thorwardt) an Stelle einer Todesstrafe je dreimal 25 Jahre Arbeitslager, zusammengezogen zu 25 Jahren Arbeitslager.

Sämtliche Urteile lauteten: Wegen erwiesener Spionage, Zugehörigkeit zu einer sozialdemokratischen Untergrundbewegung, antisowjetischer Propaganda und Verleumdung der Besatzungsmacht. Fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager wegen „Spionage" verdankte Fritz Drescher seiner Namensnennung auf der Liste Brenner, fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager wegen „Zugehörigkeit zu einer sozialdemokratischen Untergrundbewegung" den Lügen des Spitzels Kasparek, fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager wegen „Verleumdung der Besatzungsmacht" den Denunziationen des Spitzels Büttner.

Zum Transport ins „gelbe Elend" nach Bautzen wurden den Verurteilten Kopfhaar und Bärte geschoren.

Als Drescher in die Zuchthauszelle ging, verfügte er trotz seines geschwächten Körpers immer noch über starke seelische Kraftreserven. Er fragte sich, wie lange er damit auskommen müßte — fünfundzwanzig Jahre?

Ein Mann wurde nun zwischen vier Zellen-wänden stillgelegt, dessen Lebensmotor immer auf höchsten Touren gelaufen war — ein Todesurteil sollte auf diese lautlose Weise vollstreckt werden.

Am 11. Februar 1950, um 12 Uhr mittags, wurden die Gefangenen sämtlicher Strafvollzugs-anstalten der sowjetischen Besatzungszone der deutschen Volkspolizei übergeben, das MGB behielt nur diejenigen für sich zurück, die seinem Urteil nach besonders schwerwiegender Verbrechen schuldig waren. Im Zuchthaus Bautzen waren es hundertachtzig Mann, unter ihnen Fritz Drescher. Nachdem er eineinhalb Jahre in sowjetischem Gewahrsam hinter sich hatte, wartete er jetzt abgesondert im Flügel Ost I in einer eiskalten Zelle zusammen mit den anderen Aussortierten — worauf? Was hatten die Sowjets in ihrer Willkür und Unberechenbarkeit mit ihnen vor?

Russische Wachtposten führten die hundert-achtzig Gefangenen an deutschen Volkspolizisten vorüber, die im Hof des Zuchthauses in ihren nagelneuen Uniformen und in ihrer neuen, ungewohnten Funktion herumstanden und mit einem Gemisch von Neugier und Empfindungslosigkeit auf die vorüberziehende Kolonne ihrer deutschen Landsleute starrten. Drescher blickte in die Augen der jungen Deutschen, er fragte sich, für welches Deutschland er und seine Kameraden jetzt ihren weiteren Leidensweg anträten — wo dieses Deutschland noch zu finden sei, für das ein solcher Opfergang lohne.

Aber noch blieben diese Häftlinge des MGB weiter in Deutschland, sie wurden nur nach Halle transportiert.

Zuchthaus Halle: Als sollte Fritz Drescher immer wieder am gleichen Ort sein besonderes Schicksal vorexerziert werden.

Drescher wurde mit ehemaligen SS-Leuten in eine Zelle zusammengesperrt. Er trat in einen viertägigen Hungerstreik, um aus dieser unerträglichen, dieser widerwärtigen Zellen-gemeinschaft fortzukommen; vergeblich. Er blieb diesen üblen menschlichen Ausdünstungen in einem Geviert von zwölf Quadratmetern ausgeliefert, Tag und Nacht, wochenlang, monatelang.

Der elende Körper, durch den Hungerstreik noch geschwächt, lag hilflos auf der Pritsche. Die Augen starr auf die betongraue Zellen-wand gerichtet, versuchte Drescher seine Ohren taub zu machen gegen die gemeinen, mitunter provozierenden Reden. Wenn er seine Augen schloß, gelang es ihm immer wieder, in den Raum innerer Freiheit einzutreten, der unverletzt bleibt, wo immer der Mensch sich befindet und wie elend er immer sein mag. Aus der Hölle dieses Sommers wurde Fritz Drescher im September 1950 abtransportiert. Aneinandergefesselt, wie Galeerensträflinge saßen sie mit gespreizten Beinen hintereinander auf den Planken von planbedeckten Lastwagen. Am Abend wurden sie im Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes Hohenschönhausen ausgeladen; eine riesige, alte Fabrikhalle erwartete sie.

Nach einer Filzung bis auf die Haut behielt ein menschliches Wesen nichts mehr als Eigentum zurück, nicht einmal eine selbstgefertigte Nähnadel, die zwischen den Zähnen versteckt war. Entblößt von allem, was sie noch mit dem Dasein von gestern verband, wurden die Gefangenen über Gleise hinter der Fabrikhalle zu einem blauen Postexpreßzug geführt.

Die Häftlinge mußten sich darin in Zellen niederhocken. Mit angezogenen Beinen, eng aneinandergepreßt, so rollten sie im blauen Postexpreß Tage, Nächte, Tage, Nächte. Wohin transportierte man sie? Welche Landstriche liefen hinter den blinden Scheiben vorüber?

In einer Nacht hielt der Zug lange. Hier mußte eine Grenzstation sein. Laut rufende russische Posten liefen über den Bahnsteig hin und her.

Hinter den blinden Scheiben der matte Schein von Laternen.

Ein Sträfling hatte eine kleine Stelle auf der Scheibe freigekratzt und sein Auge darangelegt. Um Gottes willen, rief er aus, ich erkenne den Bahnhof wieder, Brest-Litowski Ich bin im Krieg als Stabsarzt hier durchgekommen. Es ging also nach Rußland! Sie ahnten es längst, doch die Gewißheit war furchtbar.

Die Sträflinge wurden aus dem Zug während eines sintflutartigen Regens herausgeholt. Vermummte geschlechtslose Gestalten standen auf dem Bahnsteig verteilt — harte Männergesichter unter Baskenmützen — Russinnen.

Als die Hunderte von Gefangenen sich in einem hohen, holzgetäfelten Raum sammelten, dachte Drescher, so müsse es hier schon in der Zarenzeit ausgesehen haben: Ein Gitter teilte den Raum vom Fußboden bis zur Decke, auf der anderen Seite des Gitters hatte sich ein dicker Russe hinter einem altmodischen Stehpult postiert und verglich die Fotografien in den Papieren mit den bleichen, verhungerten Gesichtern, die sich ihm auf seinen Aufruf durch das Gitternetz zuwandten.

Danach warteten die Deutschen in einem großen Kellergelaß mit Holzpritschen, warteten weiter — immer wieder die Frage: worauf?

Ihr Zustand und die Umstände konnten sich nur verschlechtern. Die Zeit mußte vergehen, das war alles, worauf sie noch hoffen konnten.

Aber Zeit ist für Gefangene mit einem Strafmaß von fünfzehn, zwanzig oder fünfundzwan-zig Jahren ein sinnloser Begriff geworden, ist ein Koloß, der sich über sie wälzt und sie erdrückt.

Das Gefängnis von Brest-Litowsk, von Polen erbaut, war mit finsteren Katakomben ausgestattet. Sogenannte Freihöfe, durch hohe Planken gegeneinander abgegrenzt, gaben gerade soviel Platz, daß die Gefangenen dicht nebeneinander stehen und die Köpfe zu dem Himmelsviereck heben konnten.

Fritz Drescher wurde in die Isolierzelle verlegt, weil der sowjetische Feldscher Ruhr bei ihm befürchtete. Er lag auf der gleichen Pritsche mit einem jungen polnischen Partisanen, dem eine Maschinengewehrgarbe den Leib zerfetzt hatte. Haßerfüllt starrte er auf den sowjetischen Offizier, der vor seinem Lager stand. Sobald ich wieder auf den Beinen bin, da bin ich weg, Ihr haltet mich nicht, flüsterte er mit der letzten Kraft seiner Stimme.

Fritz Drescher dachte erschüttert: Was für ein unbeugsamer Wille, was für ein Mut zum Haß noch im Sterben!

Die Deutschen wurden in den Stolypinskijs, Sträflingswaggons aus der Zarenzeit, weiter-transportiert nach Orscha. Hier lag gleich hinter dem Gefängnis ein Abladeplatz für Schutt und Müll, feiste, riesenhafte Ratten, wie Drescher sie nie in Deutschland gesehen hatte, huschten dazwischen herum. In diesem Riesenland schien alles ungewöhnliche Ausmaße anzunehmen. Nachts kamen die Ratten zu ihnen in die Zellen.

Von Station zu Station wurde es unheimlicher. In den lichtlosen Gewölben von Wologda, einer Festung mit meterdicken Mauern, einst hier nordöstlich von Moskau gegen die Tataren errichtet, wurde für die Männer aus Thüringen, Sachsen, aus der Mark Brandenburg die Vorstellung immer mühseliger, daß es Städte wie Halle oder Weimar oder Potsdam gäbe und daß in diesen Städten ihre Mütter, Frauen und Kinder lebten.

Fritz Drescher wußte nichts von seiner Familie, seit das Auto des MGB ihn aus dem Krankenhaus abgeholt hatte — und daß auch die Familie nichts von seiner Verurteilung und seinem Abtransport in die UdSSR erfahren hatte, sollte er erst Jahre später feststellen.

Sie fuhren immer nach Norden. Auf der Strecke von eintausendfünfhundert Kilometern gab es gegen den Durst nur das Wasser aus dem Wasserspeicher der Lokomotive, gegen den Hunger salzige Fische und Brot, für die Augen nichts als graue, unendliche Flächen zu beiden Seiten der Bahngleise. Selbst das Steppen-gras wurde mager, und die grauen Erhebungen, die näher oder ferner sichtbar wurden, waren Lager, nichts als Lager — wie tote Finger ragten ihre Wachtürme in die immer dünner werdende Luft. Grauschwarze Kolonnen krochen neben den Bahngleisen dahin — die Strafgefangenen!

Dies also wird auch unser Schicksal sein, dachte Drescher, so ameisenhaft dahinzukriechen irgendwo über diese unendliche Fläche der Tundra.

Als Fritz Drescher in Workuta, an der Grenzscheide Asien-Europa, aus dem Stolypinskij kletterte, traten seine geschwollenen Füße auf Schnee, knirschenden Polarschnee. Eine Glocke eisiger Luft schloß ihn ein. Es war Oktober, ihre Reise hatte mehr als einen Monat gedauert. Nun befanden sie sich nur hundert Kilometer vom Nördlichen Eismeer entfernt.

Von der Persylka, dem Verteilungslager, kam Drescher zusammen mit fünfzig aus dem Transport nach Schacht 6. Bei ihrem Auszug aus dem Verteilungslager stellten sich ihnen Sträflinge mit gezückten Messern in den Weg, um den Neuankömmlingen das letzte, was sie vielleicht noch besaßen, abzunehmen. Kaum angekommen, fielen sie diesen berüchtigten und gefürchteten Blaturgs, Angehörigen von Verbrecherorganisationen, in die Hände.

Drescher wurde einer Baubrigade zugeteilt, da er nicht „schachtfähig" war. Auch über der Erde konnte er nur unter ständigen Schmerzen arbeiten, doch mußte er bis Ende März des nächsten Jahres auf seine Einweisung in das Lazarett warten. Wenn Schneestürme über die Tundra fegten und das Thermometer manchmal bis minus 60° C gesunken war, zog er mit der Baubrigade aus. Von minus 35° C an durften die Sträflinge Wattemasken über die Gesichter ziehen. Eine so im Schneesturm dahin-kriechende Kolonne hatte nichts Menschliches mehr an sich. Als der Sträfling Drescher endlich im März ins Lazarett eingeliefert wurde, stellte der ukrainische Arzt bei ihm einen Leistenbruch durch Überanstrengung fest und operierte, da kein Äther für eine Vollnarkose vorhanden war, das Novokain zur Lokalanästhesie nicht ausreichte, ohne Narkose.

Nach der Operation hatte Drescher das Glück, eine Arbeitsstufe niedriger kategorisiert zu werden, er brauchte jetzt nur noch innerhalb des Lagers zu arbeiten.

Der kurze Sommer mit einer Hitze bis zu 40 Grad schwächte ihn weiter, und als er wieder im Oktober — ins Lazarett eingeliefert wurde, konstatierte der Arzt außer Herzschaden eine offene Tuberkulose. Ein Vierteljahr später war Drescher, als „Halbinvalide" entlassen, nur noch für die Invalidenbrigade tauglich. In Nachtschicht mußten sie Kartoffeln schälen. Wenn sechs Wochen lang die Tundra blühte und ein gnadenloser, ewiger Sommertag währte, saßen sie im Mitternachtssonnenlicht vor ihren Baracken. Nach kurzen Wochen gleißender Helle versanken die dreitausend-fünfhundert Gefangenen des Lagers 6 wieder in Winterdunkel, zusammen mit den Tausenden und Abertausenden in allen anderen Lagern um sie herum.

Am Ende des Jahres 1953 — eines Jahres, das im Juli im Workutabereich den großen blutigen Streik gebracht hatte — wurde der Strafgefangene Drescher nach dem Sangorodok verlegt, dem Lazarettstädtchen, das unweit von Schacht 6, umzäumt von Stacheldraht, neben einer freien Siedlung lag.

Immer erneut hatte Drescher während der drei Lagerjahre ins Lazarett gebracht werden müssen: Immer wieder schwere Herzanfälle, auf-brechende Tuberkulose.

Von den siebenhundertfünfzig Tbc-Kranken, die in den Baracken des Sangorodok in zweigeschossigen Pritschen über-und untereinander lagen, mußten die meisten auch hier arbeiten. Drescher war während der „Aktierung" im Sommer 1954 in der Röntgenabteilung tätig, er arbeitete weit über seine reduzierten Kräfte.

Wenn in der Sowjetunion ein Material als unbrauchbar angesehen wird, so wird es „aktiert“, d. h. wertlos gemacht, abgeschrieben! In den Lazarettstationen von Workuta wurden also Menschen " aktiert". Ende Juli 1954 erschien eine sowjetische Kommission im Lager und besichtigte jeden von den Ärzten für die Aktierung vorgeschlagenen Kranken. Wer aktiert war, hatte die Chance, als Wrack, aber vielleicht noch lebend das Lager verlassen, heimkehren zu dürfen.

Die Anstrengung in der Röntgenabteilung während dieser „Aktierung" war für Fritz Drescher übermäßig, eine schwere Lebertoxikation warf ihn wieder aufs Krankenlager, das Herz versagte, die Ärzte und die Freunde gaben den Mann auf, er schien todgeweiht. Für seine 'Freunde in Deutschland war Fritz Drescher schon gestorben, Gerüchte über seinen Tod hatten seine Frau erreicht. Im Dezem46 ber 1954 endlich bekam sie die erste, direkte Nachricht, die erste Postkarte aus Workuta, nach sechs Jahren Schweigen. Fritz Drescher hatte bis jetzt überlebt, auch diese letzte Elendszeit.

In der Abgeschlossenheit von Sangorodok erfuhren die Kranken eines Tages, daß die deutschen Sträflinge von Schacht 6 und aus anderen Lagern nach Inta-Abbes in ein Sammellager überführt worden seien.

Plötzlich war nicht mehr Kranksein die Rettung, sondern Gesundsein. Fritz Drescher hatte sich wie durch ein Wunder wieder etwas erholt, und durch ein zweites Wunder war er unter die achtzehn geraten, die von den Invaliden für transportfähig erklärt wurden.

Am 14. März 1955 ging es in offenen LKW’s bei minus 34° C zum Bahnhof Workuta, dort warteten wieder die Stolypinskij's. Nach der Fahrt von etwa 250 Kilometern in südwestlicher Richtung tauchten die ersten, krüppligen Bäume auf — nach 5 Jahren.

In Javas Potna, Zentralrußland, wartete auf die Sträflinge wieder ein Lager und auf Drescher wieder das Lazarett.

Sie zählten ihre Passionsstationen nicht mehr, sie erlitten sie Stufe um Stufe in der Gewißheit, zu sterben.

Fritz Drescher aber lebte — leidend — weiter. Als über den Lagerrundfunk die Berichte aus Moskau über den Besuch Bundeskanzler Adenauers verbreitet wurden, bemächtigte sich aller im Lager von Javas Potna eine ungeheure, unerträgliche Nervosität. Erwartungen und Hoffnungen stiegen stündlich.

Am 3. Oktober Aufrufe: Vierhundertzwanzig Amnestierte durften das Lager verlassen, durften heimfahren; zehn Strafgefangene, die nicht unter die Amnestie fielen, gingen auf Transport, zurück nach Swerdlowsk, sechszehn Kranke mußten wegen Transportunfähigkeit zurückbleiben, unter ihnen Fritz Drescher.

Er lag auf seiner Pritsche und horchte hilflos, wie seine Kameraden abmarschierten. In seinem elenden Körper aber gab es immer noch eine letzte, äußerste, seelische Kraftreserve. Drescher war, als der nächste, der letzte Transport fünf Tage später Javas Potna verlassen sollte, auf den Beinen — und diesmal kam er mit.

Güterwagen hinter Güterwagen rollten mit ihrer Menschenfracht der untergehenden Sonne zu. Im letzten Wagen lagen — wohlweis-lieh abgesondert — die „Klopfer", die Lager-spitzel. Russische Wachtmannschaften schützten sie noch bis zur Grenze der Sowjetunion vor Racheaktionen ihrer Kameraden.

Auf einer Station kam zu dem Wagen, in dem Drescher lag, ein Strafgefangener und bestellte von einem aus dem letzten Waggon namens Waldemar Kasparek, ob dieser Drescher sprechen könne.

Nein! sagte Drescher, nein, der soll weit weg bleiben, in seinem Interesse!

Der Spitzel, dem er das Urteil „ 25 Jahre wegen Spionage" verdankte, war irgendwann also wieder von den Fängen des MGB gepackt und ebenfalls ins Schweigelager von Workuta verschickt worden — und auch dort als Sträfling hatte er seine Spitzelnatur nicht verleugnet, war ein „Klopfer" geworden.

Wieder Brest-Litowsk, fünf Jahre später! Sie rollten durch stacheldrahtbegrenztes Niemandsland, dann Halt an der ersten polnischen Bahnstation.

Junge Polen liefen an dem wartenden Güterzug entlang und riefen in die Waggons, ob die entlassenen Sträflinge nicht Schuhe oder Hosen oder Wattejacken zu verkaufen hätten — und baten um Brot!

Aus den Waggons wurde ihnen Brot gereicht, und der Zug fuhr weiter, überall auf den Stationen, an den Bahngleisen winkten Polen ihren einstigen Feinden zu. Der Zug rollte über die polnisch-deutsche Grenze und hielt auf dem ersten deutschen Bahnhof: Frankfurt/Oder. In genau bemessenen Abständen über die Bahnsteige verteilt, erwarteten Volkspolizisten mit eisernen Mienen und mit Karabinern im Anschlag ihre heimkehrenden deutschen Brüder. Fritz Drescher sah sie an und dachte zurück an die harten Gesichter der jungen Volks-polizisten damals im Zuchthaus von Bautzen — es waren die gleichen Gesichter.

Er trat auf den Bahnsteig — auf deutschen Heimatboden — trat in die Freiheit.

Freiheit! War er frei in Weißenfels?

Seine Frau hatte dort in der alten Wohnung auf ihn gewartet; sein Sohn, während der Jahre, die der Vater fern und verschollen war, ein Erwachsener geworden, hatte das Gebiet der „DDR" bereits verlassen und arbeitete in Westdeutschland als junger Redakteur.

Fritz Drescher fühlte sich innerhalb der Grenzen der „DDR" nicht in Freiheit. Schon in Workuta, als er kaum noch hoffen durfte, jemals dem Polargebiet zu entrinnen, hatte er gewußt: wenn — wenn — ich sie überlebe, wenn ich Deutschland je wiedersehen sollte — nie mehr soll es für mich das sowjetisch besetzte Deutschland sein.

Der Taxifahrer, der ihn vom Bahnhof Weißen-fels nach Hause fuhr, hatte sich während der Fahrt plötzlich umgedreht und gefragt: Sind Sie nicht der frühere Vizepräsident Drescher? Das alles war einmal! Ich bin ein entlassener Strafgefangener. Fünf Jahre verhaftet bei den Nazis, mehr als sieben Jahre bei den Kommunisten! Zwölf Jahre meines Lebens!

Wenige Tage nur blieb Drescher in Weißen-fels, dann flüchtete er mit seiner Frau nach West-Berlin.

Ein Jahr vergeht, in dem Fritz Drescher in Westdeutschland langsam seine Leiden ausheilen muß, ehe er wieder ungebrochen tätig sein kann: Für seine Sozialdemokratische Partei und im Wirtschaftwissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften in Köln.

Ein Leben im Dienst einer Idee geht weiter.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Erika von Hornstein stammt aus Potsdam und lebt heute in Berlin. Nach ihrer Flucht aus der Sowjetzone im Jahre 1953 schrieb sie ihren ersten Roman „Andere müssen bleiben". Für den Dokumentarbericht „Die deutsche Not. Flüchtlinge berichten" erhielt sie den Ostdeutschen Literaturpreis. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Köln, drucken wir aus dem Anfang 1964 erscheinenden neuen Buch von Frau v. Hornstein „Staatsfeinde — 7 Prozesse in der DDR“ Berichte über die Schicksale dreier politischer Gefangener in kommunistischen Zuchthäusern ab.