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Das britisch-deutsche Verhältnis | APuZ 45/1962 | bpb.de

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APuZ 45/1962 Großbritannien und Europa Das britisch-deutsche Verhältnis

Das britisch-deutsche Verhältnis

Robert Birley

Trotz gemeinsamer germanischer Vergangenheit tiefe Unterschiede

Man sollte eigentlich annehmen, daß die historische Entwicklung Großbritanniens und Deutschlands hätte ähnlich verlaufen müssen. Es stimmt zwar, daß England und das schottische Flachland ein Teil des Römischen Reiches wurden, wohingegen Deutschland, östlich des Rheins, fast ganz außerhalb blieb: doch kein Teil des Imperium Romanum wurde so vollständig und nachhaltig von den eindringenden Germanen erobert wie Britannien. Kaum ein einziges Wort der ursprünglichen keltischen Sprache hat sich im Englischen erhalten, und es ist schwer, Reste keltischer Institutionen zu entdecken, sei es politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Art. Und wenn auch später die Wikinger kamen, die im Verlauf des 9. und 10. Jahrhunderts große Teile Ostenglands eroberten, und dann um die Mitte des 11. Jahrhunderts die Normannen, so wurde dennoch die Entwicklung der englischen Institutionen in sehr viel stärkerem Maße von den Germanen beeinflußt als von den späteren Invasoren. Dasselbe gilt von der englischen Sprache, die zwar so vielfältig abgewandelt und so heterogen in ihrem Sprachschatz ist wie kaum eine andere, die aber im Grunde doch eine germanische Sprache ist: ihre Grammatik und Syntax wurden entscheidend geformt von den Stämmen, die, aus Deutschland kommend, hier eindrangen, und sind von Frankreich fast gar nicht beeinflußt worden.

Frühe staatliche Einigung und organische politische Entwicklung Großbritanniens

Und doch könnte die historische Entwicklung Englands und Deutschlands kaum unähnlicher sein, als sie es war. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist, daß England früher als irgendein anderes europäisches Land zu nationaler Einheit und staatlicher Zentralisierung gelangte, während Deutschland die Einheit der Nation erst vor weniger als hundert Jahren erreichte — und auch dann nur unvollkommen. Doch ein anderer Unterschied ist fast ebenso charakteristisch: Englands politische Entwicklung ist außerordentlich langsam und gleichmäßig, ja, fast könnte man sagen, organisch vor sich gegangen. Revolutionäre Veränderungen waren so selten, daß es kaum möglich ist, festzustellen, wann diese oder jene Veränderung der politischen Konstitution unseres Landes stattgefunden hat. Der Gegensatz zu der politischen Entwicklung in Deutschland ist augenfällig.

Vielleicht darf ich dies schon gleich einmal an einem Beispiel demonstrieren. Entscheidend für die Feststellung, wer die höchste Gewalt im Staate ausübt, ist bekanntlich die Frage: Wer wählt die Regierung? Auf dem Amsterdamer Kongreß der Zweiten Internationale, 1904, sprach sich Jean Jaures gegen einen von den Führern der deutschen Sozialdemokraten, Bebel und Kautsky, unterstützten Antrag aus, wonach Sozialisten, die in einer kapitalistischen Regierung mitwirkten, aus der Partei ausgestoßen werden sollten. Im Verlauf seiner Rede attak-kierte Jaures seine deutschen Opponenten mit den Worten: „Selbst wenn Ihr eines Tages die Majorität im Reichstag haben solltet, so ist doch Deutschland das einzige Land, wo eine sozialistische Majorität im Parlament noch keine sozialistische Führung des Landes bedeuten würde. Denn Euer Parlament ist nur zur Hälfte ein Parlament, ohne Exekutivgewalt, ohne Regierungsgewalt; die Beschlüsse des Reichstages sind weiter nichts als Empfehlungen, und die kaiserlichen Kanzleien können diese Empfehlungen in den Wind schlagen.“ Das war etwas übertrieben; doch es wäre damals, im Jahre 1904, völlig unmöglich gewesen, zu behaupten, daß in England die königlichen Kanzleien den Willen des Parlaments mißachten könnten oder daß das Parlament ohne Regierungsgewalt sei. Der König hatte jeden Einfluß auf die Wahl der Regierung eingebüßt — aber wann? Das ist außerordentlich schwer zu sagen. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte England eine seiner seltenen Revolutionen, einen Kampf zwischen König und Parlament, und bei diesem Kampf ging es zweifellos unter anderem auch um die Forderung des Parlaments, entscheidenden Einfluß auf die Wahl der Regierungsminister auszuüben. Doch als es im Jahre 1660 zu einer Einigung kam, wurde dieser Streitpunkt mit keinem Worte erwähnt. Im 19. Jahrhundert ging die gängige historische Theorie dahin, zu sagen, daß die Macht im Verlauf der folgenden hundert Jahre allmählich in die Hände des Parlaments übergegangen sei und daß Georg 111., der von 1760 bis 1820 regierte, versucht habe, die Macht wieder an sich zu bringen, daß dieser Versuch aber fehlgeschlagen sei. Kein heutiger Historiker wäre bereit, diese Version zu akzeptieren. Im Jahre 1827 wünschte Georg IV. einen Politiker namens Herries zum Schatzkanzler zu ernennen. Bei einer Sitzung des Kabinetts befand die Mehrheit der Minister, mit Einschluß des Premierministers, daß Herries für diesen Posten nicht in Frage komme; doch der König bestand, wie ein zeitgenössischer Staatsmann in seinen Aufzeichnungen vermerkt, „peremptorisch auf der Ernennung" — und Herries wurde Schatzkanzler. Wann also verlor der König die Macht, die Minister zu bestimmen? Mir scheint, die Antwort auf diese Frage muß lauten, daß sich dies schlechterdings nicht feststellen läßt; alles, was man dazu sagen kann, ist, daß er sie verloren hat.

Doch ehe ich weitergehe, sollte ich wohl die Schwierigkeit hervorheben, welcher sich jeder gegenübersieht, der schriftlich oder mündlich etwas über Großbritannien auszusagen versucht — und das ist das ganz besondere Verhältnis zwischen England und Schottland. Bis zum Jahre 1603 waren England und Schottland getrennte Königreiche; zwischen 1603 und 1707 hätten sie es jederzeit wieder werden können; doch im Jahre 1707 wurden die Parlamente der beiden Königreiche vereinigt, und danach wäre eine Trennung nur noch durch eine Revolution mögmöglich gewesen. Großbritannien ist keineswegs ein Bundesstaat, dennoch hat sich das schottische Nationalgefühl sehr lebendig erhalten. Ein Schotte weiß sehr genau, daß seine historischen Traditionen anders sind als die eines Engländers. Kaum eine einzige auch nur etwas weiter zurückreichende historische Feststellung von allgemeiner Gültigkeit, die für England zutrifft, kann auch auf Schottland ausgedehnt werden. Man kann nur feststellen, daß für die Dauer von fast zweihundert Jahren nach der sogenannten „Unionsakte" von 1707 England so sehr der überwiegende der beiden Partner war, daß Schottland die politischen Traditionen Englands zum großen Teil übernahm und assimilierte. Jeder Engländer jedoch, der von den heutigen Institutionen seines Landes spricht und sie aus der Geschichte Englands herzuleiten versucht. dürfte im Hintergrund seines Bewußtseins gewisse unbehagliche Unstimmigkeiten registrieren, die jedem Klärungsversuch hartnäckigen Widerstand entgegensetzen — und ich glaube nicht, daß es nur mir so geht, weil ich zur Hälfte Engländer und zur Hälfte Schotte bin.

Großbritannien blieb seit einem Jahrtausend von Kriegen fast verschont

Ich sprach bereits von den zwei wesentlichen Unterschieden der historischen Entwicklung in Großbritannien und in Deutschland: von der frühzeitig erfolgten Einigung und Zentralisierung und der organischen politischen Entwick-lung Großbritanniens, im Gegensatz zu dem so lange vergeblich gebliebenen Streben Deutschlands nach nationaler Einheit und seiner so ganz anders verlaufenen politischen Entwicklung. Aber ich vermute, daß es einen Faktor gibt, der sogar noch wichtiger ist. Fast tausend Jahre lang hat es in England, auf englischem Grund und Boden, kaum Kriege gegeben. Nur einmal, unter Stephan von Blois, der von 1135 bis 1154 regierte, hat England einen ähnlichen Zustand politischer Anarchie durchgemacht, wie er in allen anderen europäischen Ländern im Mittelalter durchaus üblich war. Dies beruhte in erster Linie auf einem ganz bestimmten Ereignis, dem weitaus bedeutsamsten Ereignis der gesamten englischen Geschichte: der Eroberung Englands durch Wilhelm von der Normandie im Jahre 1066. Was sich damals ereignete, war die plötzliche und völlige Einigung des Landes unter einem alleinigen Herrscher. Zwei Beispiele werden genügen, um zu zeigen, welche Folgen das hatte. Die übliche Bezeichnung für das grundlegende System des englischen Rechts, welches sich als stark genug erwies, das Eindringen des römischen Rechts im Mittelalter und in der Zeit der Renaissance zu verhindern, ist Comion Law. Das bedeutet nicht, daß dieses Recht für alle Menschen „gleich“ war, ohne Ansehen der Person, es bedeutet vielmehr, daß dieses Recht allen Teilen Englands „gemein" war. Vor der normannischen Eroberung gab es in den verschiedenen Teilen Englands verschieden geartetes Recht, das aus der Zeit stammte, als das Land aufgeteilt war in einzelne Königreiche, wie zum Beispiel Mercia, das Königreich des Gebiets von Mittelengland, oder Wessex, das Königreich der Westsachsen in Südengland. Nach 1066 war es it diesen Unterschieden, die man in Deutschland während des Mittelalters natürlich für völlig unvermeidlich gehalten hätte, ein für allemal vorbei. Ähnlich verhält es sich mit dem Münzrecht, dem vielleicht bedeutsamsten Symbol der Souveränität eines Staates. Die Regierungszeit des Königs Stephan von Blois, den ich bereits erwähnte, war nach der normannischen Eroberung die einzige Periode, in der es in England ein örtliches Münzrecht gegeben hat, das nicht der königlichen Machtbefugnis unterstand.

Es ist nicht etwa so, daß die Frühgeschichte Englands in irgendeiner Weise die Entstehung mäch-tiger Stammesherzöge unmöglich gemacht hätte, wie wir sie in Deutschland finden. Auch in England lassen sich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts deutliche Anzeichen einer solchen Entwicklung erkennen: doch nach der Eroberung Englands durch Wilhelm von der Normandie gibt es derlei Anzeichen nicht mehr. Es lag jedoch nicht an den Stammesherzögen, wenn die deutsche Geschichte im Mittelalter, im Gegensatz zu derjenigen Englands, durch beständige innere Fehden gekennzeichnet wurde; der Grund hierfür war die Schwäche der zentralen Macht, der Monarchie. Daß England in späterer Zeit, auf Grund seiner insularen Lage, von feindlichen Einfällen verschont blieb, war von größter Bedeutung; doch es war nicht ganz so wichtig, wie man vielleicht meint. Auch Deutschland wurde im Mittelalter nicht von äußeren Feinden mit Krieg überzogen; aber England blieb von innerem Streit verschont, das war entscheidend.

Vielleicht darf ich hier einmal — und zugleich zum das letztenmal — Ihre Aufmerksamkeit auf

Phänomen lenken, wie ein englischer Autor dazu neigt, Schottland zu vergessen. Denn England ist natürlich gar kein Eiland; es ist nur die Hälfte einer Insel. Und doch haben Engländer immer wieder so geschrieben, gesprochen und, was noch wichtiger ist, gedacht, als ob England eine Insel wäre.

Der Königsthron hier, dies gekrönte Eiland ...

Dies Kleinod, in die Silbersee gefaßt, Die ihr den Dienst von einer Mauer leistet, Von einem Graben, der das Haus verteidigt Vor weniger beglückter Länder Neid;

Der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England. (Richard II., II Akt, I. Szene, Zeile 40 und 46— 50)

So schrieb Shakespeare, und zwar im Jahre 1595, als er sich noch nicht einmal darauf berufen konnte, daß England und Schottland ein und denselben König hatten.

Das 15. Jahrhundert, die Zeit des endenden Feudalismus in Westeuropa, war begreiflicherweise eine Periode großer innerer Schwierigkeiten. In England war es die Zeit der Rosenkriege. Idi nehme an, es ist dem Einfluß Shakespeares zuzuschreiben, daß diese Kriege in Deutschland so bekannt sind. Doch wenn man die Geschichte jener Zeit genau verfolgt, dann stellt man fest, daß wirkliche Kämpfe nur selten und mit großen Pausen stattgefunden haben; tatsächlich erstreckten sich diese Kämpfe zusammengenommen über insgesamt nur wenige Monate — innerhalb der dreißig Jahre, die die Rosenkriege dauerten.

In Deutschland war der Krieg ein Dauerzustand

Wenden wir unseren Blick von hier auf die Geschichte Deutschlands, so sehen wir genau das Gegenteil. Ich glaube, selbst ein beschlagener und historisch interessierter Engländer dürfte geneigt sein, die Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. von 1440 bis 1493 als verhältnismäßig ereignislos anzusehen (bis auf seinen Ärger mit Karl von Burgund und seine Sorgen in Österreich) und diesen Zeitraum daher für eine vergleichsweise friedliche Zeit zu halten. Und selbst einem Deutschen dürften die Kriege der weißen und der roten Rose vertrauter sein als etwa der Krieg zwischen Albrecht Achilles und den Fränkischen Städten oder die Kämpfe zwischen den Hohenzollern und den Wittelsbachern um die Mitte jenes Jahrhunderts oder die Soester Fehde. Die Rosenkriege waren etwas Einmaliges innerhalb der englischen Geschichte; dadurch bekamen sie ein solches Gewicht, daß man geradezu von einem nationalen Trauma sprechen kann, und blieben Generationen hindurch beständig im Bewußtsein der Menschen. Die Soester Fehde machte auf die Menschen in Deutschland keinen solchen Eindruck; und doch war England, selbst während der Zeit der Rosenkriege, das weitaus friedlichere der beiden Länder. Im Jahre 1642 kam es in England zum Krieg zwischen König Karl I. und dem Parlament.

Eine der ersten kriegerischen Handlungen war, daß royalistische Truppen gegen die Stadt Leicester zu Felde zogen. Der Anführer dieser Truppen war Prinz Ruprecht, Sohn des „Winter-königs“ Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz. Prinz Ruprecht, der sich seine Sporen im Dreißigjährigen Krieg verdient hatte, handelte so, wie es jeder erwartet haben würde, der mit der Art der Kriegführung in den späteren Stadien jenes schrecklichen Konflikts in Deutschland vertraut war: er forderte den Bürgermeister von Leicester auf, unverzüglich zweitausend Pfund zu erlegen, andernfalls er die Stadt plündern lassen werde. Die Reaktion, die diese Aufforderung hervorrief, muß Ruprecht außerordentlich erstaunt haben. Das ganze Land war empört, und der König schrieb dem Bürgermeister von Leicester sofort einen Brief, in dem es hieß: „Dies mißfällt Uns höchlichst und Wir verwerfen es ausdrücklich." Doch die wahre Bedeutung dieses Vorfalls sollte sich drei Jahre später zeigen, als Prinz Ruprecht erneut vor Leicester erschien und die Stadt aufforderte, sich zu ergeben. Die Stadt weigerte sich und wurde erstürmt. Und diesmal war die Reaktion eine völlig andere. Die Stadt wurde geplündert — „nicht eine Hütte blieb verschont“, hieß es. Der König war selbst zugegen und machte keinen Versuch, seine Sol-daten zurückzuhalten. Doch wenige Monate später war der Krieg zu Ende — und zwar, was noch bedeutsamer ist: der Krieg innerhalb Englands war für immer vorbei, wenn man von einigen kurzen Kämpfen absieht, zu denen es bei einigen sehr wenigen Gelegenheiten im Verlauf der folgenden hundert Jahre kam. Die weitere Entwicklung führte dazu, daß die Möglichkeit, politische Streitfragen durch Waffengewalt zu lösen, praktisch ausschied.

Die Engländer ziehen den Kompromiß der Gewalt vor

Ich habe diesen Aspekt der verschiedenen historischen Entwicklung der beiden Länder mit solcher Ausführlichkeit behandelt, weil ich glaube, daß er von absolut fundamentaler Bedeutung ist. Wenn ein Volk zu der Überzeugung gelangt, daß die Lösung von Streitfragen durch Waffengewalt praktisch nicht in Frage kommt, dann muß dieses Volk bereit sein zum politischen Kompromiß. Ein solches Volk wird dazu neigen, den politischen Kompromiß als Teil der natürlichen Ordnung der Dinge zu betrachten, und es wird zwangsläufig die Technik des fruchtbaren Kompromisses erlernen. Betrachtet man dagegen die Beziehungen zwischen England und Irland, so zeigt sich das genaue Gegenteil. Die Engländer waren zu keiner Zeit der Meinung, daß bei ihren politischen Auseinandersetzungen mit den Iren eine Lösung durch Waffengewalt ausgeschlossen sei. Daher waren diese Auseinandersetzungen, verglichen mit der Handhabung ihrer eigenen inneren Angelegenheiten, durch ein ungewöhnliches Maß von politischer Stümperei gekennzeichnet. In ihrem Verhalten ge-

gegenüber Irland zeigten die Engländer bis 1922 niemals auch nur eine Spur jener „besonderen Begabung zum Kompromiß", deren sie sich selbst rühmen und die ihnen oft auch von anderen zuerkannt wird.

Erlauben Sie mir, ein ganz bestimmtes Ereignis der neueren deutschen Geschichte herauszugreifen, an dem, wie mir scheint, ersichtlich wird, auf welche Weise — und wie verschieden — sich die vorangegangene historische Entwicklung auf die beiden Länder ausgewirkt hat. Und zwar spreche ich von jenem Augenblick am Abend des 9. November 1918, da sich General Groener telefonisch mit Fritz Ebert in Verbindung setzte, der damals seit einigen Stunden Reichskanzler war; bei diesem Telefongespräch wurden sich die beiden darüber einig, daß das Oberkommando die Armee friedlich in die Heimat zurückführen und daß die Regierung mit dem Offizierskorps Zusammenarbeiten werde, um den Bolschewismus abzuwenden und die Disziplin in der Armee aufrechtzuerhalten.. Das bedeutete natürlich nichts anderes als die Auflösung der Soldaten-räte und die Ausschaltung der Unabhängigen Sozialisten aus der Regierung. Ein englischer Historiker, Sir John Wheeler-Bennett, bezeichnet in seinem Buch „Die Nemesis der Macht — Die Rolle der deutschen Armee in der Politik, 1918— 1945" (meines Erachtens die gründlichste und wissenschaftlich exakteste Arbeit eines Eng-länders über die neuere deutsche Geschichte) — dieser Historiker also bezeichnet das Telefongespräch zwischen General Groener und Ebert als den folgenschwersten und verhängnisvollsten Augenblick der neueren deutschen Geschichte. Er spricht von einem „Pakt, der geschlossen wurde zu dem Zweck, beide Parteien gegen die extremen Elemente der Revolution zu schützen, der aber zur Folge hatte, daß die Weimarer Re-publik schon in der Stunde ihrer Geburt zum Untergang verurteilt war“.

Zu dieser Beurteilung gelangt Wheeler-Bennett besonders im Hinblick auf die Rolle, welche die Armee in den darauffolgenden fünfzehn Jahren spielen sollte. Ich konnte, als ich das Buch las, nicht umhin, wieder einmal festzustellen, wie außerordentlich schwierig es für einen Engländer ist, die Geschichte irgendeines anderen Landes zu verstehen. Kein Engländer vermag zu begreifen, was es heißt, im eigenen Land der Gefahr politischer Gewaltsamkeit und Anarchie ins Auge sehen zu müssen. Seine traditionellen Lösungen wären völlig unanwendbar gewesen in der Situation, vor die Fritz Ebert sich gestellt sah. Tatsächlich glaube ich, daß jeder englische Staatsmann in Eberts Lage ganz genauso gehandelt hätte, wie Ebert gehandelt hat.

Tiefes Mißtrauen gegenüber der Armee

Doch der Unterschied ist nicht allein, daß der Engländer niemals der Gefahr der Anarchie ins Auge zu sehen gehabt hätte — er wäre auch nie und nimmer von einem General angerufen worden. Nach dem Bürgerkrieg, der 1645 endete, wurde England für die Zeit einiger weniger Jahre von einer siegreichen Armee beherrscht. Diese Armee benahm sich durchaus nicht etwa schlecht; doch diese Zeit prägte sich den Menschen in England als ein Trauma ein, das sogar noch dauerhafter war als die traumatische Erinnerung an die Zeit der Rosenkriege. Es ist kaum möglich, die Heftigkeit zu übertreiben, mit der man seitdem die Armee als potentiellen Faktor auf dem Gebiet der Politik ablehnt. Bis zum heutigen Tage existiert die Armee in England nur von Jahr zu Jahr, das heißt, das Parlament muß jedes Jahr ein neues Gesetz verabschieden, damit die Armee bestehen bleibt. Während des ganzen 19. Jahrhunderts bekämpften alle, die auch nur die geringste Vorstellung davon hatten, was in einer modernen Armee erforderlich ist, die höchst ungewöhnliche Handhabung der Verleihung von Offizierspatenten in der englischen Armee, die nämlich fast ausschließlich käuflich erworben wurden. Das Argument, das die damaligen Kritiker als Antwort zu hören bekamen, war nicht etwa, daß dieses System die Armee schlagkräftiger mache, ganz im Gegenteil. Die Armee sei dadurch weniger schlagkräftig, hielt man ihnen entgegen, sie sei weniger eine Sache von Professionellen als vielmehr von Amateuren, und dadurch sei die Gefahr geringer, daß sie jemals auf die Idee kommen könnte, eine politische Rolle spielen zu wollen. Die Möglichkeit, Offiziersstellen käuflich zu erwerben, wurde erst 1871 abgeschafft. (Vielleicht darf ich an dieser Stelle ein Einzelfaktum besonderer Art erwähnen, das gleichfalls mit den Beziehungen zwischen England und Deutschland zu tun hat und, wie ich glaube, so gut wie völlig unbekannt ist. Der erste Ansatz, dem System des käuflichen Erwerbs von Offizierspatenten in der Armee beizukommen, erfolgte im Jahre 1802, mit der Gründung eines Colleges zur Ausbildung einiger weniger Offiziere, die sich das Patent nicht durch Geld, sondern durch fachliches Können erwerben sollten. Und was meinen Sie, wem die britische Regierung im Jahre 1807 die Leitung dieser Kriegsakademie anbot? Ausgerechnet Scharnhorst! Er ließ den Brief sechs Jahre lang unbeantwortet, und als er dann schließlich antwortete, lehnte er ab; denn inzwischen hatte er anderes zu tun. Aber man stelle sich nur einmal vor, was passiert wäre, wenn er tatsächlich angenommen hätte; es ist einfach nich: auszudenken.)

Daß allein schon die Vorstellung, die Armee könnte jemals irgendeine Rolle in der Politik spielen, die Engländer so dauerhaft beunruhigt hat, zeigt deutlich genug, wie entschieden sie es ablehnten, die Anwendung von Gewalt überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ich habe hier von Politik gesprochen; spricht man von dem Generalstreik des Jahres 1926, so begibt man sich auf ein ganz anderes Gebiet. Der Generalstreik war bis zu einem gewissen Grade eine revolutionäre Aktion, wenn auch eine ziemlich laue. Bereits wenige Tage nach Beginn des Ausstandes, zu dessen Bekämpfung (in stärkerem Ausmaße als jemals zuvor seit dreihundert Jahren) Militär eingesetzt wurde, organisierte man Fußballwettkämpfe zwischen Soldatenmannschaften und Mannschaften der streikenden Arbeiter. Ich kann mich noch sehr genau an diese Zeit erinnern. Niemand dachte auch nur an die Möglichkeit, daß sich der Streik etwa zum Bürgerkrieg ausweiten könne; eine gütliche Einigung schien jederzeit in greifbarer Nähe.

Kein Brite kann den Kulturkampf verstehen

Doch wenden wir uns einem anderen Gebiet zu, einem Gebiet, das zwar im Verlauf der letzten dreihundert Jahre in den meisten Ländern nicht zum Krieg geführt hat, auf dem es aber besonders schwer zu sein scheint, zu einem Kompromiß zu gelangen. Idi meine das Gebiet der religiösen Streitigkeiten, nicht nur zwischen den verschiedenen Konfessionen, sondern auch zwischen Kirche und Staat — wobei es sich heutzutage besonders um die Fragen der Erziehung und des Unterrichts handelt.

Nach dem Kriege, von 1947 bis 1949, war ich in Deutschland als Educational Adviser in der britischen Zone. Dabei hielt ich mir die Unterschiede der historischen Traditionen und der politischen Entwicklung der beiden Länder immer deutlich vor Augen. Wenn ich vor britischen Education Officers sprach, schärfte ich ihnen jedesmal ein: „Remember, no Englishwan can ever understand the Kulturkampf.“ Und wenn ein Engländer ein Phänomen wie den Kultur-kampf nicht zu begreifen vermag, dann wird es ihm natürlich auch schwerfallen, die Probleme des deutschen Schulwesens zu verstehen. Zwar ist es auch für uns durchaus nichts Neues, daß religiöse Konflikte auf dem Gebiet des Schulwesens zu Schwierigkeiten führen; aber diese Schwierigkeiten hatten bei uns doch ein sehr anderes Gesicht.

Um Ihnen das verständlich zu machen, muß ich zunächst auf die Ursprünge der englichen Labour-Partei eingehen. Gegründet wurde die Labour-Partei bekanntlich im Februar des Jahres 1900; hervorgegangen aber war sie aus dem Methodismus, einer religiösen Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, begründet von dem englischen Geistlichen John Wesley. Diese Bewegung war eine Auflehnung gegen den Formalismus der anglikanischen Kirche der damaligen Zeit, deren Führung ausschließlich in den Händen der Reichen lag. Die methodistische Bewegung fand ihre meisten Anhänger unter den Angehörigen der ärmeren Schichten, und sie eröffnete dem frommen Laien die Möglichkeit, eine bedeutsame Rolle zu spielen. In ihren politischen Ansichten waren die Methodisten meist radikal, doch sie waren keine Revolutionäre.

Elie Halevie, der große französische Historiograph des 19. Jahrhunderts, sah in der ablehnenden Haltung der Methodisten gegenüber der Französischen Revolution, die man in England als antichristliche Bewegung betrachtete, den entscheidenden Grund dafür, daß England das Zeitalter der Revolution mit so geringer sozialer Erschütterung überlebte. Es ist daher auch kaum überraschend, daß der englische Radikalismus Karl Marx ablehnte und daß, als eine Partei zur Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse gebildet wurde, diese Partei kaum von Marx beeinflußt war.

Schulstreit endete in England mit einem Kompromiß

Infolge der sehr engen Verbindung zwischen der anglikanischen Kirche und der herrschenden Klasse war es nur natürlich, daß die Schule das besondere Vorrecht dieser Kirche sein sollte. Doch im Jahre 1867 erhielten diejenigen englischen Arbeiter, die einen städtischen Wohnsitz hatten, das Wahlrecht, und die erste politische Maßnahme von Bedeutung, die im Anschluß hieran erfolgte, war die Einführung der Schulpflicht im Jahre 1870. Die anglikanische Kirche sah sich konfrontiert mit gegnerischen Kräften aus dem Volke, die zum Kampf gegen die Monopolstellung des Klerus auf schulischem Gebiet angetreten waren, und inzwischen hatten sich diese Kräfte politisch formiert. Das Ergebnis war ein Kompromiß, doch der Kampf ging weiter. Er endete erst 1944, und zwar durch das große und bisher letzte Schulgesetz, das damals verabschiedet wurde. Die durch dieses Gesetz geschaffene Regelung ist zu kompliziert, als daß ich sie hier ausführlicher darstellen könnte; doch die wesentlichen Punkte sind kurz folgende: Wenn eine der Kirchen, die anglikanische, die methodistische oder die römisch-katholische, imstande ist, die Hälfte des für den Bau einer staatlichen Schule erforderlichen Kapitals aufzubringen, kann sie die Lehrer bestimmen und sicherstellen, daß der Religionsunterricht entsprechend ihrer eigenen Lehre erteilt wird; der Staat stellt die andere Hälfte des Kapitals, unterhält die Schule und entlohnt die Lehrer. Wenn eine Schule ohne Beitrag einer der Kirchen gebaut wird oder die Kirche kein neues Kapital aufzubringen vermag, zum Beispiel bei der Erweiterung einer Schule, dann bestimmt der Staat die und der Religionsunterricht wird einem sogenannten Agreed Syllabus gemäß erteilt, auf den sich die Kirchen geeinigt haben. (Die römisch-katholische Kirche ist übrigens nicht bereit, diesen Agreed Syllabus zu akzeptieren, sondern zieht es vor, eigene Schulen zu errichten, indem sie die Hälfte der Baukosten aufbringt.) Dieser Kompromiß — ein Kompromiß zwischen rivalisierenden Konfessionen — hat sich, bisher jedenfalls, als durchaus befriedigend erwiesen. Keine politische Partei hat jemals die Ansicht vertreten, daß in den Schulen überhaupt kein Religionsunterricht erteilt werden sollte und daß die religiöse Llnterweisung Sache der verschiedenen Kirchen selbst sei.

Wie ich schon erwähnte, war der Methodismus eine Bewegung, die der anglikanischen Kirche kritisch gegenüberstand. Danach sollte man an sich annehmen, daß die Labour-Partei antiklerikal wäre; denn in den Anfängen dieser Partei waren viele ihrer führenden Männer aktive Methodisten.

Der Methodismus war auch eine sehr entschiedene protestantische Bewegung, was die Vermutung nahelegen könnte, die Labour-Partei stünde der römisch-katholischen Kirche feindlich gegenüber. Doch der Einfluß des Methodismus auf die Arbeiterbewegungen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts hat im Gegenteil vor allem die Wirkung gehabt, eine Entwicklung zum Säku-larismus zu verhindern. Die Labour-Partei ist daher auch niemals antiklerikal gewesen. Ebensowenig war es jemals ein Problem, daß Angehörige der römisch-katholischen Kirche Mitglieder dieser Partei waren. Ja, ich glaube sogar, man kann — da die meisten Angehörigen der römisch-katholischen Kirche unter der Arbeiter-bevölkerung bestimmter großer Städte zu finden sind — mit Recht behaupten, daß in England die Mehrheit der Katholiken bei einer Parlamentswahl die Labour-Partei wählt.

Im außerenglischen Europa ist die Schule ein Zankapfel zwischen Staat und Kirche

Jetzt verstehen Sie vielleicht, wie schwer es ein britischer Education Officer hat, der das Tauziehen der verschiedenen Gruppen und Kräfte um die deutsche Schule zu begreifen versucht. Es überrascht ihn nicht, festzustellen, daß religiöse Differenzen immer und überall zu Differenzen auch auf dem Gebiet des Schulwesens führen. Da ihm die gewaltigen Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten in Deutschland nicht unbekannt sind — Kämpfe, die noch keineswegs vorbei sind —, erwartet er eine Situation vorzufinden, die derjenigen, mit der er sich in seinem eigenen Lande auseinanderzusetzen hat, nicht unähnlich ist. Doch er kann nicht feststellen, daß der entscheidende Konflikt auf dem Gebiet des Schulwesens ein Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten wäre.

Der wesentliche Unterschied ist natürlich, daß in großen Teilen Deutschlands die katholische Kir-Lehrer, ehe sehr viel stärker und einflußreicher ist als in England. In England war sie zu schwach, als daß es zwischen ihr und dem Staat zu einem ernstlichen Konflikt hätte kommen können. In Deutschland war die katholische Kirche stark genug, eine große politische Partei zu bilden und diese Partei auch zu beherrschen, und von heute aus läßt sich erkennen, daß in den Tagen Bismarcks ein Kampf zwischen dem Staat und der katholischen Kirche fast unvermeidlich war. Außerdem stand die Sozialdemokratische Partei in Deutschland den Konfessionen von Anfang an kritisch und oft sogar mit offener Feindschaft gegenüber. Unter solchen Umständen mußte die Schule zwangsläufig zum Zankapfel zwischen Staat und Kirche werden. Wer sich an die Zeit erinnert, als die Verfassung der Bundesrepublik ausgearbeitet wurde, der wird wissen, daß von allen Problemen das Schulwesen am hartnäckigsten umstritten war.

Ich behaupte keineswegs, daß dieser Konflikt zwischen der Kirche und einer Partei oder auch mehreren Parteien (und, wenn die Partei die Macht im Staate hat, zwischen Kirche und Staat) ein ausschließlich deutsches Phänomen sei; in vielen anderen westeuropäischen Ländern findet man die gleichen Konflikte. Nein, das Land, in dem wir einem einzigartigen Phänomen begegnen, ist England. Und wir können nicht umhin, zu fragen, warum das so ist.

Guy Fawkes Day ist innerlich überwunden

Ganz gewiß nicht, weil etwa England ein religiöseres Land wäre als Deutschland oder andere westeuropäische Länder. Und es ist auch nicht etwa so, daß in England zwischen der protestantischen und der römisch-katholischen Kirche oder zwischen den verschiedenen protestantischen Sekten keine tiefe Feindschaft bestünde. Im Gegenteil, ich frage mich zuweilen wirklich, ob man jemals irgendwo anders irgendeine Kirche so sehr gehaßt, hat, wie man in England viele Generationen hindurch die römisch-katholische Kirche gehaßt hat. Wer einmal im Spätherbst in England war, hat dabei vielleicht aus eigener Anschauung den seltsamsten aller englischen Bräuche kennengelernt. Tagelang, ja sogar wodienlang vor dem 5. November ziehen die Kinder mit kleinen Figuren oder Puppen durch die Straßen, einer Art von Vogelscheuchen, den so-genannten guys, und bitten die Leute um a penny for the guy. Am 5. November selbst werden dann auf offener Straße Feuer angezündet, kleine Scheiterhaufen, auf denen die guys verbrannt werden, und man wirft Feuerwerkskörper in die Luft. Trafalgar Square, das Zentrum dieses bemerkenswerten nationalen Ritus, muß für den Verkehr gesperrt werden. Und das alles geschieht zur Erinnerung an ein Ereignis, das dreihundertsiebenundfünfzig Jahre zurückliegt: an die sogenannte „Pulverbeschwörung" einiger katholischer Edelleute, die bei der Parlamentseröffnung am 5. November 1605 das ganze Parlament in die Luft sprengen wollten, aber rechtzeitig entdeckt wurden (und von denen einer mit Vornamen Guy hieß — Guy Fawkes). Dabei muß man bedenken, wie außerordentlich selten es ist, daß sich das genaue Datum eines bestimmten historischen Ereignisses länger als einige wenige Generationen hindurch im Gedächtnis der Menschen erhält. Als Parallele fällt einem der 14. Juli in Frankreich ein. Haß auf die römisch-katholische Kirche in England findet man heute nur noch bei einigen seltsamen Käuzen. Niemand, ich möchte sagen, tatsächlich nicht einer, entzündet heute am 5. November sein Feuerchen oder seinen Knallfrosch mit irgendeiner Animosität gegenüber den Katholiken in seinem Herzen. Und doch war dieser Jahrestag einstmals der Ausdruck einer so tief empfundenen nationalen Emotion, daß er zu einer festen und unauslöslichen Tradition wurde. Der Mummenschanz von heute verewigt in der Tat das Gedächtnis an etwas, das einst erbitterte Feindschaft war.

Ebensowenig läßt sich, wie ich schon sagte, behaupten, daß zwischen den verschiedenen protestantischen Sekten keine heftige Rivalität bestanden hätte. Daß der politische Konflikt zwischen dem König und dem Parlament, der'1640 begann, sich zu dem einzigen Bürgerkrieg im Verlauf der neueren englischen Geschichte ausweitete, lag in der Tat daran, daß dieser politische Konflikt zugleich ein Konflikt zwischen dem anglikanischen Klerus und den extremeren Protestanten war.

Wie soll man es also erklären, daß es in England niemals so etwas wie einen Kulturkampf gegeben hat? Ich glaube, die Erklärung ist in dem von mir bereits erwähnten Phänomen zu suchen, das der historischen Entwicklung meines Landes zugrunde liegt, und zwar ist dies die stillschweigende Voraussetzung, daß bei irgendeinem Konflikt keiner jemals seine Zuflucht zur Gewalt nehmen wird. Wenn man bereit ist, dies als Grundsatz anzuerkennen, dann werden selbst religiöse Gegensätze zu Streitigkeiten, die gütlich beigelegt werden müssen, entweder dadurch, daß es zwischen den streitenden Parteien allmählich zu irgendeinem Kompromiß kommt, manchmal aber auch so, daß jeder dem anderen gestattet, es auf seine Weise zu halten, also sozusagen auf eigene Faon selig zu werden.

Die Engländer sind in erster Linie Empiriker

Nun geschieht es bei jeder soziologischen Untersuchung dieser Art nur allzuleicht, daß man, wie wir in England sagen, „den Wagen vor das Pferd spannt“, zu deutsch: das Pferd am Schwänze aufzäumt. Wenn jemand jederzeit bereit ist, in jeder prinzipiellen Frage schließlich und endlich nachzugeben, handelt er deshalb so, weil für ihn das einzige absolute Prinzip die Ablehnung der Gewalt ist und er daher keinem politischen oder religiösen Standort eine absolute Gültigkeit zuerkennen kann? Oder ist es umgekehrt so, daß für ihn keine politische Doktrin und kein religiöses Dogma absolute Gültigkeit besitzt und daß ihm daher die Anwendung der Gewalt zur Unterstützung einer Überzeugung von nur relativer Gültigkeit als absurd erscheinen muß? Mit anderen Worten: Hat alles damit zu tun, daß die Engländer im Grunde Empiriker sind?

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Wenn ich sage, daß die Engländer es ablehnen, politische Fragen durch Anwendung von Gewalt zu lösen, so will ich damit nicht etwa sagen, daß sie Pazifisten wären. Anderen Ländern und Völkern gegenüber waren die Engländer genauso bereit zum Rückgriff auf die Gewalt wie irgendeine andere Nation; man braucht nur daran zu denken, auf welche Weise sie ihr Empire errichteten. Doch ich glaube in der Tat, daß die Engländer von Grund auf und vor allem Empiriker sind, und vielleicht ist dies der letztlich entscheidende Unterschied zwischen den Engländern und den Deutschen. Letzten Endes ist es eine Frage des Maßes, des Ermessens; es geht darum, welche Wichtigkeit man irgendeiner politischen Frage letztlich beimißt. Vielleicht darf ich auch dies durch eine kleine Geschichte illustrieren, durch den Bericht über einen ganz und gar absurden Vorfall, der sich im Verlauf der englischen Geschichte zugetragen hat. Immerhin, soviel läßt sich wohl sagen, daß es völlig unmöglich ist, sich vorzustellen, diese Episode hätte sich im Verlauf der deutschen Geschichte ereignet. Doch ich muß ein wenig ausholen, ehe ich auf die Sache selbst komme.

in Frankreich Jettre de cachet"

in England „Habeascorpusakte"

Mir scheint, es läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß England in Europa ein Land von wirklicher Bedeutung wurde (wenigstens zum ersten Male wieder seit dem 8. Jahrhundert und den Tagen des heiligen Bonifatius), als Voltaire nach England kam und hier seine „Lettres philosophiques sur les Auglais" schrieb. Bekanntlich war Voltaire, der mit einem französischen Adligen Streit gehabt hatte, auf Grund einer „lettre de cadtet“ — also eines außer-gerichtlichen, willkürlichen Haftbefehls — in die Bastille geworfen worden und mußte später das Land verlassen. Er kam nach England, wo ihn das, was er sah, erstaunte, teilweise auch abstieß, im ganzen aber mit Bewunderung erfüllte. Hier in England war es nicht nötig, die Forderung zu erheben: Ecrasez Einsame (nämlich die Kirche), weil es hier jedermann gestattet war, auf eigene Fafon selig zu werden. Bei dem Streit, den er in Paris gehabt hatte, war es um eine Schauspielerin gegangen, die er liebte; als Schauspielerin war ihr in Frankreich ein christliches Begräbnis versagt, und wenn sie eines Tages starb, so würde man ihren Leichnam in eine Jauchegrube werfen. In London dagegen sah er in der Westminsterabtei das prächtige Grabmal von Mrs. Bracegirdle, der berühmtesten englischen Schauspielerin der vorhergehenden Generation. Vor allem aber fand er hier einen geltenden Rechtsgrundsatz, die Habeascorpusakte, so genannt nach den Worten Habeas Corpus (zu deutsch: Du mögest haben den Leib), mit denen der Text eines gerichtsurkundlichen Hafterlasses begann — das heißt also, er fand hier ein Rechtsprinzip verwirklicht, welches es unmöglich gemacht hätte, ihn auf Grund einer lettre de cadtet in einer königlichen Festung einzukerkern.

Die Habeascorpusakte, das Grundgesetz, wonach kein englischer Untertan ohne gerichtliches Siegel verhaftet oder in Haft gehalten werden darf, war in der Tat eines der wichtigsten, ja vielleicht das wichtigste aller vom englischen Parlament beschlossener Gesetze. Die Abstimmung darüber fand im Jahre 1679 statt, rund fünfzig Jahre vor Voltaires Besuch in England. Vielleicht sollte ich hier noch anmerken, daß bei uns in England, wenn im Oberhaus oder Unterhaus eine Abstimmung stattfindet, jeweils zwei der Peers oder der Mitglieder des Unterhauses als sogenannte tellers fungieren, — wobei das englische Wort teil in der ursprünglichen Bedeutung des angelsächsischen tellan — deutsch also „teilen“ oder „zählen" — verwendet wird.

Die tellers geben selbst keine Stimme ab, sondern zählen, je nachdem, ob sie selbst dafür oder dagegen sind, entweder als tellers for the ayes, die Ja-Stimmen, oder als tellers for the noes, die Nein-Stimmen. Als nun die Abstimmung über die Habeascorpusakte durchgeführt wurde, erlaubten sich die tellers for the ayes einen Spaß und zählten die Stimme eines Peers von besonders gewaltiger Leibesfülle — der also sehr viel Corpus hatte — nicht als eine Stimme, sondern als zwölf Stimmen. Die Opposition fand diesen Witz so gut, daß sie beschloß, ihn zu honorieren. Damit aber erhielt die Vorlage die erforderliche Stimmenanzahl, die sie sonst nicht erreicht hätte.

Nun hätte aber die Habeascorpusakte zweifellos, wenn sie damals nicht durchgegangen wäre, einige Jahre später Gesetzeskraft erlangt; insofern ist diese Geschichte also nicht allzu wichtig. Was ihr jedoch eine besondere Bedeutung verleiht, ist der Umstand, daß England im Jahre 1679 kurz vor einem Bürgerkrieg zu stehen schien; tatsächlich kam es sechs Jahre später zu einer Rebellion, die allerdings innerhalb weniger Tage niedergeschlagen wurde.

Das Scheitern der Revolution von 1848 war eine Katastrophe für Deutschland

Wenn mir der Unterschied zwischen der historischen Entwicklung der beiden Länder, meines eigenen und des deutschen, als ein faszinierendes, oftmals aber auch verblüffendes Problem erscheint, so hängt das zweifellos damit zusammen, daß ich Historiker bin, oder vielmehr ein Lehrer der Geschichte. Als ich nach dem Kriege in Deutschland war, im Jahre 1947, schlug ich meinen Kollegen bei den drei anderen Besatzungsmächten vor, 1948 in Berlin eine historische Tagung abzuhalten, bei der wir die Gäste und deutsche Historiker die Gastgeber sein sollten, und zwar sollte das Thema dieser Tagung die Revolution von 1848 sein. Doch mein Vorschlag fand keine gute Aufnahme. Die Franzosen meinten, die Revolution von 1848 sei im Grunde eine französische Revolution, und jede Tagung darüber sollte daher in Paris stattfinden; die Russen erklärten, sie beabsichtigen auf jeden Fall, eine Tagung zur Erinnerung an das kommunistische Manifest zu veranstalten; und die Amerikaner meinten, die Revolution von 1848 sei doch wirklich nicht so wichtig. Ich aber erklärte, daß an dieser Tagung gerade deshalb so sehr gelegen sei, da ich als Engländer die Ereignisse von 1848 einfach nicht verstehen könne. In jenem Jahr versuchte mein Großvater, der sich damals in Nordengland aufhielt, aber eine Schule besuchte, die in Südengland lag, seinem Vater klarzumachen, die bedrohliche politische Situation lasse es kaum ratsam erscheinen, daß er jetzt zur Schule zurückkehre. Sein Vater schrieb an einen Verwandten, einen damals noch jungen Mann, der aber Mitglied des Parlaments war (derselbe, der mehr als zwanzig Jahre später die Abschaffung der Käuflichkeit der Offizierspatente durchsetzen sollte), und bat ihn um seinen Rat. Die Antwort kam postwendend und lautete: „Schick den Jungen wieder auf seine Schule. In England besteht überhaupt keine Gefahr.“

Als der Enkel meines Großvaters richte ich meinen Blick auf das Deutschland des Jahres 1848. Was mich dabei am stärksten beeindruckt, ist die Tatsache, daß die Schwierigkeiten, denen sich die deutschen Liberalen gegenübersahen, so gewaltig waren, daß kein Staatsdenker oder Staatsmann auf der ganzen Welt damit hätte fertig werden können. Die Engländer sind im allgemeinen geneigt, über das Frankfurter Parlament zu lachen. Ich nicht. Ich finde in den Debatten dieses Parlaments liberale Grundsätze formuliert, oftmals mit kluger Mäßigung, die für künftige Generationen richtunggebend hätten sein sollen. Es war nicht so, daß Deutschland damals keine liberalen Traditionen gehabt hätte. Die Männer zum Beispiel, welche die Freiheit der Universitäten in Amerika begründeten, fußten dabei auf Ideen, die aus Deutschland kamen. Doch es war allzuviel, was damals in allzu kurzer Zeit getan werden mußte, und die politische Situation war viel zu kompliziert. Niemals haben englische Staatsmänner Problemen gegenübergestanden, die auch nur annähernd so schwierig gewesen wären wie die, mit denen es die deutschen Staatsmänner 1848 zu tun hatten.

Ich glaube nicht, daß England jemals einen Staatsmann gehabt hat, der damit fertig geworden wäre. Aber schließlich ist England auch niemals mit einem derartigen Problem konfrontiert worden. In England hat man politische Probleme stetig und allmählich gelöst, immer eins nach dem andern, sie haben sich niemals unerledigt angesammelt, wie das 1848 in Deutschland der Fall war.

Das Scheitern des Versuchs von 1848 war, so glaube ich, eine Katastrophe. Denn es gab damals Probleme, besonders das der nationalen Einigung Deutschlands, die gelöst werden mußten. Man konnte sie auch auf andere Weise lösen. Bismarck hatte recht, wenn er nach 1848 erklärte, was die Deutschen veranlaßte, ihre Blicke auf Preußen zu richten, sei nicht Preußens Liberalismus, sondern Preußens Stärke. Doch es ist die Schwäche der Stärke (wenn man mir dieses Paradoxon gestatten will), daß sie in der Politik die Probleme nicht löst; sie scheint sie nur zu lösen. Dem äußeren Anschein nach war die Einheit Deutschlands im Jahre 1871 allerdings erreicht. Aus Deutschland wurde das Deutsche Reich, ein föderatives Reich, gewiß, dessen Teile aber sehr eng und fest miteinander verbunden waren, doch in einem tieferen Sinne war Deutschland noch immer keine Einheit.

In Deutschland gibt es zu wenig „neutralen Boden

Damit komme ich auf das, was mir der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Gemeinschaften zu sein scheint, der deutschen und der britischen. Ich äußere meine Ansicht nur zögernd, und ich würde nicht wagen, es zu tun, wenn ich nicht wüßte, daß einige Deutsche, für die ich große Hochachtung empfinde, der gleichen Meinung sind. (Es war übrigens ein deutscher Professor, der Rektor einer Universität, der dies eines Tages mir gegenüber mit größter Deutlichkeit zum Ausdruck brachte.)

Erlauben Sie mir, auch hier mit einem Beispiel zu beginnen, einer Veranschaulichung. In England haben alle Schulen, staatliche wie private, Aufsichtsräte oder Kuratorien, die für die Finanzen und die Baulichkeiten zuständig sind und die headwasters oder headmistresses ernennen. Es ist durchaus normal, daß in diesen Körperschaften Leute mit höchst verschiedenen politischen Ansichten sitzen. In Deutschland mußte ich feststellen, daß es den meisten Leuten schwerzufallen schien, etwas derartiges überhaupt für möglich zu halten. Dies ist nur eins von vielen Beispielen, die ich hier anführen könnte. In England gibt es weite Bereiche des öffentlichen Lebens, auf denen man den politischen, religiösen oder sogar sozialen Unterschieden keinerlei Bedeutung beimißt. Doch besonders kennzeichnend ist, daß sich dies auch auf die Unterschiede zwischen den politischen Parteien bezieht. In den Anfängen der parlamentarischen Regierung hatten die Leute in England Generationen hindurch Angst vor den Parteien, oder den „Faktionen“, wie sie damals meist genannt wurden. Doch als dann im 19. Jahrhundert organisierte politische Parteien in Erscheinung traten, da stellte man fest, daß sie gar nicht so gefährlich waren, wie man befürchtet hatte. Ich muß daran denken, daß ich einmal bei einem Dinner zugegen war, welches 1949 von der Royal Academy of Art veranstaltet wurde. Damals war Attlee Premierminister, Churchill führte die Opposition — und die politische Auseinandersetzung war intensiv. Im Verlauf des Abends erhob sich Winston Churchill (keineswegs dramatisch; ich glaube nicht, daß viele Leute es überhaupt bemerkt haben, doch ish saß damals neben ihm), schritt die Tafel entlang, dorthin, wo Mr. Attlee saß, erhol sein Glas und sagte: „Clew, my dear fellow, darf ich — hier auf diesem neutralen Boden — auf Ihr Wohl trinken!" Von diesem neutralen Boden gab es in England stets so viel — und in Deutschland so wenig.

Daraus erklärt sich auch, so glaube ich, die Anfälligkeit der Deutschen in den zwanziger und den beginnenden dreißiger Jahren. Die Stimme, die ertönte, war die Stimme einer Sirene; denn ihr Gesang war sehr verführerisch. Das Verlangen nach wirklicher sozialer Einheit war sehr stark, und gerade das war es, was die Stimme versprach.

England hatte es leichter

Ich bin mir bewußt, daß ich hier in einem Fehler des Engländers zu verfallen scheine, der ihn der Welt am allerwenigsten empfiehlt: seine Selbstgefälligkeit. Wenn ich die lange Geschichte meines Landes rückblickend überschaue, so scheint mir, daß wir es oft leicht gehabt und es uns vielfach auch leicht gemacht haben. Ich sehe, daß es uns häufig nur darum ging, unsere eigenen, beschränkten Ziele zu erreichen, und daß uns dies davon abgehalten hat, einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Zivilisation zu leisten. Die Errichtung des Heiligen Römischen Reiches mag sich für die Deutschen selbst verhängnisvoll ausgewirkt haben; es machte ihnen die Erreichung der politischen Einheit unmöglich, zu der England, Frankreich und selbst das so tief gespaltene Spanien gelangten; doch für das ganze übrige Europa war das Heilige Römische Reich eine Lektion von allerhöchstem Wert: es war der sichtbare Ausdrude des Ideals politischer Einheit auf der Grundlage kultureller Einheit — also eine Vorwegnahme dessen, zu dem wir erst jetzt unter Mühen zurückfinden. England hat keine beherrschende europäische Figur hervorge-bracht wie Luther; doch Luther führte zum Dreißigjährigen Krieg; Englands Bruderkrieg im 17. Jahrhundert dauerte drei Jahre — nicht dreißig. Englands System der parlamentarischen Demokratie hat zweifellos im 19. Jahrhundert großen Einfluß auf Europa gehabt; doch gerade, da diese parlamentarische Demokratie eine so pragmatische Institution war, da sie in so geringem Maße ein Ausdruck philosophischer Ideen war und so überwiegend auf einer Reihe von politischen Erfahrungen beruhte, war die Wirkung, die von ihr ausging, nie sonderlich tief. Man braucht nur etwa an die sehr viel tiefere und nachhaltigere Auswirkung einer anderen Erprobung der Demokratie zu denken, der wesentlich weniger Erfolg beschieden war, an das Beispiel Athens. Einen bedeutenden Beitrag haben wir, wie ich glaube, allerdings geleistet; den Beweis hierfür wird jedoch erst der Verlauf des kommenden Jahrhunderts erbringen. Der Beitrag, den ich meine, besteht in Erkenntnissen über das Wesen eines Weltreichs; doch das hat kaum etwas-zu tun mit einem Vergleich zwischen Deutschland und England.

Es gibt Anlässe zur Hoffnung

Ich hoffe, Sie übersehen die Selbstgefälligkeit und erlauben einem Engländer, das Folgende zu sagen. Die politischen Schwierigkeiten Deutschlands dauern noch immer an. England brauchte sich nie von einer verheerenden Niederlage zu erholen und hat niemals irgend etwas durchgemacht, was auch nur annähernd mit der gegenwärtigen Teilung Deutschlands zu vergleichen wäre. Keine englische Stadt hat sich jemals in der gleichen Lage befunden wie Berlin. Doch was ich in der Zeit nach dem Kriege an den Deutschen bewundert habe, war nicht in erster Linie der wirtschaftliche Aufschwung, so erstaunlich dieser als Leistung auch war, sondern das gute Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, das so sehr viel besser war als in meinem eigenen Lande, und vor allem eine Toleranz und Geduld, ohne die das Überleben und der Wiederaufstieg Deutschlands nicht möglich gewesen wären. Und wenn ich bei Kriegsende vorauszusagen pflegte, daß die Reaktion auf den Nazismus, bei einer politisch so unerfahrenen und ungefestigten Nation wie der deutschen, die Anarchie sei und daß dies abermals zu dem Versuch führen werde, das Problem durch die Anwendung von Gewalt zu lösen — so ist mir der Irrtum dieser Voraussagen nirgends so eindringlich vor Augen geführt worden wie in Berlin, in den Jahren 1948 und 1949, und auch späterhin jedesmal, wenn ich in diese Stadt kam. Natürlich gibt es verschiedene Faktoren, die dazu beigetragen haben, eine solche Entwicklung, wie ich sie bei Kriegsende befürchtet hatte, zu verhindern; doch diese Faktoren erzeugten nicht die Menschlichkeit und die Vernunft, die ich in Berlin gefunden habe.

Vielleicht darf ich zum Schluß folgendermaßen zusammenfassen: In England kann ich gegenwärtig nur geringe Anzeichen irgendeiner politischen Entwicklung erkennen; doch ich tröste mich, indem ich mir sage, daß es vermutlich nur wenige Zeitabschnitte im Verlauf der englischen Geschichte gegeben hat, in denen es dem zeitgenössischen Beobachter möglich gewesen wäre, solche Anzeichen wahrzunehmen; und gleichwohl hat immerfort eine organische Entwicklung stattgefunden. In Deutschland dagegen, so scheint mir, findet ganz offensichtlich eine echte politische Entwicklung statt. Und mir scheint, daß zum erstenmal im Verlauf der Geschichte Deutschland und England einander nahegekommen sind, da heute diese beiden Länder den Rückgriff auf die Gewalt zur Lösung ihrer inneren politischen Probleme ablehnen. In einer Zeit, die man nur allzu berechtigterweise als die Zeit der Gewalt bezeichnet hat, ist dies ein Band, das unsere beiden Länder wirklich verbindet. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Robert J. Alexander: Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas Peter Bender: Die Weltjugendfestspiele in Helsinki Klaus Epstein: Das Deutschlandbild der Amerikaner Frhr. v. Lansdorf: Sowjetische Wirtschaftspolitik Walter Z. Laqueur: Rußland mit westlichen Augen Egmont Zechlin: Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung: Robert Birley, C. M. G., M. A., F. S. A., D. C. L. (Hon.) Edinburgh, Leeds, geboren am 14. Juli 1903, ist ein Schüler der Public School Rugby. Er studierte am Balliol College Oxford und schlug dann die Laufbahn eines Gymnasiallehrers ein. Von 1935— 1947 war er Headmaster der Public School von Charter, seit 1949 steht er dem berühmtesten Internat dieser Art, dem Eton College zu Windsor, vor. Er ist damit eine Art praeceptor Britanniae, unter dessen Leitung und Einfluß ein großer Teil der künftigen Führungsschicht der Nation aufwächst. Auch in der heutigen Regierung Macmillan befinden sich wieder mehrere Old Eton Boys. Robert Birley hat mehrere Jahre in Deutschland verbracht; er war von 1947 bis 1949 Chef des Erziehungs-Departements in der „Control Commission for Germany“. Er hat als überzeugter Humanist gemeinsam mit Ernst Reuter und Otto Suhr tatkräftig bei der Gründung der Technischen Universität Berlin mitgewirkt.