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Die marxistisch-leninistische Lehre vom „Staat der nationalen Demokratie" | APuZ 10/1963 | bpb.de

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APuZ 10/1963 Die marxistisch-leninistische Lehre vom „Staat der nationalen Demokratie" Kommunismus und nachkoloniale Revolution

Die marxistisch-leninistische Lehre vom „Staat der nationalen Demokratie"

Boris Meissner

I. Nationale Befreiungsbewegung und Weltrevolution

1. 2. 3. Lenin und die nationale Befreiungsbewegung Stalin und die nationale Befreiungsbewegung Chruschtschow und die nationale Befreiungsbewegung Inhalt I. Nationale Befreiungsbewegung und Weltrevolution II. Nationale Befreiungsrevolution und kommunistische Machtergreifung III. Nationaler Befreiungskrieg und sowjetische Intervention IV. Der nationaldemokratische Staat und die sowjetische Entwicklungshilfe Bibliographie

1. Lenin und die nationale Befreiungsbewegung Die Befreiungsbestrebungen in den von den europäischen Mächten abhängigen überseeischen Ländern, die wir heute als Entwicklungsländer zu bezeichnen pflegen, sind bereits von Marx und Engels mit besonderem Interesse verfolgt worden.

Ihr Hauptaugenmerk galt dabei den revolutionären Vorgängen in China und Indien.

In ihrer Vorstellung von einer universellen Revolution kam den kolonialen und abhängigen Ländern keine besondere Bedeutung zu. Sie gingen von der Annahme aus, daß die von ihnen angestrebte proletarische Revolution in den fortgeschrittenen westlichen Industrie-ländern, unter Einschluß der Vereinigten Staaten, annährend gleichzeitig ausbrechen würde. Die Frage, wie die Entwicklung außerhalb der westlichen Industriewelt weitergehen sollte, hielten sie nicht für wesentlich.

Sie waren der Auffassung, daß die proletarische Revolution auf Grund ihres universellen Charakters auch die Entwicklung der westlichen Welt „gänzlich verändern und sehr beschleunigen" würde.

Die Durchführung der proletarischen Revolution war bei Marx und Engels an drei Grund-voraussetzungen gebunden:

1. an ein hochentwickeltes kapitalistisches Wirtschaftssystem und damit an die Reife zum Sozialismus;

2. an eine revolutionäre Situation, bei der eine gesamtnationale Krise mit einem hohen Bewußtseinsgrad und organisatorischer Bereitschaft des Proletariats zusammenfiel; 3. an den, die einzelnen Ländergrenzen überspringenden internationalen Charakter des revolutionären Prozesses.

Gemäß dem marxistischen Ursprungskonzept konnte die kapitalistische Entwicklungsstufe ohne üble politische und ökonomische Folgen nicht übersprungen werden.

Die proletarisch-sozialistische Revolution setzte daher die Vollendung der bürgerlich-demo-kratischen Revolution voraus.

Dieses Zwei-Revolutionen-Schema ist von Lenin mit seiner 1916 entwickelten „Imperialismus" -Doktrin, die noch heute im Mittelpunkt der außenpolitischen Theorie des orthodoxen Marxismus-Leninismus steht, durchbrochen worden. Ihr lag die Feststellung zugrunde, daß der Kapitalismus in seiner monopolistischen und imperialistischen Erscheinungsform sich seit dem Ausgange des 19. Jahrhunderts zu einem Weltsystem entwickelt hätte.

Auf Grund seiner ungleichmäßigen Entwicklung und seiner inneren Widersprüche würde er weltweite Krisen und Kriege hervorrufen. Die Hegemoniebestrebungen der führenden Industriemächte würden zu einem verschärften Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt und damit letzten Endes zu Eroberungskriegen führen. Diese seien vor allem auf eine Neuverteilung der Kapitalanlagegebiete und insbesondere des Kolonialbesitzes gerichtet.

Lenin bezeichnete den Imperialismus als „die Epoche der fortschreitenden Unterdrückung der Nationen der ganzen Welt durch eine Handvoll Groß’mächte“, wobei er betonte, daß es nirgends in der Welt eine solche Unterdrückung der fremdstämmigen Mehrheit der Bevölkerung gebe wie in Rußland.

Auf Grund dieser Analyse sah Lenin das bürgerlich-kapitalistische Staatensystem als zusammenhängendes Ganzes für den revolutionären Umsturz als reif an.

Jede Schwächung des kapitalistischen Welt-systems mußte sich günstig für den Erfolg der proletarischen Revolution auswirken.

Daher war die Befreiungsbewegung der kolonialen und abhängigen Völker zu unterstützen, um diese „Reserven des Imperialismus“ in „Reserven der proletarischen Revolution'zu verwandeln. Auf diese Weise sollte sich die sozial-revolutionäre Bewegung mit der national-revolutionären zu einer Einheitsfront verbinden. An die Stelle der Reife für die Revolution, die Marx und Engels nur bei den am höchsten industrialisierten Staaten als gegeben ansahen, trat so die günstige Gelegenheit zur Revolution, auch wenn es sich, wie im Falle Rußland, um ein halbfeudales Land handelte.

Für Lenin ist somit die „internationale sozialistische Revolution", die er seit März 1917 als „Weltrevolution" zu bezeichnen pflegte, ein Prozeß, der zeitlich eine ganze Epoche und räumlich die ganze Welt umfaßte.

Es kam nur darauf an, ihn durch die kommunistische Machtergreifung in einem Lande auszulösen und damit die „Kette des Imperialismus" an ihrem schwächsten Glied zu zerbrechen.

Die „Imperialismus" -Doktrin Lenins weist eine politische und eine ökonomische Seite auf.

Den politischen Thesen liegt seine eingehende Beschäftigung mit der „nationalen und kolonialen Frage" und damit mit der Befreiungsbewegung der kolonialen und abhängigen Völker zugrunde.

Es handelt sich hier um einen originären Beitrag Lenins zur marxistisch-leninistischen Ideologie Bei den ökonomischen Thesen ist Lenin dagegen wesentlich durch Gedankengänge Bucharins beeinflußt worden.

Lenin hat sich seit 1900 mit der Befreiungsbewegung in China, der Türkei, Persien, und Indien und sogar Indonesien befaßt. Bereits im Mai 1913 wies er auf den weltweiten Charakter der nationalen Befreiungsbewegung hin und bezeichnete das Erwachen Asiens und den Beginn des Kampfes des europäischen Proletariats um die Macht als eine neue Seite der Weitgeschichte, die im 20. Jahrhundert aufgeschlagen worden sei.

Die politischen Thesen der „Imperialismus" -Doktrin sind von Lenin im wesentlichen von 1914 bis 1916 ausgearbeitet worden. Ihren Ausgangspunkt bildete die Feststellung, daß infolge der in Osteuropa und Asien seit 1905 eingebrochenen Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen die nationalen Befreiungsbewegungen einen gewaltigen Aufschwung genommen hätten.

Lenin sah in der nationalen Bewegung eine Begleiterscheinung der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung, durch die nicht nur der äußerste Osten Europas, sondern auch der Orient und Asien erfaßt wurden.

Er unterschied infolgedessen je nach dem Entwicklungsstand der nationalen Bewegung drei verschiedene Typen von Ländern:

1. die fortgeschrittenen Länder im Westen Europas (und in Amerika), in denen die nationale Bewegung der Vergangenheit angehörte; 2. die Länder im Osten Europas, in denen sie der Gegenwart angehörte;

3. die Halbkolonien (China, Türkei, Persien)

und Kolonien, in denen sie im wesentlichen der Zukunft angehörte.

Die in Kontinentaleuropa von 1789 bis 1871 gewonnenen Erfahrungen hatten gezeigt, daß die nationale Bewegung auf die Beseitigung der Fremdherrschaft und die Schaffung von Nationalstaaten gerichtet gewesen war. Lenin forderte daher, diese natürliche Entwicklung durch Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu fördern und sie für die Zwecke der Weltrevolution nutzbar zu machen.

Er betonte, daß der Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern mit einer ganzen Reihe von revolutionär-demokratischen Bewegungen verbunden sein würde.

Darunter würde den nationalen Befreiungsbewegungen der unterentwickelten, rückständigen und unterdrückten Nationen eine besondere Bedeutung zukommen.

Bei der nationalen Befreiungsbewegung handelte es sich um eine Massenbewegung gegen die nationale Unterdrückung, die zwar von der Bourgeoisie geführt, aber hauptsächlich von der bäuerlichen Bevölkerung getragen wurde.

Es kam daher entscheidend darauf an, daß die Ziele der nationalen Befreiungsbewegung mit einem revolutionären Agrarprogramm verbunden wurden. Damit wurde die Massenbasis geschaffen, die einer kommunistischen Minderheit trotz der Schwäche des Proletariats eine Machtergreifung ermöglichte.

Die Erkenntnis der Bedeutung der nationalen und kolonialen Frage hat den Bolschewisten unter Führung Lenins wesentlich geholfen, die Macht im russischen Vielvölkerstaat nicht nur zu ergreifen, sondern auch zu behaupten.

Es war Lenin selbst, der das Russische Reich 1916 nicht nur als ein „Völkergefängnis", sondern auch als die zweitgrößte Kolonialmacht der Welt charakterisiert hat.

Bei aller Betonung der wichtigen Rolle der nationalen Befreiungsbewegung war Lenin anfangs nicht der Auffassung, daß den Entwicklungsländern für die Weltrevolution die gleiche Bedeutung zufallen würde wie den hochentwickelten Industriestaaten. Ein Aufstand der unterdrückten Iren gegen die britische Bourgeoisie erschien ihm noch 1916 „hundertmal" wichtiger als ein Aufstand in Asien oder Afrika.

Die Enttäuschung über das Ausbleiben der Weltrevolution in Europa und die zunehmende Revolutionierung Asiens, insbesondere Chinas und Indiens, veranlaßten Lenin, die Bedeutung der nationalen Befreiungsbewegung in den Entwicklungsländern wesentlich höher einzuschätzen. Er meinte auf dem III. Kongreß der Komintern 1921, daß die Befreiungsbewegung „vielleicht eine viel größere Rolle spielen wird, als wir erwarteten."

Er war überzeugt, daß die Bauern der Kolonialländer in den folgenden Phasen der Weltrevolution sogar „eine sehr große revolutionäre Rolle spielen" würden.

Er schrieb 1923, daß der Umweg über China und Indien, die mit Rußland zusammen die gigantische Mehrheit der Erdbevölkerung bildeten, den Endkampf zugunsten des Kommunismus entscheiden würde. Er begründete diese These damit, daß diese Mehrheit „in den letzten Jahren mit ungewöhnlicher Schnelligkeit in den Kampf um ihre Befreiung hin-eingerissen" worden sei.

Auf dem VIII. Parteikongreß der Kommunistischen Partei Rußlands 1919 war in Verbindung mit dem Parteiprogramm die Frage diskutiert worden, wer im Rahmen der nationalen Selbstbestimmung den Willen einer Nation zum Ausdruck bringen würde.

Lenin ging davon aus, daß sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker immer auf die Gesamtnation beziehen würde. Bucharin wandte sich unter Bezugnahme auf eine Äußerung Stalins auf dem III. Sowjetkongreß im Januar 1918 gegen diese Auffassung. Er erklärte, daß bei den entwickelten Völkern, bei denen sich das Proletariat als Klasse herausgebildet habe, nur von einem „Selbstbestimmungsrecht der werktätigen Klassen jeder Nationalität" die Rede sein könnte, nicht aber von dem Selbstbestimmungsrecht der Gesamt-nation. Anders würde es bei den unterentwickelten Ländern aussehen, dort könne die Losung des Selbstbestimmungsrechts Anwendung finden. Wörtlich erklärte Bucharin:

„Wenn wir für die Kolonien, für die Hottentotten und Buschmänner, Neger, Inder usw. die Losung „Recht der Nationen auf Selbstbestimmung" herausgestellt haben, so werden wir nichts verlieren.

Im Gegenteil wir gewinnen, da der nationale Komplex als Ganzes dem ausländischen Imperialismus schaden wird."

Infolge der scharfen Auseinandersetzung zwischen Bucharin und Lenin, wurde der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in das Parteiprogramm von 1919 nicht ausgenommen. Es war nur von der „völligen Gleichberechtigung der Nationen" und der „Anerkennung des Rechts der Kolonien und der nicht gleichberechtigten Nationen auf staatliche Loslösung" die Rede.

Zu der Frage, wer als Träger des auf Loslösung gerichteten Volkswillens anzusehen sei, wurde erklärt, daß die Antwort davon abhänge, auf welcher geschichtlichen Entwicklungsstufe sich die betreffende Nation befinden würde:

„auf dem Wege vom Mittelalter zur bürgerlichen Demokratie oder von der bürgerlichen zur Sowjet-oder proletarischen Demokratie usw.“

Mit dieser vieldeutigen Formulierung wurde die Möglichkeit für beide Auslegungen offen gelassen.

Auf dem II. Kongreß der Komintern 1920 trat Lenin im Einklang mit dem Inder Roy dafür ein, die nationale Befreiungsbewegung in den „zurückgebliebenen Ländern" in der Regel als eine „national-revolutionäre Bewegung'und nicht als eine „bürgerlich-demokratische Bewegung" zu bezeichnen. Lenin betonte, daß jede nationale Bewegung infolge der agrarischen Struktur der Entwicklungsländer nur eine bürgerlich-demokratische sein könne. Der neue Name sei aber gewählt worden, um zwischen der revolutionären und reformistischen Bourgeoisie besser unterscheiden zu können. Die Kommunisten sollten die bürgerlichen Befreiungsbewegungen nur unterstützen, wenn diese Bewegungen sich als wirk lieh revolutionär erweisen sollten.

2. Stalin und die nationale Befreiungsbewegung

Nach dem Tode Lenins ist seine weltrevolutionäre Theorie von Stalin in Verbindung mit seiner Lehre vom „Sozialismus in einem Lande" nicht unwesentlich modifiziert worden. Lenin ging davon aus, daß die Welt seit der Oktoberrevolution in zwei Lager gespalten sei: ein „kapitalistisches" und ein „sozialistisches". Damit war die Ausgangsposition umrissen. Der Sowjetkommunismus stand der nichtsowjetischen Welt, die auf Grund der „Imperialismus" -Doktrin als grundsätzlich aggressiv charakterisiert wurde, in unversönlicher Feindschaft und in einem permanenten Kampfzustand gegenüber.

Die Zwei-Lager-Vorstellung und das damit verbundene Freund-Feind-Denken bildeten auch bei Stalin den Ausgänspunkt für seinen Beitrag zur außenpolitischen Theorie in der „Epoche der Weltrevolution".

Das Kernstück seiner Lehre bildete die Feststellung, daß die Weltrevolution (ebenso wie die Errichtung der kommunistischen Gesellschaftsordnung) ein langwieriger Prozeß sei, der in mehreren Phasen ablaufen würde, wobei sich Zeiten der revolutionären Flut mit Zeiten der revolutionären Ebbe abwechselten.

In Zeiten der Flut waren für Stalin die Sowjetarmee der Hauptträger der Weltrevolution In Zeiten der Ebbe war es die kommunistische Weltbewegung mit ihren Hilfsorganisationen. Daneben fiel der Befreiungsbewegung der kolonialen und unabhängigen Völker die Funktion einer „Dritten Front" zu, da sie das kapitalistische System im Rücken bedrohte. Im Rahmen der Stalinschen Revolutionslehre gehörte der Sicherheit der Sowjetunion als „Basis der Weltrevolution" und „Vaterland aller Werktätigen" in jedem Fall der Vorrang Diese Basis müsse so stark sein, daß sie in der Lage war, in der Zeit der revolutionären Flut ihr volles Gewicht in die Waagschale der Entscheidung werfen zu können.

Der Begriff der „friedlichen Koexistenz", der von Stalin 1927 geprägt wurde, bildete einen wesentlichen Teil dieser Konzeption Er schirmte die „Basis der Weltrevolution" in der gefährlichen Ebbe-Zeit ab, um gleichzeitig den Boden für die Gezeitenwende vorzubereiten.

In seinen Vorlesungen „über die Grundlagen des Leninismus" (1924) ist Stalin, der sich be-bereits vor der Oktoberrevolution auf die Nationalitätenpolitik spezialisiert hatte, auf die nationale und koloniale Frage näher eingegangen. Er betonte, daß diese seit der Oktoberrevolution unter drei Gesichtspunkten eine völlig neue Bedeutung gewonnen habe. l. Aus einer innerstaatlichen Sonderfrage sei sie zu einem Weltproblem der Befreiung der unterdrückten Völker der Kolonien und abhängigen Länder, d. h. von hunderten Millionen Menschen des afroasiatischen Raumes vom „Joch des Imperialismus" geworden. Nach Stalin habe der Leninismus die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern und Asiaten niedergerissen und auf diese Weise die nationale Frage mit der Frage der Kolonien verknüpft.

Er behauptete, daß die Oktoberrevolution die erste Revolution gewesen sei, die die arbeitenden Massen der unterjochten Völker des Ostens aus ihrem jahrhundertealten Schlummer geweckt und in den gemeinsamen Kampf gegen den Weltimperialismus einbezogen habe.

Wir sahen bereits, daß Lenin der Revolution 1905 eine ähnliche Bedeutung zuwies. Außerdem wurden von Stalin die entscheidenden Auswirkungen des Ersten Weltkrieges für die nationale Befreiungsbewegung im afroasiatischen Raum nur am Rande gestreift. 2. Aus einer Teilfrage der bürgerlichen Revolution sei sie zu einer Teilfrage der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution und der proletarischen Diktatur geworden.

Stalin erklärte, daß die nationale und koloniale Frage „nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution und auf dem Boden der proletarischen Revolution" gelöst werden könne. Er zog aus dieser Feststellung den Schluß, daß der Weg zum Sieg der Weltrevolution im Westen nur über das revolutionäre Bündnis mit der Befreiungsbewegung der Kolonien und abhängigen Länder führen könne. An anderer Stelle bemerkte er, daß wenn Asien fiele, Europa bald nachfolgen würde.

In stärkerem Maße als Lenin war Stalin der Auffassung, daß mit der Abtrennung der Kolonien und abhängigen Länder von den industriell entwickelten Mutterländern die kapitalistische Welt in ihren Grundfesten erschüttert würde. 3. Die Lösung der nationalen und kolonialen Frage in der „Epoche der Weltrevolution"

könne nur mit Hilfe einer Strategie und Taktik erreicht werden, die sich den besonderen Bedingungen des nationalen Befreiungskampfes in den Kolonien und abhängigen Ländern anpassen würde. Dem Selbstbestimmungsrecht der Völker kam in diesem Zusammenhang als Kampfinstrument eine besondere Bedeutung zu.

Auf die von Stalin befürwortete revolutionäre Kampfführung in den Entwicklungsländern wird später noch näher einzugehen sein.

Sein Interesse für die Entwicklungsländer erlahmte, nachdem er mit dieser Kampfführung in China keinen Erfolg zu verzeichnen hatte.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er gegenüber den Erfolgen der nationalen Befreiungsbewegung im afroasiatischen Raum zurückhaltend. Er betrachtete mit Mißtrauen auch alle jene Volksdemokratien, die sich, wie das titoistische Jugoslawien und das marxistische China, aus eigener Kraft auf der Grundlage einer kommunistisch geführten nationalen Befreiungsbewegung herausgebildet hatten.

3. Chruschtschow und die nationale Befreiungsbewegung

Unter Chruschtschow trat eine entscheidende Wendung in der Beurteilung der Bedeutung der nationalen Befreiungsbewegung für die Weltrevolution ein.

Im Zerfall des „imperialistischen Kolonial-systems" und im Eintritt der Entwicklungsländer in die Weltpolitik erblickte er bereits auf dem XX. Parteikongreß der KPdSU 1956 neben der Entstehung des „sozialistischen Weltsystems" das wichtigste Merkmal einer neuen Epoche, von der er die Verwirklichung des kommunistischen Endziels erwartet.

Die Zwei-Welten-Vorstellung Stalins und Shdanows, die eine Neutralität zwischen den beiden feindlichen Lagern grundsätzlich ausschloß, ist von ihm im Sinne einer Drei-Welten-Konzeption weiterentwickelt worden, welche die Neutralität unter bestimmten Bedingungen als zulässig erklärt.

Die weltrevolutionären Chancen in den Entwicklungsländern stellen nach Chruschtschow den Schlüssel zum Endsieg dar. Diese Chancen lassen sich nach ihm nur wahrnehmen, wenn dieser Zwischenwelt eine gewisse Ungebundenheit und Eigenständigkeit zugestanden, gleichzeitig aber die Bildung einer „Dritten Kraft" verhindert wird.

Die Entwicklungsländer sollen daher mit den Ostblockstaaten zu einer „breiten Zone des Friedens" im Sinne einer „antiimperialistischen Einheitsfront" zusammengefaßt werden.

Bei dieser Friedenszone handelt es sich um die. erste Stufe eines Verhältnisses, das, schrittweise zur Gefolgschaft ausgestaltet, der kommunistischen Seite schließlich ein erdrückendes Übergewicht verschaffen soll.

In noch stärkerem Maße als Lenin und Stalin scheint Chruschtschow überzeugt zu sein, daß die Entscheidung im Kampf um die zukünftige Gestaltung der Welt in den Entwicklungsländern fällt.

Daher ist sowohl in der 81-Parteien-Erklärung vom Dezember 1960, als auch in dem neuen Parteiprogramm der KPdSU von 1961 ein ganzer Abschnitt der nationalen Befreiungsbewegung gewidmet.

In der 81-Parteien-Erklärung wird behauptet, daß die „Kräfte des Weltsozialismus" wesentlich zum Erfolg der nationalen Befreiungsbewegung in großen Teilen der Welt beigetragen hätten.

Auch die Entstehung von etwa vierzig neuen souveränen Staaten in Asien und Afrika sei durch sie wesentlich gefördert worden.

Bemerkenswert ist der Nachdruck, der auf den Entwicklungscharakter der lateinamerikanischen Länder gelegt wird. Es wird dabei betont, daß der Sieg der Revolution auf Kuba, „dem Kampf, den die Völker in den Ländern Lateinamerikas um völlige nationale Befreiung führen, einen mächtigen Auftrieb gegeben" habe.

Auf die mit dem Begriff der „Friedenszone" verbundene Konzeption wird im Parteiprogramm von 1961 mehrfach eingegangen.

Noch deutlicher als in der Erklärung von 1960 wird zum Ausdruck gebracht, daß mit der Eroberung der politischen Unabhängigkeit die nationale Befreiungsrevolution vom kommunistischen Standpunkt aus noch nicht zu Ende sei.

Diese Unabhängigkeit würde sich als fiktiv erweisen, „wenn die Revolution nicht zu tief-gehenden Wandlungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben führt und die dringenden Aufgaben der nationalen Wiedergeburt löst".

Der größere Nachdruck wird daher heute weniger auf die neutrale Haltung der Entwicklungsländer als auf die Beseitigung der „Überreste des Kolonialismus" und der „Wurzeln der imperialistischen Herrschaft" gelegt.

Das Programm fordert, daß sich die Entwicklungsländer, die zur Zeit keinem der beiden Lager angehörten, aus dem System der kapitalistischen Weltwirtschaft lösen sollen: „Solange diese Länder nicht mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Imperialismus Schluß machen, werden sie die Roile des „Dorfes der Welt" spielen und ein Objekt halbkolonialer Ausbeutung bleiben."

Die Umgestaltung der nationalen Befreiungsbewegung zu einer nationaldemokratischen wird in beiden kommunistischen Dokumenten als die Grundvoraussetzung für die Vollendung der „antiimperialistischen, antifeudalen, demokratischen Revolution" und den Über-gang zu einer sozialistischen Entwicklung und damit zu einer volksdemokratischen Ordnung angesehen.

II. Nationale Befreiungsrevolution und kommunistische Machtergreifung

Lenin ging davon aus, daß die Erringung der staatlichen Unabhängigkeit durch die unterdrückten Völker und der Sturz der mit der Fremdherrschaft verbundenen Oberschicht nur gewaltsam, d. h. in Form einer nationalen Befreiungsrevolution oder eines nationalen Be freiungskrieges erfolgen könne.

Da es sich bei der nationalen Befreiungsrevolution um eine bürgerlich-demokratische Revolution handelte, mußte die Führung des Befreiungskampfes zunächst der Bourgeoisie zufallen. Seit dem II. Kongreß der Komintern unterschied er dabei zwischen einer revolutionären und einer reformistischen Bourgeoisie.

Nur der ersten wurde ein Streben nach wirklicher nationaler Unabhängigkeit bescheinigt, während die zweite der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie der imperialistischen Länder bezichtigt wurde.

Die Kommunisten durften nur mit der revolutionären Bourgeoisie, auf deren Zusammensetzung von Lenin nicht näher eingegangen wurde, und den Bauern ein zeitweiliges Bündnis im Befreiungskampf bilden.

Lenin knüpfte an diese Teilnahme die Bedingung. daß die organisatorische Eigenständigkeit der Kommunisten gewahrt blieb Sie sollten gesammelt und „in dem Bewußtsein ihrer besonderen Aufgaben, der Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratischen Bewegungen innerhalb ihrer Nation, erzogen werden."

Außerdem sprach sich Lenin für die Bildung von Bauernsowjets aus, deren Führung durch die Kommunisten übernommen werden sollte. Er war der Auffassung, daß der Gedanke der Sowjetorganisation einfach sei und daher nicht nur auf proletarische, sondern auch auf bürgerliche. feudale und halbfeudale Verhältnisse angewandt werden könne.

Lenin vertrat ferner die These, daß die Entwicklungsländer mit Hilfe des „Proletariats der forgeschrittensten Länder", d. h. vor allem Sowjetrußlands „zur Sowjetordnung und über bestimmte Entwicklungsstufen zum Kommunismus gelangen können, ohne das kapitalistische Entwicklungsstadium durchmachen zu müssen." Bei „planmäßiger Propaganda" und Hilfe „mit allen verfügbaren Mitteln" könnte die kapitalistische Entwicklungsstufe wie in Rußland übersprungen werden.

Die Gedankengänge Lenins über die Strategie und Taktik der nationalen Befreiungsrevolution sind von Stalin 1925 in einem Vortrag vor Studenten der „Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens" näher ausgebaut worden. Stalin ging im Vortrag von folgender Lagebeurteilung aus:

Die werktätige Bevölkerung in den kolonialen und abhängigen Ländern sei einer doppelten Unterdrückung durch die eigene und die fremde Bourgeoisie ausgesetzt. Dadurch würde die revolutionäre Krise verschärft. Außerdem habe sich in einigen dieser Länder, wie z. B. Indien, der Kapitalismus in einem schnellen Tempo entwickelt und mit ihm sei ein einheimisches Proletariat entstanden.

Mit dem Anwachsen der revolutionären Bewegung habe sich die Bourgeoisie in zwei Teile gespalten, in einen revolutionären (Kleinbourgeoisie) und in einem kompromißlerischen (Großbourgeoisie). Gegen die Verbindung des Imperialismus mit der kompromißlerischen Bourgeoisie richte sich das antiimperialistische Bündnis der Arbeiter und der revolutionären Kleinbourgeoisie mit dem Ziel der vollständigen Befreiung vom Imperialismus. Aus dieser Analyse zog Stalin folgende Schlüsse-1. Die Befreiung der kolonialen und abhängigen Länder setze eine gewaltsame Revolution voraus;

2. Der Sieg der Revolution in den kapitalistisch entwickelten Kolonialländern und die Erringung der völligen Unabhängigkeit könne nur erreicht werden, wenn es gelingen würde, die kleinbürgerlichen Massen vom Einfluß der kompromißlerischen nationalen Bourgeoisie zu lösen und sie der Führung des Proletariats zu unterstellen.

Daher ist für Stalin die Isolierung der Großbourgeoisie und die Hegemonie des Proletariats, die wiederum das Vorhandensein einer kommunistischen Parteiorganisation voraussetzt, die für den weiteren Verlauf der nationalen Befreiungsrevolution entscheidende Lebensfrage; 3. Der Sturz des Imperialismus könne nur bei einem „realen Zusammenschluß" der nationalen Befreiungsbewegung der kolonialen und abhängigen Länder mit der proletarischen Bewegung in den fortgeschrittenen Ländern des Westens erreicht werden.

Im Rahmen dieser strategischen Grundkonzeption habe sich die revolutionäre Taktik dem jeweiligen Stand der Entwicklung des Proletariats in den einzelnen Ländern anzupassen.

Stalin unterschied hierbei drei Ländergruppen: a) Länder, wo es noch kein eigenes Proletariat gibt und wo sich die „Bourgeoisie" noch nicht in einen revolutionären und einen kompromißlerischen Flügel gespalten hat, wie z. B. in großen Teilen Afrikas. Hier beschränkte sich die Aufgabe der kommunistischen Elemente auf die Schaffung einer nationalen Einheitsfront gegen den Imperialismus. Erst in einem weiteren Entwicklungsstadium sollten sie sich zu einer eigenen Partei zusammenschließen; b) Länder, wo ein eigenes Proletariat besteht und wo sich die Bourgeoisie bereits gespalten hat, wo andererseits noch keine feste Blockbildung zwischen der kompromißlerischen Bourgeoisie und dem Imperialismus vorliegt.

Stalin führte als Beispiele Ägypten und China an. In einer solchen Situation sollten die Kommunisten einen Block der Arbeiter mit der revolutionären Kleinbourgeoisie bilden, der unter Umständen den Charakter einer umfassenden nationalen Partei annehmen sollte. Im Rahmen einer solchen nationalen Einheitsfrontpolitik sollten die Kommunisten sich das Recht vorbehalten, die proletarischen Elemente selbständig zu organisieren, die revolutionäre Befreiungsbewegung voranzutreiben und die Halbheit und Inkonsequenz der nationalen Bourgeoisie im Kampf gegen den Imperialismus anzuprangern;

c) Länder, wo die kompromißlerische Bourgeoisie zur Wahrung ihrer Klasseninteressen auf Kosten der Interessen ihrer eigenen Nation eine feste Verbindung mit dem Imperialismus eingegangen ist.

Bei einer solchen Konstellation forderte Stalin die Schaffung eines antiimperialistischen Blocks mit der revolutionären Bourgeoisie und den bäuerlichen Massen, die mit dem Proletariat fest zusammengeschlossen werden sollten.

Im Falle China sah die Praxis wesentlich anders aus wie die Theorie.

Mit dem „inneren Block" zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas wurde Lenins Grundbedingung der völligen Autonomie der Kommunisten bei einem Bündnis mit der revolutionären Bourgeoisie, die auch von Stalin gefordert wurde, bereits 1923 preisgegeben.

Die Idee des „inneren Blocks" stammte von Sun Yat-sen und sah eine doppelte Parteimitgliedschaft der Kommunisten vor. Ohne ihre Mitgliedschaft bei der KPCh aufzugeben, gehörten sie gleichzeitig der KMT an. Ein Loyalitätskonflikt war bei dieser Konstruktion unvermeidlich.

Bei der Bourgeoisie lag das Schwergewicht naturgemäß bei den im Unterschied zu Stalin als „nationale Bourgeoisie" bezeichneten revolutionären Teilen des Großbürgertums und der Intelligenz, und nicht beim städtischen Kleinbürgertum.

Die revolutionären Möglichkeiten der Bauernschaft, auf die Stalin selbst in seiner Schrift „über die Perspektiven der Revolution in China" im November 1926 hingewiesen hatte, wurden unterschätzt.

Stalin schreibt:

„Ich weiß, daß es unter den Kuomintang-Anhängern und sogar unter den chinesischen Kommunisten Leute gibt, die die Entfesselung der Revolution auf dem flachen Lande nicht für möglich halten, weil sie fürchten, die Einbeziehung der Bauernschaft in die Revolution würde die antiimperialistische Einheitsfront untergraben. Das ist der große Irrtum, Genossen. Die antiimperialistische Front in China wird um so stärker und mächtiger sein, je rascher und gründlicher sich die chinesische Bauernschaft in die Revolution einfügt."

Stalin hat somit die revolutionäre Bedeutung der chinesischen Bauernschaft durchaus richt9 tig erfaßt. Seine Anordnungen wurden der tatsächlichen Lage in keiner Weise gerecht. Außerdem waren die chinesischen Kommunisten der Kuomintang nicht gewachsen.

Der Staatsstreich Tschiang Kai-scheks vom 12. April 1927 wurde von Stalin als Verrat der nationalen Bourgeoisie interpretiert. Die kurzlebige Einheitsfront mit dem linken Flügel der Kuomintang unter Wang Tsching-wei wurde als ein revolutionärer Dreiklassenblock (Kleinbürgertum, Arbeiter, Bauern) hingestellt. Nach dem Bruch mit der „kleinbürgerlichen" Wuhan-Regierung wurden auf Veranlassung von Stalin kurz nacheinander zwei neue Taktiken eingeschlagen, die beide in Widerspruch zu seinen eigenen strategisch-taktischen Grundsätzen standen und eine unmittelbare Machtergreifung durch die Kommunistische Partei Chinas bezweckten.

Mit der Kanton-Kommune im Dezember 1927 wurde die Bildung eines städtischen Rätestaates in China angestrebt. Als diese Taktik scheiterte, wurde der Versuch unternommen, die verlorengegangene proletarische Klassen-basis durch Eroberung der Städte mit Hilfe von Bauernheeren wiederzugewinnen (Li Li-san-Linie).

Nach dem mißglückten Überfall auf Tschan-scha im Juli 1930 mußte auch diese abenteuerliche Politik ausgegeben werden. Erst jetzt sollte jene Strategie und Taktik zum Zuge kommen, die von Mao Tse-tung propagiert wurde.

Sie sah die Schaffung ländlicher Stützpunkte (Chinesische Räterepublik in Kiangsi) und die Umzingelung der Sädte vor.

Die entscheidende Abweichung Mao Tse-tungs, der in seiner ersten bekannten Schrift vom März 1926 eine weitaus präzisere Klassen-analyse als Stalin vorlegte, lief darauf hinaus, daß er im Unterschied zu Lenin und Stalin in den Bauern eine revolutionäre Haupt-kraft und nicht nur eine bedeutsame Hilfskraft des Proletariats erblickte. Nach Mao Tse-tung bildeten die „armen Bauern" die „revolutionäre Avantgarde" der nationalen Befreiungsrevolution. In seinem bekannten Bericht über eine Untersuchung der Bauernbewegung in Hunan im März 1927 hat er diese These näher begründet.

Bei der Bewertung des Anteils der einzelnen sozialen Gruppen an der Durchführung der „demokratischen Revolution" bewertete er die Leistungen der Stadtbewohner und der Militärs nur mit drei Punkten, der Bauern auf dem Lande dagegen mit sieben Punkten.

Die Gleichsetzung der „armen Bauern" als „revolutionäre Avantgarde" mit dem städtischen Proletariat und ihre Erhebung zur revolutionären Hauptkraft bildete die theoretische Basis für den Aufstieg Maos zur Macht.

Die Bildung einer Volksfront zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang in Gestalt einer antijapanischen Einheitsfront im Jahre 1937 erfolgte auf der Grundlage eines „äußeren Blocks".

Die Kommunistische Partei Chinas sicherte sich ihre organisatorische Eigenständigkeit und behielt die Kontrolle über die von ihr beherrschten Gebiete und ihre eigenen Streikräfte bei.

Eine wesentliche Rolle bei der kommunistischen Machtergreifung in China spielte die geschickte Taktik, die von Mao Tse-tung mit seinen bekannten Schriften „über die neue Demokratie" (1940) und „über die Koalitionsregierung" (1945) eingeschlagen wurde.

In diesen Schriften wurde von Mao Tse-tung die These aufgestellt, daß im Stadium der bürgerlich-demokratischen Revolution zwischen einem einem neuen alten und Revolutionstypus zu unterscheiden sei. Der eine würde in einem Zusammenhang mit der bürgerlich-demokratischen Weltrevolution, der andere mit der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution stehen.

Die altdemokratische Revolution sei durch die Führung der Bourgeoisie gekennzeichnet. In der neudemokratischen Revolution würde dagegen dem Proletariat „ganz oder teilweise" die Führung zufallen.

Die neudemokratische Revolution würde die erste Entwicklungsstufe der kolonialen oder halbkolonialen Revolution darstellen.

Die Bezeichnung „neudemokratische Revolution" wurde auch nach der Errichtung der Volksrepublik China beibehalten. Der Eintritt in das von Mao Tse-tung bereits 1940 vorgesehene zweite Stadium der „sozialistischen Revolution" erfolgte erst 1955 mit dem Beginn der Kollektivierung.

Der Begriff der „nationaldemokratischen Revolution", der seit der 81-Parteien-Erklärung von 1960 auf die nationale Befreiungsrevolution in den Entwicklungsländern angewandt wird, geht unverkennbar auf Mao Tse-tungs Vorstellung einer „neudemokratischen Revolution" zurück.

Für die sowjetischen Ideologen bedeutete es eine gewisse Schwierigkeit, einen systematischen Zusammenhang zwischen den revolutionären Vorgängen in Europa und Asien herzustellen, die zur Bildung der „Länder der Volksdemokratie" und damit zur Schaffung des „sozialistischen Weltsystems", das des öfteren auch als „sozialistische Gemeinschaft'bezeichnet wird, geführt hatten.

Die Volksdemokratie ist gemäß der sowjetischen Staats-und Gesellschaftslehre das Ergebnis national-und sozial-revolutionärer Kräfte, wobei sich in ihrer Entwicklung zwei Revolutionstypen ablösen.

Das erste Stadium ist durch eine allgemein-demokratische Volksrevolution bestimmt, d. h. eine bürgerliche Revolution mit starkem sozialistischem Einschlag.

Dabei wird zwischen der Entwicklung in Europa und Asien unterschieden. In Europa würde es sich im ersten Stadium um eine „antifaschistische vokksdemokratische Revolution" handeln, in Asien um eine „nationaldemokratische Befreiungsrevolution."

Die volksdemokratische Revolution wird als ein ununterbrochener revolutionärer Prozeß dargestellt, in dessen Verlauf die anfängliche bürgerlich-demokratische Revolution allmählich in die sozialistische „hinüberwachsen" würde.

Nicht jede nationale Befreiungsrevolution ist als eine national-demokratische anzusehen. Die nationale Befreiungsrevolution weist nach sowjetischer Auffassung zwei Spielarten auf: 1. im ersten Fall handelt es sich um eine nur lockere Verbindung zwischen der nationalen Befreiungsrevolution und der „antifeudalen Agrarrevolution". Diese Form wird als die Anfangsetappe einer „antiimperialistischen, demokratischen Revolution"

angesehen;

2. im zweiten Fall ist eine enge Verbindung der nationalen Befreiungsrevolution mit der „antifeudalen Agrarrevolution" zu einer antiimperialistischen nationaldemokratischen Revolution" gegeben.

Nur, wenn die alleinige Hegemonie der Arbeiterklasse und damit der Kommunistischen Partei vorliegt, ist die national-demokratische Revolution als die erste Entwicklungsstufe der volksdemokratischen Revolution anzusehen. Diese Eigenschaft besitzt z. B.der „Fidelismus" trotz seiner nationaldemokratischen Wesenszüge nicht. Fidel Castro wird infolgedessen von den Sowjetrussen als das „seltene Beispiel eines Führers der antiimperialistischen patriotischen Bewegung des Kleinbürgertums" angesehen.

Als soziale Grundlage der nationaldemokratischen Revolution wird von sowjetischer Seite ein Bündnis aller revolutionären Klassen unter Einschluß der „nationalen Bourgeoisie" angesehen.

Die revolutionäre Rolle der „nationalen Bourgeoisie" ist bisher von Mao Tse-tung auf Grund der chinesischen Erfahrungen wesentlich skeptischer beurteilt worden als von Chruschtschow. Den Chinesen gelang es, die von ihnen angeprangerte Unzuverlässigkeit der nationalen Bourgeoisie in der 81-Parteien-Erklärung von 1960 mit folgenden Worten zu fixieren:

„Je mehr sich die sozialen Gegensätze verschärfen, desto mehr neigt die nationale Bourgeoisie dazu, mit der inneren Reaktion und dem Imperialismus zu paktieren. "

Die gleiche Äußerung findet sich auch im neuen Parteiprogramm der KPdSU, in der die „zwiespältige Natur" der nationalen Bourgeoisie besonders unterstrichen wird. Gleichzeitig wird aber betont, daß die nationale Bourgeoisie ihre „fortschrittliche Rolle" noch nicht ausgespielt habe und daß ihre Fähigkeit, an der Lösung der dringenden allgemein-nationalen Aufgaben teilzunehmen, „noch nicht erschöpft sei."

Im Parteiprogramm wird gefordert, daß das Bündnis der Arbeiterklasse und der Bauernschaft zum Kern einer umfassenden nationalen Front werden müsse.

Von der Festigkeit dieses Bündnisses würde der Grad abhängen, in dem die nationale Bourgeoisie am „antiimperialistischen und antifeudalen Kampf" teilnehmen würde.

Als fünften Bündnispartner (neben dem städtischen Kleinbügertum) erwähnt das Programm die „demokratische Intelligenz".

Neben der Unzuverlässigkeit der „nationalen Bourgeoisie“ als Bündnispartner scheint das Problem des Nationalismus in den Entwicklungsländern dem Vordringen des Kommunismus besondere Schwierigkeiten zu bereiten.

Das Programm unterscheidet zwei Seiten des Nationalismus und bemerkt dazu: „In vielen Ländern verläuft die Befreiungsbewegung der erwachten Völker unter dem Banner des Nationalismus. Die Marxisten-Leninisten unterscheiden zwischen dem Nationalismus unterdrückter Nationen und dem Nationalismus unterdrückender Nationen.

Der Nationalismus einer unterdrückten Nation hat einen allgemeindemokratischen Inhalt, der sich gegen die Unterdrückung richtet, und die Kommunisten unterstützen ihn, da er ihrer Ansicht nach auf einer bestimmten Etappe historisch gerechtfertigt ist. Ausdruck dieses Inhalts ist das Streben der unterdrückten Völker nach Befreiung vom imperialistischen Joch, nach nationaler Unabhängigkeit und nationaler Wiedergeburt. Zugleich hat der Nationalismus einer unterdrückten Nation auch eine andere Seite, in der die Ideologie und die Interessen der reaktionären Oberschicht von Ausbeutern zum Ausdruck kommen."

Das Programm läßt nicht erkennen, ob Moskau trotz dieser Gefahren des Nationalismus das baldige Ende der Bündnispolitik mit der „nationalen Bourgeoisie" als gegeben ansieht. Infolgedessen dürfte es sich weiterhin gegen alle Versuche Pekings wenden, die in China erprobten revolutionären Methoden auf die Entwicklungsländer zu übertragen.

Einer der hauptsächlichsten Streitpunkte zwischen Moskau und Peking besteht in der Frage, ob beim nationalen Befreiungskampf und der kommunistischen Machtergreifung in den Entwicklungsländern in stärkerem oder geringerem Maße Gewalt angewandt werden soll.

Die 81-Parteien-Erklärung bemerkt, daß sich die Intensität des nationalen Befreiungskampfes nach den konkreten Verhältnissen richten würde. Die Kolonialvölker würden ihre Unabhängigkeit entweder durch „militärischen Kampf" oder auf „nichtmilitärischem Wege" erkämpfen.

Der „nichtmilitärische Weg" wird in der Regel als ein revolutionärer und damit gewaltsamer angesehen.

Die Notwendigkeit nichtkriegerischer Gewaltanwendung wird mit dem Satz begründet:

Die Kolonialmächte schenken den Völkern der Kolonien die Freiheit nicht und denken nicht daran, aus den von ihnen ausgebeuteten Ländern freiwillig abzuziehen."

Diese ideologische Behauptung steht in einem deutlichen Widerspruch zu der tatsächlichen Entwicklung, die sich in der Nachkriegszeit im kolonialen Bereich vollzogen hat. Was die kommunistische Machtergreifung betrifft, so zeigt ein entsprechender Abschnitt im Parteiprogramm von 1961, daß die Verneinung der Unvermeidbarkeit von internationalen Kriegen und die Anerkennung vielfältiger Übergangsformen zum Sozialismus an sich noch keine prinzipielle Absage an die Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes, gegebenenfalls auch in Form eines bewaffneten Auf-standes, bedeutet.

III. Nationaler Befreiungskrieg und sowjetische Intervention

Als „nationale Befreiungskriege" bezeichnete Lenin Kriege, die gegen die nationale Unterdrückung gerichtet waren und dazu dienten, eine Politik der nationalen Befreiung durchzusetzen. Er sah sie infolgedessen als „fortschrittlich" und „revolutionär" und damit „gerecht" an. Für ihn waren sie nicht nur möglich und wahrscheinlich, sondern auch unvermeidlich. Lenin rechnete vor allem mit nationalen Kriegen im kolonialen Bereich, schloß aber Befreiungskriege in Europa keineswegs aus. Er war außerdem der Auffassung, daß ein nationaler Krieg leicht in einen imperialistischen umschlagen könne und umgekehrt (französische Revolutionskriege — napoleonische Eroberungskriege). An dieser Grundeinstellung, die von Stalin geteilt wurde, hat sich unter Chruschtschow nichts geändert. Chruschtschow unterscheidet, wie aus seiner Rede vom 6. Januar 1961 hervorgeht, drei Arten von Kriegen:

1. Weltkriege;

2. lokale Kriege;

3. Befreiungskriege und Volksaufstände.

Nur bei den beiden ersten Kriegsarten, die er als „internationale Kriege" charakterisiert, hält Chruschtschow eine Verhütung für möglich. Aber auch hierbei macht er mit Rücksicht auf den abweichenden chinesischen Standpunkt Einschränkungen. So hält er lokale Kriege auch in Zukunft nicht für ausgeschlossen, wenn auch die Möglichkeit, solche Kriege zu entfesseln, seiner Meinung nach „immer mehr eingeengt" würde. Im Gegensatz zu den „internationalen Kriegen" sieht er „nationale Befreiungskriege" und „revolutionäre Volks-erhebungen" nicht nur als unvermeidbar, sondern auch als notwendig an.

Chruschtschow sagte:

„Befreiungskriege wird es geben, solange der Imperialismus existiert, solange der Kolonialismus existiert. Das sind revolutionäre Kriege. Solche Kriege sind nicht nur zulässig, sondern auch unausbleiblich, da die Kolonialherren den Völkern nicht aus freien Stücken die Unabhängigkeit gewähren. Darum können die Völker ihre Freiheit und Unabhängigkeit nur im bewaffneten Kampf erringen." Zu den revolutionären Volkserhebungen erklärte er, ohne zu merken, daß er damit die Volksaufstände in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1953) und Ungarn (1956) rechtfertigte: „Können sich in anderen Ländern Verhältnisse ergeben, bei denen dem Volke die Geduld reißt und es sich mit der Waffe in der Hand erhebt? Gewiß. Wie ist die Einstellung der Marxisten zu solchen Aufständen? Eine höchst positive. Diese Aufstände darf man den Kriegen zwischen Staaten, den lokalen Kriegen, nicht gleichsetzen, denn bei diesen Aufständen kämpft das Volk um sein Recht der Selbstbestimmung, auf seine soziale und unabhängige nationale Entwicklung. Das sind Aufstände gegen verrottete reaktionäre Regime, gegen die Kolonialherren. Die Kommunisten unterstützen solche gerechten Kriege voll und ganz und schreiten in der ersten Reihe der Völker, die Befreiungskriege führen."

Im Einklang mit diesen Äußerungen Chruschtschows wird in dem Parteiprogramm der KPdSU von 1961 erklärt, daß die Kommunistische Partei und das ganze Sowjetvolk es als ihre Pflicht ansehen würden, „den heiligen Kampf der unterdrückten Völker und ihre gerechten Befreiungskriege gegen den Imperialismus zu unterstützen.“

Indem sich die KPdSU für die prinzipielle Unterstützung einer bestimmten Kriegsart ausspricht, wobei sie sich im Grunde genommen vorbehält, selber zu bestimmen, welcher Krieg als „Befreiungskrieg" anzusehen ist oder nicht, beschwört sie eine große Gefahr für den Weltfrieden herauf. Ein „Befreiungskrieg" kann sich genauso leicht und genauso schnell zu einem Weltbrand ausweiten wie ein begrenzter, lokaler Krieg, den die Sowjetrussen im Unterschied zu den Chinesen für vermeidbar ansehen.

Die sowjetische Kriegslehre erklärt aber nicht nur nationale Befreiungskriege, sondern auch Bürgerkriege, die von kommunistischen Parteien ausgelöst werden, zu gerechten Befreiungskriegen und fordert ihre Unterstützung durch die Sowjetmacht und die kommunistische Weltbewegung.

Auf die Frage, wie diese „brüderliche Hilfe" zum Ausdruck kommen soll, anwortete Stalin im Anklang an Lenin.

„Sie muß darin zum Ausdruck kommen, daß das siegreiche Land das Höchstmaß dessen durchführt, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung, Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist."

Sowjet-Rußland hat zu Lebzeiten Lenins militärische Interventionen auf Grund von Hilfe-ersuchen bolschewistischer Revolutionskomitees, die als Gegenregierungen auftraten, in den folgenden „kolonialen und halbkolonialen Ländern" durchgeführt: Aserbeidschan (1920), Armenien (1920), Georgien (1921), Iran (1920), China (1920), Buchara (1920), Mongolei (1921), Tuwa (1921).

In allen Fällen wurde durch das Eingreifen der Roten Armee der Sturz der legalen örtlichen Regierung und die Machtergreifung einer kommunistischen Minderheit ermöglicht. Aus der Zeit Stalins wäre auf die Errichtung der kurzlebigen Ost-Turkestanischen Republik (1944— 1949) in Sinkiang und der Aserbeidschanischen Demokratischen Republik (1945— 1946) im Iran und die Annexion der Volksrepublik Tannu Tuwa 1944 verwiesen.

Vom sowjetischen Völkerrechtler Korowin ist die gewaltsame sowjetische Einmischung im Kaukasus mit der Begründung als „fortschrittlich" qualifiziert worden, daß die Intervention unter gewissen Bedingungen zum bedeutsamen Mittel des Fortschritts, zum chirurgischen, die Geburtswehen der neuen Welt erleichternden Eingriff, werden könne.

Im Einklang mit diesen Ausführungen wurde in der Großen Sowjetenzyklopädie (1. Ausl.) zum Fall Georgien, das mit Sowjet-Rußland durch einen Freundschaftsvertrag verbunden gewesen war, erklärt: „Mit gleichem Recht kann auch unsere bewaffnete Intervention im revolutionären Kampf des georgischen Proletariats mit der menschewistischen Macht im Jahre 1921 zu dieser Kategorie (der gerechten Revolutionskriege — der Vers.) gezählt werden, da sie auf Einladung des aufständischen Proletariats erfolgte, das um Hilfe bat."

Auch die Unterdrückung der ungarischen Volkserhebung 1956 ist von sowjetischer Seite als Gewährleistung „brüderlicher Hilfe" in Erfüllung der sich aus dem „sozialistischen Internationalismus" ergebenden „proletarischen Pflicht" bezeichnet worden.

Ein weiteres Beispiel ist die Unterstützung Nord-Koreas durch die Volksrepublik China.

Diese Beispiele zeigen, daß es zwei Arten von kommunistischer Intervention gibt, die sich aus dem Grundsatz der proletarisch-soziali-stischen Hilfe, der mit dem Prinzip des proletarisch-sozialistischen Internationalismus aufs engste verbunden ist, ergeben. Die eine Art ist auf die Machtergreifung in einem bisher nichtkommunistischen Land gerichtet, wobei des öfteren die einzelnen Kräfte der nationalen Befreiungsbewegung gegeneinander ausgespielt werden. Die zweite Art bezweckt die Erhaltung eines bestehenden kommunistischen Regimes, gegebenenfalls unter gewaltsamer Unterdrückung der nationalen Befreiungsbewegung. Bemerkenswert ist, daß in den „Grundlagen des Marxismus-Leninismus" im Falle von Korea und Vietnam festgestellt wird, daß der nationale Befreiungskampf „solange nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, wie er nicht durch die Wiederherstellung der nationalen Einheit dieser Länder gekrönt wird." Daß bei dieser Bemerkung an eine Einheit unter kommunistischen Vorzeichen gedacht ist, geht daraus hervor, daß in Nord-Vietnam inzwischen die nationaldemokratische Phase der volksdemokratischen Revolution abgeschlossen ist, während die kommunistische Partisanenbewegung in Süd-Vietnam als eine nationaldemokratische Befreiungsbewegung bezeichnet wird.

IV. Der nationaldemokratische Staat und die sowjetische Entwicklungshilfe

In den Anfang 1960 erschienenen „Grundlagen des Marxismus-Leninismus" wurde unter Bezugnahme auf ein diesbezügliches Lenin-Zitat erklärt, daß die Befreiungsbewegung in den Ländern Asiens, Südamerikas, Afrikas und des Mittleren Ostens mit ihren ausgeprägten Besonderheiten und spezifischen nationalen Traditionen „neue Formen der politischen Macht der Werktätigen hervorbringen" würde. In der 81-Parteien-Erklärung von Ende 1960 wurde als eine solche Form der „unabhängige Staat der nationalen Demokratie" präsentiert. Dieser besondere Staatstyp wird von sowjet-kommunistischer Seite als das Instrument bezeichnet, das es der nationalen Befreiungsbewegung in ihrer nationaldemokratischen Entwicklungsphase ermöglichen soll, einen nichtkapitalistischen Weg einzuschlagen. Dieser soll im Verlauf der weiteren Entwicklung in den sozialistisch-kommunistischen Weg einmünden.

Gemäß der 81-Parteien-Erklärung von 1960 soll der nationaldemokratische Staat folgende Eigenschaften aufweisen: 1. er verteidigt „konsequent seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit"

Zu diesem Zweck sind in der Erklärung in einer Erläuterung des sowjetischen Partei-sekretärs Ponomarjow folgende Maßnahmen vorgesehen-a) Kampf gegen den „Imperialismus" und seine Militärblocks;

b) Kampf gegen die Militärstützpunkte auf dem Territorium des jeweiligen Landes;

c) Kampf für das Souveränitätsprinzip, d. h.

gegen jede Ubeitragung von Hoheitsrechten an internationale Organisationen; d) Beseitigung der „Vorherrschaft des ausländischen Kapitals" in der Wirtschaft; e) Liquidierung der „nicht gleichberechtigten wirtschaftlichen Beziehungen" zu den entwickelten „kapitalistischen Ländern';

f) Forcierung des Aufbaus einer nationalen Industrie und Landwirtschaft bei Beseitigung der „Überreste des Mittelalters"

und der einseitigen wirtschaftlichen Struktur des Landes;

g) Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und des kulturellen Niveaus der Bevölkerung. 2. er kämpft „gegen die neuen Formen des Kolonialismus und das Eindringen des imperialistischen Kapitals."

In dem Parteiprogramm der KPdSU wird behauptet, daß die als „Imperialisten" bezeichneten westlichen Mächte „die koloniale Ausbeutung der Völker durch Anwendung neuer Methoden und in neuen Formen aufrechtzuerhalten" versuchten.

Sie würden die Entwicklungshilfe dazu benutzen, um „in diesen Ländern ihre alten Positionen zu bewahren und neue an sich zu reißen, ihre soziale Basis zu erweitern, die nationale Bourgeoisie zu gewinnen, Militärdespotien zu errichten und gefügige Marionetten ans Ruder zu bringen." Der „Neokolonialismus" würde vor der Anwendung verwerflichster Mittel nicht zurückscheuen und die „vergiftete Waffe des Nationalhaders und der Stammesfehden''benutzen, „um die nationale Befreiungsbewegung zu spalten." Dadurch würde die staatliche Unabhängigkeit der Entwicklungsländer immer mehr ausgehöhlt. Sie würde eine reine Formsache werden 3. er lehnt „die diktatorischen und despotischen Formen der Verwaltung" ab Ponomarjow erklärte, daß die Oberschicht der nationalen Bourgeoisie und der Gutsbesitzer nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit bestrebt sei, „eine reaktionäre, antidemokratische Ordnung" im Lande zu errichten.

Eine solche Politik würde „zur Einengung der sozialen Basis im Kampf gegen die ausländischen Imperialisten" und schließlich zum „Verlust der staatlichen Unabhängigkeit" führen. 4. er sichert die demokratischen Grundrechte und Freiheiten sowie tiefgehende soziale Reformen

Ponomarjow zählt folgende Grundrechte und Freiheiten auf, die in der Sowjetunion selbst in keiner Weise gewährleistet sind:

a) die Meinungsfreiheit (einschließlich der Pressefreiheit)

b) die Versammlungsfreiheit (einschließlich des Rechts, Demonstrationen zu veranstalten) c) das Recht auf Schaffung politischer Parteien und gesellschaftlicher Organisationen

Dieses Recht soll vor allem die Zulassung kommunistischer und linksradikaler Parteien und kommunistisch beeinflußter Massenorganisationen ermöglichen.

Ponomarjow bemerkt hierzu:

„Die Bildung eines Staates der nationalen Demokratie, seine Entwicklung und die Verwirklichung progressiver Umgestaltungen durch ihn können nur unter der Voraussetzung des Kampfes der werktätigen Massen, unter der Voraussetzung ihres Zusammenschlusses zu eigenen Parteien und Organisationen erfolgen . . .

Noch heute befinden sich in den meisten befreiten Ländern die kommunistischen Parteien in der Illegalität. Ist das rechtmäßig? Nein, keineswegs. Die Kommunisten bringen die Interessen der Bauern, die Interessen der ganzen Nation zum Ausdruck. Das Verbot ihrer Parteien bedeutet praktisch das Verbot des Kampfes der Arbeiter und Bauern, des Kampfes des ganzen Volkes für seine Rechte.“

d) die Mitwirkung an der Staatswillensbildung und die Mitbestimmung der Staatspolitik

Zur Verwirklichung dieser Forderung wird von sowjetischer Seite ein mit weitgehenden Befugnissen ausgestattetes Parlament und eine Koalitionsregierung unter Beteiligung aller „fortschrittlichen Kräfte“ auf der Grundlage der Nationalfront-Politik angestrebt.

Bei den sozialen Reformen ist vor allem an eine umfassende Agrarreform gedacht. Ponomarjow bezeichnet die „Lösung der Bauern-frage" als das wichtigste Problem der Entwicklungsländer .

In der Erklärung von 1960 ist außerdem noch von „anderen Forderungen nach demokratischen und sozialen Umgestaltungen die Rede.“

Beschlagnahme des ausländischen Eigentums, Verstaatlichung großer Teile der Wirtschaft, insbesondere der Banken und der Industrie, Einführung der Wirtschaftsplanung, staatliche Kontrolle des Außenhandels, Bildung von landwirtschaftlichen Genossenschaften werden als Maßnahme aufgezählt, welche eine grundlegende Veränderung der ökonomischen und sozialen Struktur der Entwicklungsländer im Sinne eines nichtkapitalistischen Weges zum Sozialismus-Kommunismus bewirken sollen.

In diesem Zusammenhang werden von Ponomarjow Kuba, Guinea, Ghana, Mali und Indonesien als Länder aufgezählt, die dem Ideal-typ des nationaldemokratischen Staates zur Zeit am nächsten kämen.

Der Begriff eines nationaldemokratischen Staates ist 1945 von Gomulka, Gottwald und anderen ostmitteleuropäischen Kommunistenführern im Hinblick auf die ersten Anfänge einer volksdemokratischen Staatsentwicklung zuerst gebraucht worden. Die Bezeichnung entsprach dem gleichzeitig von Mao Tse-tung propagierten Zwischenstadium der „Neuen Demokratie".

Die Konzeption eines „Staates der nationalen Demokratie" geht damit unverkennbar auf die chinesische Vorstellung eines „Staates der neuen Demokratie" zurück.

Mao Tse-tung erklärte 1940 in seiner Schrift „über die neue Diktatur", daß sich alle Regierungsarten der Welt in drei Kategorien einteilen ließen:

1. Republiken der bürgerlichen Diktatur;

2. Republiken der proletarischen Diktatur;

3. Republiken der gemeinsamen Diktatur mehrerer revolutionärer Klassen.

Die dritte Kategorie bezeichnete er als „die Übergangsform des Staates in den revolutionär n Kolonien und Halbkolonien."

Abweichend von Lenin erklärte er, daß die Sowjetform der Republik in einer bestimmten historischen Periode nicht gut in kolonialen und halbkolonialen Ländern durchgeführt werden könne. Diese brauchten vielmehr eine dritte Staatsform, nämlich die der neuen demokratischen Republik.

Das entscheidende Merkmal des „Staates der neuen Demokratie" sah Mao Tse-tung dann, daß er die Ausdrucksform der Diktatur mehrerer Klassen bildete, und daß die eindeutige Hegemonie einer Klasse und damit eine Einparteienherrschaft noch nicht gegeben war. „Der Staat der neuen Demokratie" als Vorstufe der 1949 in China einsetzenden volks-demokratischen Staatsentwicklung entsprach so weitgehend der Vorstellung, die Lenin mit dem Gedanken einer „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" verband, die er 1905 in der Auseinandersetzung mit Trotzkijs Lehre von der „Permanenten Revolution" entwickelte. Lenin ging damals noch ebenso wie die Men-schewisten von der Auffassung aus, daß die kapitalistische Entwicklungsstufe in Rußland nicht übersprungen werden könne. Erst sollte durch die bürgerlich-demokratische Revolution der kapitalistischen Entwicklung zum vollen Durchbruch verhülfen werden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte es dann zu einer sozialistischen Revolution kommen. Infolgedessen lehnte Lenin auch eine reine „Arbeiterregierung" auf der Grundlage der „Diktatur des Proletariats", wie sie von Trotzkij gefordert wurde, ab.

Lenin hat sich die Auffassung Trotzkijs, daß auf Grund der besonderen Eigenart der russischen Verhältnisse der sofortige Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Revolution bei gleichzeitiger Errichtung der „Diktatur des Proletariats" möglich sei, erst im Revolutionsjahr 1917 zu eigen gemacht.

Von den chinesischen Kommunisten ist die von Lenin selbst preisgegebene Formel einer „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ in das Manifest des Zweiten Nationalkongresses der KPCh vom Juli 1922 und anschließend auch in die Politische Resolution des Sechsten Nationalkongresses der KPCh vom September 1928 und in die Verfassung der Chinesischen Räterepublik in Kiangsi vom November 1931 ausgenommen worden.

Im Grunde genommen war der seit 1940 von Mao Tse-tung propagierte neudemokratische Staat somit nur eine neue Umschreibung der bis dahin gebräuchlichen Formel der „demokratischen Diktatur".

Daß durch diese Formel auch das städtische Kleinbürgertum erfaßt wurde, darüber bestand bereits bei Lenin kein Zweifel.

Die besondere Eigenart des „Staates der neuen Demokratie" war darin zu sehen, daß er die nationale Bourgeoisie in das Bündnis der revolutionären Klassen einbezog und ihr damit größere politische Rechte zugestand.

Er unterschied sich damit wesentlich vom volksdemokratischen Staat, der heute in seiner ersten Entwicklungsstufe als Staatsform der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" und in seiner zweiten Entwicklungsstufe (ebenso wie der Sowjetstaat) als „Diktatur des Proletariats" angesehen wird.

Insofern entspricht der „Staat der nationalen Demokratie" seiner Konstruktion nach weitgehend dem „Staat der neuen Demokratie", und ist damit wie dieser als Vorstufe zum „Staat der Volksdemokratie" und damit einer Entwicklung gedacht, die zu einer kommunistischen Einparteiherrschaft und damit zu einer Minderheitsdiktatur im Staate führen soll. Daß die Entwicklungsländer dabei aller Rechte und Freiheiten verlustig gehen würden, welche die Kommunisten aus taktischen Gründen heute fordern, um die Alleinmacht zu erringen, dürfte auf Grund der historischen Erfahrung kein Zweifel bestehen.

Ein wesentlicher Unterschied scheint trotzdem zwischen der ursprünglichen Vorstellung Mao Tse-tungs von einem „Staat der neuen Demokratie" und dem „Staat der nationalen Demokratie" zu bestehen.

Der neudemokratische Staat war dazu bestimmt, die bürgerlich-demokratische Revolution und damit die kapitalistische Entwicklung zu einem gewissen Abschluß zu bringen. Der national-demokratische Staat strebt von vornherein eine nichtkapitalistische Entwicklung mit Hilfe der Sowjetunion und der übrigen Ostblockstaaten an. Eines der wesentlichsten Merkmale des „Staates der nationalen Demokratie" ist darin zu sehen, daß ihm im Ausgleich für die geforderte wirtschaftliche Isolierung vom Westen reichliche Entwicklungshilfe aus dem Ostblock in Aussicht gestellt wird. Durch diese „sozialistische gegenseitige Hilfe" soll im Einklang mit dem früher zitierten Ausspruch Lenins es den Entwicklungsländern ermög icht werden, die kapitalistische Entwicklungsstufe zu überspringen.

Von sowjetischer Seite werden in diesem Zusammenhang die kaukasischen und turkesta-nischen Unionsrepubliken, die Volksrepublik Mongolei und die ehemalige Volksrepublik Tannu Tuwa als Beispiel genannt.

Wir sahen bereits, daß diese Hilfe sich auf den wirtschaftlichen Bereich nicht beschränkt hat. Mit Ausnahme der Mongolei haben alle genannten Länder ihre nach der Oktoberrevolution errungene staatliche Unabhängigkeit wieder eingebüßt.

Die Mongolei ist als reines Protektorat der Sowjetunion anzusehen.

Die Konzeption eines „Staates der neuen Demokratie" erweist sich somit als ein trojanisches Pferd, hinter der sich tatsächlich eine neue Form des Kolonialismus, nämlich der auf einer wirklichen imperialistischen Grundlage beruhende Sowjetkolonialismus verbirgt.

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Boris Meissner, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt, o. Professor für Ostrecht, Politik und Soziologie Osteuropas an der Universität Kiel. Vorsitzender und Direktor des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie) in Köln, geb. 10. August 1915 in Pleskau. Der nachfolgende Aufsatz beruht auf einem Referat, das vom Verfasser auf der IV. Internationalen Sowjetkonferenz („Internationale Konferenz für Weltpolitik") in Griechenland im September 1962 vorgelegt worden ist.