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Eine Zwangsehe Europa und Amerika in der atlantischen Partnerschaft | APuZ 12/1963 | bpb.de

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APuZ 12/1963 Praxis der Partnerschaft Spannungen im Bündnis Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen Atlantica Eine Zwangsehe Europa und Amerika in der atlantischen Partnerschaft

Eine Zwangsehe Europa und Amerika in der atlantischen Partnerschaft

Lionel Gelber

der Ablehnung des Gesetzes das Wort geredet wird. Doch kamen aus allen Ecken des Landes die Ansichten bedeutender Persönlichkeiten und wichtiger Teile der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens der Gesetzesvorlage entschieden zu Hilfe. Das Gesetz selbst beschränkte sich zwar auf die Frage von Verhandlungen mit dem Gemeinsamen Markt und mit anderen Staaten, um den Handelsverkehr zu steigern, doch bestand meines Erachtens keinerlei Illusion darüber, was die Zustimmung zu dieser Maßnahme zur Folge hat. Es handelte sich um ein ganz entschiedenes Votum zugunsten dessen, was Präsident Kennedy als ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zwischen den Vereinigten Staaten und einem integrierten Westeuropa bezeichnete, einem Partner, der stark genug wäre, um die Verantwortlichkeiten und die Initiative in der freien Welt mit uns zu teilen.

Die Entwicklung einer Handelspartnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und dem Gemeinsamen Markt wird keine leichte Aufgabe sein, und ist sie erst einmal erfüllt, werden wir nicht ohne noch größere Anstrengungen unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten können. Wir werden der ständigen Aufwärtsentwicklung der Preise Herr werden müssen, und das geht nicht ohne ein größeres Verantwortungsbewußtsein der Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen, die, wenn sie nicht an eine entsprechende Steigerung der Arbeitsproduktivität geknüpft sind, wiederum selbst nur zu ständig steigenden Preisen führen können. Auch die gewerbliche Wirtschaft muß sich auf einen schärferen Wettbewerb umstellen. Wir werden unseren ganzen Scharfsinn und unseren Erfindergeist voll einsetzen müssen, um die technischen Neuerungen, die zu schaffen uns gegeben ist, restlos ausnutzen zu können. Allerdings sind einige schmerzliche Umstellungen nicht zu vermeiden. Auch wenn die vom Kongreß mit dem jetzt in Kraft befindlichen Handelsgesetz bewilligte Umstellungshilfe noch so wirksam sein sollte, müssen wir uns dennoch darauf einstellen, gewisse Opfer zu bringen.

In dem mir vorschwebenden Entwicklungsprozeß wird der Kongreß der Vereingten Staaten zwangsläufig eine wichtige, ja sogar eine maßgebende Rolle zu spielen haben. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist es ausschließlich Sache der beiden Häuser des Kongresses, dem Präsidenten die Befugnis zu erteilen, Verträge auszuhandeln. Auf politischem Gebiet hat der Präsident nur eine beschränkte Handlungsfähigkeit, da bindende Verpflichtungen von wirklich großer Bedeutung nur über unser verfassungsrechtlich vorgesehenes Vertrags-verfahren und nicht durch Regierungsabkommen übernommen werden dürfen. Dies bedeutet, daß alle etwa vom Präsidenten vorgeschlagenen Verträge einer Zweidrittel-Mehrheit des Senats der Vereinigten Staaten bedürfen. Das heißt wiederum, daß weite Kreise der Öffentlichkeit bereit sein müssen, diese Verträge zu billigen, da die einzelnen Senatoren zwangsläufig von der Reaktion der Öffentlichkeit stark beeinflußt werden. Daraus erklärt sich, warum es so außerordentlich wichtig ist, daß die Öffentlichkeit den geschichtlichen Wendepunkt erkennt, an dem sich unsere Nation befindet, und die Richtung, in der wir vorgehen müssen.

Eine neue Etappe im Verhältnis Europa — Amerika Europa und Amerika sind zwei Eheleute, die ebensowenig ohne einander wie miteinander glücklich leben können. Ihre Verbindung hätte man in den alten Tagen, insoweit sie mehr auf gegenseitigen Interessen als auf romantischer Zuneigung beruht, als eine „Vernunftehe" bezeichnet. „Zwangsehe" wäre jedoch eine zutreffendere Definition für eine Vereinigung, in welcher Partner unauflöslich miteinander verkoppelt sind, die in so vieler Hinsicht nicht zueinander passen. Beruhigend ist es, daß das Eheglück auch nicht zu den hervorragenden Merkmalen der chinesisch-sowjetischen Verbindung gehört. Auch ist es trostreich, daß die häuslichen Reibereien nachlassen, sobald der Westen von außen herausge47 fordert wird. Aber der Westen mußte seine Reihen nicht nur gegen die dauernde Bedrohung aus dem Osten schließen. Innerhalb des Westens sind neue Entwicklungen im Gange. Bei dem Versuch, sich darauf umzustellen, kann der Westen nur zu leicht in ärgerliche Schwierigkeiten geraten.

Zwei der jüngsten Etappen der Ehe Europas mit Amerika sind allgemein bekannt: die Abweisung Europas durch Amerika in der Zeit zwischen den beiden Kriegen; Amerikas großzügige Bestrebungen, Europa nach dem zweiten Weltkrieg wieder zum Leben zu erwecken. Doch ist nun eine neue Etappe erreicht. Europa, nun wieder erholt, betrachtet sich jetzt weniger abhängig von Amerika als zuvor. Die Trennung, wenn nicht gar die Scheidung von dem Ehepartner liegt in der Luft. Wird die europäische Unabhängigkeit, die Amerika selbst gefördert hat, zu ‘weit gehen? Besteht ferner bei dem neuen Verhältnis eine größere Gefahr als bei dem alten, die ganze Welt in einen Atomkrieg hineinzuziehen? Unabhängigkeit um welchen Preis? Das ist für beide, für Amerika sowohl als auch für Europa, eine der großen Fragen, auf die eine Antwort noch aussteht. Den Zerfall aufzuhalten und den Zusammenhalt zu festigen, — das ist die Aufgabe, der sich die Vereinigten Staaten als die führende Nation des Westens nun gegenübergestellt sehen. Präsident Kennedy hat sich daher eine These von Eisenhower und Macmillan zu eigen gemacht, als er die Erklärung von der Interdependenz abgab, das heißt, von der gegenseitigen Abhängigkeit der Staaten untereinander. Als er darüber hinaus am 4. Juli erklärte, daß die Vereinigten Staaten bereit seien, mit einem Vereinigten Europa die Mittel und Wege zur Bildung einer konkreten atlantischen Partnerschaft zu erörtern, schwebte ihm dabei nicht nur die Stärkung der Verteidigung der freien Welt vor, sondern auch eine Partnerschaft, die bereit ist, nach außen mit allen Nationen zusammenzuarbeiten, um ihre gemeinsamen Probleme zu lösen. Er hat dabei nicht gesagt, daß ein nur mit sich selbst beschäftigtes Europa die bestehenden Schwierigkeiten eher verschärfen als vermindern würde. Das könnte aber leicht der Fall sein.

Ein weltweites Gleichgewicht der Kräfte sichert den Frieden Die Verteidigung ist nicht der einzige Bereich, in dem sich das Schicksal der freien Völker entscheidet, aber wenn sie hier nicht die Ober-handgewinnen, dann Werden es andere tun. Die Isolationisten und Beschwichtiger gestern, die Pazifisten und Neutralisten heute haben sich bisher immer davor zu drücken versucht, diese Grundwahrheit zuzugeben. Aber die freie Welt kann ihren Fortbestand nicht dadurch gewährleisten, daß sie die Realitäten der Macht einfach ausklammert. Inwieweit ist nun Europa eigentlich heute in der Lage, sich selbst zu schützen? Wird es künftig besser in der Lage sein als bisher, den Rahmen für die atlantische Interdependenz zu setzen? Die Sicherung des Friedens in der Nachkriegszeit war bisher hauptsächlich die Aufgabe der Vereinigten Staaten. In welchem Umfang wird ein Vereinigtes Europa bereit sein, diese Aufgabe zu übernehmen?

Wie erhält man den Frieden? Wenn die atlantischen Völker in den entscheidenden Phasen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht die Erhaltung einer freiheitlichen Weltordnung als ihr oberstes Ziel angesehen hätten, wäre es zu keinen größeren Kriegen gekommenem ersten Weltkrieg ließ sich diese freiheitliche Weltordnung noch am besten durch die Bewahrung des Gleichgewichts der Kräfte in Europa erhalten. Aber seit Pearl Harbor hat sich der Bereich kriegerischer Auseinandersetzungen erweitert, ebenso wie sich nach dem zweiten Weltkrieg der Bereich der Machtkonkurrenz in Friedenszeiten vergrößert hat. Der Frieden wird jetzt durch ein weltweites Gleichgewicht der Kräfte gesichert, das für den Westen durch die Vereinigten Staaten garantiert wird. Europa ist zwar immer noch ein äußerst wichtiges und kritisches Gebiet, aber doch nur eines unter anderen. Die Pax Britannica des neunzehnten Jahrhunderts lebte im wesentlichen von Englands weltweiter Beherrschung der Meere und dem Gleichgewicht der Kräfte in Europa. Jetzt aber, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, ist es den Europäern nicht gelungen, ihren Abschnitt in dem weltweiten Gleichgewicht der Kräfte allein zu sichern. Das ist der Grund dafür, daß die Anwesenheit der Nordamerikaner im NATO-Europa mehr darstellt als nur ein Symbol oder eine Ergänzung. Was dabei die Stärke ausmacht, ist die Tatsache, daß die Anwesenheit der Nordamerikaner ein Teil der globalen Machtstruktur ist, die sich wiederum auf die nukleare See-und Luftmacht der Vereinigten Staaten stützt.

Aber das ist noch nicht alles. Wenn auch niemand im Zeitalter der Atomraketen einen großen Krieg mit Waffen allein gewinnen kann, würde die freie Welt ohne diese Waffen ihre Freiheit verlieren. Frieden durch Macht ist daher immer noch das Losungswort für den Westen. Aber so wie sich Ost und West im militärischen Bereich gegenseitig zurückhalten, stehen sie in um so härteren Auseinandersetzungen im nichtmilitärischen Raum, überdies hat die Machtverteilung zwischen den rivalisierenden Lagern nicht nur ein Ost-West-Gleichgewicht herbeigeführt. Durch dieses Gleichgewicht erhalten die inneren Kräfte in jedem dieser Lager einen Spielraum, um sich selbst Geltung zu verschaffen. Wo gäbe es ein vereinigtes Europa, wo wären Adenauer oder de Gaulle ohne dieses Gleichgewicht? Wo wären jene Engländer, die die sowjetischen Angriffsraketen auf Kuba mit den Basen für NATO-Fernlenkwaffen auf eine Stufe stellten? Wo wären die afro-asiatischen Kritiker und Verleumder dieses Kräftegleichgewichts? Die Neutralisten wären wohl kaum mit soviel Fleiß hofiert worden, wenn sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden widerstreitenden Konzeptionen der Weltordnung, der freien und der kommunistischen, nicht in so großem Maße auf nicht-militärisches Gebiet verlagert hätte. Aber so wie es jetzt nun einmal ist, ist einigen der relativ schwachen Staaten die Möglichkeit gegeben, eine Sprache zu führen, als stände eine wirkliche große Macht hinter ihnen. Und innerhalb des Westens selbst wird eine Neuverteilung der Macht möglich durch weltweite Machtgarantien, zu denen die Vereinigten Staaten das meiste beitragen. Diese Veränderung berührt auch den Osten. Rußland und China haben die Karten neu gemischt. Und die Art und Weise, in der sie sich nun miteinander arrangieren, muß sich auch einschneidend auf die Aussichten des Westens auswirken, genauso wie die Art und Weise, in der sich Europa und Amerika auf eine Neuverteilung der Macht im atlantischen Bereich umstellen.

Die Sicherheit Europas und Amerikas ist unlösbar miteinander verbunden • Zur Diskussion steht vor allem die Befehls-gewalt über die Abschreckungswaffe. Kann Europa ohne Amerika oder kann Amerika ohne Europa in eine Auseinandersetzung verwickelt werden? Das ist nicht möglich. Ein Beiseitestehen ist durch die strategischen Pläne, durch die moderne Kriegstechnik, durch das weltweite Ausmaß des Ost-West-Konfliktes selbst durch die strategische Verklammerung sowie durch die Tatsache unmöglich gemacht, daß der Gegner das Verteidigungssystem des Westens als einen einheitlichen Mechanismus betrachten und seinen Angriff darauf abstellen wird. Europa kann sich nicht einfach aus der Schußlinie zurückziehen, indem es sich dem wirtschaftlichen Aufbau widmet. Wollte es das tun, so müßte es sich aus seiner Allianz mit Amerika lösen und sich Moskau beugen. Das Ausmaß, in dem die Verbündeten der Vereinigten Staaten im strategischen Bereich mit Amerika verklammert sind, hat ihnen während des Koreakrieges und der nachfolgenden Ereignisse im Fernen Osten so große Sorge bereitet. Sie begannen zu fürchten, daß sich unter den für amerikanische Politik Verantwortlichen eine Schießfreudigkeit breitmachen könnte. Jetzt wiederum hegen einige Europäer die gegenteilige Befürchtung. Sie fragen sich, ob Amerika bereit sein wird, sich um Europas willen einem atomaren Vergeltungsschlag auszusetzen. Vielleicht befinden sich die Schießfreudigen jetzt in Bonn und Paris.

Ist es tatsächlich wahrscheinlich, daß die Vereinigten Staaten in einer europäischen Notlage eher zu wenig als zuviel unternehmen würden? Die Briten wollten sich nicht darauf verlassen müssen und haben unter anderem aus diesem Grunde eine eigene atomare Abschreckungsmacht aufgebaut, allerdings in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Die Franzosen werden unter Umständen ihren „Sitzstreik" in der NATO soweit in die Länge ziehen, bis sie aus den Vereinigten Staaten etwa die gleichen Atominformationen wie die Engländer für den Aufbau ihrer eigenen Abschreckungswaffe herausgepreßt haben. Es mag für die Vereinigten Staaten unklug sein, den Franzosen diese Atominformationen noch länger vorzuenthalten. Aber selbst die Franzosen können nicht sagen, was für ein Regime sie künftig haben werden, dem, ihrem Wunsche entsprechend, die Vereinigten Staaten die für die Verteidigung des Westens so lebenswichtigen Atomgeheimnisse anvertrauen sollen. Bei ihrem Geschick, Unvernunft mit Vernunft zu tarnen, verlangen sie von den Vereinigten Staaten und Großbritannien mehr Vertrauen, als sie sich selbst vor, während und nach Vichy untereinander entgegenbrachten. In einem vereinigten Europa werden die Franzosen vielleicht — oder vieleicht auch nicht — die Entscheidung über den Einsatz ihrer Abschreckungswaffe mit anderen teilen. Das kann ein Mittel sein —• nicht nur —, um für Westeuropa die Gleichberechtigung zu erreichen, sondern auch um Frankreichs hegemoniale Stellung innerhalb Westeuropas zu sichern. Die Belastung des französischen Staatshaushaltes wird allerdings astronomische Formen annehmen. Aber wenn sich die Europäer selbst an den Bettelstab bringen wollen, nur um sich ausreichend mit Atomwaffen auszustatten, kann leicht der Fall eintreten., daß sie auf anderen Gebieten nicht gleichziehen können.

Eine europäische Abschreckungsmacht beschwört Risiken herauf Es ist unvermeidbar, daß Amerika und Europa, solange wie der Ost-West-Konflikt noch andauert, sich über die unterschiedlichen Auffassungen von den zukünftigen Gegebenheiten auseinandersetzen. Es geht dabei darum, ob ein vereinigtes Europa von regionalem Zuschnitt den gleichen Zugriff zu den Hebeln eines weltweiten Machtapparates haben soll, den aufzubauen und zu unterhalten von allen Nationen des Westens nur die Vereinigten Staaten in der Lage waren. Es mag sein, daß an diesem Abzug kein weiterer Finger mehr Platz findet. Was aber, wenn es mehr als einen Abzugshebel gibt?

Tatsächlich kann der Fall eintreten, daß es mehr als einen Abzugshebel gibt, wenn nämlich die Europäer erst einmal eine atomare Abschreckungswaffe besitzen werden, die nicht mit der allumfassenden amerikanischen Abschreckungsmacht koordiniert ist. Ein Ausweg bestünde vielleicht darin, die europäische Abschreckungswaffe der NATO zu unterstellen, wo sie unter Umständen von Amerikanern und Europäern gemeinsam gehütet werden könnte. Wenn eine solche NATO-Abschrekkungswaffe mit der allumfassenden amerikanischen Abschreckungsmacht auf diese Weise koordiniert würde, könnten die Vereinigten Staaten immer noch die letzte Kontrolle über die atomare Verteidigung des Westens ausüben. Wie aber wäre es um die Sicherheit des gesamten Westens beim Fehlen einer solchen Koordinierung bestellt? Es ist natürlich möglich, daß ein vereinigtes Europa im Laufe der Zeit entdeckt, wie sich seine Forderung nach Gleichstellung in Übereinstimmung bringen läßt mit seinem obersten Bedürfnis nach Unterbindung verhängnisvoller Fehldispositionen im Bereich der strategischen Verklammerung. Eine solche Entdeckung ist nicht in Sicht.

Was die Unsicherheit über den amerikanischen Kurs angeht, so dürfte sich die nach der letzten Phase der Kubakrise etwas verringert haben. Ungewisser aber sind die Einflüsse, denen ein vereinigtes Europa ausgesetzt sein könnte, wenn es erst einmal eine gleichrangige Atommacht ist. Auf jeden Fall wird das weltumspannende Ausmaß des Ost-West-Konfliktes weiterhin einen starken Zwang zum Handeln auf die Vereinigten Staaten ausüben. Westeuropa ist von Anfang an der Hauptpreis dieses Weltkonfliktes gewesen. Wenn der kommunistische Osten die Macht über Westeuropa mit seinen Menschen-reserven, seinem wirtschaftlichen Potential und seiner zentralen strategischen Lage gewinnen sollte, würde sich das weltweite Gleichgewicht der Kräfte ein für allemal zu ungunsten der Vereinigten Staaten verschieben. Die Europäer sollten sich einmal daran erinnern, daß Europa im ersten und im zweiten Weltkrieg fast verloren war, als die Amerikaner als Retter erschienen. Das alles hat sich nicht nur durch die Führungsrolle Amerikas und das derzeitige weltweite Gleichgewicht der Kräfte verändert, sondern auch schon durch die Natur der Atomwaffen selbst. Wenn Europa überhaupt gehalten werden soll, dann jetzt.

Zweimal ist die Neue Welt, wie es selbst Canning nicht besser hätte prophezeien können, auf den Plan gerufen worden, das Gleichgewicht in der Alten Welt wiederherzustellen. Jetzt hat die Neue Welt die Alte Welt auf den Plan gerufen, um ein nun weltweites Gleichgewicht der Mächte wieder herzustellen. Eine offensichtlichere Umkehrung der Rollen gibt es gar nicht, und das müssen sich die Europäer vor Augen halten, wenn sie die Lage beurteilen. Wie, so wird man fragen, kann der europäische Abschnitt dieses weltweiten Gleichgewichts noch gehalten werden? In dem Maße, wie die Zahl der interkontinentalen Fernlenkgeschosse zunimmt und wie die unangreifbaren Polaris-U-Boote, die einen zweiten Schlag führen können, rings um das chine sisch-sowjetische Imperium aufmarschieren, mag das amerikanische Bedürfnis nach überseeischen Stützpunkten mehr und mehr nachlassen. Die Anwesenheit der Amerikaner in Europa stellt jedoch einen besonderen Fall dar. Diese Anwesenheit ist einmal ein Teil der weltweiten Abschreckung, zum anderen wird damit auch noch ein spezifisch lokaler Zweck verfolgt. Ein amerikanischer Rückzug aus Europa kommt nämlich nicht in Frage, wenn es auch jenseits des Atlantik viel Zank und Streit darüber gibt, wie die Schutzwehren in Europa am besten zu bemannen seien. Eine freiwillige Aufgabe Europas hieße den nationalen Interessen der USA direkt zuwiderhandeln.

Aber es sind noch andere Interessen betroffen. Ein ost-westliches Atomwaffenabkommen könnte eventuell unmöglich werden, wenn die Westmächte sich über das Atomwaffenverbot für Deutschland hinwegsetzen sollten. Ruß-land wird das äußerste tun, und zwar mit der leidenschaftlichen Unterstützung auch der von ihm selbst versklavten Nationen, um dieses Verbot wirksam aufrechtzuerhalten. Eine atomare Abschreckungsmacht für die NATO hätte in den Augen der Westdeutschen den Vorteil, daß ihnen damit einmal gestattet wäre, bei der Entscheidung über den Einsatz dieser Abschreckungsmacht mitzusprechen. Zum anderen würden sie damit in die Lage versetzt, einer vorzeitigen Entscheidung entweder für Paris oder für Washington aus dem Wege zu gehen. Wenn dagegen eine solche Entscheidung aber getroffen werden muß, und wenn das Ergebnis mehr eine europäische als eine NATO-Abschreckungsmacht ist, dann werden die Westdeutschen imstande sein, ihren Einfluß vornehmlich über Paris geltend zu machen, während Paris, immer die französische Hegemonie über Europa im Auge, seinerseits glücklich sein wird, hauptsächlich mit den Deutschen zu arbeiten.

Der Schluß aus alledem ist, daß sich niemand aus der strategischen Verklammerung heraus-winden kann und daß die Vereinigten Staaten aufhören werden, das bestimmende Glied dieser strategischen Verklammerung zu sein, wenn eine europäische Abschreckungsmacht entsteht, die durch die Repressalien, zu denen sie herausfordert, die amerikanisch atomare Abschreckungsmacht in Bewegung setzen kann. Aber natürlich wird nicht nur im Westen die Verfügungsgewalt über die Atomwaffen — zum Guten oder zum Bösen — dezentralisiert werden. Auch im Osten würde eine Dezentralisation die Lage für Rußland ebenso schwierig machen, wie es im Westen für die Vereinigten Staaten der Fall ist. Die Vorzeichen dafür, daß die Rotchinesen ein Atomwaffenabkommen unterzeichnen werden, sind nicht günstiger als für eine Unterschrift Frankreichs — jedenfalls solange nicht Chinesen, beziehungsweise Franzosen, ihre politischen Ziele erreicht haben. Und es ist unwahrscheinlich, daß eine Welt, in der sie eben diese Ziele erreicht haben, sehr viel sicherer als die gegenwärtige sein wird.

Wechselseitiges Verständnis der Partner ist notwendig Die Geschichte hat hier wieder einmal ihre manchmal merkwürdige ausgleichende Gerechtigkeit geübt. Zwei einander widersprechende Theorien setzen die Organisatoren eines Vereinigten Europas unter Druck, und mit beiden sind sie unter Umständen gleich schlecht beraten. Sie behaupten, auf lange Sicht gesehen könnten sie auf die Vereinigten Staaten nicht rechnen. Umgekehrt dagegen sind sie versucht zu glauben, daß die Vereinigten Staaten gar nicht anders können, als alles zu unterstützen, was sie in naher Zukunft tun werden. In einer Hinsicht sind die Vereinigten Staaten auch dazu gezwungen, in anderer Hinsicht aber wieder nicht. Ein vereinigtes Europa würde nur darunter zu leiden haben, wenn es die Vereinigten Staaten zum Rückzug auf sich selbst zwänge. Die Europäer sollten sich vor Augen halten, daß das amerikanische politische System nicht für die Führungsrolle geschaffen ist, die von den Vereinigten Staaten aus der einfachen Notwendigkeit heraus seit dem letzten Kriege übernommen werden mußte, und daß es in diesem System Elemente gibt, die nur zu gern jede Möglichkeit ausnutzen würden, um die Lasten dieser Führungsrolle zu verringern. Sicher hätten die Vereinigten Staaten mehr erreichen können. Aber angesichts maßgebender Kreise im Kongreß, die • sich nach einer protektionistischen und isolationistischen Vergangenheit zurücksehnen, ist es ein Wunder zu sehen, wie gut sie sich überhaupt gehalten haben.

Unterdessen wird jeder Versuch, eine echte atlantische Partnerschaft zu bilden, sich mehr mit der wirtschaftlichen als mit der strategischen Seite befassen. Wenn es zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Kennedy-Regierung zu Verhandlungen über Zollsenkungen kommt, dann werden sich die Europäer an der Parole des „Kauft amerikanische Waren" stoßen. Auch Ausweichklauseln werden der Aufmerksamkeit nicht entgehen. Europa wird verlangen, daß die diskriminierende Besteuerung und die unfairen Zollpraktiken verschwinden. Auf der anderen Seite können die Amerikaner den Europäern vor Augen halten, daß unverhältnismäßig hohe Ausgaben der Amerikaner für Auslandshilfe und überseeische Verteidigung einen außerordentlich großen Anteil am Zahlungsbilanz-defizit und an dem drastischen Goldabfluß haben. Und gerade nach weiteren russischen Weltraumerfolgen könnten die Vereinigten Staaten sich veranlaßt sehen, noch mehr Geld für den Wettlauf zum Mond auszugeben. Können die Vereinigten Staaten ihre Militärausgaben in Europa und ihre Hilfe für die Entwicklungsländer herabsetzen, ohne daß sie von den sich prächtig entwickelnden europäischen Nutznießern ihrer Großherzigkeit verlangen, einen größeren Teil davon als bisher auf ihre Schultern zu nehmen? Wenn die Europäer darauf bestehen, als gleichrangig angesehen zu werden, dann könnten die Kosten für die NATO zu einem Testfall werden. Wer als gleichrangig gelten will, muß auch gleichrangige Leistungen erbringen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks wird Großzügigkeit in weitestem Maße nötig sein. Washington ist oft hochfahrend gewesen, aber die Europäer dürfen nicht vergessen, daß amerikanische Fehler gerade die größeren europäischen Fehlentscheidungen nicht aus dem Register streichen, die die Vereinigten Staaten planlos und widerwillig in den Vordergrund gestoßen haben. Haben die Amerikaner nicht eine fortdauernde Hochkonjunktur? Die gegenwärtige europäische Hochkonjunktur ist davon weit entfernt. Ein plötzlicher Rückschlag in Amerika könnte die Europäer in Versuchung führen, nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude ihren amerikanischen Wohltäter von seiner Ausnahmestellung herunterzubringen. Solange nicht das materielle Interesse der Europäer am Wohlstand Amerikas ganz erloschen ist, muß jede derartige Gehässigkeit an sich selbst zuschanden werden. Der fett gewordene Jeschurun mag treten, aber er muß aufpassen, daß er nicht selbst dabei zu Schaden kommt. Die Art, wie die Amerikaner ihre Führungsrolle im Westen spielen, mag nicht immer vorherzusagen sein. Aber mit ebenso vielen Unbekannten haben auch die Amerikaner zu tun, wenn sie sich vorzustellen versuchen, wie ein vereinigtes Europa beschaffen sein und wie es sich verhalten wird in der umstrittenen atlantischen Partnerschaft.

Zukunftsperspektiven der europäischen Einigung Es ist gut möglich, daß Europa am Ende viel weiter integriert ist, als sich die Europäer selbst heute noch vorstellen. Mit einer Zoll-und Wirtschaftsunion als Grundlage wird der Bau Europas gekrönt durch eine politische Gemeinschaft. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die moderne Volkswirtschaft ist ein unteilbares Ganzes und besteht eben nicht aus gegeneinander abgekapselten und ein losgelöstes Eigenleben führenden Wirtschaftsbereichen. Was geschieht nun dort, wo noch Schranken bestehen? Rein pragmatisch und ohne eine Grundsatzfrage daraus zu machen, kann hier die integrierende Macht des Staates zum Zuge kommen. Braucht man die staatliche Macht, um über ganz Westeuropa hinweg bebestimmte Dinge einfach durchzusetzen, dann kann ein größeres Staatengebilde unter dem einen oder dem anderen Vorzeichen die Gliedstaaten letztlich absorbieren.

Deswegen können die europäischen Föderalisten mit relativer Gelassenheit abwarten, bis Präsident de Gaulle von der Bühne abtritt. Ein Staatenbund, so wie er ihn vorgeschlagen hat, wird kaum lange dem Druck nach engerer Integration standhalten können, den ein geeintes Europa aus sich selbst heraus erzeugen muß. Die Schaffung supranationaler Behörden könnte durch Zänkereien, wie die zwischen der französischen und westdeutschen Landwirtschaft, verzögert werden. Durch die Überwindung dieser Hindernisse kann aber ebensogut der ganze Prozeß beschleunigt werden.

An dem Beispiel der Vereinigten Staaten kann man ablesen, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln werden. Der Handel ist aber nicht der einzige Bereich, in dem das Vorbild der Vereinigten Staaten die europäische Entwicklung vorzeichnet. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft tut nichts anderes, als was die Vereinigten Staaten gemacht haben, als sie eine Zollunion über einen Halbkontinent hinweg schufen, nämlich gleichzeitig mit dem Abbau der Zölle zwischen den Teilnehmerstaaten einen gemeinsamen Außenzolltarif einzuführen. Desgleichen wird ein vereintes Europa wohl auch die Schritte unternehmen müssen, die die Vereinigten Staaten in allen anderen Bereichen der amerikanischen Wirtschaft tun mußten. Unter allen Staaten mit freier Gesellschaftsordnung sind die Vereinigten Staaten die erfolgreichsten Pioniere wirtschaftlicher Großordnungen. Genauso ist es auch mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, — je mächtiger der Strom des europäischen Handels wird, desto stärker wird der Zug zur Groß-wirtschaft in Europa. Aber dieser Zug kann sich in der europäischen Wirtschaft ohne Ausbau des allgemeinen Rahmens der europäischen Integration nicht durchsetzen. Handel und Großwirtschaft laufen miteinander parallel und bereiten damit den Boden für den föderativen Zusammenschluß, durch den allein sich die optimale Wirkung des ganzen Experiments erreichen läßt. Die eingeschlagenen Wege können mannigfaltig, uneben, gewunden und ohne die üblichen Wegweiser sein. Die europäischen Gemeinschaften schaffen vielleicht neuartige Modalitäten. Es kann sein, daß innerhalb einer politischen Union eine echte Übertragung von Hoheitsrechten nicht ohne die Zustimmung der Mitgliedstaaten möglich ist. Was aber die Mitgliedstaaten nicht tun können, ist, die Energien wieder einzudämmen, die einmal von der Zollunion freigegeben und von der Wirtschaftsunion in einem ständig wachsenden Bereich beschleunigt werden. Tief eingewurzelter Partikularismus in Sprache und Kultur kann immer noch ein Hindernis darstellen. Aber selbst wenn ein solches Hindernis sich nicht beiseitefegen läßt, kann es in dem Maße, wie sich ein Vereintes Europa in sich selbst unauflöslich festigt, umgangen werden.

Die Vereinigten Staaten haben der engstmöglichen wirtschaftlichen und politischen Integration Europas ihren Segen gegeben. Aber würden sie glücklich darüber sein, wenn der Partikularismus weiterlebt, obwohl die Vielzahl durch die Einzahl ersetzt wurde, wenn der europäische Partikularismus auf dem Gebiet der Verteidigung, der Diplomatie, des Welthandels und der internationalen Finanzen lediglich in einem größeren Maßstab praktiziert wird? Die Ironie, die in einer solchen Situation für die Vereinigten Staaten liegen würde, ist offensichtlich.

Es ist zu erwarten, daß ein vereintes Europa in der Lage sein wird, den Vereinigten Staaten geschlossen sowohl „Nein" wie auch „Ja" zu sagen. Die angestrebte Geschlossenheit kann nach amerikanischem Vorbild erreicht werden. Mit anderen Worten, je mehr amerikanische Verfahrensweisen übernommen werden, desto eher werden die Europäer imstande sein, sich den amerikanischen Ratschlägen zu widersetzen. Wenn man den Stand von heute nimmt, dann ist es nicht nur die amerikanische Nachkriegshilfe, die Europa dazu befähigt, wenn es das will, sich von Amerika abzusetzen. Der Entwicklungsprozeß, der Amerika erst zu Amerika machte, wird auch sein Teil beitragen.

Dieses Paradoxon muß man verstehen. Nur auf sich gestellt hätten die Vereinigten Staaten niemals andere amerikanisieren können.

Aber wenn andere Amerika in seiner Lebensweise nacheifern, die ja auf Massenproduktion verbunden mit freiem Handelsverkehr, Freizügigkeit und einer mobilen sozialen Ordnung basiert, können sie sich sehr wohl selbst amerikanisieren. Ein vereintes Europa wird einer Großordnung bessere Möglichkeiten bieten in einem Gebiet, das sich in seiner Geschichte bisher darauf etwas zugute hielt, jede Großordnung abgelehnt zu haben. Die Selbstamerikanisierung könnte eine dritte Kraft in den Stand setzen, ausgerechnet unter dem atomaren Schutzschild der Vereinigten Staaten zu einem Alleingang anzutreten.

Die Problematik des deutsch-französischen Verhältnisses Wir wollen uns mit den politischen Prognosen beschäftigen, die sich aus einer fortschreitenden Integration Westeuropas ergeben. Was immer auch daraus entstehen mag, daß die Franzosen und die Deutschen die Streitaxt begraben haben, dafür wird die Menschheit dankbar sein müssen. Aber die tieferen Ziele der beiden Völker sind nicht die gleichen. Frankreich ist eine saturierte Macht, die Bonner Republik aber, wie das Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, ist es nicht. Von Bismarck bis Hitler waren die beiden heute bestehenden deutschen Gebiete für rund fünfundsiebzig Jahre ein einziger Staat. Seine Aufspaltung in einen östlichen und einen westlichen Teil hat sich das deutsche Volk allein selbst zuzuschreiben. Um aber die Bonner Republik nach dem Westen hin orientiert zu halten, muß eben der Westen ihre Forderung nach einer Wiedervereinigung Deutschlands vertreten. Dieses Ziel kann aber nur unter Bedingungen erreicht werden, die die eben in Gang gesetzte Einigung Westeuropas wieder rückgängig machen und die im Rahmen des weltumspannenden Kräftegleichgewichtes im Widerspruch stehen zu der eigenen Konzeption des Westens für die Verteidigung des europäischen Abschnittes eben dieses Kräftegleichgewichtes.

Worauf wartet Moskau denn? Ein neutrales Reich, in dem sich ein sowjetischer Satellit mit Erlaubnis Moskaus der Bonner Republik wieder angeschlossen hat, könnte dem Westen strategischen Zutritt zu deutschem Territorium verweigern und ihn von seinem wirtschaftlichen Zugang zu der Schwerindustrie an der Ruhr ausschließen. Aber es kann auch bedeuten, daß die Russen sich wieder mit einem größeren Deutschland auseinandersetzen müssen; und sowohl unter den Russen wie auch unter den versklavten Nationen Osteuropas ist die deutsche Invasion noch frisch im Gedächtnis. Nach den Erfahrungen mit seinem chinesischen Verbündeten könnte Moskau es möglicherweise vorziehen, weniger statt mehr Großmächte am Rande seines Imperiums liegen zu haben. Ebenso wenig kann das sowjetische Reich wirtschaftlich integriert werden, wenn es auf das Wirtschaftspotential Ostdeutschlands verzichtet.

Das Vorkriegsreich läßt sich nicht wieder herstellen, ohne im Westen das Gespenst der deutschen Vorherrschaft erneut heraufzubeschwören. Diese Tatsache wirft kritische Fragen auf. Wird Westdeutschland versuchen, sich den weltweiten Machtapparat nutzbar zu machen, mit dessen Hilfe der Westen unter Führung Amerikas die Bedrohung aus dem Osten abgewehrt hat? Soll Westdeutschland, solange es irredentistische Ziele verfolgt, überhaupt auch nur indirekten Zugang zur atomaren Abschreckungsmacht erhalten? Wissen die Franzosen in dieser Hinsicht, was sie tun?

Es erforderte Mut vom Nachkriegsfrankreich, zu vergeben und zu vergessen. Durch die NATO wurde die Bonner Republik strategisch an den Westen gebunden. Durch die Europäischen Gemeinschaften würde sie wirtschaftlich und politisch festgelegt sein. Von diesen Maßnahmen, besonders wenn sie durch einen föderativen Zusammenschluß besiegelt werden, erhofft man sich, daß sie Westdeutschland daran hindern werden, die russischen Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigung zu akzeptieren. Aber selbst wenn sich die zwei Teile Deutschlands unter westlichen Bedingungen wiedervereinigen ließen, würden die Franzosen erdrückt werden. Frankreich könnte eine deutsche Wiedervereinigung als Ziel solange unterstützen, als seine Erfüllung in weiter Zukunft liegt. Als Gegenleistung erhält Frankreich dafür von Bonn die Zustimmung und Unterstützung für seine Pläne zu einer Neuverteilung der Macht innerhalb des Westens, durch die Frankreich seinen eigenen Status zu erhöhen trachtet. Ein größeres deutsches Reich wird möglicherweise in Überein-stimmung mit seiner Tradition versuchen, den Osten gegen den Westen auszuspielen. Wird Bonn zuerst Paris und Washington gegeneinander ausspielen? Es wird für die Vereinigten Staaten als Führer des Westens oder für den Westen als Ganzes nicht einfach werden, wenn die Bonner Republik oder Frankreich oder beide zusammen versuchen, ein vereinigtes Europa vor den Wagen ihrer besonderen Interessen zu spannen.

Zwei Probleme zeigen sich da: Westdeutschland in ein vereinigtes Europa einzufügen, und ein vereinigtes Europa in eine wirkliche atlantische Gemeinschaft einzupassen. Diese beiden Probleme können nicht losgelöst voneinander behandelt werden. Man mag zur Kenntnis nehmen, daß die Niederlage und die deutsche Besetzung viel weniger Narben beim offiziellen Frankreich hinterlassen zu haben scheint, als die Feindschaft des amerikanischen Verbündeten — des Befreiers von gestern — während der Suez-Krise. Eine eigene atomare Abschreckungsmacht könnte nun die Franzosen ermutigen, Washington offen die Stirn zu bieten. Aber allein das Vorhandensein eines weltweiten Gleichgewichts der Kräfte war es, das ihnen die nötige Sicherheit gab, als sie sich aus Indochina und Nordafrika zurückzogen, als sie ihren „Sitzstreik" in der NATO inszenierten und die vierte Republik stürzten. Es ist daher sehr die Frage, ob die Garantie, welche die Amerikaner mit oder ohne europäische Abschreckungsmacht zu bieten haben, sich überlebt hat oder nicht.

Großbritannien als Stabi 1 isieru n g sfaktor in Europa Den Franzosen paßt die anglo-amerikanische Solidarität schon seit langem nicht, und deshalb verlangen sie, mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien eine Art Drei-Mächte-Direktorium zu bilden. Aber welches Vertrauen könnten sie in Washington und London erweckt haben? Wer wird für Frankreich sprechen, wenn das Regime de Gaulle einmal zu Ende ist, — die Armee, die extreme Rechte, die äußerste Linke? Präsident de Gaulle mag seinen Traum von einem befriedeten Europa vom Atlantik bis zum Ural träumen. Aber da das eine grundlegende Verschiebung in der Machtverteilung nach sich zieht, bedeutet das, daß eine europäische dritte Kraft mit Frankreich an der Spitze mit der Sowjetunion eine eigene Übereinkunft treffen kann. Aber die Franzosen sollten sich vor allem daran erinnern, daß der Ausruf „Rette sich, wer kann" von Napoleon stammt. Ehe eine dritte Kraft den Vereinigten Staaten in den Rücken fällt, ist es sehr wohl möglich, daß sie sich von den Vereinigten Staaten allein gelassen sieht. Ein bilaterales Abkommen mit Washington ist gerade das, was Moskau, das sich der globalen Machtrealitäten bewußt ist, seit langem gesucht hat. Die Westeuropäer sollten die letzten sein, die Vereinigten Staaten in ein solches Abkommen hineinzutreiben.

Diese Umstände gerade sind es, die die zwischen Befürchtungen und Hoffnungen hin und her gerissenen Amerikaner darauf dringen ließen, daß für Großbritannien auf irgendeine Weise Platz in einem neugeeinten Europa gefunden wird. Wenn das gelingen sollte, wird nicht nur eine mehr nach außen gerichtete Haltung des Europäischen Gemeinsamen Marktes bezüglich handels-und wirtschaftspolitischer Fragen sichergestellt, sondern auch das Element politischen Risikos verkleinert. Die Belgier, die Holländer, die Luxemburger, die Italiener (zusammen mit Großbritanniens Partnern in der kleinen Europäischen Freihandelszone) haben sich sehr empfindlich gegenüber einer westdeutschen, französischen oder deutsch-französischen Vorherrschaft gezeigt. Ein britisches Gegengewicht könnte diese Gefahr abwenden. Darüber hinaus würde eine europäische dritte Kraft in Widerspruch stehen zu der amerikanischen Führungsrolle im Westen. Auch hier könnte am besten Großbritannien zur Stabilisierung beitragen. Allerdings ist Großbritannien nicht mehr so stark, wie es einst war, und könnte seine Aufgabe als europäischer Stabilisierungsfaktor nur dann erfüllen, wenn es als Glied eines europäischen föderativen Zusammenschlusses von seinen überseeischen Kraftquellen nicht abgeschnitten wird. Eine dieser überseeischen Kraftquellen ist das Commonwealth. Eine andere ist die anglo-amerikanische Freundschaft. Sie sind ja auch beide schon lange eng miteinander verbunden.

In strategischen Fragen, wie z. B. die Verfügung über die Abschreckungsmacht, ist es zwingend notwendig, daß Großbritannien und Amerika auch weiterhin am gleichen Strange ziehen. Denn es könnte sehr schnell der Zeitpunkt kommen, wo Großbritannien als Atom-macht wünschen wird, einen neuen Kurs abzustecken. Wird seine Sicherheit garantiert sein, wenn es das britische Teilstück der westlichen atomaren Abschreckungsmacht mit dem französischen verschmilzt? Wie könnte Großbritannien einer europäischen politischen Union angehören, ohne zugleich diese Verschmelzung vorzunehmen? Wie wird sich Washington dazu einstellen?

Die e n g 1 i s c h -a m e r i k a n i s c h e Freundschaft ist die Hauptstütze des Westens Washington wird weniger besorgt sein, wenn ein vereintes Europa sich nicht an den Oberbefehl über irgendeine gemeinsame eigene atomare Abschreckungsmacht klammert, sondern das der NATO überläßt. Dadurch nämlich wäre es gut möglich, daß die Vereinigten Staaten noch immer das letzte Wort behalten. Was aber geschieht, wenn andere atomare Abschreckungseinheiten innerhalb des Westens nicht der NATO unterstellt werden? In diesem Falle müßte das britische Teilstück der allumfassenden atomaren Abschreckungsmacht, wenn es schon überhaupt irgendwohin sonst übertragen werden soll, gewiß auf die Vereinigten Staaten überschrieben werden. Nicht nur in diesem außerordentlich wichtigen Punkt, sondern in jeder Hinsicht bleibt die anglo-amerikanische Freundschaft die Hauptstütze des Westens, ob man das zugeben will oder nicht.

DieserWahrheit heute wieder Geltung zu verschaffen, mag bedeuten, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Nichtsdestoweniger muß sie wieder, und zwar auf beiden Seiten des Atlantik, deutlich ausgesprochen werden. Eine freie Weltordnung hätte möglicherweise niemals überlebt, wenn es nicht in den schwärzesten Stunden des zwanzigsten Jahrhunderts die enge anglo-amerikanische Bindung gegeben hätte. Seit dem zweiten Weltkrieg hat diese enge Bindung vom Fernen Osten bis zum Kongo und zur Kubakrise ihre bezeichnenden Höhen und Tiefen gehabt. Aber so tief ist die anglo-amerikanische Freundschaft in den nationalen Interessen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten verwurzelt, daß nicht einmal die tragische anglo-amerikanische Divergenz in der Suez-Krise sie zerstören konnte.

Und jetzt wünschen die Vereinigten Staaten, eben weil sie sich auf Großbritannien verlassen, daß England eine Rolle bei der Vereinigung Europas spielt. In der amerikanischen Einstellung zu Europa wird nicht nur vorausgesetzt, daß die Vereinigten Staaten auch weiterhin der Führer des Westens sein werden, wie es jetzt der Fall ist, sondern auch, daß Großbritannien an ihrer Seite steht. Man wird die Frage stellen, ob die Mehrheit des britischen Volkes noch wünscht, an der Seite der Vereinigten Staaten zu marschieren. In zwei kürzlich über BBC verbreiteten Sendun55 gen, die " The Listener" abgedruckt hat wurde die anglo-amerikanische Freundschaft als ein geschichtlich unbegründeter Mythos beschrieben. Die Wahrheit aber ist immer ein Mythos für diejenigen, die selbst Mythen schaffen.

Die Alternative Europa oder Commonwealth ist falsch Welche Rolle wird Großbritannien bei der Umgruppierung zwischen Europa und Amerika spielen? Gegner und Fürsprecher des britischen Eintritts in den Gemeinsamen Markt haben es oft als selbstverständlich hingestellt, daß Großbritannien vor der Entscheidung zwischen Europa und dem Commonwealth steht. Das aber ist eine falsche Antithese. Das wirkliche Problem ist der Status Großbritanniens. Wenn England einen unabhängigen Status beibehalten kann, wird das Commonwealth ungeachtet aller Streitereien über Handelsabkommen weiter bestehen bleiben können. Wenn Großbritannien aber nicht unabhängig bleiben kann, sondern einfach in eine insulare Randprovinz einer europäischen Union verwandelt wird, dann wird das Commonwealth automatisch auseinanderfallen, ebenso wie die anglo-amerikanische Verbindung, die andere überseeische Kraftquelle Großbritanniens. Das Großbritannien des zwanzigsten Jahrhunderts gleicht einem Dreifuß, mit einem Bein in Europa stehend, mit einem anderen sich auf das Commonwealth stützend, und mit dem letzten auf der Verbindung mit den Vereinigten Staaten ruhend. Die Umstände und Bedingungen können sich ändern. Großbritannien muß auf allen Beinen dieses Dreifußes stehen und nicht nur auf einem oder zweien davon.

Es wird eine komplizierte Aufgabe sein, ein vereinigtes Europa zu schaffen, das nach der amerikanischen Konzeption eine der beiden gleich starken Säulen des atlantischen Gebäudes sein soll. Wie die Säule auf der amerikanischen Seite des Atlantik beschaffen sein wird, ist noch nicht sicher. Soll Kanada z. B. dazugehören? Die europäische Säule soll durch enge Integration zementiert werden. Kanada hat sich aber in dem Bestreben, seine nationale Eigenständigkeit zu bewahren, schon seit langem einer engen Integration mit seinem riesenhaften Nachbarn widersetzt.

Es erhebt sich auch die Frage, wo die lateinamerikanischen Länder ihren Platz finden sollen. Denn in einem hemisphärisch geeinten Amerika würden sie eher eine Belastung als einen Gewinn darstellen. Europa und Amerika müssen für Südamerika alles tun, was sie nur können. Doch hat Lateinamerika wenig Gegenleistung zu bieten. Aber nur auf der Basis der Gegenseitigkeit kann eine wirkliche atlantische Partnerschaft, so wie sie Präsident Kennedy konzipiert hat, funktionieren.

Die Probleme müssen in weltweitem Rahmen gelöst werden Daraus ergeben sich ein negativer und ein positiver Akzent. Der Akzent wird negativ, wenn Europa und Amerika nicht am gleichen Strang ziehen. Glücklicherweise aber haben ihre östlichen Rivalen mit noch größeren Unzulänglichkeiten fertig zu werden. Rußland und China sind zweifellos nicht einfach nur Holzlatten, die durch Anstrich wie Eisen aussehen sollen. Doch muß die kommunistische Wirtschaft schon noch etwas mehr leisten, wenn sie auch weiterhin auf einige der neutralen Staaten Eindruck machen will. Hinzu kommt noch, daß, wenn auch Europa und Amerika vielleicht über die gemeinsame Verteidigung geteilter Meinung sein sollten, sich die Hauptexponenten des chinesisch-sowjetischen Lagers möglicherweise noch gegeneinander werden verteidigen müssen. Wenn sich somit der Westen nicht aus eigener Kraft retten kann, trägt zu seiner Rettung vielleicht die Uneinigkeit des Ostens bei.

Der Westen wird seine Maßnahmen selbst zur Wirkungslosigkeit verdammen, wenn er seinen Aktionsradius zu eng absteckt — wenn die europäischen Ziele nicht in einen atlantischen Rahmen gestellt werden und die atlantischen Probleme nun ihrerseits wieder nicht in einen Rahmen eingepaßt werden, der wie das Commonwealth und die anglo-amerikanische Freundschaft wirklich weltweites Ausmaß hat. Völkern, die noch nicht ganz frei oder gerade erst unabhängig geworden sind, muß man eine gewisse Unsicherheit bei ihrem ersten Auftreten auf der Bühne der Weltpolitik nachsehen. Für Europäer und Amerikaner könnte man wohl kaum noch eine Entschuldigung gelten lassen. Solange wie sie Freiheit und Ordnung auf weltweiter Basis aufrechterhalten, werden die Werte der zivilisierten Gesellschaft erhalten bleiben. Dadurch können Europa und Amerika neue Gemeinschaften unter gleichzeitiger Bewahrung alter, schon vorhandener, zusammenschmieden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 5. Okt. 1961 und 23. Aug. 1962. " The Listener", 20. Sept. 1962, hat einen Protestbrief abgeschwächt und verwässert wiedergegeben.

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