Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

HERR GIB FIEDEN | APuZ 51/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 51/1961 HERR GIB FIEDEN

HERR GIB FIEDEN

Er hatte irgendwo in Sachsen eine Bleibe und mußte nachts aus seinem warmen Bett heraus. Nun hat er nichts als einen Anzug auf dem Leibe und trägt darunter die Erinn’rung an zuhaus.

Abbildung 1

Er geht als Fremdling durch den Lärm zufried ner Straßen, die weiter nichts vom Osten spüren als den Wind, und sieht die Menschen um sich an, die es vergaßen, daß hinter Göttingen die große Angst beginnt.

Abbildung 2

Daß nachts in Dresden bei dem Surren von Motoren ein ganzer Stadtteil voller Angst im Schlaf erschrak und daß dort Freunde hellen Tags den Freund verloren, weil er dem fremden Wort aus Astrachan erlag.

Abbildung 3

So steht er kritisch in Büros und vollen Läden und sieht die Freiheit wie ein Freibillet verschenkt. Er hört von Schützenfest und Weltraumforschung reden und möchte schrei'n, wenn er an seine Heimat denkt. Sie mußten hausgemeinschaftsweise ins Wahllokal zum Wahlentscheid und machten Kreuze in die Kreise, denn Polizei stand griff-bereit.

Abbildung 4

Sie ließen sich die Stimme stehlen, weil Widerstand nur Wunden schafft. Sie hatten zwischen Zwang zu wählen und zwischen „Freiheit" in der Haft.

Abbildung 5

Sie sind Statisten vor Kulissen. Das Stück ist schlecht und schauerlich, denn was ist schlimmer, als zu wissen, man stimmt beim Wählen gegen sich.

Abbildung 6

Ein Chruschtschow-Bild am „Thälmannplatz". Vorm „Einheitshaus” ein Ulbricht-Satz. Die Hausfassaden grau in grau. Ein Posten vor dem Zuchthausbau.

Abbildung 7

Die Menschen hasten hin und her. Der Freund traut seinem Freund nicht mehr. Die Jungen, ärmlich und verführt. Der Weg nach Helmstedt ist blockiert.

Der Tag ist fremd und rigoros, der nächste Morgen hoffnungslos Und überall steht Polizei. Und nirgendwo ist Glück dabei.

Und immerzu der gleiche Trott. Und dann die Mauer wie ein Spott. Und was man liest und was man spricht ist Deutsch — und wir verstehn es nicht. Und als das Jahr Null in Deutschland begann, da fingen wir hüben und drüben an, zerknirscht, wie beim Jüngsten Gerichte. Da hatte ein jeder die Hand und sonst nichts, die Not und die Bürde des Untergewichts — das war die Moral der Geschichte.

Und dann ging ein Dutzend Jahre ins Land, da haben wir uns nicht wiedererkannt und wurden uns fremd im Gesichte. Dem einen stand Kummer und Sorge darin, dem anderen Freude und Glück und Gewinn — das war die Moral der Geschichte.

Der eine besitzt wieder und er vergaß, der andere träumt, was er einmal besaß, verschoben sind nur die Gewichte. Und hier ist die Freude und dort ist sie knapp, das Glück hängt vom Standort des Wohnsitzes ab — das ist die Moral der Geschichte.

Der eine schreibt aus Zeitz in Sachsen: ,, Ich danke Dir für das Jackett. Aus meinem war ich rausgewachsen. Auch das Stück Speck war sehr, sehr nett. Wir kriegen neuerdings Sardinen. Die Anneliese lernte aus. Sie ist jetzt Meister an Maschinen. Im Urlaub bleiben wir zu Haus."

Der andre schreibt aus Calw in Schwaben: „Wir feiern kräftig Fastnacht jetzt. Seit wir den neuen Wagen haben, hab'ich ein bißchen angesetzt. Die Inge fährt im Mai nach Spanien. Mein Boxer frißt nur Fleisch vom Rind. Wir sorgen uns, daß die Geranien im Winter eingegangen sind."

Zwei Brüder, die sich Briefe schreiben — zwei Welten, die dazwischenstehn. Sie werden, wenn wir müßig bleiben, für immer sich verloren gehn ... Vor 15 Jahren: der Vorhang sank nieder. Nachbarn sahen den Nachbarn nie wieder. Hände, die hilflos ins Leere greifen, Äcker, versteppende Todesstreifen, Straßen, die keine Ziele mehr haben, Schienen mit Endstation Panzergraben. Zwischen Provinzen: die trennende Wand; mitten im Vaterland: Niemandsland. Sehnsucht, Enttäuschung und Hilflosigkeit. 15 Jahre — gestohlene Zeit.

Brief an das Ausland Stellt Euch mal vor: durch Euer Land ging mittendurch ein Strich. Man lehrt Euch, diese Trennungswand sei unabänderlich.

Man macht in Eurem eignen Staat aus einer Heimat zwei und sagt, daß hinterm Stacheldraht der Weg verboten sei.

Ihr dürft nicht geh’n, wohin Ihr wollt, nicht schreiben, was Ihr meint. Gepäck nach Hause wird verzollt, und Eure Mutter weint.

Euch würden Volk und Land halbiert in schändlichster Manier. Seid ehrlich: wenn Euch das passiert, wärt Ihr so stumm wie wir? 17. Juni 1953

Früh fragten die Kinder: „Was ist das denn, Streik?“ als vom Markt her das Deutschlandlied klang. Und am Abend war Blut auf dem Bürgersteig und die Panzer fuhren entlang.

Dazwischen zwölf Stunden! — Der Ruf „Wir sind frei!“ — Wie ein Lauffeuer ging er durchs Land. Die Tore der Zuchthäuser brachen entzwei und Plakatwände standen in Brand.

Und überall Aufruhr. Die Maurer voran. „Wir sind frei!" Wer am Weg stand, faßt Tritt. Und einer stimmte das Deutschlandlied an und Tausende sangen es mit...

Zwölf Stunden blieb Moskaus Zeitrechnung stehn durch das Volk zwischen Greiz und Stralsund. Und der Tag wird in die Geschichte eingeh'n als ein Schrei aus geknebeltem Mund. Aus dem Flugzeug sieht man keine Grenzen, nur die Spielzeug-Dörfer an der Straßenflur und die Bäche, die wie weiße Strähnen glänzen, und das sehr abstrakte Schachbrett der Natur.

Kleine Punkte, die sich kriechend fortbewegen — das ist alles, was vom Menschen man erkennt. Nichts von Sorgen, Politik und Schicksalsschlägen und dem Stacheldraht, der grüne Wälder trennt.

Keine Richtung und Parole ist zu sehen, nichts vom Drama des halbierten Vaterlands. Um den Kummer und die Ängste, die bestehen, wachsen Gärten wie ein bunter Blumenkranz.

Sie lesen Lenin wie die Bibel und kennen keine Märchen mehr. Sie buchstabieren in der Fibel statt „Glück" und „gut" das Wort „Gewehr".

Den Eltern werden sie entrissen und von den Sowjets konfirmiert, und Orden kriegt für „Gutes Wissen", wer anstatt Christus Marx zitiert.

Sie lieben Pläne und Maschinen und haben nie als Kind gespielt. Sie ahnen es nicht, daß man ihnen im Stahlwerk ihre Jugend stiehlt.

Sie werden uns als Fremde grüßen, wenn weiter Jahr um Jahr verrinnt und wir sie niemals spüren ließen, daß sie bei u n s zu Hause sind.

Sie geh'n verwirrt durch unsre Straßen und werden, wenn man hinschaut, rot, wie Menschen, die einst viel besaßen und nun verarmt sind und in Not.

Sie wirken scheu und abgetragen und in der Freiheit subaltern. Und man erkennt sie an den Fragen als Reisende vom Sowjetstern.

Sie lesen in den Ladenscheiben so wie ein Kind im Märchenbuch und machen, wo sie Stehenbleiben, in der Vergangenheit Besuch.

Sie werten in den Wechselstuben am Bahnhof vor der Fahrt nach Haus die Hoffnung auf, die sie begruben, und packen sie in Sachsen aus. August 1961 in der Zone Die Tage sind so regengrau, daß wir die Sonne suchen müssen. Wir suchen sie und ziehen Drahtverhau und laden die Gewehre an den Flüssen.

Was soll im Sommer noch geschehn? So die Bestürzten fragen. Der Sommer darf nicht untergehn, der Baum soll Frucht, der Fluß die Träume tragen.

Die Gedichte auf den Seiten 734— 739 sind dem Band »Zwischen Deutschland und Deutschland“ von Bertram Otto (Baladin) entnommen. Dieser Gedicht-band erscheint demnächst im Berto-Verlag, Bonn. — Die Bilder sind ausgewählte Arbeiten aus einem Jugendwettbewerb des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“. Aus rund 80 000 Einsendungen hat der Verlag Langen-Müller, München, einhundert Bilder unter dem Titel . Jugend sieht Deutschland“ veröffentlicht. Die in dieser Beilage zum Abdruck gekommenen Bilder sind der Reihenfolge nach von: Elfriede Klingele (14), Lilo Wiontzek (16),

Denn dieser Sommer ist es wert, daß wir zu ihm in großer Liebe finden, Am Stacheldraht, der ihn durchquert, läßt er der Ohnmacht Haß erblinden.

Die Tage werden wieder blau, daß wir die Sonne wieder aus dem Nacken treiben und wo sich zog der rost’ge Drahtverhau wird Friede sein und Frieden bleiben. W. W.

Joachim Schnurr (18), Ulrich Krause (19), Steffi Knorr (16), Norbert Schroers (15), Roswitha Spätling (16), Hans Kubuschok (18). — Das Gedicht . August 1961 in der Zone“ stammt aus der ostzonalen Zeitschrift »Junge Kunst“, dem Organ des Zentralrats der FDJ. Es findet sich dort versteckt auf der letzten Seite unter Naturlyrik. Das übrige Heft ist mit lyrisierenden Haß-und Schmähausbrüchen auf Westberlin und Westdeutschland gefüllt In der Einführung zu diesem Septemberheft der »Jungen Kunst“ steht ausdrücklich, daß die veröffentlichten Gedichte »diskutiert“ werden sollen.

Nachlorderungen der Beilagen aus Politik und Zeltgesdildite sind an die Vertrlebsabteflung DAS PARLAMENT, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, zu richten. Abonnementsbestellungen der Wodienzeltung DAS PARLAMENT zum Press von DM 1, 89 monatlich bei Postzustellung einschließlich Beilage ebenfalls nur an die Vertriebsabteilung. Bestellungen von Sammelmappen für die Beilage zum Preise von DM 6, — pro Stück einschließlich Verpackung zuzüglich Portokosten an die Vertriebsabteilung, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, Telelon 34 12 51.

Fussnoten

Weitere Inhalte