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Historische und politische Bildung Die geschichtspädagogischen Erwägungen seit 195C -die Folgerungen | APuZ 6/1963 | bpb.de

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APuZ 6/1963 Historische und politische Bildung Die geschichtspädagogischen Erwägungen seit 195C -die Folgerungen Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung Abschluß und Wegweiser

Historische und politische Bildung Die geschichtspädagogischen Erwägungen seit 195C -die Folgerungen

Felix Messerschmid

I.

Der Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien, am 29. /30. September 1960 in Saarbrücken von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik beschlossen, wird der künftige Historiker des Geschichtsunterrichts, mag er sie im übrigen mehr positiv oder mehr negativ beurteilen, jedenfalls das Verdienst zuerkennen müssen, eine Bewegung angestoßen zu haben, aus der wesentliche Veränderungen sowohl im Gefüge der unterrichtlichen Ordnung als für das Verständnis des Bildungssinnes der historisch-politischen Fächer hervorgegangen sind. Unser Historiker — nehmen wir an, er werde sine ira et Studio untersuchen und urteilen — wird sich dabei auch mit der Frage befassen, wie Schule und Universität auf einen solchen Akt der Kultusverwaltung geantwortet haben. Das wird ihm nicht leichtfallen. Er wird feststellen, daß die Minister einen Rahmen gesetzt haben, also wohl beabsichtigten, für mehrere mögliche Regelungen Freiheit zu geben; daß die Antwort der Betroffenen nicht einheitlich war und vom (meist eingeschränkten) Ja über differenzierende, zwischen den einzelnen Bestimmungen und Aussagen der Rahmenvereinbarungen unterscheidende, Beurteilungen bis zum schlichten Nein reichen. Er wird vor der Aufgabe stehen, die Motive für diese Zwiespältigkeit darzustellen, und dabei sowohl solche finden, die in den Formulierungen der Rahmenvereinbarung selbst liegen, wie solche, die aus den spezifischen Sehweisen der Wissenschaftler und Pädagogen kommen, und andere, die aus bestimmten Traditionen und aus politischen Vorentscheidungen zu erklären sind. Sicher wird er auch feststellen müssen, daß falsche Fronten entstanden sind: z. B. zwischen den Hütern unaufgebbarer Grundsätze wissenschaftlicher Methoden und den um den Erfolg der Bemühungen um geschichtliche und politische Bildung in der Schule Besorgten; ebenso falsche Gemeinsamkeiten, z. B. zwischen Verteidigern bloßer Konventionen verschiedener Observanz und jenen Besorgten oder zwischen Utopisten und behutsam überlegenden und besonnen praktizierenden Pädagogen.

Aber lassen wir diese Prognosen. Uns betroffenen Zeitgenossen wird jener Historiker jedenfalls nur dann ein gutes Zeugnis ausstellen, wenn wir redlich versucht haben, falsche Fronten aufzulösen und die große neue Aufgabe zu Gesicht zu bekommen: die Erziehung des (auch) politischen Menschen, der die Erinnerung bewahrt und aus ihr handelt.

Dazu wird nur kritisches, das heißt also unterscheidendes Denken imstande sein. Zu ihm gehört auch die Bereitschaft, die je andere Position zu hören und ernst zu nehmen und sich vor vorschnellen Denunzierungen zu hüten. Dem Historiker liegt es nahe, seine Methode auf den Geschichtsunterricht selbst anzuwenden, an den Verlauf und die wesentlichen Ergebnisse der didaktischen und methodischen Überlegungen des vergangenen Jahrzehnts zu erinnern und daraus die Folgerungen zu ziehen. Danach erst werden wir der Rahmenvereinbarung mit einer Kritik begegnen können, die ihre Argumente nicht zur Widerlegung oder Unterstützung dieser Vereinbarung erst geschmiedet hat, sondern die sich auf die Erfahrungen langer Zeit und deren Prüfung in der Theorie wie im Unterricht stützen kann.

Schließlich wird zu überlegen sein, was nun zu geschehen hat, noch nicht in der Form von Lehrplänen, wohl aber in der Richtung einiger Grunderkenntnisse und der Folgerungen daraus. Seit der Nenndorfer Tagung und seit dem zweiten kritischen Schreiben, das ich mit Proll fessor Rothfels als dem Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands an die Minister gerichtet habe ist diese Aufgabe an die Schulverwaltungen der Länder und an einige Kommissionen gegangen, in denen eine nicht kleine Zahl von Fachleuten verschiede ner Disziplinen und Richtungen in verschiede nem Auftrag gearbeitet haben. Einige Ergeb nisse liegen vor, sie sind bekannt; andere sind zu erwarten.

II.

Die Reaktionen aus der Gesellschaft auf die Rahmenvereinbarung — also aus den Verbänden, den Universitäten, der Presse, den Zeitschriften, von vielen berufenen und unberufenen einzelnen, wobei die berufenen keineswegs immer die zustimmenden, die unberufenen keineswegs immer die kritischen gewesen sind — haben sehr deutlich gezeigt, daß eine Vorüberiegung zum Thema Staat und Bildungspolitik dringlich ist Soll sie das eigentliche Thema nicht sprengen, wird sie in unserem Zusammenhang freilich nur berührt werden können. Einige ausführlichere Äußerungen liegen im übrigen vor

Ernst Wilmanns hat schon 1951, also zu einer Zeit schwacher Staatlichkeit, testgestellt — damals handelte es sich um das Problem größerer Einheitlichkeit der Geschichts-Lehrpläne —, der Staat müsse Wert darauf legen, wenn er sich nicht selbst aufgeben wolle, „das geschichtliche Bewußtsein des kommenden Geschlechts so zu formen, daß es eine geeignete Grundlage werde, seine Existenz, seine Einrichtungen und sein Ethos zu tragen" Wir täten und selbst keinen Dienst, wenn wir so weit gehen würden, der Kultusministerkonferenz dieses Recht zu bestreiten. Ihr Apparat ist schwerfällig, und auf Grund der Kulturhoheit der Länder sind an allen nicht auf dem Verwaltungswege zu regelnden Angelegenheiten die Kabinette beteiligt mit mehr als 120 Ministern und die Parlamente. Es ist bei diesem Sachverhalt eher erstaunlich, daß die Kultusministerkonferenz eine Rahmenvereinbarung mit so einschneidenden Maßnahmen zustandegebracht hat, und klug, daß sie nur eine Rahmenvereinbarung formuliert hat Es ist auch verständlich, daß sie nicht gerade das Optimum dessen darstellt, was zu wünschen wäre.

Es muß aber doch gesagt werden, daß die Kul-

tusministerkonferenz sich dabei auf Erkenntnisse gestützt hat, die längst vorhanden waren, quod erat demonstrandum. Die wesentliche Arbeit war, wie es in Ordnung ist, vorher geleistet, nämlich im wissenschaftlichen und schulischen Bereich selbst. Es ist daher unakademisch und unfair, wenn z. B. Journalisten, die nichts von der vorausgehenden, mehr als ein Jahrzehnt geführten Diskussion wissen, die Sache so darstellen, als ob die Minister wildgewordene Reformer seien, die selbst von den Dingen, die sie dekretierten, keine Ahnung hätten.

Es gefällt uns manches gar nicht an dieser Rahmenvereinbarung — gewiß. Aber sie ist so sehr nur Rahmen, daß viele Deutungen und Verwirklichungen möglich sind. Die richtige Antwort ist also, sich an die Arbeit zu begeben.

Allerdings ist von den Ministern zu fordern, daß sie auf Einwände hören und die Zeit geben, die zu solcher Arbeit eben nötig ist. Und weiter, daß sie Raum für Erprobungen und die Ermutigung dazu geben vor generellen Einführungen; deren Erfolg steht in Frage, wenn die Lehrerschaft sich, aus welchen Gründen immer, dagegenstellt, weil die Vorbereitung mangelhaft ist und die Erfahrungen fehlen. Gegen die Lehrerschaft ist in solchen Unternehmungen rein nichts zuwege zu bringen, weil das Gelingen ja doch davon abhängt, ob sie die Aufgabe in ihre eigene Verantwortung nimmt. Sie kann diese Übernahme verweigern, wenn nicht vorher Übereinstimmungen herbeigeführt werden.

Kulturpolitik gehört in der Bundesrepublik zu dem heißen Eisen, in ihr ist die Schulpolitik das heißeste. Demokratisch könnte sie nur werden, wenn in den Grundfragen die beteiligten und betroffenen Gruppen die nötigen Klärungen und, wo möglich, einen Consensus, in dem auch die Dissensen enthalten sein können, selbst herbeiführten. Das ist aber nur möglich, wenn sich diese Gruppen und die einzelnen in ihnen nicht im Geist der Verketzerung gegenüberstehen. Auch die je andere Gruppe könnte vielleicht gutwillig sein oder gar besonnene Ideen haben. Ich stimme daher Hans Wenke zu: „Die meisten Stellungnahmen — zumal in den Tageszeitungen der letzten Monate — leiden darunter, daß sie in vorwiegend polemischer Stimmung ein groteskes Bild von diesem Plan zeichnen, das sich dann natürlich leicht kritisieren und bekämpfen läßt. Es sollte aber eine Selbstverständlichkeit sein, daß man sich zunächst an das hält, was die Rahmenvereinbarung mit ihren amtlichen Erläuterungen sagt. Man mag dann dagegen kämpfen, wenn man dafür gute Gründe hat, aber man sollte die öffentliche Meinung nicht dadurch verwirren und irreführen, daß man sich mit selbst erfundenen Schreckensbildern und Karikaturen herumschlägt"

III.

Versuchen wir also zunächst eine Inventur und eine Bilanz unseres Nachdenkens über die historisch-politische Bildung seit dem Ende der Diktatur bis zur Rahmenvereinbarung — die ja, will man einen Teil der Äußerungen zu ihr wörtlich nehmen, für manche fast den Beginn einer neuen Diktatur bedeutet. Die Quellen für eine solche Inventur sind in den einschlägigen Zeitschriften und einigen wenigen Buch-publikationen leicht erreichbar; sie sind für diesen Vortrag sämtlich noch einmal durchgearbeitet worden. Aber begreiflicherweise kann in unserem Zusammenhang nur eine Abbreviatur gegeben werden.

Der Geschichtsunterricht war von den politischen Ereignissen 1933 wie 1945 unter allen Schulfächern am stärksten betroffen worden; 1945 war er in manchen Ländern des staatlos gewordenen Gebildes Deutschland sozusagen in die verbrecherischen Organisationen eingestuft und für Jahre überhaupt verboten worden. Vielen Lehrern — auch mir — war die Fakultas für den Geschichtsunterricht nach 1933 abgesprochen gewesen; nach 1945 stellten es manche Schulverwaltungen den Lehrern frei, Geschichtsunterricht zu erteilen; anderswo verweigerten sich Lehrer diesem Unterricht. Die bis heute zu spürende Folge dieser Erfahrungen ist eine verständliche Allergie schon bei dem Verdacht, der Geschichtsunterricht solle ideologisiert werden.

Nach 1945 begannen die Jahre des Nachdenkens, des weit offenen, manchmal kühnen Fragens, des Infragesteliens auch von früher Selbstverständlichem. Die Erkenntnis war unbestritten, daß die Inhalte wie die Ziele des nach 1933 aufoktroyierten Geschichtsunterrichts der stärksten Kritik unterliegen müß5) ten; doch konnte die Kritik sich nicht auf diese Jahre beschränken, die deutsche Geschichte als ganze schien fragwürdig geworden, jedenfalls gewisse Deutungen von ihr. Daraus mußte sich die Frage nach dem Bildungssinn der Geschichte, also die didaktische Fragestellung mit Notwendigkeit ergeben, im Anschluß daran die methodische.

Die Herausgeber der Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht", die bald zum Organ dieses ständigen Gesprächs geworden war, haben genau gespürt, wie nach einigen Jahren die Müdigkeit einsetzte: es bedurfte sehr viel stärkerer Anstrengungen, um die wesentlichen unterrichtlichen Fragen nicht ausklingen zu lassen; mit dem Angebot von neuen Geschichtsbüchern war es ja nicht getan.

Die nach den antisemitischen Schmierereien einsetzenden Angriffe gegen den Geschichtsunterricht und die Geschichtsbücher, die das eigentliche Problem zum größten Teil verfehlten, und schließlich die Rahmenvereinbarung wirkten provozierend. Die alsbald in breitester Öffentlichkeit und sehr laut geführte Diskussion machte sichtbar, daß die Ergebnisse langjähriger didaktischer Überlegungen weithin unbekannt geblieben waren, daß heißt aber auch, daß ihre unterrichtliche Verwirklichung sich noch nicht in genügendem Maße durchgesetzt hat. Die bildungstheoretischen und methodischen Erkenntnisse sind der allgemeinen schulischen Wirklichkeit notwendigerweise voraus; sie werden von einzelnen Lehrern in wenigen Schulen gewonnen und durchdacht.

Um es vorweg zu sagen: das ergiebigste Jahr dieses Nachdenkens war das Jahr 1952. Das ist zehn Jahre her. 1955 lagen die wichtigsten Erkenntnisse darüber vor, wie der Geschichtsunterricht sich entwickeln müsse, darin eingeschlossen der ihm obliegende Anteil an der Politischen Bildung. Der Weg von der Theorie, den Prinzipien, zu den Imperativen, den institutionellen Folgerungen auf breiter Ebene, ist mühsam und lang, und es kann sein, so lang, daß auf ihm die erkannten Prinzipien wieder verloren gehen oder vergessen scheinen.

Die Hauptschwierigkeit der Darstellung besteht darin, daß die wesentlichen Motive in der Diskussion dieser Jahre nicht auseinander entwickelt worden sind, sondern sofort in vielfältiger Verschränkung auftauchen, daß das Gewicht der einzelnen Motive sehr verschieden bewertet wird und daher auch Einseitig-keiten unvermeidbar waren. Die Ergebnisse müssen also jetzt nebeneinander dargestellt werden. Dennoch ist im Blick zu behalten, daß alle wesentlichen Motive eng miteinander Zusammenhängen. Ob sie voneinander getrennt in eine künftige Ordnung eingebracht werden können, wird überlegt werden müssen.

IV.

Gehen wir von den Ergebnissen der Kritik aus, von dem, was der Geschichtsunterricht nicht sein dort.

a) Geschichte der nationalstaatlichen Idee Darüber braucht in diesem Zusammenhang nicht viel gesagt zu werden, da nach Ausweis der Lehrpläne und Lehrbücher der ungeheuerliche Mißbrauch dieser Idee, den wir erlebt haben, und die völlige Veränderung der weltpolitischen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkt haben, daß die Nationalstaatsidee nicht mehr Leitidee unseres Geschichtsunterrichts ist — was nicht heißt, daß der Geschichte unseres Volkes nicht ein bedeutender Raum im Geschichtsunterricht bleiben müsse.

Wohl aber zeigen einige Äußerungen der letzten Zeit, daß die Auflösung der Nationalstaatsidee ein geschichtsunterrichtliches Vakuum hinterlassen hat, das zu füllen noch keineswegs gelungen ist Im Brief eines Geschichtslehrers an einen Universitätshistoriker zur Rahmenvereinbarung heißt es z. B.:

. . Zum andern werden ja ganz eindeutig gegenwartspolitische Gesichtspunkte in den Unterricht hineingetragen, das deutsche Geschichtsbild wird aufgelöst, es wird kaum noch möglich sein, irgendeine Art von Traditionsbewußtsein hervorzurufen . . . Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß da ganz bewußte Tendenzen am Werke sind. Unsere Abiturienten werden in spätestens drei Jahren über die Negerstämme des Kongogebietes besser Bescheid wissen als über den 30jährigen Krieg oder Friedrich den Großen " Welch ein Gemisch von zu respektierender Sorge, Mißverstehen des in der Rahmenvereinbarung Gemeinten und Ratlosigkeit in der Frage der geschichtlichen wie der politischen Bildung! Ist es ganz abwegig, sich zu fragen, ob jemand, der eine fundamentale Aufgabe dieser Epoche, deren Erfüllung oder Nichterfüllung auch über Europa und die noch freie Welt entscheidet, in die Formulierung „Bescheid wissen über die Negerstämme des Kongogebietes" bringt, über den 30jährigen Krieg und Friedrich den Großen in einer Weise unterrichten kann, die nicht nur unverbindliches Traditionswissen erbringt, sondern unsere geschichtliche Überlieferung öffnet und daraus Maßstäbe für das Verständnis unserer Welt gewinnt? Also z. B. nur die Erkenntnis, was europäische „Schlesische Kriege" im 19. und 20. Jahrhundert bedeutet haben und was heute von den östlichen und südlichen Ländern Europas her ein 30jähriger Krieg über Europa heißen würde? b) Gefährt einer universalen Geistesgeschichte Diese Idee ist nach 1945 aufgetaucht — als Flucht vor der politischen Geschichte und als Vorschlag zur Überwindung der Nationalstaatsidee im Geschichtsunterricht. Sie stellt heute wohl die geringere Gefahr dar. Immerhin deuten einige Vorschläge der letzten Zeit noch in diese Richtung. c) „'Weltgeschichte“ als neuer Enzyklopädismus Wohl aber ist die Erweiterung des geschichtlichen und gegenwartspolitischen Blickfeldes auf Asien und Afrika unumgänglich. Die Hamburger Tagung des Verbandes der Geschichtslehrer 1960 hat solche Eiweiterung, auch im Geschichtsunterricht, dort, wo die europäische Geschichte auf diese Völker gestoßen ist, als unabweislich erkennen lassen, in höherem Maß, als es schon bisher geschehen ist. d) Politische Geschichte nur als (europäische)

Staatengeschichte Die Geschichte der politischen Strukturen und Ideen der Wirtschaft, der Gesellschaft, der rechtlichen Ordnungen ist nicht weniger bedeutsam, zu Zeiten sogar wichtiger.

e) Instrument allein der Politischen Bildung Darauf ist später ausführlicher einzugehen. Hier sei, da mehrfacher Anlaß besteht, nur darauf hingewiesen, daß es den Geschichtsunterricht schon verfälschen hieße, wenn er sich als das Fach prodemokratischer Werbung verstünde. Ein solches Verständnis mündet rasch in seine (politische) Ideologisierung und verstellt dann z B. so wichtige geschichtliche und politische Erkenntnisse, daß die Ordnung der Freiheit und des Rechts, die wir demokratisch nennen, unter verschiedenen epochalen Bedingungen sehr verschieden aussehen kann.

V.

Wenden wir uns danach den Zielen zu, die nach 1945 dem Geschichtsunterricht in vornehmlicher Weise gesteckt worden sind. a) Im Vordergrund standen — begreiflicherweise — jene Aufgaben, die sich aus der Gegenwart stellen. Der Geschichtsunterricht soll das Verständnis unserer politischen Gegebenheiten vorbereiten; soll den Grundbestand an politischen Kräften und an Möglichkeiten einer politischen Ordnung erkennen lassen, der uns aus der Geschichte im Sinn der Aufforderung geblieben ist. also sich nicht aus der bloßen Gegenwartsanalyse ergibt; er soll den geschichtlichen Horizont aufklären, ohne den unsere gegenwärtige (politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle) Situation nicht begriffen werden kann und politische Fehlentscheidungen unvermeidlich sind. Diese Ziele hat vor allem Erich Weniger immer wieder als die dringlichsten dargestellt

Dazu gehört vor allem: die Kenntnis der revolutionären Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Raum; die Einsicht in die Ausweitung der europäischen Geschichte zur Weltgeschichte; das Verständnis unserer staatlichen Ordnung — auch innerhalb der internationalen Gefüge und Spannungen aus der Geschichte.

Diese Ziele können flächig horizontal verstanden werden und würden dann den Geschichtsunterricht „gegenwartskundlich" begründen vielleicht mit einem Ankratzen der obersten geschichtlichen Schicht Es bestünde, wenn sie allzu betont werden und also der Geschichtsunterricht über frühere Epochen nur noch als Rückverfolgen der in unsere Zeit mündenden Sinnlinie begriffen wird, die Gefahr eines nicht zu verantwortenden Verlustes an Geschichte bei der heranwachsenden Generation. Dagegen würden bald Einwände gemacht, so war der „Abschied von der bisherigen Geschichte" entschieden nicht gemeint gewesen, auch wenn Alfred Weber selbst dazu Anlaß gegeben hat, verzweifelten Anlaß.

Was also weiter? b) Geschichtliche Bildung entsteht nur aus einer Beschäftigung mit Geschichte, die Erinnerung zu stiften vermag Am eindrücklichsten ist diese Aufgabe von Reinhold Schneider formuliert worden die Sätze sollen hier stehen: „Dies ist in solcher Entschiedenheit vielleicht noch nicht gesagt worden: daß Ge-Schichtsbewußtsein,die Übertragung des Geschehenen in die Stunde eine sittliche Forderung ist, daß Sittlichkeit also, die sich auf das Personale und Soziale einschränkt, nicht genügt Wir kommen aus fernsten Zeiten, sind Söhne unzähliger Geschlechter, Erben dessen} was sie getan — und es ist Gebot, sie im Bewußtsein zu tragen Da eben der Mensch der in der Geschichte Stehende ist — zwischen der Sünde und dem Heil —, so kann er nicht sein, was er sein soll, wenn der durchwanderte Weg und die auf ihm schritten, ihm nicht gegenwärtig sind."

Geschichte ist Explikation des Humanum — des oft, ja meist sehr inhumanen Humanum. Man denkt an Luthers Satz: „Hic historiarum usus est, quod docent conscientias... sic in historia manendum est

Daraus ergeben sich zwei für unsere Frage wichtige Erkenntnisse:

1. Der fast unübersehbare Raum der Geschichte bietet unzählige Möglichkeiten dieses docere conscientias. Was ist in dieser Absicht erinnerungswürdig? Doch sicher längst nicht alles, was im Unterholz der Überlieferung vorfindbar ist; auch längst nicht alles, was die schlechterdings und grundsätzlich unbegrenzte Neugier der Geschichtswissenschaft anbietet. So stellt sich das Auswahlproblem. 2. „Erinnerung" entsteht sicher nicht durch die einfache Vermittlung von Wißbarkeiten, durch bloße Kenntnisse; der Geschichtsunterricht muß prägende Einsichten vermitteln, die gegenwärtig bleiben. Ob das gelingt, hängt sowohl von der Auswahl des Bedeutsamen wie von der Methodik des Unterrichts ab.

Unter diesen Gesichtspunkten ist zu bestimmen: a) Das Verhältnis von Geschichtsunterricht zu den anderen Fächern, in denen ebenfalls Geschichte präsent wird oder ohne deren Beitrag unsere politische Welt nicht voll verständlich gemacht werden kann, z. B. zur Geographie, jedoch nicht zu ihr allein.

b) Das Verhältnis von geschichtlicher und politischer Bildung.

c) Die zentralen Themen, welche die Auswahl bestimmen. Sie sind zu gewinnen aus „übergreifenden Fragen", für welche die Geschichte auf ihre Antworten zu befragen ist.

VI.

Die Fragen nach dem Verständnis von geschichtlicher und politischer Bildung hat nach 1948 die Diskussion um den Bildungssinn der Geschichte wohl am stärksten bestimmt. Es zeigte sich, daß die falsche Politisierung des Geschichtsunterricht nach 1933, also die Ideologisierung, nicht dadurch überwunden werden kann, daß die Frage nach den politischen Gehalten der Geschichte und nach dem politischen Auftrag des Geschichtsunterrichts abgeschnitten wird. Man kann die Erfahrung eines totalitären Systems nicht machen, ohne ein für allemal zu wissen, welche Bedeutung der übergreifenden, also politischen Ordnung für jeden einzelnen Menschen und für die Ordnungen, in denen er sein Dasein führt, zukommt. Das hat Folgen auch für das gesamte Bildungswesen. Befassen wir uns also nun mit dem politischen Bildungsauftrag der Schule.

In dem oben zitierten Brief an einen Universitätshistoriker steht der Satz: „Ich sage freudig ja z. B. zu einer Behandlung der gegenwärtigen deutschen Verfassungswirklichkeit wenn ich, daran anknüpfend, die Linien in die Vergangenheit zurückziehen kann, um so ein Gesamtbild der Entwicklung aufzuzeigen. Ich halte es dagegen aber für völlig überflüssig, z. B.den Aufbau einer Aktiengesellschaft zu erklären oder Probleme des Verkehrswesens in der Bundesrepublik zu besprechen." Ich zitiere den Satz, weil er in mehr als einer Hinsicht charakteristisch ist. Als Aufgabe des Historikers wird es bezeichnet, die Linien, welche die gegenwärtige politische Ordnung mit der Vergangenheit verbinden, zurückzuverfolgen. Das ist richtig. Als kennzeichnend für die Sozialkunde aber nennt er Aktiengesellschaft und Verkehrswesen, stellt also einen Popanz auf, den er — dann mit vollem Recht — abweisen kann.

Welche Kernauigaben sind der Sozialkunde gestellt?

a) Aufgabe der Sozialkunde im engeren Sinn ist es, die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart bei uns. ihre wirtschaftlich-sozialen, staatlich-rechtlichen und kulturellen Ordnungselemente aufzuzeigen, über die verschiedenen Gesellschaftssysteme der heutigen Welt zu orientieren und damit das Wirkungsfeld der Politik in den Blick zu geben. b) Eine weitere Aufgabe besteht darin, die Grundelemente einer politischen Anthropologie zu entwickeln: Welche Fähigkeiten und Tugenden sind gefordert, damit eine die einzelnen, die Intim-und Gruppenordnungen übergreifende, also politische Ordnung gedeihen kann? Dazu ist eine auf das Politische bezogene Besinnung über die Daseinsaufgabe des Menschen und Bürgers nötig. Materialien dazu liegen in der Geschichte in überreichem Maß bereit; sie sind zu ergänzen und zeitgerecht zu formulieren aus dem in a) genannten Bereich. c) In engstem Zusammenhang damit steht die Aufgabe, wesentliche Bedingungen und Formen menschenwürdiger, sinnvoller Ordnung des Zusammenlebens einsichtig zu machen, also die Aufgabe einer politischen Struktur-lehre. d) Politische Denkweise und politisches Handeln haben ein spezifisches Wesen, unterschieden vom privaten und beruflichen Denken und Tun. Es muß erschlossen werden. Ein Weg dazu führt über die politische Urteilslehre: Was ist nötig, damit begründetes politisches Urteil zustandekommen kann, ein Vorgang von sehr komplexer Art? Die Erfahrung davon und die Übung politischen Urteilens geschieht im kritischen Nach-, Mit-und Vorausdenken politischer Entscheidungen. Politische Urteilslehre — auf der Altersstufe von Primanern — setzt, richtig angelegt, nicht mehr und nicht weniger Fähigkeiten und Mühen voraus, als in den klassischen Fächern verlangt werden und als etwa zur Erarbeitung des Verstehens eines historischen Vorganges gefordert werden müssen. e) Das eigentliche Ziel von alledem ist nach Wilhelm Flitner, durch die Verbindung dieser Aufgabenbereiche „sehen zu lehren, was heute in der politisch-gesellschaftlichen Welt zur Aufgabe geworden ist" und „wo in dieser Situation die persönliche und kollektive Verantwortung liegt".

Daraus ergibt sich: Sozialkunde ist weder politische Schulung noch gar Propaganda, sie erhält ihre Ziele weder von Parteien noch von Regierungskoalitionen in Bonn und anderswo noch von „ideologischen Tendenzen". Sie dient der Politischen Bildung in der dem allgemeinbildenden Schulwesen angemessenen Weise. Ihre wissenschaftlichen Kategorien erhält sie von der Politikwissenschaft, also von der Universität; deren Übertragung in die Schule ist eine pädagogische Aufgabe wie die Über-Setzung aller wissenschaftlichen Disziplinen in Beiträge zur Allgemeinbildung. Daß sie ideologisch mißbraucht werden kann, teilt sie mit dem Geschichtsunterricht, Absusus autem non toilit usum.

Aus dem Bisherigen ist noch immer keine Klarheit darüber zu gewinnen, in welchem Maße und auf welche Weise der Geschichtsunterricht zum politischen Bildungsauftrag der Schule beiträgt, weswegen die Frage eines eigenen Faches „Sozialkunde und Politik" bis heute nicht in allen Bundesländern entschieden worden ist. Die Rahmenvereinbarung hat eine Antwort unausweichlich gemacht.

VII.

In den Jahren nach 1948 hat sich die Frage nach dem Bildungssinn der Geschichte vor allem in einer methodischen Diskussion artikuliert: der um den exemplarischen oder thematischen Geschichtsunterricht. Worum ging es dabei im Eigentlichen?

Der Mensch ist das geschichtliche Wesen; was er sein soll, könne er nicht sein, wenn der durchwanderte Weg und die auf ihm schritten, ihm nicht gegenwärtig seien (R. Schneider). Dieser Satz wird jedem Historiker teuer sein. Aber er erhält schwerste menschliche Fracht. Er steht in einem Buch, das in der geschichtsträchtigsten deutschen Stadt geschrieben worden ist, in Wien, die Schneider jahrzehntelang aus Geschichtsfurcht nicht zu betreten gewagt hat; in einem Buch, worin der Grundklang der Verzweiflung dessen schlechthin nicht zu überhören ist, der weiß, was Geschichte, insbesondere was europäische Geschichte ist; der weiß, daß Geschichte keine dauernde, feste Erde unter sich hat, sondern das chaotische Magma der vulkanischen menschlichen Natur; der erfahren hat, daß noch die großen politischen Entscheidungen nur flüchtige Verhältnisse schaffen konnten und können, daß Verhängnis und Bosheit in der Geschichte eher zu erwarten sind als die Fahrt auf glückhaftem Schiff; aus dessen letzter Zeit vor seinem Tod wir Äußerungen haben, die auf eine Flucht vor den historischen Wissenschaften in die Naturwissenschaften schließen lassen.

Wer Geschichte zu lehren unternimmt und diese Dimension des Geschichtlichen nicht kennt, sie nicht wenigstens ahnt, ist für dieses Geschäft schlecht ausgerüstet; den Bildungssinn der Geschichte jedenfalls kann er nicht vermitteln. Die Alten, denen die exempla moralia mehr galten als historisches Vielwissen, Beispiele menschlicher Verhaltensweisen, guter wie böser, waren der Wahrheit der Geschichte näher als wir, die wir durch den Historismus gegangen sind und oft nicht einmal mehr die minima moralia gelten lassen — qua Historiker nur, freilich.

Aus dem zitierten Satz die Folgerung zu ziehen, also müsse möglichst viel geschichtliches Wissen in der Form von Fakten vermittelt werden, möglichst viel materiale Einzelheiten, das jedenfalls hieße ihn in grotesker Weise mißverstehen.

Aber wieviel Faktenwissen braucht man, um jenes Wesenswissen keltern zu können, um dessen willen der Geschichtspädagoge sein Fach liebt und dessentwegen er darauf besteht, der junge Mensch, jeder junge Mensch müsse Geschichte lernen?

Aus dieser bedrängenden Frage ist die kaum mehr zu überschauende und schwer zu ordnende Diskussion um die Stoffauswahlfragen vor allem der Oberstufe entstanden, die den Geschichtsunterricht auf bestimmte Themen zu beschränken versucht, auf Quer-oder Längsschnitte, die Diskussion um'zentrale Themen, um den Begriff des Thematischen vor allem. In der Auswahlfrage wurde der schwer auflösbare Kem des Problems der geschichtlichen Bildung erkannt, in ihr artikulierten sich sowohl die pädagogische wie die didaktische wie die methodische Problematik eines modernen Geschichtsunterrichts — und dies in Deutschland nach der Diktatur, d. h. nach der Zerstörung des Restes an Reich, das uns aus dem 19. Jahrhundert noch überkommen war und das, sehe ich richtig, in wie abgeschwächten, ja denaturierten Formen immer, die geheime Mitte unseres Geschichtsunterrichts gewesen war.

Die unterrichtliche, die pädagogische Seite der Idee des Thematischen — sie ist, wie meine Bemerkung vom nun endgültig zerstörten Reich andeutete, eine Seite nur — drängte sich aus drei unabweisbaren Erkenntnissen auf: 1. Im Geschichtlichen selbst, also in der außer-philosophischen und außereschatologischen Sicht, gibt es keinen Standort, von dem aus das Ganze der Geschichte, auch nur der europäischen Geschichte zu überschauen wäre. Auch die Geschichtswissenschaft verfügt über keinen solchen Standort; Versuche, wie sie z. B. mein Lehrer Johannes Haller in , seinen „Epochen der deutschen Geschichte"

unternommen hat, sind hochverdienstlich, aber notwendigerweise unzulänglich, bei ihm noch dazu wegen seines sehr eindeutigen politischen Standorts, der aber nicht als zufällig und also vom wissenschaftlichen Gehalt seiner Darstellung ablösbar angesehen werden kann. Der Ausweg der chronologischen Darstellung, also des dem zeitlichen Ablauf folgenden Berichts, ist in der der Mittelstufe angemessenen epischen Verdichtung, also auch Auswahl, gangbar und unerläßlich. Aber die Bewältigung der Stoffmengen ist je länger je weniger gelungen; es ist wie im Gebirge: die Berge verdecken dem Schüler die Aussicht. Auch die gut gelungene Abiturleistung eines Schülers ist kein Gegenargument, denn was er in der Form der Prüfung aufweist, selbst wenn sie Hochform ist, ist immer nur Ausschnitt, und die Schule stellt nicht lest, was mit seinen Kenntnissen nachher geschieht;

darauf aber kommt es an, wie'in allen Fächern.

2. Der Zwang der Stoffbewältigung verführt nicht nur, sodern zwingt zum Eilvertahren, worin Genauigkeit, Konkretisierung, Individualisierung, historische Urteilsbildung notwendig zu kurz kommen, denn all das fordert Nachdenken, Einzel-und Gruppen-arbeit, Hinzuziehung von Quellen dann und wann und vieles andere mehr.

3. Das durchgängige chronologische Verfahren im Unterricht selbst vermag gewiß eine Menge von Wissen zu vermitteln, auch intellektuelle Schulung; die personale Erfahrung der Geschichte aber macht dieses Verfahren weithin unmöglich.

Verweilen wir ein wenig bei diesen Überlegungen, sie sind für alles Weitere von ausschlaggebendem Gewicht.

Der Begriff des Exemplarischen, im Geschichtsunterricht also des Thematischen, ist 1951 und 1952 in den Tübinger Gesprächen zum ersten Mal in seiner zentralen Bedeutung für die ganze Schulreform benutzt worden. Er ist von Martin Wagen-schein aus der Physik her entwickelt worden, also aus einem Fachbereich von ganz anderer Struktur als dem der Geschichtswissenschaft und nur mit größten Schwierigkeiten auf den Geschichtsunterricht übertragbar. Ein physikalisches Phänomen ist ursprüngliche Realität, anschaubar, isolierbar, nachprüfbar, beliebig wiederholbar;

es kann voll in die Schulstube geholt wer den Ein geschichtliches Ereignis ist unwiederholbar vorüber. Forscher und Schüler können ihm nicht real begegnen, es ist nicht reproduzierbar. Die Elementarerfahrung in den Naturwissenschaften steht der Geschichtsschreibung und dem Geschichtsunterricht nicht zu Gebot. An seiner Stelle stehen Quellen, also Zeichen nur, die gedeutet werden müssen und deren Entsprechungscharakter für das ursprüngliche „Phänomen" selbst zunächst fragwürdig ist.

Wer diesen fundamentalen Unterschied übersieht, wird der Andersheit der Geschichte nicht gerecht. Es gibt also keine exemplarischen Ereignisse und Situationen, die für andere eintreten können, weil sie von einer gleichen, gemeinsamen, verläßlichen Gesetzlichkeit gesteuert würden, -die französische Revolution kann nicht exemplarisch für die russische stehen. Ähnlichkeiten im Ablauf sind, streng genommen, keine Analogien; Lenin ist nicht Napoleon.

Wohl gibt es Ereignisse, Gestalten, die für diese Zeit, diese Epoche repräsentativ, also aussagekräftig, hochbedeutsam, bestimmend sind; aber sie bleiben absolut einmalig, Faktum schlechthin und wörtlich, und gerade ihre Bedeutsamkeit bleibt bezogen auf den Betrachter und seinen Standort; die geschichtliche Landschaft ändert sich und mit ihr auch die Sicht auf die selbst repräsentativsten Fakten.

Wofür also können geschichtliche Phänomene exemplarisch sein? Sehr selten für andere, das haben wir gesehen; vielleicht große Gestalten für kleinere derselben Epoche. Hilft uns die Erkenntnis von der Geschichte als Explikation des Humanum weiter? Ich fürchte, sie ist für die schulische Aufgabe zu hoch und viel zu allgemein, als daß daraus gültige und den Stoff verantwortbar beschränkende Ordnungsgesichtspunkte gewonnen werden können. Ein undifferenziertes Verständnis und eine nicht genügend differenzierende Interpretation würden zum naiven Geschichtsverständnis früherer Zeiten — Geschichte als magistra vitae — zurückführen und die Desillusionierung aller ideologischen Stilisierungen und die wache Sorge vor dem ständig drohenden propagandistisch-politischen Mißbrauch der Geschichte mindern, die wir der kritischen Historie verdanken. Die großen Leistungen, die weltgeschichtlichen Schurkereien, das gute und böse Gelingen, das hochgemute und tragische Scheitern, die kurze Zeit bestehenden Inseln von relativ freien, gerechten und friedlichen Ordnungen im Meer des ge-schichtlichen Unfriedens, Schicksale von Königen, Soldaten, Bürgern und Unfreien aller Grade — all das wird immer seinen Rang im Geschichtsunterricht haben. Aber ist mit all dem das geschichtspädagogische Unternehmen zu organisieren, aus der Vielfalt des Geschehens das geschichtliche Bildung Begründende auszuwählen, ohne dem Raritätenkastenprinzip zu verfallen oder zur Evolutionsidee oder zu kulturmorphologischen Ordnungsprinzipien zurückzukehren? Explikation des Humanum, docere conscientias und ähnliches sind Prinzipien des Geschichtsunterrichts, wichtige, unentbehrliche — aber mit ihnen kann man nicht thematisch aus der Fülle des geschichtlichen Stoffes auslesen, sie ordnen und überschaubar machen.

Weiter helfen wohl einige andere Gesichtspunkte, die aus den Überlegungen des vergangenen Jahrzehnts herauszuschälen sind.

Das Bedürfnis nach Ordnung und Über-sicht ist legitim; in Anbetracht der geschwundenen Zeit, die uns für den historisch-politischen Bereich zur Verfügung steht, ist es unabweisbar. Aber wichtiger noch ist es doch wohl die elementare Erfahrung von geschichtlichen exempla selbst zu vermitteln; also von Cäsar am Rubicon, von Heinrich IV. in Canossa, von Philipp II. im Escorial, von den Kemptener Bauern des Jahres 1525, von Lenin am 17. April 1917. Wer es versucht hat, weiß, wie-viel Zeit eine solche individualisierende Methode in Anspruch nimmt; weiß, daß Lehrplan und Lehrbuch, aber auch die mannigfachen Ordnungsschemata auf diese Weise gesprengt werden. Auf diese Weise — das heißt, indem man damit ernstmacht, daß Geschichte Feld menschlicher Entscheidungen ist-, daß das geschichtliche Faktum eben Faktum, also unwiederholbare Einmaligkeit innerhalb einer politischen Konstellation, eines durch frühere gelungene oder verfehlte Entscheidungen gebildeten Horizontes ist, den mit sichtbar zu machen zum Verstehen solcher Einmaligkeit hinzu-gehört. Das ist eine jedesmal äußerst komplexe Aufgabe, in der jagenden Eile unseres normalen Unterrichts kaum zu bewältigen. Es muß aber deutlich gesagt werden, daß Exempla solcher Art, entwickelt in die Tiefe und Breite des Geschichtlichen, also nicht nur in der situativen Einmaligkeit dargestellt, für die geschichtliche wie polilitische Bildung bedeutend wichtiger sind als das chronologische überfliegen, von dem in Kürze doch nur noch blasse Erinnerungen übrigbleiben, die zu keinem Bild von einem Ganzen zusammenschießen.

Solche Exempla erst vermögen die Ordnungen zu füllen, den Ausweis von umfassenden geschichtlichen, also gesellschaftlichen, staatlichen, wirtschaftlichen Strukturen zu rechtfertigen, ohne die das Exemplum leicht ortlos bleiben würde.

Gegen die Herausarbeitung solcher Strukturen, also von epochal bestimmten Ordnungsgefügen von Gesellschaft und Herrschaft, mag man einwenden, sie verführten zum Umgang mit ungefüllten Begriffen und provozierten Urteile, die sich erst auf der letzten Stufe der Forschung begründet geben ließen. Das mag sein, bedeutet aber nicht mehr, als daß eine pädagogische Aufgabe gestellt ist. Immer werden auf der Stufe der Schule nur Entwicklungen angelegt, sie hat propädeutischen Charakter;

man darf also auch nicht zuviel verlangen.

Die Existenz solcher Ordnungsgefüge ist für unsere Fragestellung in mehrfacher Hinsicht wichtig:

Ordnungsgefüge sind immer geschichtlich verständlich zu machen, sie bestimmen eine Epoche. Aber sie gehen in der Epoche nicht völlig auf, sondern übersteigen sie.

Es gibt nicht beliebig viele solcher Gefüge, ihre Elemente sind fast alle überall vorhanden; verschieden ist ihr jeweiliger Ort im Gefüge, ihre Gewichtigkeit, das Mischungsverhältnis sozusagen. Das herrschaftliche Element kann stärker ausgeprägt sein als das bruderschaftliche; herrschen können Personen, aber auch Körperschaften; der Herrscher kann als Stellvertreter Gottes, ja als selbst göttlich begriffen werden, er kann seine Legitimität anders begründen usw. Hier eröffnen sich Möglichkeiten der echten, wissenschaftlich erforschten, geschichtlichen Analogie, des differenzierenden Vergleichs. Hier sind politische Einsichten möglich, die — bei aller gebotenen Vorsicht — auch der Erhellung der gegenwärtigen Ordnung dienen und der in ihr waltenden Tendenzen. Ein wesentlicher Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Politischen Bildung hängt davon ab. ob diese in der Geschichte gebotenen Möglichkeiten zur Erkenntnis politischer Strukturen ergriffen werden. Ein dritter, äußerst wichtiger Begriff des Exemplarisch-Thematischen bezieht sich auf den Erkenntnisvorgang. Im Bereich der Geschichte bedeutet dieser Begriff, es müsse zur Erfahrung gebracht werden, was alles dazu gehört, damit geschichtliche Einsichl und aus ihr begründetes historisches Urteil zustandekommen, dies, indem anhand von Fragen in die Faktenzusammenhänge eingedrungen wird und sie dadurch in den Maßen des schulisch Möglichen geklärt werden. Das ist exemplarisch wirklich möglich; und es ist nur exemplarisch möglich, da das Ganze der Geschichte unmöglich auf diese Weise erarbeitet werden kann. Kursorisches Kennenlernen geschichtlicher Zeiträume ist erst dann ungefährlich, wenn diese Erfahrung eindrücklich gemacht worden ist. Man wird keinen ausschließenden Gegensatz zwischen dieser auf den historiographischen Erkenntnisvorgang bezogenen, thematisch vermittelten Erfahrung und dem kursorischen Verfahren etablieren dürfen. Doch muß klar sein — sozusagen ein geschichtspädagogisches Axiom —, daß das erste Verfahren den Vorrang hat. Daraus ergeben sich gewichtige Folgerungen für unsere Grundfragestellung.

VIII.

Sowohl die Frage nach der bestmöglichen Erreichung der Ziele des Geschichtsunterrichts, vor allem also die nach dem thematischen Unterricht, wie auch die Frage des Verhältnisses von geschichtlicher und politischer Bildung konkretisiert sich unterrichtlich am schärfsten in der Frage, ob ein zweiter kursorischer Durchgang durch die Geschichte unerläßlich sei. Sie ist bereits in den frühen fünfziger Jahren als die Entscheidungsfrage eikannt worden, aber die unterrichtsorganisatorischen Folgerungen sind ministeriell nur selten gezogen worden; das Wagnis schien zu riskant — wie sich auch jetzt zeigt, wo mit der Rahmenvereinbarung die Entscheidung praktisch, aber ohne daß darauf eingegangen worden wäre, gefallen ist. Gerade in diesem Punkt sollten wir uns jede Verketzerung der je anderen Meinung verbieten; beide Meinungen wissen gute Gründe für sich anzuführen. Es handelt sich also um einen klassischen Fall der Güterabwägung.

Rufen wir uns jene Argumente ins Gedächtnis zurück, die damals als gültig erkannt worden waren und es inzwischen nicht weniger geworden sind. 1. Alle unterrichtlichen Fragen der geschichtlichen Bildung sind Funktion des Bildes, das wir von der Geschichte haben. Ihre Abläufe sind kaum mehr zu überschauen oder doch unterrichtlich überschaubar zu machen — so, daß mehr erreicht wird als eben Faktenwissen am Leitfaden eines mit Hilfe der Entwicklungsidee geordneten Ganges durch die Geschichte. Die Frage nach dem also, was an bildenden Erfahrungen aus dem oft so rätselhaften, irrational erscheinenden, in keine Ordnung zu bringenden Geschehen zu gewinnen ist, hat den Rang primärer Dringlichkeit bekommen. Mit der Idee der Entwicklung, jedenfalls mit dem gebräuchlichen Begriff der Entwicklung, ist Geschichte nicht mehr zu fassen und ist diese bedrängende Frage nicht zu beantworten.

Nun ist heute Geschichte grundsätzlich Weltgeschichte geworden. Ranke schon hat das gewußt; man lese die Einleitungen zu seinen großen Werken über europäische Nationalgeschichten. Daher nahm er die Geschichte europäischer Völker bevorzugt dort auf, wo diese sich als Ausdruck des Universalen darstellte. Inzwischen sind uns neben unserer eigenen abendländisch-europäischen Geschichte die andern großen Weltkulturen und überdies die sogenannten geschichtslosen Völker in einer Weise nahe-gerückt, daß wir sie einfach nicht mehr übersehen dürfen. Deren Geschichte hat eine völlig andere äußere und innere Folge gehabt als die unsere; sie verliefen nach völlig anderen Gesetzen, standen unter ganz verschiedenen Normen. Sie bestimmen nun sehr viel deutlicher auch unsere eigene Welt mit, als es uns zum Anfang dieses Jahrhunderts zu sehen möglich war. Das hat einschneidende Bedeutung auch für unsere Erkenntnis von einzelnen Epochen der vergangenen europäischen Geschichte. Die großen Probleme der Ordnung der menschlichen Gemeinschaft im globalen Maßstab drängen an uns heran; nach Ortega sind wir ihnen gegenüber in der Lage des „Menschen des Paläolithikums gegenüber dem Blitz". Wer davon nicht Kenntnis nimmt, gerät mit dem besten Bemühen in den Raum des Provinziellen. Und es muß ausgesprochen werden, daß diese Gefahr, uns in der Schule im Windschatten der Geschichte zu halten, sehr groß geworden ist, allzu groß. Wir haben erfahren, daß Geschichte in jedem Augenblick der Veränderung anheim-gegeben ist, daß das elementare Magma von unter her alles Erreichte wieder zerstört oder doch fragwürdig macht. Geht uns, was etwa im sowjetzonalen Teil unseres Vaterlands geschieht, nur polemisch an? Welch ein Mißverstehen wäre dasl 2. Die Folge solcher Erfahrungen ist, daß das einzelne geschichtliche Ereignis für uns eine unvergleichlich viel größere Bedeutung bekommt als die Konstruktion eines gesetzlichen Ablaufs oder aber das Postulat eines die Geschichte erkennbar transzendierenden Geschehens. Ich habe viel Verständnis für eine Aussage wie die Staudingers

„Will man über die Bedeutung einzelner Epochen etwas aussagen, so ist dies nur möglich, wenn man die Gesamtheit der Geschichte zu erfassen sucht.. . Eine sinnvolle Stoffwahl ist nur möglich, wenn es eine Geschichtsphilosophie oder Geschichtstheologie gibt, deren Konzeption weltgeschichtlich ist... Der vom Christentum überzeugte Historiker kann also sicher sein, daß er weltgeschichtlich Entscheidendes erfassen wird, wenn er die Entwicklung der Christenheit in ihrem Ringen um Selbstverwirklichung und um Gestaltung der Welt zum tragenden Gedanken seines Unterrichts macht." Danach schlägt Staudinger als „die großen Blickpunkte für die einzelnen Epochen" sechs philosophisch und theologisch-biblisch begründete Einteilungsgesichtspunkte vor, um „echte Ordnung in den Wirrwarr der Stoffülle" zu bringen, „die uns heute in ihrer Unüberschaubarkeit zu erdrücken droht".

Wir brauchen hier nicht darüber zu diskutieren, ob diese Gesichtspunkte geschieh tswissenschaltlich begründbar sind; die Frage ist vielmehr, ob es möglich ist, mit solchen den geschichtlichen Verlauf interpretierenden Leitideen (der Sozialist, der Humanist, der Leninist, der Liberale werden andere vorzuschlagen haben) die Erfahrung des geschichtlichen Phänomens selbst zu vermittlen — abgesehen davon, daß wir dem Herrn der Geschichte nicht über dessen Schulter in seine Weltgeschichtskarte sehen können. Die Überlegungen von vor zehn Jahren und danach haben den bescheideneren, aber einen sowohl pädagogisch realisierbaren wie wissenschaftlich vertretbaren Ausweg darin gesehen, sich mit großer Intensität dem einzelnen Ereignis zuzuwenden. Was Hermann Körner darüber 1952 in der Akademie Calw gesagt hat, ist so klarsichtig und gewichtig in den Folgen für die künftige Gestalt des Geschichtsunterrichts, daß ich aus den eigenen Darlegungen zurücktreten und den Abschnitt nochmals vorlegen möchte: „Wir halten das Geschehen gewissermaßen an, ergreifen es am . Moment", nicht nur am historischen Moment im Sinne Rankes oder an den großen weltgeschichtlichen Persönlichkeiten, wie sie Hegel verstand, sondern überall dort, wo es selbst . zögert und nicht weiß, für welche Möglichkeiten es sich entscheiden soll" (Ortega). Unsere geschichtliche Arbeit ist dann begleitet von einem ernsten, nicht nur politischen, sondern ethischen und religiösen Fragen. Indem wir uns zunächst auf ein einzelnes Ereignis, auf eine Tatsachen-reihe konzentrieren, schließen wir uns von ihnen her den Zugang zum Geschichtlichen neu auf. Was in ernster fachwissenschaftlicher Einzelarbeit gewonnen worden ist, was als . Datum der Geschichte" im Sinne Droysens erkannt, in die Geschichts-und Kausalreihen, d. h. in die geschichtlichen Kategorien eingeordnet ist, enthüllt sich nunmehr in seiner inneren Gegenwärtigkeit. Es tritt aus dem geschichtlichen Raum zurück in den rein menschlichen. Was wir, dem Gang des Geschehens folgend, als Kontinuität feststellen, erscheint nunmehr als das Aushaltenkönnen des Menschen, ein . Hinhalten alles Besitzes", bis sich über das Geschehen hinweg das Einstige und das Zukünftige verständigt. Kontinuität als Forderung, als dem Menschen zugewandte Seite der Geschichte, kann nicht klarer umschrieben werden als mit den Worten Rilkes: , Die Wirklichkeit in sich groß und schwer werden zu lassen", bis man an , die Stelle gerät, wo man vielleicht noch nie gewesen war", um aus ihr , den großen Wahrheiten neue Gestalt zu geben". Dabei kann es sich um die heimlichen Wandlungen des Geistes handeln ebenso wie um die harte politische Wirklichkeit.

Es ist ja gerade das Erstaunliche, daß die soziologische Betrachtung der Geschichte, das Forschen nach den Bindungen und Abhängigkeiten des Menschen, in einem neuen Eingreifen der Transzendenz endet. Hinter aller Schicksalhaftigkeit des Geschehens öffnet sich uns der Raum, in dem Freiheit nicht nur möglich, sondern als Aufgabe und eigene Verantwortung gefordert und im Falle des Versagens als Schuld erlebt wird.

Wir brauchen nun gar nicht mehr die Forderung nach . Erziehung durch Geschichte'zu stellen, wir stehen einfach vor der Tatsache dieser Erziehung, eben dadurch, daß geschichtliche Arbeit auf dieser Stufe der Reflexion über sich hinausweist und ihre inneren Forderungen an den Menschen stellt"

Soweit Hermann Körner. Der Verzicht auf einen zweimaligen chronologischen Gang durch die Geschichte ist schon damals als unabweisbar erkannt worden, wenn diese Konzeption der geschichtlichen Bildung verwirklicht werden soll. Die stoffliche, kursorische überschau vermag den persönlichen Aufprall auf die harte geschichtliche Realität nicht zu vermitteln. Darauf aber kommt es an.

3. Freilich muß auch das Bedenken ernstgenommen werden: der Wegfall des 2. Durchgangs darf nicht zur Auflösung der Geschichte in Punktualitäten führen. Das Faktum in seiner unwiederholbaren Einmaligkeit steht trotzdem in Zusammenhängen vor ihm und begründet neue wirkende Zusammenhänge nach ihm. Das Faktum so zu zeigen, als ob es an und für sich wäre, würde eine der gefährlichsten Einbruchstellen für „gegenwartskundliche" Falschdeutungen öffnen — exempla terrent, aus überwundener, aber auch aus der allerjüngsten Zeit nach der Rahmenvereinbarung. Zum geschichtlichen Verstehen gehört die Distanzerfahrung, die Erfahrung, daß frühere Zeiten nicht einfach mit den eigenen, modernen Vorstellungen, dem heutigen Denken verstanden werden können. Geschichtliche Bildung wird der Geschichtsunterricht nur erzielen, wenn er sich in dieser Beziehung die äußerste Reserve auferlegt.

Auch das Rückverfolgen der Sinnlinien, die in unserer sozialen und politischen Ordnung münden, in die Vergangenheit, darf nicht sozusagen gradlinig, unkritisch geschehen.

Die jeweilige Unterrichtseinheit muß also so angelegt sein, daß von einem Faktum, von einzelnen Thesen und von Stoffkreisen aus sorgsam das Bild eines Ganzen gewonnen wird, also z. B. einer Epoche oder einer Revolution. „Bild" tendiert immer zu einem Ganzen.

Auch diese Forderung ist von Hermann Körner aus den niedersächsischen Bemühungen schon 1952 vorzüglich formuliert worden: „Die Arbeitsaufgaben gehorchen einer doppelten Fragestellung: sie sind so gewählt, daß man von ihnen jeweils in die innere Struktur des zu behandelnden Zeitabschnitts eindringt, zugleich aber auf die von der Gegenwart her gestellten Frage trifft. Das Verstehen steht am Anfang und führt zu einem lebendigen Heraufheben der Vergangenheit. Dann erst schreitet der Unterricht über das Vergleichen und Urteilen zu dem persönlichen Befragen der Geschichte weiter, um zu erfahren, was von den einst wirksam gewesenen Kräften uns noch zugehört. Geschichte als echte Vergangenheit und zugleich als virtuelle Gegenwärtigkeit, d. h. auf die Ebene der Gegenwart projiziert, beides veranschaulicht an einer besonderen . geschichtsträchtigen Epoche'(Fr. Meinecke), so etwa könnte man . . . die Aufgabe des Oberstufenunterrichts umreißen, wobei wir bescheiden hinzufügen wollen: das eine wird Unterrichtsgegenstand. das andere Unterrichtsprinzip, d. h. Angelegenheit des Lehrers sein" Diesen Ausführungen ist nur hinzuzufügen, daß Hermann Körner bereits 1952 feststellt, wir seien mit unseren Erkenntnissen seit längerem viel weiter, als unser Geschichtsunterricht jetzt ausweise.

Unsere Darstellung hat uns über die Frage des einmaligen Durchgangs hinausgeführt. Wenden wir uns also nun weiterführenden Überlegungen zu.

IX,

Aus dem Bisherigen ist wohl klar geworden, daß die Diskussion des vergangenen Jahrzehnts, aus der nur wenige Zitate angeführt werden konnten, über die ich also den Weg des reflektierenden Berichts gewählt habe, zu der Erkenntnis geführt hat, daß das bloß chronologische Verfahren für die Oberstufe nicht ausreicht.

Wie sehen die Vorschläge und praktischen Verwirklichungen schon damals aus, die das bloß chronologische Verfahren ersetzen sollen? Auf einen Nenner gebracht: dem Geschichtsunterricht müssen wesentliche Fragen zugrun-degelegt werden, Fragen, deren Wesentlichkeit dadurch bestimmt ist, daß sie nicht nur der antiquarischen Neugier und der distanzierten wissenschaftlichen Erkenntnis dienen, sondern auch aus dem Bedürfnis nach Erhellung unseres geschichtlichen Horizonts und nach dem politischen Wesenswissen kommen, von dem gesprochen worden ist. Die einfachste Formel dafür hat wohl Ernst Wilmanns geliefert:

„Wenn aber darin, in dieser auf uns heute bezogenen Gültigkeit vergangener Ereignisse die Bedeutsamkeit liegt, so gliedert sich der Rhythmus der Geschichte in vollkommen anderer Weise, als es der vom antiquarischen Denken genährte Historismus zu erkennen vermag, und für den Unterricht öffnen sich neue Möglichkeiten . , . Wenn auf einige Gegenstände das helle Licht gegenwartsbetonter Beziehungen fällt, andere dagegen, die für das Bewußtsein unserer Tage, für ihre Nöte und Aufgaben geringeres oder gar kein Gewicht haben, im Schatten bleiben, so beginnt sich hier ein Ausleseprinzip durchzusetzen, das allerdings zu dem rein fachwissenschaftlichen in einer deutlichen Spannung steht. Die Absicht des Lehrers, der sich zu ihm bekennt, hat nicht in der Vergangenheit ihren Ursprung, nicht in dem Verlangen zu wissen, wie es eigentlich gewesen, ist nicht von dort her gedacht. Sie hat ihren Quellengrund in dem Leben des eigenen Tages, in dem pädagogischen Willen, die Jugend zum Verständnis ihrer eigenen Zeit und ihres eigenen Selbst zu führen. Von dort her befragt sie die Vergangenheit auf ihre Aussagekraft für uns. Dann wird die Geschichte und die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll zum pädagogischen Mittel des erzieherisch bildenden Zweckes"

Daß die aus einer solchen Zielbestimmung des Geschichtsunterrichts zu gewinnenden, oft weitgespannnten Themen ihre besonderen Gefahren haben, darauf ist häufig hingewiesen worden. Gemeistert werden können sie nur, wenn korrigierend, auf die Methode hin, bedacht wird, was oben über die unterrichtliche Bedeutung und Behandlung des einzelnen Ereignisses gesagt worden ist, und wenn man sich gegenwärtig hält, daß die Ergiebigkeit der von Wilmanns geforderten Befragung der Vergangenheit keineswegs von der zeitlichen Nähe dieser Vergangenheit zu unserer Gegenwart abhängt. Was die athenische Polis anlangt, so wird jeder Lehrer einer Bemerkung von Ludwig Dehio zustimmen: Unsere Lage gewinnt „manche anschauliche Bestätigung bei einem vergleichenden Blick auf die Antike, wie er so oft schon unser Auge für die eigene Problematik geschärft hat“ und durch den „unsere Phantasie angespornt wird, die spezifischen Gefahren unserer Lage im anschaulichen Spiegelbilde deutlicher zu erblicken, ihren Generalnenner zu erkennen“ Was aber die Gefahr der ideologischen Politisierung der Vergangenheit betrifft, so wird es genügen, sie zu sehen und sich dann an Barraclough’s Wort zu halten: „Wenn es dem Sorgfältigen, dem Verständigen, dem Hochgebildeten mißlingt, eine Lehre äus der Geschichte zu ziehen, wird es der Gewissenlose und Unberufene für ihn tun"

Mit der Gestaltung eines Unterrichts auf Grund von übergreifenden Fragen hängt das Problem des Ineinandergreiiens von Fächer-gruppen zusammen.

Schon 1952 ist es klar ausgesprochen worden, daß solche „innere Zielsetzung des Unterrichts . . . über das Fach hinausreicht und auf einen organischen Aufbau der Bildung zustrebt", zugleich aber auch, daß dies „in den heutigen Formen unserer Schule nur unter großen Schwierigkeiten und mit äußerster Arbeitsanspannnung des Lehrers zu verwirklichen ist" Die Forderung, das Nebeneinander der Fächer zu einem stärkeren Ineinander zu entwickeln und damit der Verfächerung unseres Bildungswesens, der Zerstörung der Engkyklios Paideia entgegenzuarbeiten, ist dennoch nicht fallen gelassen worden. In ihr entscheidet sich, ob der wissenschaftlich gebildete Lehrer jene Souveränität gegenüber den stofflichen Deposita seiner Wissenschaft gewonnen hat, die ihn befähigt, nicht nur Wissenschafter, sondern eben Lehrer zu sein. Dennoch: die aus einem solchen Zusammenwirken sich ergebenden Schwierigkeiten müssen bedacht werden; wer sie nicht sieht, setzt sich dem Verdacht aus, mindestens den je anderen Wissenschaftsbereich nicht voll zu nehmen und damit gerade die Fruchtbarkeit der gestellten Aufgabe zu verfehlen.

Inzwischen hat der hochverehrte frühere Vorsitzende des Philologenverbandes, Walter Dederich, sich zu diesem Fragenbereich mit einigen Thesen geäußert, die sich zu zitieren lohnt, da säe mit großer Besonnenheit die Lage kennzeichnen

„ 1. Die Forderungen der Gegenwart an die Höhere Schule richten sich auf eine wissenschaftliche Grundbildung aus allen Bereichen und auf eine geistige und charakterliche Entwicklung der Schüler, die eine Hochschulreife bewirken. 2. Alles Enzyklopädische ist dabei auszuschalten und die Isolierung der Fächer durch ihre Zuordnung zueinander unter einem Bildungsziel zu überwinden. Jede Fächergruppe ist zu erhalten.

3. Zusammenfassungen wie die „Gemeinschaftskunde" werden erst ihren Sinn bekommen, wenn man sich der Themen bewußt ist, die eine vereinte Behandlung verlangen."

X.

Der stärkste Einwand gegen den thematischen Unterricht und gegen den Wegfall des zweiten Durchgangs ist im Namen der 'Wissenschaftlichkeit der Höheren Schule erhoben worden.

Dieser Einwand ist von den pädagogischen Autoren des vergangenen Jahrzehnts sehr ernst genommen worden. Ernst Wilmanns hat 1952 schon festgestellt: „Unverrückt aber bleibt der Anspruch an die Wissenschaftlichkeit des Unterrichts" und nachdrücklich auf die Gefahr hingewiesen, daß die pädagogischen Ziele als Vorwand benutzt werden, um ganz andere Ziele zu erreichen, die „mit der Geschichte ebensowenig etwas zu tun haben wie mit einer an der Erkenntnis gegenständlicher Wirklichkeiten ausgerichteten und die Entfaltung menschlicher Persönlichkeiten bezweckenden Bildungsarbeit, dafür umso mehr mit Weltanschauung-und Augenblicks-politik". Es bedürfe der schärfsten Wachsamkeit der Lehrer gegen sich selbst und gegen die Neigung der Schüler, damit der Fehler auch in feineren Formen vermieden wird. Trotz dieser Warnung bestand in allerjüngster Zeit wahrhaft Veranlassung genug, Professor Herzfeld zu dem bitteren Satz zu bewegen: „Aber man wird doch sagen müssen, daß wenn ein Weg gefunden werden sollte, um Geschichte als Bildungswert und die Methode des pädagogischen Gebrauchs von historischen Analogien — noch dazu als Instrument politischer Bildung! — hoffnungslos ad absurdum zu führen, so ist es dieser Weg überstürzt aufgestellter und von einer seltenen Blindheit gegenüber jedem ernsten historischen Bildungswert gekennzeichneter Beispielreihen" So ein Gelehrter, der, vergleichbar Hermann Heimpel, welcher sehr früh für den thematischen Unterricht eingetreten ist, den Reformideen recht offen gegenübersteht.

Worin erweist sich die geforderte Wissenschaftlichkeit dieses Unterrichts?

Nicht in einer möglichsten Angleichung an die Universität, ein Schulfach ist keine Universitätsdisziplin im Kleinformat; es steht unter anderen Voraussetzungen, muß altersstufen-gemäß, muß bildhafter sein; die Ausgangspunkte schon sind verschieden, die Aufgaben und Ziele sind anders und daher auch die Wege. Das zu sehen, fällt dem wissenschaftlich geschulten, in wissenschaftlicher Kritik geübten Lehrer nicht immer leicht; er entfernt sich ungern von dem ihn sichernden wissenschaftlichen Verfahren, obwohl er dadurch der Gefahr verfällt, sich vom Stoff das Gesetz vorschreiben zu lassen, statt daß er über den Stoff verfügt und ihn nach pädagogischen Gesichtspunkten wertet und formt. Der Gestaltungsauftrag ist das andere, das er normalerweise auf der Universität nicht in den Blick bekommen hat. Es ist aber nicht allein Sache der Geschichtswissenschaft, „Gestalt und Gegenstand des Geschichtsunterrichts zu bestimmen. Der Geschichtsunterricht, der sich seine relative Selbständigkeit gegenüber der Geschichtswissenschaft nicht angelegen sein läßt, steht in der dauernden . . . Gefahr des Enzyklopädismus; von der Geschichtswissenschaft kann er ja die Kategorien der Stoffauswahl nicht beziehen. Diese können ihm nur von dem geschichtlichen Horizont zukommen, der sich mit jeder Generation wandelt; keiner Generation ist ja die Fülle geschichtlicher Erkenntnis und geschichtlichens Wissens echt zur Verfügung, nämlich als produktives Wissen, nicht als präsenter Stoff (Historismus). Weniger hat recht, wenn er die These aufstellte, „das berühmte, aller Deutung und Beurteilung vorgegebene Tatsachengerüst gibt es nicht, auch nicht in der Form eines festen Kanons der Geschichtszahlen, an die die Methodiker des Geschichtsunterrichts uns so gerne glauben machen möchten, und noch we-niger in eindeutigen Entwicklungsreihen, deren Gesetz offen zutage träte'"

Ein weiteres kommt hinzu: der Geschichtsunterricht ist nicht in erster Linie auf die künftigen Studenten der Geschichtswissenschaft anzulegen, historische Propädeutik ist nicht seine wichtigste Aufgabe. Den künftigen Geschichtsstudenten wird die Universität das Nötige vermitteln können, wenn sie sich ein überlegtes Vorlesungsangebot angelegen sein läßt und nicht ganze Epochen durch Jahre vernachlässigt. Der Geschichtsunterricht hat vielmehr jenes Maß von geschichtlichem Wissen und von Erkenntnis der geschichtlich wirksamen Kräfte zu vermitteln, das den künftigen Ingenieur, den Arzt, den Naturwissenschaftler usw. befähigt, seine eigene Zeit in ihrer geschichtlichen Tiefe zu begreifen und von dem seltsamen Wesen Mensch mehr zu erfahren, als die bloße Gegenwart dafür hergibt.

Die geforderte Wissenschaftlichkeit besteht aber ebensowenig in geschichts-oder kulturpolitischer Überhöhung der Geschichte, für die der Heranwachsende nur sehr eingeschränkt reif ist.

Die Wissenschaftlichkeit dieses Unterrichts erweist sich vielmehr in folgendem: l. Der Blick muß, mindestens beim Lehrer, stets auf dem Erkenntnisvorgang selbst gerichtet bleiben. Die Kontrollfunktion dieser Blickrichtung ist unentbehrlich.

2. Die Beschäftigung mit welchem (geschichtlichen, politischen, geographischen, ideellen)

Phänomen immer muß zur Erfahrung führen, was alles zu seinem Verstehen nötig ist. Diese Erfahrung ist ein Schutz gegen die politische Simplifizierung, wie z. B. im östlichen Terminus „Sklavenhaltergesellschaft", Simplifizierungen, die es aber auch auf gut demokratisch gibt.

3. Die Wissenschaftlichkeit besteht weiter in der Vermittlung dessen, was oben die Distanzerfahrung genannt worden ist und was Ausdruck der unvertauschbaren Einmaligkeit eines geschichtlichen Ereignisses oder einer individuellen Entscheidung ist.

Allerdings ist zu sagen, daß auch die Darstellung der gegenwartskräftigen Nähe und Aktualität oft weit entfernter geschichtlicher Ereignisse und ihres noch heute wirksamen Aufforderungscharakters keineswegs un-wissenschaftlich ist. 4. Der Unterricht ist wissenschaftlich, wenn er die Standortgebundenheit des Betrachters und also die Tatsache der Perspektivität jedes Geschichtsbildes sichtbar macht oder doch nicht aus dem Auge verliert.

5. Er ist wissenschaftlich, wenn er nicht mit abstrakten Begriffen operiert, sondern die Einsicht herbeiführt, daß solche Begriffe erst verwendet werden können, wenn man weiß, wie sie geworden sind, wenn sie also aus konkreten, einzelnen „Bildern" zusammenschießen. Daher die Forderung nach intensiver Zuwendung zum „Moment". In diesem Sinne ist unser heutiger Geschichtsunterricht oft höchst unwissenschaftlich:

„Denn nur so lange ist geschichtliches Wissen von Wert, wie es sozusagen flüssig bleibt, unnützer als Gerümpel wird es, wenn es erst einmal im Kopfe einfriert und hart wird" Ich erwarte mir also von dem geforderten Unterricht keinen geringeren, sondern einen höheren Grad von Wissenschaftlichkeit. Allerdings wird es mir unvergeßlich bleiben, wie Ed. Spanger 1952 beim Tübinger Gespräch, das von der Rahmenvereinbarung als Pate beansprucht werden kann, sich schließlich zu Wort meldete und meinte, zwar stimme er dem Gesagten voll zu; doch müßten wir wohl erst die Professoren der Universität zu einem Studium Generale einberufen. Aus diesem Ausspruch für Professoren werden wir die nötigen Folgerungen für die Lehrerschaft wie für die zu erarbeitenden Pläne ziehen müssen.

XL

Einige Bemerkungen zur Zeitgeschichte schließlich sind in diesem Zusammenhang unerläßlich. Auch „Zeitgeschichte" ist Geschichte und darf grundsätzlich nicht anders behandelt werden als fernere Epochen der Geschichte. Sie hat den Vorzug, daß für sie nicht nur geschriebene Quellen zur Verfügung stehen, sondern Zeitgenossen, die befragt werden können — ein Teil von uns gehört selbst zu ihnen; sie hat (für den Geschichtsunterricht) den Nachteil, daß beide „Quellen“ noch nicht erschöpft sind. An Vorzug und Nachteil kann das Spezifische der historischen Methode besonders deutlich gemacht werden.

Hans Herzfeld ist zuzustimmen, wenn er sagt, daß zur Zeit die zulässigen Proportionen zwi-sehen dem Bildungswert der geschichtlichen Epochen und dem Ausmaß, das der Zeitgeschichte hierbei eingeräumt werden könne, in einem erschreckenden Maß verloren zu gehen drohten. Politische Bildung wird heute soga weithin mit Zeitgeschichte ineinsgesetzt. Hermann Heimpel hat vor dem „Schrumpfen des Bewußtseins historischer Kontinuität“ gewarnt. Die Überbetonung der Zeitgeschichte arbeitet diesem Schrumpfungsprozeß kaum weniger wirksam vor als totalitäre Geschichtsauffassungen. So wichtig für die Erhellung unseres geschichtlichen und also politisch gültigen Horizonts auch die Zeitgeschichte ist — wenn das für sie gültige Maß verloren ginge, hätten die Hitler posthum gesiegt, denn dann wäre diese Beschäftigung nur mehr Reaktion, Rückschlag überwundener, besser: zu überwindender totalitärer Geschichtsbilder, von der Generation der Väter und Lehrer im Negativ auf die unschuldige Generation der Söhne und Töchter übertragen und dadurch — im Negativ — dauerhaft gemacht.

Eine Schwierigkeit besteht heute darin, daß einer Überbetonung der Zeitgeschichte offensichtlich anderswo noch immer jene Vernachlässigung gegenübersteht, die sich mit einem falschen Wissenschaftsverständnis begründet und häufig aus der Scheu vor der eigenen Zeitgenossenschaft kommt. Gewisse Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre machen sogar deutlich, daß die Diskussion um den Reichstagsbrand und Bücher wie das von Hoggan diese Scheu wieder gefördert haben. Die publizistische Arbeit z. B.des Instituts für Zeitgeschichte nimmt dieser Abwehr die Berechtigung; aber dazu gehört auch, daß diese Publikationen gelesen werden.

XII.

Ziehen wir aus dem Vorgetragenen die Folgerungen. 1. Geschichtsunterricht und Sozialkunde sind je eigenständige Bereiche, in Gegenstand, Ziel und Methode klar unterscheidbar. Das eine kann nicht einfach für das andere eintreten. Insbesondere wird der Historiker — qua Historiker, wohlverstanden; qua Pädagoge könnte er sich vielleicht zu einer weitergehenden Bereitschaft entschließen — Halt machen, wo die Aufgabe der Sozial-kunde beginnt, und das ist nicht nur zu respektieren, sondern ist vom Wesen und von den Grenzen seiner Wissenschaft her legitim.

Keiner der beiden Bereiche ist aus dem Bildungszusammenhang auszuschließen, den die Schule, gar die Primen der höheren Schule darstellen. Sie begründen sich sowohl aus der Bildungsaufgabe gegenüber dem einzelnen Schüler, der zum Verständnis seiner Welt in ihrer Breite und Tiefe geführt werden muß, wie aus der Verantwortung, welche die Schule gegenüber Gesellschaft und Staat hat.

2. Die beiden Bereiche berühren, ja überschneiden sich vielfach. Sehr deutlich wird das an den Aufgaben, die politische Anthropologie und politische Strukturlehre genannt worden sind; jedoch nicht nur an ihnen. Sie sind aufeinander angewiesen, wenn Übereinstimmung darüber besteht, daß Geschichte nicht (nur) das antiquarische Interesse anruft und Sozialkunde sich nicht in Gegenwartskunde erschöpfen kann. 3. Dieses Aufeinanderangewiesensein erhält einen besonderen Charakter für jene Epochen der Geschichte, die nicht als abgeschlossen gelten können, sondern die in besonderer Weise auf unsere Zeit wirken und unseren Horizont mitbestimmen. Vor allem also für die Zeit ab 1776 und für die Zeitgeschichte. Was in VI. a. —e. dargestellt worden ist, ist ohne die Einsichten und Kategorien, welche die Politikwissenschaft zur Verfügung stellt, nicht zu erfüllen.

4. Wenn Geschichte und Sozialkunde sowohl eigenständige Bereiche wie aber doch mannigfach aufeinander angewiesen sind, so wird nach einem unterrichtlichen Weg gesucht werden müssen, der beiden Feststellungen entspricht. Wenn weder die „Politisierung" des Geschichtsunterrichts noch die „Historisierung" der Sozialkunde wünschbar und zu vertreten sind, so wird es erstens darauf ankommen, jene Fragen zu bestimmen, die ihr Zusammenwirken verlangen;

das werden zugleich jene sein, die pädagogisch besonders fruchtbar sind. Es wird darauf zu achten sein, daß die facheigenen Methoden nicht verwischt werden. Die Beiträge der beiden Disziplinen zu einer Unterrichtseinheit werden um so dienlicher und schlüssiger sein, je strenger die spezifischen Methoden geschieden werden. Drittens: jede Künstlichkeit in der Organisation welcher Formen konzentrierenden Unterrichts immer muß vermieden werden. Für nur fachlich zu behandelnde Gegenstände oder Teile von Unterrichtseinheiten muß die benötigte Zeit zur Verfügung stehen. 5. Der Geschichtsunterricht dient auch der Politischen Bildung. Der Bildungssinn der Geschichte erschöpft sich jedoch nicht darin die Geschichte sagt mehr aus als nur Politisches. Sie ist auch Vorgeschichte der Gegenwart, aber keineswegs dies allein. Die Begegnung des jungen Menschen mit Geschichte als solcher, und zwar in der dafür bildsamsten Zeit der Primen, muß gesichert bleiben. Daraus ergibt sich, daß eine Mediatisierung der Geschichte und des Geschichtsunterrichts unter die „Gemeinschaftskunde" vermieden werden muß.

Das heißt jedoch nicht, daß der Geschichtsunterricht und andere Fächer nicht stärker als bisher in der Weise einander zugeordnet werden können, daß sie an gemeinsamen Aufgaben, zur Beantwortung übergreifender Fragen, zusammenwirken. Ihr sachliches Eigengesetz und ihre spezifischen Methoden aber dürfen die an solchen Unterrichtseinheiten beteiligten Fächer nicht aufgeben. Eine Politische Bildung, welche mit dem Aufgeben der Eigengesetzlichkeit der Wissenschaftsbereiche erkauft werden müßte, würde unter Ideologieverdacht geraten müssen. Die Problematik, welche die Rahmenvereinbarung erzeugt hat, kommt also gerade aus der Sorge um die Aufgabe der Politischen Bildung.

Das heißt auch, daß Geschichte und Geschichtsunterricht kein Monopol auf die Politische Bildung beanspruchen. Geschichte und Geschichtsunterricht öffnen sich der Politikwissenschaft (die Historiographie vermag über das Verhältnis dieser beiden Disziplinen wesentliche Erkenntnisse zu vermitteln), die derGeschichtswissenschaft wie dem Geschichtsunterricht für die Politische Bildung fruchtbare Fragen zuführen kann; aber es muß auch in den Primen die Eigenständigkeit beider Bereiche geachtet werden; methodisch im Zusammenwirken zur Erhellung übergreifender Fragen, aber auch für die Erfüllung derjenigen Aufgaben, die ein Zusammenwirken nicht fordern oder nicht dulden.

Geschichte ist Kontinuität; Kontinuität kann jedoch auch thematisch dargestellt und eingebracht werden, nicht nur durch chronologische Behandlung — nach vielen Erfahrungen in den Primen sogar besser auf thematische Weise.

XIII.

Mit den vorgetragenen Überlegungen sind wohl die wesentlichen Voraussetzungen umschrieben, unter denen der neue historisch-politische Bereich der Primen grundsetzlich bejaht werden kann. Es bleibt noch, einige weitere Folgerungen zu nennen.

I. Die Umgestaltung der Primen hat weitgehende Folgen. Der größte Teil der Lehrerschaft ist nicht vorbereitet. Schon für das Studium hat die Reform einschneidende Folgen, die gesehen und in die Wege geleitetwerden müssen. Richtig und zwingend wäre es daher, zunächst nur Ubergangslösungen vorzusehen.

Allerdings setzt auch eine Ubergangslösung die Vorstellung von der künftigen gültigen Gestalt voraus. Daran wird gearbeitet. Die Ergebnisse sind zu erwarten.

Elemente einer Ubergangslösung — die nicht zu kurz angesetzt werden darf — wären:

a) In Schulen, deren Lehrkörper zustimmt, wird die Möglichkeit geboten, ein oder zwei Tertiale in jeder der beiden Klassen nach den Grundsätzen der Rahmen-vereinbarung zu arbeiten. In den anderen Tertialen werden die Fächer getrennt unterrichtet, jedoch so, daß die wachsende Zuordnung der Fächer aufeinander in den Blick genommen wird. b) Die außerordentliche Mehrarbeit, die den Lehrern zugemutet werden muß, wird ermöglicht durch Senkung der Pflichtstundenzahl für die beteiligten Oberstufenlehrer. Es ist utopisch, ohne diese Maßnahme an die Verwirklichung der Rahmenvereinbarung gehen zu wollen und ihr Gelingen zu erwarten. c) Regelmäßige Konferenzen der beteiligten Lehrer müssen zur Pflicht gemacht werden; sie sind in die Pflichtstunden-zahl einzurechnen. Dies deswegen, weil noch auf lange Sicht der eine Lehrer, der „Politische Weltkunde" zu erteilen imstande ist, fehlen wird; der historisch-politische Bereich wird von zwei Lehrern, da und dort von dreien vertreten werden müssen. Und diese Lehrer werden nicht einmal nur alternatim unterrichten können, sondern in mehreren Stunden in der Form des Colloquiums d) Die Reform der Primen hat einschneidende Folgen für die O II und die Mittelstufe. Sie müssen genau bedacht werden.

Dabei wäre es utopisch und mittelstufen-unangemessen, zu erwarten, daß vom Unterricht dort die sogenannten Mate-rialien bereitgestellt werden, mit denen dann die Primen fröhlich umgehen können. Der neue Primenunterricht wird von den Schülern nicht weniger, sondern beträchtlich mehr verlangen, nicht nur intellektuell, was ja beabsichtigt ist, sondern auch an häuslicher Arbeit.

e) Diese Tatsache fordert, daß Überlegungen angestellt werden müssen, wie das künftige Lehrbuch für die Oberstufe auszusehen hat. Keinesfalls thematisch oder exemplarisch, denn der geforderte Unterricht muß den Lehrern viel mehr Freiheit lassen als bisher. Das Lehrbuch soll dem Schüler helfen, sich über den kontinuierlichen Gang der Geschichte sofort und leicht zu orientieren. Es soll nicht durch seine Darstellung die Elemente vorweg-nehmen, aus denen eine thematische Unterrichtseinheit bestehen wird. Das hieße den Unterricht um wertvollste Erfahrung bringen und ihn bildungsunwirksam machen.

Das heißt allerdings, daß auch der Lehrer das Geländer des Lehrbuches nicht mehr in der alten Weise benutzen kann. f) Es ist zu überlegen, ob ein Themen-Kanon geschaffen werden muß oder nicht.

Viele Gründe sprechen für die Lösung, ein Angebot vorzulegen, das begrenzte Auswahl läßt und wenigstens doppelt so viele Tertialaufgaben enthält, als es Tertiale gibt, nämlich fünf. Dazu wäre nötig, einen Katalog von Gehalten zu erarbeiten, auf die nicht verzichtet werden kann. Diese Gehalte müssen so beweglich formuliert werden, daß in den fundamentalen Unterrichtseinheiten das eine Mal mehr die historische, das andere Mal mehr die politische und die geographische Komponente hervortreten kann.

g) Für die Umgestaltung auf lange Sicht werden auch die Maßnahmen bedacht werden müssen, die sich für die Vorbildung der Lehrer aufdrängen: die Errichtung weiterer Lehrstühle (vor allem politikwissenschaftlicher), zusätzliche Bestimmungen in den Prüfungsordnungen, Berücksichtigung der neuen Aufgaben der Primen in den Studienseminaren und anderes mehr.

2. Die Ausführung liegt bei den Ländern — das ist zu respektieren.

Die Verschiedenheit der Länderlösungen hat ihren Grund durchaus nicht allein in der Verschiedenheit der politischen und schulpolitischen Konstellation dort, sondern auch in der verschiedenen Bewertung der objektiven Argumente pro et contra, in der Tatsache, daß einige Voraussetzungen nicht gegeben sind und dieser Mangel überstiegen werden muß, wenn das Wagnis der vollen Realisierung der Rahmenvereinbarung eingegangen wird.

Es gibt Gründe, heute verschiedene Regelungen zuzulassen und die Ergebnisse der Konkurrenz der verschiedenen Regelungen abzuwarten.

Eine wichtige Folgerung aus dem Vorgetragenen ist, daß der Lehrerweiterbildung stärkstes Gewicht beigemessen werden muß. Diese Erkenntnis ist die schlichte Folgerung aus der Tatsache, daß wir uns in einer Epoche der Veränderungen und ihrer ständigen Beschleunigung befinden, in der Phasenverschiebungen zwischen Bildungswesen und Zeiterfordernissen, wie es sie zu allen Zeiten gegeben hat, gefährlich werden müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Form und mithin auch die Sprechweise des Vortrags ist für den Druck beibehalten worden. Die Veranstaltung der Bundeszentrale für Heimat-dienst und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing war eine Arbeitstagung; dadurch war auch der Stil des Sprechens bestimmt.

  2. Vom 10 Dezember 1961, veröffentlicht in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1962, S. 69

  3. Vgl Felix Messerschmid. Das Problem der Planung im Bereich der Bildung Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen IV, München 1961

  4. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1951 Seite 671

  5. Der öffentliche Streit um die Gemeinschaftskunde Kulturpolitischer Kommentar Nr. 103, 17. März 1962, Manuskript.

  6. Vgl Erich Weniger, Zur Frage der Richtlinien.

  7. Reinhold Schneider, Winter in Wien Freiburg 1961. Seite 156

  8. Kommentar zu Jesaia 13, 1— 22.

  9. Gemeint ist eben nicht die Verfassungswirklichkeit — deren Behandlung würde der Briefschreiber als „Hineintragen politischer Gesichtspunkte in den Unterricht" gerade ablehnen —, sondern die geschriebene Verfassung.

  10. Hugo Staudinger, Ist eine christliche Gestaltung des Unterrichts nötig? Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1952, Seite 736 ff.

  11. Hermann Körner, Die Aufgabe des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1952, Seite 161 f.

  12. Hermann Körner, a. a. O. Seite 165.

  13. Ernst Wilmanns, Zur Frage der Stoffüber lastung, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1952, Seite 733.

  14. L. Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20 Jahrhundert, 1955, Seite 140 f.

  15. G Barraclough, Geschichte in einer sich wandelnden Welt. 1957, Seite 261

  16. Hermann Körner, a. a. O. Seite 167

  17. W. Dederich, Die Höhere Schule, Juli 1962.

  18. E. Wilmanns, a. a. O. Seite 734.

  19. H. Herzfeld, Zur Krise des Geschichtsunterrichts. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1962, Seite 423 ff.

  20. F. Messerschmid, Neue Wege im Geschichtsunterricht. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1950, Seite 44.

  21. Herbert Butterfield, Die Gefahren der Geschichte. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1950, Seite 534.

Weitere Inhalte

Felix Messerschmid, Dr. phil., Ober-studiendirektor, Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing, geb. 14. 11. 1904 in Untertalheim/Schwarzwald.