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Lodz Das letzte Ghetto auf polnischem Boden | APuZ 42/1960 | bpb.de

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APuZ 42/1960 Lodz Das letzte Ghetto auf polnischem Boden

Lodz Das letzte Ghetto auf polnischem Boden

JOSEPH WULF

I. So begann es im Jahre 1939

Abbildung 1

Am 8. September 1939 um 11. 30 Uhr besetzte die deutsche Wehrmacht Lodz damals das größte polnische Textilzentrum und eine Stadt von 700 000 Einwohnern; 233 000 davon waren Juden.

Die Entstehung seiner Industrie verdankt die Stadt zweifelsohne Deutschen; wenn sie sich jedoch zum polnischen Manchester entwikkelte, so haben Energie und Fleiß jüdischer Arbeiter und Unternehmer dazu nicht unwesentlich beigetragen

Um das Anwachsen gerade der jüdischen Bevölkerung in Lodz zu zeigen, sei darauf hingewiesen, daß 1809 dort nur 24 jüdische Familien — zusammen 100 Personen — lebten. 1822 waren es schon 282 Juden, und die erste Synagoge stand bereits. 1840 gehörte Lodz zu Kongreßpolen und galt als seine kleinste jüdische Gemeinde

Kaum wurde Lodz 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt, als man auch im Reichssicherheitshauptamt zu Berlin bereits Pläne schmiedete, die sich intensiv mit der Vernichtung des jüdischen Volkes befaßten. Genau 21 Tage nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs — am 21. September 1939 — richtete der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, auch schon ein Schreiben an alle Chefs der Sicherheitspolizei-Einsatzgruppen. Mit dem Hinweis „Betrifft: Judenfrage" bezog er sich auf eine dieserhalb am gleichen Tage in Berlin stattgefundene Besprechung und verlangte, die geplanten Maßnahmen und das Endziel seien streng geheim zu halten. Auch gelte es, zwischen dem längere Zeit in Anspruch nehmenden Endziel und den schneller abzuwickelnden einzelnen Phasen zu unterscheiden. Vor allem verlangte Heydrich, die geplanten Maßnahmen sowohl in technischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht sehr gründlich und sorgsam vorzubereiten, jedoch dabei auf absolute Geheimhaltung zu achten

Obwohl sich Heydrichs Schnellbrief lediglich auf besetzte Gebiete bezog und Lodz zum Warthegau gehörte, also dem Reich einverleibt wurde, begann schon dort, was sich später im zweiten Weltkrieg bei jedem von Deutschen besetzten Territorium wiederholen sollte: daß nämlich die von deutschen Truppen eroberten Gebiete früher oder später, soweit es sich um Juden handelte, von Gestapo, SS oder SD ganz allein verwaltet wurden.

Angefangen hat es trotzdem eigentlich recht harmlos, mit einem Schreiben des stellvertretenden Leiters der Zivilverwaltung bei der deutschen Wehrmacht in Lodz — er hieß von Graushaar — an das Rabbinat in Lodz. Am 13. Oktober 1939 verlangte Herr von Graushaar, daß ab 15. Oktober täglich 600 männliche jüdische Arbeitskräfte ab 7. 30 Uhr zur Verfügung ständen, und zwar je 150 Juden an den Sammelstellen Suwalskastraße 6, Poludniowastraße 10, Lipowastraße 30 und Zgierskastraße 17. Die Arbeitszeit war ebenfalls festgelegt: Von 7. 30 bis 12. 00 und von 14. 00 bis 17. 00 Uhr täglich

Diese Ordnung dauerte jedoch nicht lange, denn bald wurden die Juden auf den Straßen der Stadt Lodz zu Freiwild, das jeder ohne Jagdschein jagen durfte. Man fing sie einfach zur Arbeit ein. Polizei und Wehrmacht taten es, um sie in den Kasernen arbeiten zu lassen. Die NSDAP jagte sich rücksichtslos so viele Juden zusammen, wie sie für die Aufräumungsarbeiten in ihren Lokalen benötigte und deutsche Unternehmer suchten sich privat jüdische Männer und Frauen zusammen, wenn sie diese benötigten. Mit der Jagd auf den Straßen begnügte man sich jedoch leider nicht lange. Bald ging man dazu über, einfach in die Wohnungen einzudringen, um gerade erforderliche Arbeitskräfte aufzutreiben. Sämtliche Passierscheine waren dann nutzlos. Wenn Deutsche Arbeitskräfte haben wollten, kümmerte sie sich nicht um die von Polizei oder Bürgermeister ausgestellten Arbeitskarten, welche den Betreffenden als bereits im Arbeitseinsatz stehend auswiesen. Begab sich ein im festen Arbeitsverhältnis stehender Jude mit allen notwendigen Papieren ausgestattet zum Arbeitsplatz, schnappte man ihn ebenfalls fort. Der „Jüdische Arbeitseinsatz“, eine vom Judenrat ins Leben gerufene Einrichtung, der es oblag, den Arbeitseinsatz der Juden in Lodz zu regeln und jüdische Arbeitskräfte an bestimmte Arbeitsplätze zu vermitteln, mußte den Razzien auf der Straße oder gar in den Wohnungen hilflos zusehen. Er war völlig machtlos gegen solche deutschen Unternehmen.

Zum Unglück bildete sich auch noch bald die Gewohnheit heraus, nach getaner Arbeit ein wenig Spaß mit den Juden zu treiben. Es begann meistens damit, daß man sie tanzen ließ, endete jedoch unweiger-lieh mit Prügel. Der Männergesangverein auf derPiotrkowskastraße tat sich hierbei ganz besonders hervor, ebenso die NSKK in der Narutowiczastraße 75 und eine SS-Guppe auf der Zgierkastraße 116

Die üblichen antijüdischen Gesetze ließen selbstverständlich auch nicht auf sich warten. Besonders der 14. November 1939 war reich an solchen gegen die Juden gerichteten Verordnungen. Zunächst mußten sie gelbe Armbinden tragen. Am gleichen Tage noch machte der Stadt-kommissar von Lodz bekannt, daß alle Geschäfte umgehend in Augenhöhe die Schaufenster mit einem Schild versehen mußten, dem zu entnehmen war, ob der Geschäftsinhaber Deutscher, Pole oder Jude sei. Sogar die Form der Schilder wurde von der Industrie-und Handelskammer Lodz genau vorgeschrieben. Zuwiderhandlungen — so drohte man an _ würden selbstverständlich streng bestraft werden

In der „Lodzer Zeitung“ erschienen Bekanntmachungen, denen zufolge Juden überall auszuschalten, zu isolieren und zu zweitrangigen Staatsbürgern zu stempeln waren. Eine dieser Bekanntmachungen — in Vertretung des Polizeipräsidenten war sie von Regierungsrat Esch unterzeichnet — besagte am 2. Dezember 1939, daß es Juden hinfort verboten sei, Droschken, Lastwagen und überhaupt Fahrzeuge aller Art zu benutzen und sie auf öffentlichen Straßen zu lenken

Höhepunkt solcher Maßnahmen dürfte in dieser Anfangsperiode „Die Verordnung zur Kennzeichnung der Juden“ gewesen sein, die Reichsstatthalter Greiser am 11. Dezember 1939 veröffentlichte.

Sie lautet: „Der Herr Reichsstat Dezember 1939 veröffentlichte.

Sie lautet: „Der Herr Reichsstatthalter hat eine einheitliche Kennzeichnung der Juden für das Gebiet des Warthegaues angeordnet. In Veränderung meiner Verfügung vom 14. November 1939, wonach Juden eine gelbe Armbinde zu tragen haben, ordne ich nachfolgendes an: § 1. Juden haben auf der rechten Brust-und Rückenseite einen 10 cm hohen gelben Davidstern zu tragen. 5 2. Diese Verordnung tritt am 13. Dezember 1939 in Kraft. § 3. Die Nichtbefolgung dieser Verordnung wird strengstens bestraft. Gezeichnet: Übelhör Der Regierungspräsident“ 9)

Schlimmer jedoch als alle diese entwürdigenden und diffamierenden Verordnungen sollten in den letzten Monaten des Jahres 1939 für die Lodzer Juden die Aussiedlungen werden.

Es waren die ersten großen Unternehmen dieser Art auf polnischem Boden, und es handelte sich dabei noch nicht um die Ausrottung, die später als „Aussiedlung" getarnt wurde. In Lodz wurden zunächst etwa 20 000 Juden davon betroffen, und zwar vornehmlich die Intelligenz. Man schaffte sie nach Warschau, Krakau oder Lublin.

II. Die ersten Umsiedlungen

Abkürzungen

Am 8. Oktober 1939 erschien im Reichsgesetzblatt (Teil I, Seite 2042) das Gesetz über die Eingliederung der vier polnischen Westprovinzen in das Deutsche Reich. Da nun Lodz zum Warthegau gehörte, lag es also außerhalb des besetzten Polens, das man damals als Generalgouvernement bezeichnete. Aus diesem Grunde wurde Lodz kurzerhand verdeutscht und in Litzmannstadt umbenannt. Mit der Namensänderung begann schon die Tragik für den jüdischen Bevölkerungsteil, und gerade sein Golgatha wurde auch noch länger als jenes der Juden im Generalgouvernement selbst, denn das Ghetto Lodz sollte das letzte auf polnischem Boden überhaupt sein.

Am 30. Oktober 1939 verfügte Heinrich Himmler die Umsiedlung eines Teils der Lodzer Juden für die Monate November und Dezember 1939 sowie Januar und Februar 1940, denn die Anordnung betraf alle Juden der ehemals polnischen, inzwischen aber deutschen Provinzen. Ebenso erstreckte sie sich auf alle Kongreßpolen aus den Provinzen Danzig-Westpreußen, eine noch vorzuschlagende Anzahl besonders feindlich eingestellter Polen aus den Provinzen Posen, Oberschlesien sowie Süd-und Ostpreußen. Himmler gab bekannt, der Höhere SS-und Polizeiführer Ost würde die Aufnahmemöglichkeiten im Generalgouvernement, die für die Umzusiedelnden vorgesehen waren, bald benennen. Der genaue Umsiedlungsplan sollte von den Höheren SS-und Polizeiführern Ost, Südost, Nordost, Weichsel und Warthe gemeinsam mit den Inspekteuren und Befehlshabern der Sicherheitspolizei noch festgelegt werden. Jede Provinz erhalte im Generalgouvernement ihren eigenen Distrikt, jede Stadt der deutschen Provinzen eine Stadt oder doch einen bestimmten Landkreis im Umsiedlungsraum. Der Höhere SS-und Polizei-führer jedoch sei jeweils innerhalb seines Befehlsbereichs für den Abtransport verantwortlich, während im Auffanggebiet die polnische Selbstverwaltung für die Unterbringung der Zureisenden sorgen müsse 10).

Himmler erließ diese Verordnung in seiner Eigenschaft als Reichs-kommissar für die Festigung deutschen Volkstums auf Grund des Geheimerlasses von Hitler — datiert am 7. Oktober 1939 wonach ihm das Recht zustand, zur „Ausschaltung des schädigenden Einflusses von soldien volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten,“ alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen 11).

Bald nach Himmler verfaßte auch der SS-und Polizeiführer, SS-Gruppenführer Wilhelm Koppe, seine erste Geheim-Verordnung. Sie betraf „die Abschiebung von Juden und Polen aus dem Reichsgau Wartheland“. Der SS-Gruppenführer bezog sich auf Himmlers Anordnung, die er in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums herausgegeben hatte, und derzufolge alle Juden und diejenigen Polen aus den ehemals polnischen, nun aber zum Reich gehörenden Gebieten abzuschieben waren, die zur Intelligenz gehörten oder ihrer nationalistischen Einstellung wegen eine Gefahr für das Deutschtum bedeuteten. Sie sollten kriminellen Elementen gleichgestellt werden. Das zu erreichende Ziel hieß Säuberung und Sicherung der neuen deutschen Gebiete sowie Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten und Wohnraum für die einwandernden Volksdeutschen.

Laut Absprache beim Generalgouverneur in Krakau sollte der Abtransport aus dem Warthegau vom 15. November 1939 bis zum 28. Februar 1940 vonstatten gehen und zunächst 200 000 Polen sowie 100 000 Juden betreffen, welche im Gebiet südlich von Warschau und Lublin anzusiedeln waren.

Die erste Aktion mußte alle Landkreise von Juden säubern. Aus kleineren Landkreisen hatten mindestens 2 000 Polen, aus größeren entsprechend mehr erfaßt zu werden. Die kreisfreien Städte mußten zur Abschiebung bereitstellen: Posen etwa 35 000 Polen und alle Juden: Lodz etwa 30 000 Polen und ebensoviele Juden; Gnesen etwa 2 300 Polen und alle Juden; Hohensalza etwa 2 300 Polen und alle Juden.

Um baldmöglichst Platz für die umgesiedelten Volksdeutschen aus dem Baltikum, dem Generalgouvernement und Wolhynien zu schaffen, mußten die Abtransport-Vorbereitungen sofort beginnen. Die Säuberung und Sicherung des Gebietes war zudem ja auch erst dann erreicht, wenn die Intelligenz sowie alle politischen und kriminellen Elemente restlos entfernt wurden. Daher sollten auch die nationalistisch denkenden Polen abgeschoben werden. Bei der Intelligenz brauchte keine Rücksicht auf politische oder deutschfeindliche Betätigung genommen zu werden; sie mußte in Bausch und Bogen verschwinden. Hingegen seien, so hieß es, bei politisch nur eventuell gefährlich werdenden Leuten oder Kreisen Anhaltspunkte zu berücksichtigen, wie etwa Zugehörigkeit zu national-polnischen Verbänden, politischen Parteien und politisch-katholischen Klerus-oder Laienkreisen.

Im Interesse der beruflichen Unterbringung umgesiedelter Volks-deutscher sei darauf zu achten, hieß es ausdrücklich, daß genügend Handwerksbetriebe und Geschäfte für sie freigemacht würden. Arbei-ter, kleine Angestellte oder Subalternbeamte, die weder als Nationalpolen noch als kriminell anzusehen waren, sollten von der Evakuierung ausgeschlossen werden, da man ihrer als Arbeitskräfte dringend bedurfte. Die Landräte mußten bis zum 18. -November 1939 die genaue Zahl der aus ihrem Kreis Abzuschiebenden bekanntgeben

Die Aussiedlungen begannen auch tatsächlich pünktlich im November und waren Ende Januar 1940 bereits beendet. Um zu verhindern, daß sich jemand dem Schicksal der Aussiedlung entzöge, drohte man mit Erschießen. So geht es jedenfalls eindeutig aus einem Brief des SS-Sturmbannführers und Regierungsrats Bischoff an den Landrat von Jarocin mit dem Datum Dezember 1939 hervor. Dort steht nämlich, daß gemäß Erlaß des Reichsführers-SS vom 29. November 1939 — Reichssicherheitshauptamt IV (II o) 2-288/39 g-1 — alle Polen und Juden sofort standrechtlich zu erschießen sind, wenn sie sich entgegen dem Umsiedlungsbefehl noch im deutschen Reich — vielleicht in einer anderen Provinz — anstatt im Generalgouvernement aufhalten. Das sei allen Ältesten der noch bestehenden Judengemeinden ausdrücklich bekannt-zugeben 13).

Die bei diesen ersten Aussiedlungen zu Kriegsbeginn herrschenden Zustände können selbstverständlich noch keineswegs mit jenen verglichen werden, die später folgten; dennoch waren auch sie schon für den Begriff normaler Menschen grauenhaft. So berichtet ein Regierungsrat im Generalgouvernement, Ernst G. Schliesser, der sich in der kurzen Zeit noch nicht an die Verhältnisse gewöhnt hatte, seiner Behörde am 29. Dezember 1939 ziemlich erschüttert über Transporte aus Lodz wie folgt: . . Ich mödtte bereits heute hervorheben, daß die meisten Umsiedler 2— 3 Tage hindurch in ungeheizten Vieltwaggons transportiert wurden, die zumeist während der Fahrt überhaupt nicht geöffnet worden sind. Aus dem letzten Transport nadt Krakau allein, der noch vor Einbruch der strengen Kälte stattfand, mußten über hundert Personen wegen Erfrierungen verschiedenen Grades in ärztliche Behandlung kommen. Die Transporte waren mit wenigen Ausnahmen ohne jede Verpflegung, ja häufig auch ohne Möglichkeit, Trinkwasser zu beschaffen, gelassen worden. . . . Als allgemein wahrgenommene besondere Härte und Erschwerung erwies sich die mangelhafte Ausstattung der Umsiedler mit Decken und Eßgesdiirr, da ihnen teilweise keine Möglichkeit gegeben war, diese von zu Hause mitzunehmen. Teilweise wurde ihnen sogar von zu Hause mitgenommenes Eßgeschirr vor dem Abtransport fortgenommen. Die Wegnahme jedes größeren Geldbetrages vor dem Abtransport macht die Umsiedler vom ersten Tage an in den neuen Aufenthaltsgemeinden hilfsbedürftig. . . ."

Ebenfalls im Dezember 1939 notierte ein unbekannter Schreiber über die ersten Aussiedlungen der Juden in Lodz nach dem Generalgouvernement, daß die Behörden der Jüdischen Gemeinde in Lodz bereits in den ersten Novembertagen auferlegt hätten, die Liste von 50 000 Juden einzureichen, welche zur Aussiedlung vorgesehen seien. Erst nach dieser Aufforderung sei es dann mit den Repressalien richtig losgegangen. Zwischen und 8 Uhr durfte sich kein Jude mehr auf der Straße blicken lassen, jeder mußte gelbe Armbinden und später gelbe Sterne tragen, durfte nicht mehr mit Textilien handeln oder die Piotrkowskastraße in Lodz überschreiten. Das Ghetto drohte man auch bereits an, und Gerüchte über Aussiedlung und Entjudung von Lodz liefen um. Es hieß, so gedächten die Deutschen Wohnraum für die aus Lettland und Rußland heim ins Reich kehrenden Volksdeutschen zu schaffen. Dann wollte man in Lodz wissen, nur die nach 1918 in Lodz ansässig gewordenen russischen Juden und alle Kriegsflüchtlinge jüdischen Glaubens aus Wielun, Kalisch oder anderen Städten sollten ausgesiedelt werden, während die echten Bürger in Lodz bleiben dürften.

Dann wurden die Aussiedlungen traurige Wahrheit. Die Abtransportierten durften nur ihr Handgepäck und 50 Zloty in bar mitnehmen. Falls Arme nicht über diesen Betrag verfügten, hatte die Jüdische Gemeinde Lodz das erforderliche Geld zur Verfügung zu stellen. Alles übrige Vermögen, Juwelen, Wertpapiere, Möbel etc. waren unbeschädigt und in gutem Zustand zusammen mit den Wohnungsschlüsseln ab-zuliefern. Bis 14 Uhr hatte sich jeder, der auf der Liste stand, am Sammelplatz zum Abtransport einzufinden. Es wurde allgemein behauptet, nur bis zur Reichsgrenze stehe man unter Bewachung, habe man diese einmal passiert, dürfe man sich sofort wieder frei bewegen.

Am ersten Tage wurden 1 700 zum Abtransport registriert, die sich sogar freiwillig meldeten. Am zweiten Tage forderte man schon 2 000 Juden an, doch nun meldeten sich viel weniger, weil sich alle zuflüsterten, am dritten Tag sollten 4 500 ausgesiedelt werden. Solche Gerüchte riefen selbstverständlich eine Panik unter der jüdischen Bevölkerung in Lodz hervor 15).

In Wirklichkeit konnte natürlich gar keine Rede davon sein, daß sich die Juden jenseits der Reichsgrenze wieder frei bewegen durften, zumal sie dort bestimmt nicht gerade willkommen waren. Der Generalgouverneur Dr. Hans Frank wehrte sich erbittert gegen alle Judentransporte aus dem „Ausland“. Er hatte schon am 25. November 1939 bei einer Ansprache in Radom gesagt: „Eine Freude, endlich einmal die jüdische Rasse körperlich angehen zu können. Je mehr sterben, umso besser! Sie zu treffen, ist ein Sieg unseres Reiches. Die Juden sollen spüren, daß wir gekommen sind . . . Die Juden aus dem Reich, Wien und von überall können wir aber nicht gebrauchen.“

Der Herrscher in der alten Königsburg von Krakau wollte sich nicht mit noch mehr Juden belasten.

Am 30. Januar 1940 fand dann in Berlin eine Sitzung statt, auf der Reinhard Heydrich und der Höhere SS-und Polizeiführer im Generalgouvernement, SS-Obergruppenführer Friedrich Krüger, das Problem eingehend von allen Seiten beleuchteten. Bis dahin waren immerhin schon rund 87 000 Polen und Juden aus dem Warthegau ausgesiedelt worden, um Platz für die Baltendeutschen zu schaffen. Nebenher lief außerdem noch eine nicht gesteuerte Abwanderung.

Der Generalgouverneur wollte die Juden um keinen Preis haben. Sowohl SS-Gruppenführer Seyss-Inquart als auch SS-Obergruppenführer Krüger versuchten daher, Heydrich von seinen Forderungen abzubringen. Ersterer wies auf die Transportschwierigkeiten und die schlechte Ernährungslage im Generalgouvernement hin, die einen weiteren Nahrungsmittelzuschuß erforderlich machen würde, da ja die meisten Umsiedler an eine bessere Ernährung gewöhnt seien. Letzterer erwähnte, daß durch die Bereitstellung von Raum für Wehrmacht, Luftwaffe und SS-Truppen innerhalb des Generalgouvernements schon 100 000 bis 120 000 Menschen umgesiedelt werden müßten. Man solle daher doch die Umsiedler-Transporte lieber gleich in ein anderes Gebiet lenken, um doppelte Arbeit zu ersparen. Aber Heydrich ließ sich nichts abhandeln. Seyss-Inquart bedeutete er, die Transport-und sonstigen Schwierigkeiten würden von Berlin aus behoben, und Krüger mußte sich sagen lassen, daß bei den Bauvorhaben im Osten mehrere Hunderttausend Juden in Zwangsarbeitslagern untergebracht werden könnten. Sie stellten also kein Problem dar. Die nicht arbeitsfähigen Familienmitglieder der Zwangsarbeiter aber könnten einfach den im Generalgouvernement ansässigen Juden zugeteilt werden. Damit basta! Jedenfalls müßten sämtliche Juden aus den neuen Ostgauen verschwinden

Plötzlich hörten die Aussiedlungen jedoch auf, weil am 12. Februar 1940 in Karinhall wieder eine Konferenz stattfand, auf der Hermann Göring betonte, daß sämtliche Umsiedlungen zu unterbrechen seien, um die Arbeitskraft zu erhalten und die ganze Wirtschaft nicht durch rücksichtslosen Abzug von Arbeitskräften zu unterminieren

Auch Himmler entschied auf einmal in diesem Sinne

Am 1. April 1940 versuchte Reichsstatthalter Arthur Greiser, der Gauleiter vom Wartheland, der seine Juden unbedingt schnellstens loswerden wollte, wenigstens die Juden aus Lodz bei dieser neuen Entscheidung auszuklammern, sobald er Görings Erlaß vom 23. März 1940 vorgelegt bekam, der bis auf weiteres jede Evakuierung untersagte. Greiser stellte sich auf den Standpunkt, schon bei der Konferenz in Karinhall sei doch der Fall Lodz gesondert behandelt worden. Außerdem habe ihm aber auch Generalgouverneur Frank die Aufnahme seiner Juden aus Lodz ausdrücklich zugesagt. Greiser erreichte tatsächlich, daß die Vertreter des Beauftragten für den Vierjahresplan und des Reichsführers-SS sich breitschlagen ließen, hinsichtlich der Juden aus Lodz eine Entscheidung Hermann Görings herbeizuführen. Ebenso fand sich auch Heinrich Himmler bereit, nochmals Verbindung zu Generalgouverneur Frank aufzunehmen, um festzustellen, ob er willens sei, die Juden aus Lodz aufzunehmen. Bis feststand, ob Görings Anordnung auch die Lodzer Juden einschloß und wie Frank entscheiden würde, mußte sich Greiser damit begnügen, daß ihm zugesichert wurde, auf jeden Fall sollten die Juden aus Lodz als erste evakuiert werden.

Heute muten derartige Diskussionen ein wenig überholt an, denn in Lodz bestand inzwischen ein geschlossenes Ghetto —-das Ghetto Litz-mannstadt.

III. Die Gründung des Ghettos Litzmannstadt

Es ist erstaunlich, welche konkreten Vorstellungen gewisse deutsche Behörden bereits in den ersten Kriegsmonaten über ein Ghetto hatten! Schon am 10. Dezember 1939 verschickte der Regierungspräsident Dr. Ü b e 1 h ö r ein „geheimes“ und „streng vertrauliches" Rundschreiben an alle Partei-und Polizeibehörden sowie an sämtliche Wirtschafts-Verwaltungsstellen im ganzen Warthegau. Es handelte sich um die „Bildung eines Ghettos in der Stadt Lodsch". Vielleicht sollte man sich daher also einmal etwas eingehender mit diesem Rundschreiben befassen

Zunächst geht daraus hervor, daß eingehende Untersuchungen ergeben hätten, eine sofortige Evakuierung der Juden aus Lodz sei vorerst nicht durchführbar, wohingegen ihre Zusammenfassung in einem geschlossenen Ghetto durchaus im Bereich der Möglichkeit läge. Es gelte daher, sie so im Ghetto unterzubringen, daß zunächst ein deutsches Zentrum um den Freiheitsplatz völlig von Juden gesäubert werde. Man könnte die Umziehenden in dem sowieso fast ausschließlich von Juden bewohnten Norden der Stadt unterbringen, der unbedingt ins Ghetto einzubeziehen sei. Die in den übrigen Stadtteilen wohnenden Juden wären zunächst wohl in Arbeitsabteilungen zusammenzufassen. Diese wären unter Bewachung zu kasernieren. Es heißt da wörtlich im Rundschreiben:

»Alle Vorarbeiten und die Durchführung des Plans sind von einem Arbeitsstab auszufiihren, zu dem folgende Behörden und Dienststellen Vertreter entsenden: a) NSDAP, b) Außenstelle Lodz des Regierungspräsidenten in Kalisch, c) Stadtverwaltung der Stadt Lodz (Wohnungs-, Bau-, Gesundheits-und Ernährungsamt), d) Ordnungsund Sicherheitspolizei, e) Totenkopfverband, f) Industrie-und Handelskammer, g) Finanzamt."

Den Vorsitz behielt sich der Herr Regierungspräsident natürlich selbst vor. Zu seinem Vertreter ernannte er den Leiter seiner Außenstelle Lodz, Herrn Oberregierungsrat Dr. Moser, während für die Gesamtplanung der Kriminalrat Gans federführend sein sollte.

An alles dachte der Regierungspräsident in seinem Rundschreiben! Er sprach von der hermetischen Abriegelung des zukünftigen Ghettos, von Straßensperren, dem Zumauern der Häuserfronten und der Haus-eingänge, Bewachungsmaßnahmen und der Ghettomauer. Er dachte an die Beschaffung der Baumaterialien, Vorkehrungen zur Gesundheitsbetreuung der im Ghetto eingeschlossenen Juden, Zuteilung von Medikamenten, ärztlichen Instrumenten — letztere selbstverständlich ausschließlich aus jüdischem Besitz — und der Fäkalienabfuhr aus dem Ghetto. Ebensowenig vergaß Dr. Übelhör den Abtransport von Leichen, beziehungsweise die Einrichtung eines Friedhofs innerhalb der Ghetto-mauern. Sogar an die Zuteilung von Heizmaterial dachte er.

Alle diese Probleme sollten zunächst einmal gut überlegt und fixiert werden, bevor der Regierungspräsident Tag und Stunde der Ghetto-einrichtung verkünden konnte. Auf jeden Fall würden dann schlagartig die Grenzen des Ghettos von dafür ausgesuchten Wachmannschaften besetzt und die offenen Straßen von spanischen Reitern oder sonstigen Sperren blockiert werden. Jüdische Arbeitskräfte könnten sodann die Maurerarbeiten in Haustoren oder Straßenzügen usw. übernehmen. Gleichzeitig sollte der Judenälteste mit einer zu diesem Zweck wahrscheinlich stark erweiterten Gemeindeverwaltung die Selbstverwaltung des Ghettos in die Hand nehmen.

Die Obliegenheiten des Judenrats im Ghetto standen für Dr. Übelhör tatsächlich auch schon fest. Ihm schwebten da sechs Referate vor: Ernährung, Gesundheitswesen, Buchhaltung, Sicherheit, Wohnungsamt und Meldewesen. Die Ghetto-Selbstverwaltung hatte Gemeinschaftsküchen einzurichten, die von der Stadtverwaltung Lodz gelieferten Brennstoffe zu verteilen und die ans Ghetto verteilten Lebensmittel auszugeben. Auch die im Ghetto noch vorhandenen Nahrungsmittel würde sie einsammeln und gerecht aufteilen. Die jüdische Verwaltung mußte sich um Ärzte kümmern, für Apotheken, Krankenhauseinrichtungen, Seuchenstationen, Pflegepersonal, Trinkwasser, Latrinen, Abfuhr der Fäkalien, die Bestattung sorgen und Finanzierung der gelieferten Lebensmittel übernehmen; denn selbstverständlich sollte das Ghetto bezahlen, was die Stadt Lodz anlieferte. Ebenso hatte der Judenrat einen Feuerschutz und einen Ordnungsdienst auf die Beine zu stellen sowie die Insassen auf die vorhandenen Wohnungen zu verteilen oder Lagerstätten zu beschaffen. Auch die Zu-und Abgänge der Bevölkerung galt es zu kontrollieren.

Herr Übelhör hatte sich ausgedacht, daß die Stadtverwaltung Lodz nur an ganz bestimmten Ghettostellen Lebensmittel oder Brennstoffe an die jüdische Selbstverwaltung übergeben könne, und zwar grundsätzlich außer gegen bar auch im Tausch gegen gehamsterte Textilien oder sonst im Ghetto versteckte Sachwerte. Bei Errichtung des Ghettos würden Sicherheits-und Ordnungspolizei alle außerhalb des Ghettos wohnenden nicht arbeitsfähigen Juden ebenfalls in einer Großaktion ins Ghetto abschieben. Bei der gleichen Razzia konnten sie auch die Arbeitsfähigen erfassen und in Arbeitsabteilungen in bewachten Kasernenblocks unterbringen. Bis zu jenem Zeitpunkt sollten die betreffenden Kasernen festgelegt werden. Die jüdischen Arbeitsabteilungen könnten beim Abbruch der Häuser im Stadtzentrum eingesetzt, müßten aber selbstverständlich unter Bewachung zur Arbeitsstätte geführt werden. Die Verpflegung sollte in Gemeinschaftsküchen des Kasernenblocks erfolgen, die vom Ernährungsamt der Stadt Lodz zu versorgen seien. Für jeden einzelnen Juden hatte die Verpflegung stets für drei oder vier Tage im voraus zur Verfügung zu stehen.

Dr. Übelhör machte sich Gedanken, wie darauf zu achten sein würde, daß kein Jude bei Errichtung des Ghettos Zerstörungen an Wohnung oder Einrichtung vornehmen könne und wie die verlassenen Wohnungen am besten vor Übergriffen Unbefugter zu schützen seien. Er dachte an Hauswächter, Hausverwalter oder auch Ordnungspolizei. Jedenfalls galt es Vorkehrungen zu treffen, damit die Stadt jene Werte vollständig und unbeschädigt in Besitz nehmen konnte.

Die im Ghetto Arbeitsfähigen würden die dort anfallenden Arbeiten verrichten, und später wäre zu bestimmen, ob sie auch außerhalb der Ghettomauern arbeiten sollten. Eventuell wären auch sie dann in Kasernenblocks umzuquartieren.

Obwohl er sich bei der Ausarbeitung dieses Plans ungeheure Mühe gegeben haben muß, vergaß Dr. Übelhör doch schon 1939 keinesfalls, wie das „Endziel“ des Judenproblems aussah, denn er schloß sein Rundschreiben mit den Worten: „Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangswaßnahnte. Zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln das Ghetto und die Stadt Lodz von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muß jedenfalls sein, daß wir diese Pestbeule restlos ausbrennen.“

Die mühevolle Arbeit des Regierungspräsidenten trug wenigstens Früchte. Schon am 3. Februar 1940 kam eine Polizeiverordnung über „Wohn-und Aufenthaltsrechte der Juden" heraus. Fünf Tage später mußten alle Juden in Lodz ihr Heim verlassen, um in die Vorstadt Balut umzuziehen, wo jedem eine bestimmte Straße vorgeschrieben wurde, in der er fortab wohnen sollte. Zehntausende flüchteten in andere Städte, weil sie Angst vor dem Eingeschlossenwerden hatten

Am 30. April 1940 war es definitiv so weit. Der „Älteste der Juden in Lodz“, Mordechai Chaim Rumkowski erhielt ein Schreiben vom stellvertretenden Oberbürgermeister Schiffer in dem mitgeteilt wird, daß vom gleichen Tage an allen Bewohnern das Verlassen des Ghettos untersagt ist und Rumkowski für die peinlich genaue Durchführung dieser Anordnung verantwortlich gemacht werden soll. Ebenso erhält er den Auftrag, „alle Maßnahmen zur Aufredtterhaltung eines geordneten Gemeinwesens im Wohngebiet der Juden“ zu treffen, die Ordnung des Wirtschaftslebens, der Ernährung, des Arbeitseinsatzes, des Gesundheitswesens und der Fürsorge zu gewährleisten. Ihm obliegt es, den ihm unterstellten Ordnungsdienst entsprechend einzusetzen. Rumkowski muß sämtliche Ghettoinsassen listenmäßig erfassen, ihre Volks-und Religionszugehörigkeit ermitteln und Veränderungen, Ein-und Abgänge wöchentlich in fünffacher Ausfertigung einreichen. Durch ihn allein soll auch jeglicher Verkehr zu deutschen Behörden gehen. Er darf allerdings einen Stellvertreter ernennen und wird eine eigene Verwaltungsstelle am Baluterring eingerichtet bekommen. Der Juden-älteste ist außerdem berechtigt, alle gehamsterten Werte und Vorräte zu beschlagnahmen.

Und noch etwas anderes war wichtig! Der stellvertretende Ober-bürgermeister Schiffer vergaß nicht, auch darauf hinzuweisen. Er bemerkte in seinem Schreiben an den Ältesten der Juden: „Da das gesamte jüdische Vermögen nach reichsgesetzlicher Regelung als beschlagnahmt gilt, haben Sie sämtliche Vermögenswerte der Juden, soweit sie nicht zur unmittelbaren Lebensnotwendigkeit gehören, (z. B.

Bekleidung, Ernährung, Wohnung) listenmäßig zu erfassen und sicherzustellen. Sie sind ferner berechtigt, alle Juden zur unentgeltlidien Arbeitsleistung zu verpflichten.“ Zum Schluß des Briefes heißt es dann noch: „Alle Maßnahmen grundsätzlicher Art bedürfen vor ihrer Ausführung meiner vorherigen schriftlichen Zustimmung. Handelt es sich um Maßnahmen, die unaufschiebbar sind und zur Abwendung unmittelbar drohender Gefahr ergriffen werden müssen, so ist meine Zustimmung unverzüglich fernmündlich bzw. nach der Anordnung schriftlich nachzusuchen. Die Befugnisse des Herrn Polizeipräsidenten von Litzmannstadt bleiben durch diese Anordnung unberührt.“

Elf Tage später — also am 11. April 1940 — erschien ein Sonderbefehl des Kommandeurs der Litzmannstadter Schutzpolizei, Oberst Walter Rudolf K e u c k , der das Schicksal der im Lodzer Ghetto eingeschlossenen Juden besiegelte. Dieser „Sonderbefehl für den Schußwaffengebrauch bei der Bewachung des Ghettos Litzmannstadt“ lautet: „Gemäß Ziffer 9 der Sonderanweisung des Herrn Polizeipräsidenten für den Verkehr mit dem Ghetto (Verfg. S la vom 10. 5. 40) ist bei jedem Versuch eines jüdischen Ghettoeinwohners, auf irgendeine Weise das Ghetto unerlaubt zu verlassen, sofort von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Mit Zustimmung des Herrn Polizeipräsidenten ordne ich hierzu ergänzend folgendes an: 1. Die Verletzung Unbeteiligter ist beim Gebrauch der Schußwaffe in belebten Straßen leicht möglich, muß aber vermieden werden.

2. Jede Person, die sich von außen lediglich in verdächtiger Weise dem Ghettozaun nähert, ist mit . Halt'anzurufen. Erst wenn die angerufene Person auf den , Halt‘-Ruf nicht stehen bleibt, oder versucht zu fliehen, wird geschossen.

3. Jeder Jude, der versucht, den Ghettozaun zu durchkriechen oder zu überklettern oder das Ghetto auf sonstige Weise unberechtigt verlassen will, wird ohne Anruf erschossen.

4. Jeder Jude, der irgendwelche Schmuggelwaren oder Geld über den Zaun wirft, oder über den Zaun geworfene Gegenstände im Empfang nimmt, wird, wenn er unmittelbar dabei getroffen wird, ohne Anruf erschossen.

5. Jeder Jude, der sich nach der Sperrstunde (21. 00 Uhr) unmittelbar am Zaun zu schaffen macht, wird ohne Anruf erschossen. Auch innerhalb des Ghettos müssen die Juden Passierscheine haben, wenn sie nach 21 Uhr die Straße betreten. Der jüdische Ordnungsdienst hat Anweisung, 15 m vom Zaun entfernt zu bleiben. Passierschein-Inhaber können diese 15 m-Zone nicht innehalten, wenn ihr Wohnungseingang näher am Zaun liegt.

6. Jede Person, die unmittelbar dabei angetroffen wird, Ware, Geld oder ähnliches von außen in das Ghetto hineinzuschmuggeln oder entgegenzunehmen, wird ohne Anruf erschossen.

7. Jede Person, die unmittelbar dabei angetroffen wird, den Ghettozaun von außen zu durchkriechen oder zu überklettern, wird ohne Anruf erschossen.

Sämtliche für die Bewachung des Ghettos zum Einsatz kommenden Beamten sind über die vorstehenden Waffengebrauchsbestimmungen eingehend zu unterrichten. Je ein Abdruck dieses Befehls ist in den Aufenthaltsräumen der Ghettowache und Stützpunkten zum Aushang zu bringen. gezeichnet: Keuck“

Damit nun aber auch alles, was irgendwie in Lodz mit Juden zusammenhing oder zu tun hatte, in den Käfig Litzmannstadt eingesperrt werden konnte, kam noch am 6. August 1940 vom Reichsstatthalter der Befehl an den Regierungspräsidenten in Lodz, daß im Falle einer polnisch-jüdischen Mischehe beide Partner, sofern sie nicht in Scheidung oder getrennt lebten, ebenfalls in das Ghetto einzuweisen seien. Gleiches sollte auch für die Kinder aus solchen Ehen gelten, falls diese in der eigenen polnisch-jüdischen Familie lebten.

Ebenso sei zu verfahren, wenn jüdisch-deutsche Mischehen vorkommen sollten und entschieden werden müßten

IV. Hans Biebow

Bevor die Zustände im Lodzer Ghetto selbst zur Sprache kommen, sei hier noch etwas über den Leiter einer ganz bestimmten Dienststelle berichtet.

Im Oktober 1940 wurde beim Ernährungs-und Wirtschaftsamt des in Litzmannstadt umbenannten Lodz eine ganz neue Dienststelle geschaffen: die „Ghettoverwaltung". Ihre Aufgabe bestand darin, „den Unterhalt der im Ghetto untergebradtten Juden aus Vermögenswerten zu bestreiten, die die einzelnen Insassen des Ghettos noch in Besitz haben, und die brachliegenden Arbeitskräfte, soweit dies irgend möglich ist, in den Arbeitsprozeß einzuschalten“

Leiter dieser Dienststelle „Ghettoverwaltung" war nämlich Hans Biebow. Seltsam, daß dieser Mann, der Herrscher über Leben und Tod der im Ghetto eingeschlossenen Juden werden sollte, erst am 16. Oktober 1937 seine Aufnahme in die NSDAP beantragte und am 15. Februar 1938 tatsächlich als Parteigenosse bestätigt wurde

Aus seinem handschriftlichen Lebenslauf erfährt man, daß er a m 18. Dezember 1902 geboren wurde. Nicht etwa als Sohn eines Arbeiters, sondern des Versicherungsdirektors Julius Biebow in Bremen, der alten Hansestadt. Mit der Schule wollte es dann offenbar nicht so recht klappen. Immerhin brachte er die Realschule hinter sich und trat dann als Lehrling ins Geschäft seines Vaters ein. Er betätigte sich in der Bezirksdirektion der Stuttgarter Versicherungs-Gesellschaft und hegte die Hoffnung, einmal die Stellung seines Vaters einnehmen zu können. Hans Biebow genoß eine entsprechend gründliche Ausbildung, wechselte dann jedoch den Beruf in der Inflation und trat in die Getreide-und Futtermittelbank in Bremen ein. Bis zu seinem 22. Lebensjahr arbeitete er im Getreide-handel und leitete sogar eine Filiale zeitweise ganz selbständig, wie er angibt. Nach der Inflation begann er sich mehr für den Kaffeehandel zu interessieren, den er ebenfalls bei einem Freund seines Vaters erlernte, um sich sehr bald darauf schon mit wenig Geld selbständig zu machen. In seinem Lebenslauf bemerkt Biebow ausdrücklich, trotz dieses Umstandes habe er in achtzehn Jahren seinen Betrieb zu einem der größten dieser Branche in ganz Deutschland ausgebaut. Vor Kriegsausbruch durfte er einen Jahresumsatz von einer Million verbuchen, und seine Belegschaft zählte 250 Mann

Der junge Parteigenosse mit der Managerbegabung sah deutlich, welche Möglichkeiten sich ihm im Osten eröffneten, war jedoch etwas beunruhigt, ob seine ja leider nur so kurze Parteizugehörigkeit und die normalerweise damit verbundene geringe weltanschauliche Schulung ihn auch politisch für einwandfrei genug erscheinen ließen, wenn er sich um einen leitenden Posten bei der Ghettoverwaltung in Litzmannstadt bewerben würde. Doch riskierte er es. Sicherheitshalber versuchte er allerdings, sich eine Rückendeckung zu verschaffen, und schrieb deshalb an die Deutsche Arbeitsfront in Bremen-Horn unter anderem wie folgt: „. . . Es soll mir das Amt der Leitung der Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Ghetto in Litzmannstadt übertragen werden, und zu diesem Zweck ist es notwendig, daß Sie ein kurzes Schreiben zu Händen von Herrn Stadtoberverwaltungsrat Dr. Moldenhauer richten, aus dem hervorgeht, daß sowohl die Leitung meines Betriebes in politischer Hinsicht einwandfrei war, wie auch gegen meine Person keine Bedenken vorliegen. Vielleicht sind Sie so freundlich, lieber Pg. Schmidt, und gehen auch kurz auf die Einstellung der Gefolgschaft zu mir ein. Ich danke Ihnen für die postwendende Erledigung dieser Zeilen im voraus verbindlichst und grüße Sie mit Heil Hitler! Biebow“

Das erbetene Empfehlungsschreiben sollte an den Satdtoberverwaltungsrat Dr. Moldenhauer in Litzmannstadt, Hermann-Göring-Straße 21, gerichtet werden

Biebow muß tatsächlich über beachtliche Beziehungen verfügt haben, denn schon am 4. Mai 1940 schrieb Hans Rickmers von der Deutschen Arbeitsfront in Bremen-Horn folgenden Brief in seinem Interesse an Dr. Moldenhauer in Litzmannstadt: „Auf Veranlassung des Herrn Hans Biebow in Bremen, z. Zt. dort, teilen wir Ihnen mit, daß der Genannte Inhaber der Firmen Julius Biebow & Co. und Streithorst & Co. ist.

In ßen Jahren seit der Madttübernahme, in denen wir diese Betriebe zu betreuen hatten, haben wir in dem Pg. Biebow einen Betriebsführer kennengelernt, der sich um die Belange seiner Gefolgschaft (zuletzt ca. 250 Gefolgschaftsmitglieder) mit großem Eifer und Verständnis gekümmert hat, und dem viel daran gelegen war, mit in der Reihe der ausgezeichneten Musterbetriebe marschieren zu können. Wenn ihm dies nicht gelungen ist, so lag dies weniger an dem guten Willen, sondern ist vielmehr dem Umstande zuzuschreiben, daß die örtlich beschränkten Platzverhältnisse seiner Betriebe eine entsprechende Entfaltung nicht zuließen. Die Leitung, die der Genannte seinen Betrieben angedeihen ließ, war in politischer Beziehung in jeder Weise einwandfrei, ebenso wie gegen ihn selbst von unserer Seite nicht die geringsten Bedenken bestehen. Heil Hitler!“

Hans Biebow, der einstige Arbeitgeber von 250 Gefolgschaftsmitgliedern, wurde also nun Herr über 200 000 Ghettosklaven! Zu aller-erst sorgte er einmal dafür, daß seine guten alten Kameraden schleunigst zu ihm in die Dienststelle und damit nach Lodz gelangten. Der Manager Hans Biebow wußte ja genau, wie wichtig es gerade in einer solchen Dienststelle ist, nur aufrichtig ergebene und wirklich vertrauenswürdige Leute um sich zu haben. Schließlich befaßte sich seine Dienststelle mit dem Raub und Plünderung im Wert von vielen Millionen. Ein solcher Kamerad, mit dem Biebow schon seit zehn Jahren zusammenarbeitete, war Friedrich Wilhelm Ribbe, den er deshalb auch bald zum stellvertretenden Leiter aufsteigen ließ. Andere verläßliche Getreue brachte er in der Buchhaltung oder Leitung der einzelnen Büros unter. Falls jemand dort nicht dicht hielt oder nicht wirklich bedenkenlos mit ihm durch dick und dünn ging, wurde der Betreffende umgehend abserviert.

Am 12. November 1940 schrieb Hans Biebow an den Regierungspräsidenten, in dessen Bereich Litzmannstadt lag, Dr. Marder, über eine ihm vorschwebende Umorganisation der Ghettoverwaltung. Ihm sagte die Zusammenarbeit mit einem gewissen Herrn Palfinger nicht mehr zu, seit sein Vertrauter Ribbe wieder bei ihm in Lodz tätig geworden war. Biebow wies im Schreiben darauf hin, daß dieser Palfinger ja sowieso seinen Posten in der Ghettoverwaltung niederzulegen wünsche, um sich lieber am Aufbau des Ghettos in Warschau zu beteiligen. Dieserhalb habe er schon telefonisch Verbindung mit dem Reichsamtsleiter Schöne . ausgenommen, ohne seinen Vorgesetzten Hans Biebow zunächst davon zu verständigen. Aus diesem Grunde hielt nun Biebow die sofortige Entlassung Palfingers für unerläßlich, da ihm unter solchen Umständen eine weitere Zusammenarbeit mit diesem Manne nicht zugemutet werden könne. Außerdem häuften sich die Arbeiten in der Ghettoverwaltung jeden Tag mehr an, und es komme dauernd zu unerfreulichen Differenzen mit Palfinger. Es würde zweifellos der Arbeit und überhaupt dem ganzen Betriebsklima zugute kommen, wenn der hervorragend tüchtige und vor allem absolut vertrauenswürdige Kaufmann Ribbe Herrn Palfingers Stellung einnehme. Mit Ribbe habe er, Biebow, bereits seit vielen Jahren bestens zusammengearbeitet.

Im gleichen Brief wird ein anderer Vertrauter, der Buchhalter Hämmerle, erwähnt, welcher eine großartige Reform der Ghettoverwaltungsbuchhaltung durchgeführt habe und deshalb ebenfalls für einen gehobenen Posten hiermit in Vorschlag gebracht werde. Den Stadtoberinspektor Quay schlug Biebow sodann für die allgemeine Leitung seines Unternehmens vor. Er bat Herrn Dr. Marder, die erforderlich gewordenen Veränderungen bekanntmachen zu wollen, damit keine Zweifel und Kompetenzstreitigkeiten entstehen könnten, die ja'der Arbeit nur schaden würden

Nun, Hans Biebow hatte eben in Lodz schnell Fuß gefaßt, fühlte sich in seinem Element und machte sich bald unentbehrlich. Als des-halb im Dezember 1940 der Militärsbefehlshaber Frankreich „den Kaufmann Hans Biebow“ anforderte, da er ihn ab Januar 1941 als Sachverständigen dringend benötige und bat, ihn zu diesem Zweck zu beurlauben, antwortete Dr. Marder noch am gleichen Tage. Der Bescheid trägt das Datum des 18. Dezember und lautet: „Auf den Fernspruch vorn 18. ds. Mts. betreffend Beurlaubung des Kaufmanns Hans Biebow zum Militärbefehlskaber in Frankreich, teile ich mit, daß eine Beurlaubung des Biebow nicht möglich ist. Biebow ist für den Oberbürgermeister in Litzmannstadt U. K. gestellt. Er leitet allein die gesamte Ghettoverwaltung Litzmannstadt mit großen wirtschaftlichen Aufgaben. Eine Beurlaubung würde zur Gefährdung der gesamten Ghettoverwaltung führen. Der Herr Regierungspräsident von Litzmannstadt hat auf Vortrag ebenfalls die Beurlaubung des Biebow als untragbar erklärt.“

V. Raub und Plünderung

Die erste Maßnahme, welche Biebows „Ghettoverwaltung" traf, um die Juden zu berauben, bestand in der Einführung des Ghettogeldes, das außerhalb des Ghettos gedruckt wurde. Man gab Banknoten von einer, zwei, fünf, zehn, zwanzig und fünfzig Mark in diesem Ghetto-geld aus

Am 24. Juni 1940 schon veröffentlichte der Älteste der Juden in Litzmannstadt, Rumkowski, eine Bekanntmachung über die im Ghetto zulässigen Zahlungsmittel. Ihr zufolge durften ab 28. Juni 1940 keine anderen Zahlungsmittel als das Ghettogeld mehr Anwendung finden, wenn es um Lebensmittelkäufe, Apotheken, Krankenhäuser sowie Steuer-oder Mietskassen ging. Die Ghettoinsassen sollten sich schnellstens bei Chaim Mordechai Rumkowski, ihrem Ältesten, mit dem erforderlichen Ghettogeld eindecken, um ihre Einkäufe tätigen zu können. Rumkowski selbst nannte das Geld übrigens „Mark-Quittungen“. Der Umtausch erfolgte in Rumkowskis Bank auf der Kelmstraße 71 oder in der Bankfiliale auf der Alexanderhofstraße 56. Reichsmark und polnische Zloty sollten gleicherweise zum Umtausch gelangen

Die ganze Umtausch-Aktion kam allen reichlich mysteriös vor. Die „Ghettoverwaltung“ selbst drückte sich dann allerdings in einem Schreiben vom 23. Februar 1942 schon weit deutlicher über Zweck und Ziele sowie Wert des Ghettogeldes aus. Dort heißt es unter anderem: . . Das Ghettogeld stellt nichts weiter dar, als eine Quittung über die von Juden dagegen eingetauschten Reichsmark oder sonstigen Devisen. Sollte das Ghetto einmal aufgelöst werden, was allerdings nicht anzunehmen ist, dann kann kein Besitzer von Ghettogeld Rechtsansprüche gegen das Deutsche Reich stellen, da der Schein nichts weiter als eine Quittung ist.“

Doch darf das Ghettogeld nur als kleiner und noch recht bescheidener Anfang bezeichnet werden. Das Archiv der „Ghettoverwaltung Litzmannstadt“ wurde nach dem Kriege unversehrt aufgefunden, und wenn man es genau studiert, erkennt man auch, welches die Haupt-sorge der ersten Zeit gewesen ist. Da handelte es sich nämlich zunächst einmal darum, wer berechtigt sein sollte, sich jüdisches Hab und Gut unter den Nagel zu reißen. Die Ghettoverwaltung stand selbstverständlich auf dem Standpunkt, ihr ganz allein seien alle jüdischen Belange unterstellt. Andere Dienststellen gedachten jedoch ebenfalls an dem Raub teilzuhaben und beanspruchten ihr „gutes“ Recht. Betrachten wir nur einmal diesen Kompetenzstreit ein wenig näher!

Der Oberbürgermeister von Litzmannstadt schrieb am 10. Januar 1940 an den Polizeipräsidenten, daß ihm gemeldet worden sei, die jüdische Spinnstoff-Fabrik A. Szwedziniewicz in der Narutowiczastraße 39 habe ordnungsgemäß den Bestand des Lagers gemeldet, wie es der Beauftragte des Generalgouverneurs für die bestzten Gebiete in seiner Bekanntmachung vom 4. November 1939 verlangt habe. Kurz darauf sei Sturmführer Reichel mit seinen Leuten erschienen, um das gemeldete Lager an Herren-und Damentaschentücher einfach per Lastwagen abzutransportieren, ohne dafür eine Quittung zu hinterlassen. Der Herr Oberbürgermeister mißbilligte ein solches Vorgehen grundsätzlich. Bedauerlicherweise seien ihm nun schon mehrere solcher Eigenmächtigkeiten zur Kenntnis gelangt, und er müsse den Herrn Polizeipräsidenten daher bitten, Vorsorge zu treffen, daß derartige Beschlagnahmungen hinfort unterbunden würden. Um seinem Ersuchen mehr Nachdruck zu verleihen, fügte er Abschrift eines Erlasses bei, demzufolge Ministerpräsident Generalfeldmarschall Göring als Vorsitzender des Ministerates für die Reichsverteidigung am 28. November 1939 — St. M. Dev. 10930 — als den Beauftragten für die Rohstofferfassung, und also allein zuständig für jede Beschlagnahme, Generalmajor Bührmann bezeichnete

Sieben Tage später stand dann in der „Lodzer Zeitung“ tatsächlich eine Bekanntmachung des Polizeipräsidenten, in der er vor willkürlichen Beschlagnahmungen jüdischen Gutes warnte.

Verschiedene deutsche Dienststellen kümmerten sich jedoch nicht darum. Sie setzten ihre Raubexkursionen vergnügt weiter fort, als sei es ihr gutes Recht. So sah sich der Regierungspräsident am 4. März 1940 abermals genötigt, ein Rundschreiben an sämtliche Behörden loszulassen, in dem es wörtlich hieß:

„Nach Mitteilung der Haupttreuhandstelle-Ost sind in letzter Zeit trotz meiner wiederholten Verfügung wieder wilde Beschlagnahmungen vorgekommen. Auf ausdrückliche Anordnung des Reidtsführers-SS weise ich nochmals darauf hin, daß nur folgende Dienststellen befugt sind, Beschlagnahmungen auszusprechen:

1. Der Reichsführer-SS als Chef der deutschen Polizei mit den nachgeordneten Behörden.

2. Der Reichsführer-SS als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums.

3. Die Treuhandstelle-Ost und ihre Treuhandstellen bzw.deren Außenstelle Lodz.

4. Der Generalmajor Bührmann und sein Stab mit dem Sitz in Lodz auf dem Gebiet der Erfassung von Rohstoffen, Halb-und Fertigwaren. Die Treuhandstelle-Ost hat die folgenden Stellen ermächtigt, in ihrem Auftrag Besddagnahmungen auszusprechen:

1. Das Reichsforstamt und von diesem Beauftragte hinsichtlich des forstwirtschaftlichen Vermögens.

2. Die Oberbürgermeister und die Landräte hinsidttlich des Wohnungsmobilars geflüchteter oder sonst abwesender oder zur Evakuierung kommender Polen und Juden.

3. Personen, die von der Haupttreuhandstelle oder ihren Treuhand-stellen zu Beschlagnahmen berechtigt sind und darüber einen schriftlichen mit Dienstsiegel versehenen Ausweis mit sich führen.

Alle von anderen Behörden, Parteidienststellen usw. verfügten Beschlagnahmen sind widerreditlich und unwirksam. Ausgenommen hiervon sind nur die auf Grund des Wehrleistungsgesetzes ausgesprochenen Beschlagnahmen. Ich ersuche, den Ihnen unterstehenden Dienststellen und den gleichgeordneten Behörden sowie der Kreisleitung der NSDAP diese Verfügung bekanntzugeben. Übergriffe seitens unzuständiger Stellen sind nicht zu dulden und mir sofort zu melden.

Abdrucke dieses Erlasses können gegebenenfalls bei mir angefordert werden.“

Die meisten, die es anging, kümmerten sich aber wohl doch nicht um solche Anordnungen und Verbote, denn aus einer längeren Besprechungsnotiz des offenbar korrekten und mit den örtlichen Gepflogenheiten noch nicht ganz vertrauten Kriminaloberassistenten Richter geht das einwandfrei hervor. Richter wollte dieser Vorkommnisse wegen am 28. April 1940 beim Regierungspräsidenten in Lodz vor-stellig werden und hatte sich alles sehr ausführlich notiert. So erfährt man heute, daß die Kriminalpolizei-Sonderabteilung Ghetto unter Leitung des Kriminaloberassistenten Siebers laufend große Mengen wertvoller Waren, Gold, Brillanten usw. aus dem Ghetto holte, obwohl der Kripo durch die Wirtschafts-und Ernährungsstelle Ghetto immer wieder erklärt worden war, diese Dinge fielen allein der Wirtschaftsstelle zu, da durch sie ja die Ernährung und überhaupt jegliche Versorgung der Ghettoinsassen zu gewährleisten sei. Augenscheinlich nahm die Kripo davon einfach keine Notiz. Sie behauptete allen Ernstes, ihre Beamten beschlagnahmten lediglich solche Waren, die aus einer strafbaren Handlung herrührten oder mit ihr im Zusammenhang ständen. Laut Sonderanweisung des Polizeipräsidenten hatten sich die Kripobeamten der Sonderabteilung Ghetto nämlich einzig und allein mit Schmuggel zu befassen, zu dessen Bekämpfung sie überhaupt eingesetzt worden waren. Wie Kriminaloberassistent Richter in seinem Memorandum jedoch ausdrücklich hervorhebt, beschäftigte sich die Kripo damit ausgerechnet sehr oberflächlich. Sie richtete ihr Augenmerk vielmehr hauptsächlich auf die Beschlagnahme von Gold und Juwelen. Beides schaffte sie dann höchst eilig und unter vorsichtiger Umgehung der Wirtschaftstelle auf dem Baluterring aus dem Ghetto hinaus. Der ehrliche Richter hielt es für äußerst unanständig, wenn ausgerechnet die Dienststelle, welche für das Wohl und Wehe der Juden im Ghetto zu sorgen hatte, einfach so übergangen und ihr gewissermaßen bewußt entgegengearbeitet wurde.

Ebenso monierte Richter, daß Webwaren aus dem Ghetto ausgeführt wurden, ohne die vorgeschriebene Desinfektion zu passieren. Er hielt es für gefährlich. Im Ghetto Lodz gab es ansteckende Krankheiten, die so in die Stadt Lodz hineingeschleppt werden konnten. Leider könne auch keine Rede davon sein, daß sich die Kripo während der Ruhrepidemie im Ghetto an die amtsärztlichen Vorschriften gehalten habe. Sie habe sich ganz im Gegenteil einfach über sie hinweg gesetzt.

Richter gab zu bedenken, wenn sich schon die Kripo selbst nicht an die Verordnungen des Polizeipräsidenten halte, wie dann überhaupt eine ordnungsmässige Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen möglich sein sollte. Im weiteren Verlauf der Besprechung befaßte er sich dann auch mit dem Leihhaus. Es war vom Ältesten der Juden auf Anordnung der Wirtschaftsstelle und der Geheimen Staatspolizei ins Leben gerufen worden. Es verfolgte den Zweck, Unmengen an Textilien, Gold und Pelzen aus dem Ghetto zu holen und alles der Wirtschaftsstelle zuzuführen. Richter fand es daher unnötig, daß die Kripo diese Werte beschlagnahme und unter den Ghettoinsassen dadurch nur Unruhe hervorriefe. Immerhin bekamen ja die Juden ohne Hergabe dieser Werte keine Lebensmittel und andere Dinge geliefert. Endlich kommt er dann auch auf einen sehr konkreten Fall zu sprechen. Am 24. August 1940 wurde ein Pole dabei geschnappt, als er unberechtigt das Ghetto zu betreten versuchte. Man fand neun Passierscheine bei ihm, die auf jüdische Namen ausgestellt waren. Der Pole erklärte, im Auftrage der Kriminalpolizei mit Hilfe dieser Passierscheine Wertsachen aller Art bei den Ghettobewohnern abzuholen und hinauszuschaffen. Er habe solche Aufträge schon mehrmals ausgeführt. Richter bezeichnet die Zustände als unwürdig und unhaltbar. Er geht sogar soweit, sie als Sabotage seiner eigenen Dienststelle zu brandmarken, welche gute Zusammenarbeit mit dem Judenältesten äußerst erschwere.

Deshalb schlägt er vor, die Kriminalpolizei zur unverzüglichen Ablieferung alles Beschlagnahmten zu veranlassen und nochmals darauf hinzuweisen, daß für eine Beschlagnahmung von Gold und Devisen allein die Zollfahndungsstelle zuständig sei. Diese habe bisher dem Wirtschaftsprogramm stets Verständnis entgegengebracht und von jeder Beschlagnahme abgesehen. Ebenso meint Richter, sei es vorteilhafter, die Kriminalpolizei-Sonderabteilung Ghetto an den Baluterring zu verlegen, damit sie dort besser und verständnisvoller mit der Wirtschaftsstelle zusammenarbeiten könne

Richters Bemühungen schienen anfangs tatsächlich von Erfolg gekrönt zu sein. Schon am 2. September ordnete der Regierungs-Vizepräsident Dr. Moser an, daß alle im Ghetto anfallenden Wertsachen, wie Juwelen, Platin, Gold, Silber, Pelze, Textilien, Porzellan und Kristall allein über die Lagerverwaltung am Baluterring den zuständigen Sammelstellen zugeführt werden sollten. Außer Textilien würde alles von der Wirtschaftsstelle Ghetto ins Sammellager übernommen, registriert und gemäß Vorschrift verkauft. Die Textilien dagegen hätten nach der vorgeschriebenen Desinfektion von der Waren-handelsgesellschaft mbH, Litzmannstadt, übernommen und mit dem festgelegten Preis (Vorkriegspreis) bezahlt zu werden. Vor Übernahme der Waren jedoch bestimme die Warenhandelsgesellschaft mbH, was davon in den Arbeitsstuben des Judenrates verarbeitet werden solle, um so das Ghetto mit einem Arbeitsprogramm zum Unterhalt der Judengemeinschaft zu unterstützen. Die Fertigwaren übernähme dann ebenfalls die Litzmannstädter Warenhandelsgesellschaft mbH zum Verkauf, nachdem sie die Arbeitslöhne bezahlt habe

Herr Hans Biebow schlief ebenfalls nicht. Am 23. Oktober 1940 fand eine Besprechung der Ghettoverwaltung mit der Kriminalpolizei statt, in der laut Niederschrift beschlossen wurde, daß alle Gold-und Schmucksachen, Devisen und Wertpapiere, Bargeld und Waren jeder Art, die im Ghetto zur Beschlagnahme kommen, in Litzmannstadt außerhalb der Ghettomauern aufgefunden werden, aber noch den Ghettojuden gehören, über die Wirtschaftsstelle der Kripo — Kriminalsekretär Kelm — sofort an die Ghettoverwaltung abzuliefern sind. Lediglich Verwahrstücke von Strafgefangenen sind davon ausgenommen worden. Da Biebow es nicht ganz mit der Kripo verderben wollte, erklärte er sich dann im Namen der Ghettoverwaltung unter Umständen dazu bereit, von sich aus Anträgen der Kripo im Ghetto zu entsprechen, die ihr von der eigenen Wirtschaftsabteilung beim Polizeipräsidium nicht genehmigt worden waren. Es handelte sich darum, daß die im Ghetto tätigen Kriminalpolizeibeamten je einen Anzug und einen Mantel beantragt hatten, weil die Haussuchungen in den angeblich so verwahrlosten Judenwohnungen einen übergroßen Verschleiß der Kleidung mit sich brachten und sie als Beamte keine Bezugscheine erhielten. Ebenso forderten sie die 2, — RM-Pauschale, welche den im Ghetto arbeitenden städtischen Arbeitern ausgezahlt wurde. Biebow begründete sein Entgegenkommen damit, daß die Aufgaben der Kripo im Ghetto die Ziele der Ghettoverwaltung fördere und ihr so Einnahmen zuflössen, die sie ohne die Kripo nicht haben würde. Als weiteres Entgegenkommen hatte Biebow nichts dagegen, wenn die Kripo sich für beschlagnahmte Gegenstände interessiere und sie zum festgesetzten Preis erwerben möchte. Kriminalsekretär Kelm sollte dann nur mit der Ghettoverwaltung darüber verhandeln, wenn die Kripo Waren aus dem Lager der Ghettoverwaltung zu erstehen wünsche

Eine Woche später, am 31. Oktober, konnte Hans Biebows Stellvertreter Friedrich Wilhelm Ribbe darüber schon mehr berichten. Er stellte in einem Memorandum fest, daß die Beschlagnahme der Kripo und Geheimen Staatspolizei im verflossenen Monat doch einige recht gute Ergebnisse gezeigt hätten. Wenn auch der Wert der Sachen durch das fast einjährige Verstecken oft erheblich gemindert sei, denn die Juden hätten sie teilweise vergraben oder eingemauert und so wären sie der Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen. Sie stellten dennoch einen gewissen Wert dar, obwohl man sie nur vorsichtig bewerten könne. Es müsse jedoch darauf hingewiesen werden, daß der Erlös höher sein würde, wenn die Verarbeitung der Textilien zu Anzügen, Kleidern, Inletts etc. im Ghetto selbst durchgeführt werde und so Fertigwaren auf den Markt gebracht würden. Dann käme vor allem nicht nur der Stoffwert, sondern auch der Arbeitslohn dem Ernährungskonto des Ghettos zugute. Ribbe hoffte, die schwebenden Verhandlungen mit der Textilstelle in diesem Sinne abzuschließen, weil es so am ertragreichsten für die Ghettoverwaltung ist und somit dem Ghetto selbst nützt

Biebow verstand es, nach und nach alles in die Hand zu bekommen. Seinen größten Sieg trug er am 16. März 1942 davon, als er mit dem Regierungspräsidenten und der Haupttreuhandstelle-Ost eine Vereinbarung traf, in der es unter anderem heißt: „ 1. Alle im Wohngebiet der Juden erfaßten Waren und Wertsachen gehen grundsätzlich an die Ghettoverwaltung zur Verwertung über. 2. Waren und Wertsachen, die durch die Vermittlung des Kriminalkommissariats Ghetto innerhalb der Stadt Litzmannstadt erfaßt werden, können nach erfolgter Schätzung von der Ghettoverwaltung übernommen werden. Letzten Endes ist die Ghettoverwaltung ein Bestandteil der HTO (Haupttreuhandstelle-Ost), da bei der Auflösung des Ghettos alle Werte, wie zum Beispiel Textilien, Barmittel usw. genauso in den Besitz des Deutschen Reiches und damit der HTO übergehen, wie die in der Ghettoverwaltung verbleibenden Vermögenswerte. Die dadurch bedingte Schätzung und Abrechnung für die außerhalb des Ghettos erfaßten Güter sind eine interne Angelegenheit zwischen der HTO und der Ghettoverwaltung, das heißt also, hiermit brauchen keine anderen Dienststellen als die vorgenannten, unnötig belastet werden.“

Hans Biebow begnügte sich auch nicht etwa mit Litzmannstadt allein! Im Warthegau wohnten ja immer noch in verschiedenen anderen Städten oder kleinen Orten ein paar Juden, und als dann diese Juden dem „Endziel" entgegengeführt wurden und man sie zwecks Ausrottung „aussiedelte", blieben auch von ihnen einige Vermögenswerte zurück. Weshalb sollte sich Herr Hans Biebow diese entgehen lassen? Er unternahm also schleunigst entsprechende Schritte und verschickte ein Rundschreiben — es war am 20. April 1942 —, das schon eher einer Verfügung gleichkam. Es lautete: „Nach dem Erlaß vom 23. März 1942 des Herrn Reichsstatthalters, fallen sämtliche Vermögenswerte wie Geld, Devisen, Hausrat, Waren, die Eigentum umgesiedelter Juden sind, an die Ghettoverwaltung in Litzmannstadt. Die Ghettoverwaltung in Litzmannstadt kann rein verwaltungsmäßig die Mithilfe der ortsansässigen Behörden bei der Verwertung jüdischen Gutes nicht entbehren, zumal es auch zweckmäßig erscheint, den anfallenden Hausrat an Ort und Stelle einer neuen Verwendung zuzuführen. Was nach der Umsiedlung der Juden unverzüglich und in vollem Umfange zur alleinigen Verfügung der Ghettoverwaltung sichergestellt werden muß, ist folgendes: 1. Maschinen aller Art (Nähmaschinen, Schuhmacher-und Kürschnermaschinen, Drehbänke, Tischlerwerkzeug, Bohrmaschinen, Strickmaschinen und sonstige) 2. Deutsche Reichsmark 3. Devisen bzw. ausländische Zahlungsmittel 4. Geprägte Gold-, Silber-und sonstige Münzen aller Art 5. Edelsteine 6. Textilien, Leder und sonstige Rohmaterialien aller Art.

Dagegen überläßt die Ghettoverwaltung die Verwertung des Haus-rats den zuständigen Amtskommissaren. Unter Hausrat wird folgendes in großen Umrissen verstanden: 1. Gebrauchtes Mobiliar 2. Betten 3. Geschirr und sonstige Einrichtungsgegenstände ehemals jüdischer Wohnungen 4. Lebensmittel. Der Hausrat ist zwecl^mäßig in Form von Versteigerungen oder freien Verkäufen zu verwerten und der Erlös unter Abzug reiner Verkaufsunkosten an die Ghettoverwaltung abzuführen. Es wird hiermit ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es keinesfalls statthaft ist, von Juden vor der Umsiedlung noch irgendwelche Bargeldbeträge oder Forderungen einzutreiben. Die Sicherstellung von Barbeträgen ist ausschließlich und allein Aufgabe des Sonderkommandos Lange, während Forderungen den Juden gegenüber der Ghettoverwaltung Litzmannstadt zu melden sind, die nach Prüfung der Berechtigung über die Begleichung entscheidet.“ Nach dieser Bekanntmachung erhielt die Ghettoverwaltung unzählige Briefe des sonderbarsten Inhalts. Der Amtskommissar von Sanniki, wo es auch noch ein paar Juden gab, schrieb zum Beispiel an die Ghettoverwaltung in Lodz: „Betrifft: Judenaktion im Amtsbezirk Sanniki In der Anlage erhalten Sie die aus dem Judenghetto stammenden vermutlichen Goldsachen: Eine Herrenuhr mit Kette Eine Damenuhr mit zwei Meter langer Goldkette Eine Damenarmbanduhr Eine Glasfassung von einer Damenuhr hin Anhänger mit Kettchen Ein Armbandteilstück Ein Paar Ohrringe Ein Paar Trauringe Ein Herrenring mit Stein Ein Siegelring, gezeichnet GG Ein Damenring ohne Stein mit den Fassungen Ein silbernes Halskettchen. Ferner wurden am Sonnabend, den 25. durdt das Sonderkommando 26 Nähmaschinen einige Kupferbehälter diverse Silber-und Messinggegenstähde abgeholt. Am selben Tage wurde auch das Handgepäck durch einen Lastzug des Sonderkommandos in Empfang genommen, so daß nunmehr das Ghetto restlos geräumt und die der Ghettoverwaltung zustehenden Gegenstände, sowie Bargeld abgeführt sind.“

Doch beileibe nicht immer war die Beute so armselig! Am 27. Mai 1942 ließ Otto Luchterhandt von der Ghettoverwaltung Litzmannstadt ein Telegramm an das Wirtschaftsamt in Posen los, in dem er mittcilte, daß zur Räumung des Kleiderlagers vom Sonderkommando Lange und zum Abtransport der Maschinen, Textilien und Wertgegenstände aus den entjudeten Landbezirken sage und schreibe 16 große Lastwagen eingesetzt wurden, aber über die Dauer der Räumungsaktion noch keine verbindlichen Angaben gemacht werden könnten. Dann heißt es wörtlich: „Beim Sonderkommando Lange lagern schätzungsweise 370 Waggons Kleidungsstüdte, zu deren Abfahrt etwa 900 Lastkraftwagen mit Anhängern erforderlich sind.“

Es war ein sehr langes Telegramm, denn es ging Herrn Otto Luchterhandt auch darum, genügend Treibstoff — vor allem Dieseltreibstoff — zugeteilt zu bekommen. Er schließt mit der Bemerkung, daß die Räumung des Lagers mindestens zwei Monate in Anspruch nehmen würde

Auf diese Weise kam Hans Biebow bei seiner ihm so am Herzen liegenden Arbeit auch in unmittelbare Berührung mit der Juden-Ausrottung im Warthegau. Davon legen die vielen Briefe des aufgefundenen Archivs der Ghettoverwaltung Litzmannstadt ein nicht zu übersehendes Zeugnis ab. Auch Interventionen gab es, mit denen Biebow sich zu befassen hatte Da war beispielsweise der Geschäftsführer der Firma Vorsteher & Bünger, die in Löwenstadt noch 1 000 Juden beschäftigte und sie so lange zu behalten wünschte, weil sie Wehrmacht-aufträge zu erfüllen hatte. Wie gewöhnlich, diktierte Biebow auch in diesem Falle eine Aktennotiz, denn er wußte alle diese Vorstellungen geschickt abzuwimmeln. Dem Geschäftsführer der Firma Vorsteher & Bünger gegenüber wies Biebow darauf hin, ein Widerspruch gegen die Anordnungen des Herrn Regierungspräsidenten würde völlig zwecklos sein, da ja die Umsiedlung der Juden vom Reichsführer-SS ausgehe und unumstößlich feststehe. Darüber hinaus bedeutete der Herr der Ghettoverwaltung dem erstaunten Geschäftsführer, selbst der Maschinenpark, mit dem die Firma Vorsteher & Bungert jetzt arbeite, stamme ja aus jüdischem Besitz und müsse daher auch nach Umsiedlung der Löwenstadter Juden selbstverständlich ebenfalls der Ghetto-verwaltung Litzmannstadt zugeleitet werden

Nichts gab es offenbar, in dem der allmächtige Biebow seine Finger nicht gehabt hätte. Neben den großen Aufgaben, die er so vorbildlich zum Wohle und der Zufriedenheit aller zu erfüllen wußte, galt es nach solchen Aussiedlungen ja auch, sich mit kleineren Dingen zu befassen. Gewöhnlich flatterten ihm dann Briefe aus allen Teilen des Kreises auf den Schreibtisch, und jeder erwartete von ihm Lösung der eigenen Probleme. So auch die NSDAP-Kreisleitung Welungen im Wartheland, welche darauf aufmerksam machte, daß nur wenige deutsche oder polnische Schneider im Ort ansässig seien und viele Leute daher bei Juden hätten arbeiten lassen müssen. Bei ihnen habe man nun die in Arbeit befindlichen Stoffe beschlagnahmt, als die Juden ausgesiedelt wurden. Die Stadtverwaltung vermutete, die beschlagnahmten Stoffe befänden sich inzwischen bei der Ghettoverwaltung Litzmannstadt und deshalb frage die Kreisleitung höflich an, wie die Sache zu bereinigen sei. Sie legte sogar eine Bescheinigung der Schutzpolizei Welungen bei, aus der ersichtlich wurde, daß ein Landwirt seine Stoffe nicht unter den Besitztümern des ausgesiedelten jüdischen Schneiders habe finden können. Die Kreisleitung wollte wissen, ob mit einer Rückgabe der solcherweise beschlagnahmten, aber keineswegs jüdischen Besitztümer, gerechnet werden dürfe. Falls dies nicht der Fall sein sollte, was hatte zu geschehen? Ein Ersatz käme nicht in Betracht, da dieser ja auch mit der Kleiderkarte gar nicht möglich sei. Andererseits benötigten die Geschädigten ihre Kleidungsstücke selbstverständlich oft dringend in Anbetracht des kommenden Winters

Hans Biebow zerbrach sich also den Kopf, wie solchen Pannen beizukommen sei, und fand sicher stets eine Lösung. Um nach Möglichkeit vorzubeugen, verschickte die Ghettoverwaltung am 23. Oktober 1942 an sämtliche Behörden im ganzen Warthegau die nachstehend wiedergegebene Weisung: „Nachdem nunmehr seit der Umsiedlung der Juden aus dem Warthegau eine geraume Zeit verstrichen ist, darf ich erwarten, daß mit mir eine Endabrechnung über die aus Judenvermögen bei Ihnen noch vorhandenen Bestände herbeigeführt wird. Gemäfl dem Erlaß des Herrn Reichsstatthalters fallen an die Ghettoverwaltung sämtliche Wert-und Vermögensgegenstände aus ehemals jüdischem Besitz. Dazu gehören auch Forderungen, die die Juden gegen Dritte haben hinsichtlich der Löhne, Ware und dergleichen, Bargeld, was nach Abzug der Juden noch gefunden wurde, Gold, Silber, Brillanten, Rohstoffe. Ich bitte, mir schriftlich bis spätestens zum 20. November 1942 mitzuteilen, was sich aus jüdischem Besitz noch in ihren Händen befindet, damit ich, gemäß dem Erlaß des Herrn Reichsstatthalters die Über-führung nach hier veranlassen kann.“

Biebows Rundschreiben trug Früchte, wie sich bald herausstellte. So schrieb der Zweigstellenleiter Pfalle von der Grundstücksgesellschaft für den Reichsgau Wartheland mbH, Zweigstelle Pabianice, in Welun am 26. März 1943 an die Ghettoverwaltung Litzmannstadt und befaßte sich mit dem früheren Ghetto Lask in seinem Bezirk. Die Grundstücksgesellschaft hatte die Aufräumungsarbeiten im verlassenen Ghetto übernommen, und die vorgefundenen jüdischen Besitztümer waren von ihrer Bezirksstelle Lask in Verwahrung genommen worden, wo sie Herrn Biebow ab sofort zur Verfügung standen. Es handelte sich da immerhin um einen ganzen Waggon ungegerbter Felle, vier Sack alter Wäsche, einer jüdischen Gebetrolle und sechs Kerzenleuchtern sowie einen Meter Kupferrohr

Die Ghettoverwaltung Litzmannstadt war im ganzen Warthegau bekannt und eigentlich auch recht gut angesehen, denn sie konnte sehr großzügig verfahren. Unter Umständen verteilte sie ganz nette Geschenke, denn sie war ja der Lieferant vieler Dinge, die im Kriege nur noch schwer oder überhaupt nicht mehr zu beschaffen waren. So nimmt es kaum Wunder, wenn sich alle, die gewisser Dinge dringend bedurften oder nur allerlei Wünsche hatten, zunächst einmal an die Ghetto-verwaltung als solche oder auch an Hans Biebow persönlich wandten. Und Biebow hatte meistens eine offene Hand, wenn er sich selbstverständlich auch alles bezahlen ließ.

Das Reservelazarett Sieradz, das gerade erst eingerichtet worden war und dessen Ausstattung deshalb noch recht viel zu wünschen übrig ließ, hatte sich ebenfalls vertrauensvoll an die „Ghettoverwaltung Litzmannstadt" gewandt, weil ihm 30— 40 Nachttischlampen, zwei schwere Schneidereisen und zwei leichte Eisen, zehn Wecker, fünfzehn Taschenuhren, fünfzig Taschenmesser und fünfzig Füllfederhalter für die „Verwundeten“ fehlten und es dieser Gegenstände dringend bedurfte. Biebow befahl also: „Ich bitte, die Sachen zusammenstellen zu lassen und, nachdem der Gesamtpreis festgestellt ist, Sieradz anzurufen (Tel.: 115) und zu ersuchen, die Dinge gegen Barzahlung hier in Empfang zu nehmen. Ich hätte die Beschaffung abgelehnt,“ schreibt Biebow, „aber da es sidt um Verwundete handelt, bedeutet es für mich eine Selbstverständlichkeit, für die Belieferung in vollem Umfang einzutreten.“

Der NSDAP-Gauleitung Posen lieferte die Ghettoverwaltung am 7. Oktober 1942 wiederum Judenbekleidung. Es handelte sich da um Ballen mit insgesamt 1 500 Anzügen, deren Preis die Preisprüfungsstelle auf RM 5, — pro Stück festgesetzt hatte. Da es sich aber erst einmal um eine Teillieferung handelte, sollte der Betrag später bei erfolgter Gesamtlieferung in Rechnung gestellt werden 51).

Derartige Geschäfte waren jedoch manchmal mit kleinen Unannehmlichkeiten verbunden, und oft gab es auch recht peinliche Pannen, die nicht so leicht aus der Welt zu schaffen waren und darüber hinaus Anlaß zu allerlei Gerüchten lieferten, wie sich gerade bei der Juden-bekleidung für die NSDAP-Gauleitung Posen zeigte. Da schrieb nämlich der Gaubeauftragte des Winterhilfswerks des Deutschen Volkes in Posen an die Ghettoverwaltung des Herrn Hans Biebow, anstatt erfreut den Empfang der freundlichen Sendung zu bestätigen, am 9. Januar 1943 den folgenden Brief: „Betrifft: Abgabe von Spinnstoffen an die NSV durch die Ghetto-verwaltung. In obiger Sache nehme ich Bezug auf die seinerzeitige Rücksprache meines Hauptstellenleiters Parteigenossen Eichhorn und der späteren Verhandlungen des Stellenleiters Parteigenossen K o a l i c k mit Ihnen, wonach der NSV tragbare und aufgearbeitete Anzüge, Kleider, Wäschestüd^e in gereinigtem Zustand gegen entsprechende Begleichung der durch Aufarbeitung und Reinigung entstandenen Kosten, überlassen werden sollten. Die der Kreisamtsleitung Litzmannstadt-Land zugestellte erste Sendung von 1 500 Anzügen entspricht in keiner Weise den seinerzeit in Augenschein genommenen Textilien, welche in Kulmhof zur weiteren Verfügung der Ghettoverwaltung lagerten. Die von Ihnen gelieferten Anzüge sind in ihrer Qualität derartig schlecht, daß sie zum größten Teil für Betreuungszwecke nicht verwendbar sind. Audi handelt es sich bei Ihrer Lieferung nicht um komplette Anzüge, sondern nur um zusammengestellte Einzelstücke. Ein großer Teil der Bekleidungsstücke ist stark befledzt und teilweise auch mit Schmutz und Blutfledzen durchsetzt. Die Kragen der meisten Jacketts sind derartig sped^ig, daß eine nochmalige gründliche Reinigung notwendig ist.

Da die Kollis von der Kreisamtsleitung Litzmannstadt-Land ungeöffnet an verschiedene Kreisamtsleitungen im Gaugebiet weitergesandt wurden, hat es sich erst später beim Öffnen der Kollis herausgestellt, daß z. B. bei einer Sendung an die Kreisamtsleitung Posen-Stadt von 200 Röcken an 51 Röcken die Judensterne noch nicht entfernt waren. Da in den Kreislagern zum größten Teil polnische Lagerarbeiter verwendet werden müssen, besteht die Gefahr, daß die zur Betreuung im Winterhilfswerk vorgesehenen Rückwanderer von der Herkunft der Sachen Kenntnis erhalten und das WHW somit in Mißkredit kommt.“

Bei diesem Kulmhof, wo die Textilien zur weiteren Verfügung der Ghettoverwaltung lagerten, handelt es sich um das berüchtigte Vernichtungslager C h e 1 m n o , das unter diesem Namen in die Geschichte des Dritten Reiches eingegangen ist. In Chelmno sind etwa 300 000 Juden ums Leben gekommen. Doch darüber soll noch im letzten Kapitel „Aussiedlungen“ eingehender gesprochen werden.

Aber nicht nur im Warthegau wußte jeder, wohin er sich mit kleinen und großen Wünschen wenden durfte, falls es um schwer Erhältliches ging. Der Ruhm der Ghettoverwaltung in Lodz war längst über das Gaugebiet hinausgedrungen. Nicht nur die Partei-und Polizeibehörden oder sonstige deutsche Dienststellen wandten sich vertrauensvoll an den „Wohltäter“ Hans Biebow, sondern auch Firmen und gar Privatpersonen des Altreichs taten es. So hatte die Hamburger Firma V. Oskar H. Jenequel in der Mönckebergstraße 7 erfahren, daß in einer Kirche des Ghettos Lodz große Bestände an Bettfedern aus jüdischem Besitz lagerten und der Verwendung harrten. Die Großhandelsfirma Jenequel befaßte sich mit Ein-und Ausfuhr und fragte also bei Biebow an, ob es denn nicht möglich sei, daß die „Ghettoverwaltung Litzmannstadt“ auch ihr freundlicherweise einen Posten aus den Bettfeder-Beständen freigäbe. Sie benötige diese „Bettfedern aus jüdischem Besitz“ gerade so sehr dringend für Fliegergeschädigte und zeichnete mit „Heil Hitler“ und wartete darauf, daß sich der Segen jüdischer Bettfedern. aus der Kirche im Ghetto Lodz nach Hamburg ins Altreich ergießen möge

Wie gesagt, waren Gerüchte über die Goldgrube in Lodz längst auch ans Ohr von Privatpersonen gedrungen. Der stellvertretende Leiter der Sparkasse in Kalisch, Josef Költzen, wandte sich am 22. März 1943 ebenfalls nach Lodz, als die Einberufung seines Sohnes zur Luftwaffe bevorstand. Herr Költzen weist in seinem Brief darauf hin, daß dieser Sohn seine Prüfungen in Frankfurt am Main, Wiesbaden und München bereits hinter sich habe und die Armbanduhr leider beim Segelfliegen im NS-Fliegerkorps zerschlagen wurde. Sie sei nicht mehr zu reparieren. Obwohl der Vater im ganzen Altreich versucht habe, dem Sohne eine neue Uhr zu beschaffen, sei ihm dies nicht gelungen. Nun sei ihm jedoch bekannt geworden, Soldaten und Einberufene zur Wehrmacht könnten eine Uhr durch die „Ghettoverwaltung Litzmannstadt“ bekommen, deshalb möchte auch er sich dieserhalb dorthin wenden. Er fragte nach dem Preis und bat um baldige Antwort

Sicher ist dem Manne geholfen worden. Die Bestände waren ja vorhanden! Ein anderer Privatmann, H. P. Heller aus Schieratz, Kirchen-straße 11, wandte sich ebenfalls am 7. Januar 1943 schon an den ihm persönlich bekannten Lagerverwalter der „GhettoVerwaltung Litzmannstadt", Herrn Seifert. Nachdem er ihm zunächst ein gesundes neues Jahr mit allem Guten und Schönen gewünscht hatte, teilte er mit, daß er nun Weihnachten und Sylvester erstmalig, mit seiner lieben Familie vereint, im Osten gefeiert habe, was sehr schön gewesen sei.

Dann kam er auf die kleine Gefälligkeit zu sprechen, nämlich eine Armbanduhr, die er von seinem Bekannten Seifert erbat. Er scheint sie selbst begehrt zu haben und nicht etwa für einen zur Wehrmacht oder Luftwaffe einberufenen Sohn, denn er gesteht dem Lagerverwalter, „nod'1 niemals so ein Ding“ besessen zu haben. Höflich dankt er dem Freund im voraus und verabschiedet sich dann mit Grüßen und natürlich „Hitlergruß"

Mittlerweile waren alle kleinen Ghettos in der Runde längst liquidiert worden, und die Juden in Lodz selbst lebten schon Jahre hinter Ghettomauern. Es nimmt daher nicht weiter wunder, daß auch diese Schätze zusammenschmolzen, als die Zufuhr ausblieb, und der Brunnen versiegte.

Im Archiv der Ghettoverwaltung befindet sich auch der Durchschlag eines Schreibens der „Ghettoverwaltung Litzmannstadt“ vom 19. April 1943 mit dem Zeichen 027/15/Mey/Po. —, das an den Oberzahlmeister Möller im Reservelazarett Wronke, Kreis Samter, gerichtet ist. Es lautet:

„In Beantwortung Ihres Schreibens vom 10. ds. Mts. muß ich Ihnen leider mitteilen, daß eine weitere Belieferung von Lazaretten mit Weckuhren usw. nicht mehr durdtführbar ist, da der Anfall durch Aufhebung der auswärtigen Ghettos im hiesigen Regierungsbezirk beendigt ist"

Die Unterschrift ist leider nicht zu entziffern, stammt aber wahrscheinlich nicht von Biebow selbst.

VI. Innerhalb der Mauern

Am 24. Oktober 1940 um 9. 00 Uhr früh fand beim Regierungspräsidenten in Litzmannstadt eine Sitzung statt, an der folgende Personen teilnahmen: Regierungsvizepräsident Dr. Moser, Regierungsrat von Herder, Polizeipräsident Dr. Albert, Kriminaldirektor Dr. Zirpins, Oberregierungsrat Illich, Herr Palfinger von der Ghettoverwaltung u. a. Eine Aktennotiz über die Tagesordnung fand sich nach dem Kriege im Archiv der Ghettoverwaltung

Aus dieser Aktennotiz geht hervor, daß Dr. Moser die Judengemeinschaft als „höchst unwillkommene Einrichtung, jedoch ein notwendiges Übel“ bezeichnete, da Juden in überwiegender Mehrzahl ein gänzlich nutzloses Dasein auf Kosten des deutschen Volkes führten. Leider müßten sie nun einmal mit ernährt werden. „Daß sie dabei nicht als Normalverbraucher im Sinne der Ernährungswirtsdraft angesprochen werden dürfen, bedarf keines Kommentars,“ meinte Dr. Moser. Daher würde den Juden nur so viel zugewiesen, wie von der Ghettoverwaltung in Übereinstimmung mit den zuständigen Stellen des Reichsnährstandes als unumgänglich notwendig erachtet würde. Die Zivilversorgung dürfe auf keinen Fall darunter leiden. Bei Lieferanten, die Zivilbevölkerung und Ghetto gleichzeitig belieferten, sei es daher wohl selbstverständlich, daß minderwertige Waren vorzugsweise ins Ghetto „abgestoßen“ würden. Natürlich müsse aber darauf geachtet werden, daß der Preis entsprechend der minderwertigen Ware berechnet würde und der geringeren Qualität angepaßt sei. Die Preise hätten also in dieser Hinsicht eine sorgsame Kontrolle nötig. Dr. Moser wollte nicht auf die vielen Differenzen und schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten eingehen, die bereits zwischen der Ghettoverwaltung und anderen Dienststellen in Lodz entstanden seien, erwarte jedoch, daß besonders die Reichsnährstandsstellen in dieser Hinsicht aufs engste mit der Ghettoverwaltung Zusammenarbeiten würden.

Viele deutsche Behörden und Dienststellen standen jedoch nach wie vor auf dem Standpunkt, daß die Juden im Ghetto viel zu gut ernährt würden. Ganz besonders fand das die Geheime Staatspolizei!

Hans Biebow sah sich daher eines Tages gezwungen, sehr energisch dazu Stellung zu nehmen, und so richtete er am 4. März 1942 ein ausführliches Schreiben an den Gestapo-Kommissar Fuchs, das mit den Worten begann: „Die Ansidit, daß die Ghettobevölkerung besser ernährt wird als vertretbar, muß als abwegig und irrig bezeichnet werden. Im fahr 1940 wurde Verpflegung in Höhe von Gefängnissätzen für rund 200 000 Juden gegeben.“

Wie man sieht, hielt Hans Biebow jede höfliche Einleitung in diesem Falle für überflüssig. Genauso sachlich fährt er auch fort, im darauf folgenden Jahr sei die Einwohnerzahl schon genauer zu ermitteln gewesen und habe als Berechnungsgrundlage dienen können. Dann seien die Zigeuner ins Ghetto verlegt worden, und erklärlicherweise hätte deshalb der Verpflegungssatz entsprechend den Zugängen erhöht werden müssen. Er sei jedoch sofort gesenkt worden, als die Evakuierungen begannen und folglich Abgänge zu verzeichnen gewesen wären. Biebow sagt wörtlich: „Die Ernährung liegt seit über einem Jahr unter den an sidt zugebilligten Sätzen für Strafgefangene. Niemand kann die Behauptung aufstellen, daß die Ghettobewohner von den ihnen zugewiesenen Lebensmitteln auf die Dauer arbeitseinsatzfähig bleiben. Und zwar deshalb sinkt der Gesundheitszustand der Juden täglich weiter ab

Hans Biebow mußte das schließlich am besten wissen und beurteilen können. Er fährt dann fort: „Ferner ist alles, was an Lebensmitteln in das Ghetto hineinkommt, in der Regel von minderwertiger Qualität. Schlechte Partien Gemüse, Mehlprodukte, Fett usw. werden stets an das Ghetto abgestoßen, jedoch in voller Höhe auf die Kontingente angerechnet. Den klarsten Beweis für die Ernährungslage legen die rapide ansteigenden Sterbeziffern ab. Bei Durchsicht der Todesmeldungen der letzten Wochen ist ein Anwachsen des Fleckfiebers (Hungertyphus) festzustellen. Auf Grund der Ernährung starben zum Beispiel in der Zeit vom 22. bis 26. Februar 1942 an Lungentuberkulose 74 Personen an Herzschwäche 105 „ an Unterernährung (bessergesagt: verhungert) 84 verschiedene Todesfälle, die ebenfalls auf schlechte Ernährung zurüdtzuführen sind 44 „ zusammen: 307 Menschen.“

Der Chef der „Ghettoverwaltung Litzmannstadt“ befaßt sich wirklich sehr eingehend mit den damals im Ghetto herrschenden Ernäh-rungsverhältnissen, welche die Ghettoverwaltung, obwohl sie sich alle Mühe gäbe, sie zu verbessern, nicht zu ändern vermochte.

Biebow fährt dann wörtlich fort:

„Im Jahre 1941 konnten von den bewilligten Mengen nicht heran-geschafft werden:

107 000 kg Nährwittel 289 000 „ Fleisch 323 000 „ Brotaufstrich 10 865 000 „ Kartoffeln 503 000 „ GeMÜse 151 000 „ Kaffee-Ersatz.“

Hans Biebow gab sich wirklich große Mühe, die Gestapo darüber aufzuklären, welche Verhältnisse im Ghetto Lodz tatsächlich herrschten. So trug er viel Material zusammen und heß es sich nicht verdrießen, richtige Statistiken aufzustellen. Er sagt in seinem Bericht weiter:

„Ab 15. Dezember 1941 wurde die Zuteilung von Nährmitteln, Kunsthonig und Marmelade an das Ghetto vollends gesperrt. Im Januar 1942 feine Übersicht über den Februar liegt noch nicht vor) entstanden allein nachstehende Ausfälle:

2 872 kg Fleisch 29 380 „ Kaffee-Ersatz 160 000 „ Zucker.“

Nachdem er dem Gestapo-Kommissar Fuchs eine bis in alle Einzelheiten gehende Übersicht gegeben hat, schließt Hans Biebow den Brief mit den Sätzen:

„Es sind im Ghetto rund 53 000 Arbeiter eingesetzt, die im wesentlichen im wehrwirtschaftlichen Interesse tätig sind. Jeder, der die Verhältnisse im Ghetto kennt, weiss, daß die Werktätigen buchstäblich an ihren Arbeitsplätzen wegen Entkräftung zusammenbrechen. Die Ghettoverwaltung würde niemals den Juden mehr Lebensmittel zuteilen, als unbedingt zu verantworten ist. Ich bitte daher, die bei Ihnen anfragende Stelle dahingehend zu unterrichten, daß es wirklich zwecklos sei, immer und immer wieder derartige Rückfragen zu hatten. Ich bitte vielmehr, den Vorschlag zu unterbreiten, sich hier an Ort und Stelle selbst von den Verhältnissen zu überzeugen, dann, glaube ich, dürfte in dieser Hinsicht ein für allemal zeitraubender Sd-iriftwedisel vermieden werden“

Das also war die Ansicht Hans Biebows, des unumschränkten Herrn der Ghettoverwaltung in Lodz.

Unabhängig und ganz abgesehen von allen „Aussiedlungen" sind laut offizieller Statistik während der Jahre 1940 bis 1944 von den 110 798 Insassen des Ghettos Lodz 43 441 Personen gestorben, also auf diese oder jene Weise zugrunde gegangen, ohne abtransportiert zu sein

Im Mai 1941 wurden im Ghetto Lodz allein 20 000 TBC-Kranke offiziell registriert, was so gut wie etwa 10 ’/o der Gesamtbevölkerung ausmachte

Immerhin haben ja nun einige der Ghetto-Bewohner das Lodzer Inferno überlebt, und ihren Angaben ist zu entnehmen, daß die Rationen im Ghetto für die Arbeitenden wie folgt waren:

250 g Brot täglich 100 „ Fleisch durchschnittlich pro Woche.

Alle zwei Wochen gab es:

700 g Grütze, Mehl (Kolonialwaren)

100 „ Öl 400 „ Zucker 100 „ Kunsthonig, Marmelade oder Ersatz-Puddingpulver 4 kg Kartoffeln 5 „ Stederüben (selten Mohrrüben)

Hunger und Krankheit griffen im Ghetto bald in dem Maße um sich, daß Biebow Mitte 1942 dem Arbeitsamt eine Absage erteilen mußte, als dieses 1000 Juden aus dem Ghetto zum Einsatz beim Ausbau der Reichsbahnstrecken anforderte. Er scheute sich auch keines-wegs, deswegen einen sehr deutlichen Brief an das Lodzer Arbeitsamt loszulassen. Ganz besonders stemmte er sich gegen das Ansinnen, 1000 „seiner Juden" dem Arbeitsamt für einen Einsatz beim Straßenbau zur Verfügung zu stellen. Er ging so weit, das Arbeitsamt allen Ernstes zu ersuchen, in Zukunft überhaupt von jeglichem Arbeitseinsatz „seiner“ Ghetto-Insassen außerhalb des Stadtbezirks Lodz Abstand zu nehmen. Die Gründe für dieses etwas abwegige Verlangen gab er ebenso offen an. Es hieß in dem Brief wörtlich: „Die Ernährung der Juden ist zur Zeit derartig prekär, daß man von einer tatsächlichen Hungersnot im Ghetto sprechen kann.“

Biebow wies nachdrücklich daraufhin, daß diese Hungersnot wohl kaum so tragisch wäre, hätte man nur die Juden im bisherigen Kriegsverlauf wenigstens ausreichend ernährt. Das sei jedoch leider keineswegs der Fall gewesen. Da nun die Ghetto-Insassen alle die Jahre völlig unterernährt gewesen seien, führe die Hungersnot eben jetzt dazu, daß an einen Arbeitseinsatz beim Straßenbau gar nicht zu denken sei. Im übrigen wäre die Arbeitskraft sowieso schon äußerst beschränkt. Dazu sagt er noch wörtlich: „Die Judengemeinsdtaft in Litzmannstadt ist nun im dritten Kriegsjahr nur mit solchen Mengen an Lebensmitteln beliefert worden, daß die ganze Zeit über ein langsamer, aber sicherer Kräfteverfall eintrat, der sich in katastrophaler Weise sidrtbar macht. . . .“ Nun sei darüber hinaus auch noch jede Belieferung an Kartoffeln und Gemüse um fast die Hälfte verringert worden, und deshalb könne auf keinen Fall mehr mit einem Arbeitseinsatz im hergebrachten Sinne gerechnet werden. Biebow sagt kurz und bündig:

„Das Ghetto Litzmannstadt hat infolgedessen keine Arbeitskräfte mehr, die zu körperlich schwerer Arbeit fähig wären.“ Allein schon aus diesem Grunde, meint Biebow, solle man in Zukunft grundsätzlich alle Juden des Ghettos Litzmannstadt von allen Gleis-, Kanal-und Straßenbauarbeiten ausnehmen. Lim seine Weigerung noch besser zu begründen, ließ Biebow es jedoch nicht bei der Hungersnot bewenden, sondern fuhr noch schwerere Geschütze auf, für die er beim Arbeitsamt wohl mit Recht mehr Verständnis voraussetzte. Er wies nämlich darauf hin, daß im Ghetto fast ausschließlich Wehrmachtsaufträge der Dringlichkeitsstufe SS-Winter ausgeführt würden und daher bereits sämtliche zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, sogar Kinder von 10 J ähren, zur Bewältigung dieser Wehrmachtsaufträge eingesetzt werden mußten. Bestehe daher das Arbeitsamt trotzdem auf seinem Verlangen, die Juden für auswärtige Arbeiten aus dem Ghetto abzuziehen, müsse er schon gelernte Handwerker und seine eingearbeiteten Kräfte zur Verfügung stellen. Ihm sei es dann jedoch völlig unmöglich, seine eigenen Aufträge auszuführen. Dabei handele es sich schließlich um Wehrmachtsaufträge, deren Nicht-Ausführung allein die an der Front kämpfenden Truppen schädige. Das aber sei doch wohl auf jeden Fall zu vermeiden. Biebow schlug dem Arbeitsamt vor, sich die dringend benötigten Streckenarbeiter doch lieber in den noch nicht entjudeten Landgemeinden zusammenzuholen. Jene seien immerhin noch in weit besserer körperlicher Verfassung als ausgerechnet die Insassen seines Ghettos, deren körperlicher Verfall bereits beängstigend sei. Außerdem würden dann dadurch keine Wehrmachtsaufträge gefährdet, denn die im Lande verstreut lebenden Juden seien keineswegs in dem Maße in die Kriegsproduktion eingespannt wie gerade das Ghetto Lodz

Liest man heute diese ganze Korrespondenz, die Biebow im Laufe der Jahre mit allen möglichen deutschen Behörden „seiner Juden“ wegen führte, meint man fast, er habe tatsächlich ein menschliches Rühren verspürt. Man kommt zwangsläufig zu dem Schluß, der Herr der Ghettoverwaltung müsse Not, Hunger und Krankheit im Ghetto Litzmannstadt aus eigener Anschauung von Grund auf gekannt haben. Dabei ging es Biebow aber wohl doch allein darum, „seine Juden“ deshalb für sich allein zu behalten, weil er sie eben in „seinen Arbeitsbetrieben“ im Ghetto einsetzen wollte. Nur deswegen kämpfte er manchmal um jeden einzelnen von ihnen. Zudem kannte er seine Kontrahenten gut und wußte genau, wie er argumentieren konnte, um Erfolg zu haben. Hier ein Beispiel dafür:

Der Leiter des Textilbetriebe und der Zuschneiderei im Ghetto, ein gewisser David Berek Warszawski, sollte eine Gefängnisstrafe absitzen. Hans Biebow wandte sich sofort an den Vorsitzenden der Amtsanwalt-Seite bereits bis zum 28. Februar 1942 ausgesetzt worden war, auch weiterhin aussetze. Er teilte mit, diese wichtige Arbeitskraft unbedingt behalten zu müssen, da er beim besten Willen keinen Ersatzmann im ganzen Wohngebiet der Juden in Litzmannstadt für diesen Wärszawski finden könne. Er wies sehr beredt darauf hin, daß die Leitung solcher Betriebe eine jahrzehntelange Erfahrung voraussetze und daher eben Warszawski für die vom Ghetto Lodz zu erfüllenden wehrwirtschaftlichen Aufträge unentbehrlich sei. Man könne ihn unmöglich ausgerechnet jetzt dazu zwingen, die Strafe abzusitzen. Hinzu aber käme noch, so erklärte Biebow wörtlich: „Für Warszawski würde die Überführung in ein hiesiges Gefängnis praktisch eine Erholung bedeuten, weil erstens die Beköstigung der Juden im Ghetto weit unter den Gefängnissätzen liegt und zweitens die Beschäftigung im Gefängnis leichter ist, da Warszawski im Ghetto zwölf Stunden pro Tag wirklich hart zu arbeiten hat“

Mit seinen vollkommen erschöpften Sklaven organisierte der energische Hans Biebow mannigfaltige Betriebe im Ghetto und erreichte trotz Elend mit den halbverhungerten Menschenwracks unwahrscheinliche Leistungen.

Die Schneiderwerkstätten brachten wahrscheinlich die größten Erträge. Immer erreichten sie den höchsten Umsatz. So ist errechnet worden, daß dort allein in einem Monat für 700 000 Reichsmark Material verarbeitet wurde. Hauptsächlich handelte es sich um Militär-sachen, die als Rohmaterial oder auch zugeschnitten ins Ghetto kamen, um dort verarbeitet, respektive zusammengesetzt zu werden.

Die Kleider-und Wäschefabriken standen an zweiter Stelle. In ihnen arbeiteten gewöhnlich nur Frauen, die das zugeschnittene Material fertigstellten. Es waren Militär-und Zivilsachen, denn viele — sogar Berliner — Modehäuser ließen damals im Lodzer Ghetto arbeiten. Der Umsatz belief sich auf monatlich etwa 300 000 Reichsmark.

Die Trikotagenwerkstätten fertigten hauptsächlich Männer-, Frauen-und Kindersachen an, die für den zivilen Sektor bestimmt waren. Sie stellten jedoch auch Arbeitsanzüge her.

Ebenso arbeiteten die Strickereien für den Zivilsektor, indem sie Handschuhe oder Pullover strickten.

Übrigens gab es sogar eine Korsettfabrik im Ghetto Lodz.

Die Kürschnereibetriebe befaßten sich damit, die bei den Juden beschlagnahmten Pelze für das Militär umzufrisieren. Selbstverständlich bestellten jedoch auch Beamte der deutschen Zivilbehörden oder der Ghettoverwaltung selbst dort für sich und ihre Familien privat Pelze.

Die Gummimäntel für die Kradfahrer lieferte ebenfalls das Ghetto Lodz, und deutsche Vereine oder Militärkasinos bestellten dort in drei Fabriken ihre Teppiche bis zu zwanzig Quadratmeter Größe.

Die Bettfedern all der ausgesiedelten Juden wurden an einer besonderen Stelle im Ghetto gesammelt, um in großen Transporten nach Hamburg oder Bremen geschafft und an ausgebombte Familien verteilt zu werden. So jedenfalls hieß es! Wo sie wirklich landeten, läßt sich kaum noch ermitteln.

Ferner stellten die Ghettobetriebe die notwendigen Papiersäcke für die Industrie und Apotheken-Tüten her.

Da aus altem Leder noch Holzschuhe oder aus Fetzen und Lederabfall Pantoffeln fabriziert wurden, waren auch die Schuhmachereibetriebe im Ghetto Lodz nicht klein. Es hieß, viele deutsche Firmen hätten damals gern diese Ghettofabrikate gekauft, weil sie dafür keine Bezugscheine benötigten

Es ist nur zu verständlich, wenn der Leiter der Ghettoverwaltung aus den ihm unterstehenden Betrieben so viel herausholen wollte, wie dies nur eben anging. Dennoch scheint er dauernd in panischer Angst gelebt zu haben, es gelänge ihm unter Umständen nicht, sein Soll tatsächlich zu erfüllen. Ein für diese Gefühle sehr bezeichnendes Schreiben richtete Hans Biebow am 19. April 1943 an den Oberbürgermeister von Litzmannstadt. In ihm steht geschrieben:

»Wie Ihnen der Unterzeichnete bereits mündlich erklärte, ist die Ernährung der Juden in der jetzigen Form nicht mehr zu verantworten, weil ein Abfallen der Leistungen zum Schaden der Wehrmacht eintreten würde. In den Werkstätten und Fabriken, in denen wegen Mangel an Fachkräften zwölfstündige Arbeitszeit eingeführt worden ist (Tag-und Nachtschicht), brechen bereits die Arbeiter, insbesondere die, die eine stehende Tätigkeit ausüben, an den Werkplätzen zusammen.

Bei den letzten Evakuierungen im September 1942 sind alle kranken und gebrechlichen Juden ausgesiedelt worden. Trotzdem beträgt die Sterblichkeit seit diesem Zeitpunkt bis zum 31. März 1943 schon 4658.

Der Hungersnot wegen mußte auf die Winterbevorratung stärker zurückgegriffen werden, als es bei einer Normalverpflegung der Fall gewesen wäre. Die eingelagerten Kartoffeln haben bis zum 16. April 1943 gereicht. Neue Zuteilungen sind erst ab 1. Mai 1943 zu erwarten, da bis zu diesem Termin die Vorräte hätten ausreichen müssen. Die Leistungen der jüdischen Arbeiter liegen weit höher als die der polnischen, was mir immer wieder die Unterhaltungen mit hiesigen Betriebsführern bestätigen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Ein polnischer Arbeiter fertigt pro Tag 180— 200 Holzsohlen, wohingegen die Leistung in den jüdischen Betrieben 300— 320 beträgt. Dessen ungeachtet erhalten polnische Arbeiter 2250 gr Brot einschließlich Mehl pro Woche, also 321 gr pro Tag; die jüdischen Arbeiter 1500 gr Brot und Mehl pro Woche, also nur 271 gr pro Tag. Das Quantum ist an sich noch geringer, weil durch die Beschädigung von Säcken, durdt das Auswiegen etc. ein gewisser Prozentsatz verloren geht. Die Gleichschaltung mit dem polnischen Brotsatz ist meines Erachtens, um die Leistung des Ghettos zu erhalten, unerläßlich“

Da es sich aber, wie gesagt, damals hauptsächlich um Wehrmacht-aufträge handelte, verschickte das Landesernährungsamt beim Reichs-statthalter im Reichsgau Wartheland am 30. November 1943 ein Rundschreiben mit dem Betreff „Verpflegung der Juden“. Dieses Rundschreiben B 1/596 der Abteilung B IV/C 418/422 in Posen befaßt sich mit der Verpflegung aller im Reichsgau Wartheland in Lagern oder Ghettos untergebrachten Juden und regelt sie ab 15. November 1943 für die im Arbeitseinsatz befindlichen, in Lagern untergebrachten und gemeinsam verpflegten Juden und Jüdinnen wie folgt:

wöchentlich: 3 500 gr Kartoffeln 2000 „ Kohlrüben 2350 „ Roggenbrot 200 „ Fleisch (möglichst nur Freibank und Pferdefleisch)

125 . Margarine 225 • Zucker 175 . Brotaufstrich I 75 . Roggenflocken 80 . Suppenerzeugnisse monatlich: 125 „ Quark, außerdem für die Zeit vom 15. November bis 12. Dezember 1943:

wöchentlich: 315 gr Roggenmehl 70 » Roggenflocken 210 „ Roggengrütze.

Für die wenigen jüdischen Kinder, die um jene Zeit im Warthegau überhaupt noch am Leben waren, keine vierzehn Jahre zählten und nicht im Arbeitseinsatz standen, wurde Ende 1943 festgelegt:

wöchentlich: 75 gr Margarine 1100 „ Roggenbrot 225 „ Zucker 175 Brotaufstrich 1 75 Roggenflocken 3000 Kartoffeln monatlich: 125 Quark Das gleiche Rundschreiben verfügte kurz und bündig, kranke oder gebrechliche Juden, werdende oder stillende Mütter sowie Wöchnerinnen in Ghettos und Arbeitslagern durften keinerlei Sonderzulagen erhalten. Die gleiche Regelung solle für alle jüdischen Patienten in Krankenanstalten Anwendung finden

Für die Ghettoverwaltung waren die Kinder sowieso kein Problem. Die starben oder wurden „ausgesiedelt“. Es kam vor, daß kaum achtjährige Kinder arbeiteten, nur um dafür einen Teller Suppe zu erhalten und nicht fürchten zu müssen, daß sie als nutzlose Esser „ausgesiedelt“ würden Es existiert eine Statistik, welche gerade über das Schicksal der Kinder im Ghetto Litzmannstadt Aufschlüsse und einen guten Überblick gibt.

Aus ihr ist zu entnehmen, daß am 12. Juni 1940 noch 39 5 59 Kinder unter vierzehn Jahren in Lodz lebten. Es handelte sich um 20 318 Jungen und 19 241 Mädchen. Im Jahre 1941 kamen noch 2 538 Kinder hinzu. Das war jedoch keineswegs etwa ein natürlicher Zuwachs, sondern vielmehr handelte es sich um die übriggebliebenen Kinder ausgesiedelter Juden des Altreichs, Österreichs, der Tschechoslowakei, Luxemburgs und verschiedener Städte im Warthegau selbst.

Die Statistik des Jahres 1942 besagt, daß noch 11 329 Jungen und 10 598 Mädchen in Lodz vorhanden waren. Da es 1940 aber 39 5 59 gewesen waren, zu denen noch 2 538 im Jahr 1941 hinzugekommen sind und 1942 347 Kinder geboren wurden, hätte sich die Summe von 42 444 ergeben müssen. Fast die Hälfte der Kinder war also nicht mehr vorhanden. Genau fehlten 20 517 Kinder

Eine sehr aufschlußreiche Statistik!

Immer wieder kam es übrigens noch vor, daß außerhalb des Ghettos einzelne, mehr oder minder verwahrloste und halbverhungerte Kinder aufgefunden wurden, die man einer eingehenden Untersuchung nach allein rassischen Gesichtspunkten unterzog, um sie dann ebenfalls meistens ins Inferno zu stecken, nämlich ins Ghetto Lodz.

Manchmal wurden deutsche Behörden auch durch liebe Nachbarn auf Pflegekinder bei Polen aufmerksam gemacht, und die Vermutung dabei ausgesprochen, daß diese Kinder nicht ganz einwandfrei seien in rassischer Hinsicht.

So geschah es zum Beispiel dem kleinen Pflegekind Regina Milczarek noch 1943. Die Geheime Staatspolizei in Litzmannstadt nahm sie genau unter die Lupe und richtete sodann ein Schreiben an den Ältesten der Juden in Lodz, um das kleine Mädchen Regina, das am 29. November 1933 geboren war, dem Ghetto zu überstellen, da die ärztliche Untersuchung ergeben habe, ein unverkennbar jüdischer Einschlag sei bei dem Kinde vorhanden. Es werde daher nicht mehr wie bisher vom Jugendamt Litzmannstadt betreut werden, sondern fortab allein der Obhut des Ältesten der Juden in Litzmannstadt, also dem Ghetto, unterstehen. Daher sei unverzüglich Sorge zu tragen, das Kind im Ghetto unterzubringen

Schlomo Frank, einer der Insassen des Ghettos Lodz, der das Grauen überlebte, machte sich im Laufe der Jahre viele Notizen, die nach dem Kriege in Buenos Aires veröffentlicht worden sind. Am 21. Juni 1941 vertraute er dem Papier an, er habe früh am Morgen zwei Schüsse gehört, denen der Schrei einer Frau folgte. Später habe er dann feststellen können, was sich morgens um vier Uhr etwa ereignet habe. Schlomo Frank schreibt wörtlich: „Es war Frau Ketty Neuutanu, die in Deutschland geboren und 46 Jahre alt war. Sie ließ einen Mann und ihre drei kleinen Kinder zurück. Morgens war sie an den Zaun gelaufen und hatte den Posten gebeten, sie zu erschienen. Der Posten jagte sie einfach davon. In der Nähe eines anderen Postens versuchte Frau Neumann dann, über den Ghetto-zaun zu springen. So wurde sie vom Posten mit zwei Schüssen getötet. — Vom Mann und den Nachbarn erfuhr ich noch ausführlicher, daß die Familie schon zwei Wochen vor Kriegsausbruch Deutschland verlassen hatte und nach Polen gekommen war. Sie stammten alle aus Sachsen, wo sie als reich gegolten hatten. Die Frau selbst war weder Jüdin noch jüdischer Abstammung, lehnte es jedoch ab, mit ihren Kindern ohne ihren Mann in Deutschland zurückzubleiben. Sie wollte ihn nicht allein noch Polen auswandern lassen. Sie trafen also alle zusammen, aber ohne jede Mittel in Polen ein, wo die neuen Lebensbedingungen und überhaupt die ganzen Verhältnisse nach Kriegsausbruch Frau Neumann bald in schwere Depressionen und völlige Apathie verfallen ließen. Sie interessierte sich nicht einmal mehr für die eigenen Kinder. Übrigens hatte sie auch schon früher versucht, Selbstmord zu begehen, konnte jedoch von einem Nachbarn gerettet werden. Danach wurde sie sogar wieder etwas normaler und beschäftigte sich mit ihren Kindern, wenn sie zu den Nachbarn auch oft über die unglückliche Lage der Familie sprach. Niemand hatte bemerkt, daß sie am 21. Juni ganz früh ihre

Wohnung verließ, um zum Wachtposten zu laufen und diesen zu bitten, sie zu erschießen. Sie erklärte dem Mann, es nicht mehr mit ansehen zu können, wie ihre eigenen Kinder verhungern mußten. Da ihr der erste Posten die Bitte nicht erfüllte und sie fortjagte, versuchte sie es beim zweiten, der sie dann auch tatsächlich erschoß.“

In den tagebuchartigen Aufzeichnungen von Schlomo Frank werden unzählige solcher Tragödien berichtet. Hier seien nur noch ein paar kurze Eintragungen aus dem Jahre 1941 wiedergegeben: „ 16. Januar: Heute früh fand man wieder zwei junge erfrorene Menschen. Es waren Leib Stoler und Walkan Mardian. Beide ließen halbtote Frauen und Kinder zurück. Die Frauen sind bereits so erschöpft und apathisch, daß der Tod ihrer Männer kaum noch Eindruck auf sie macht.. .

25. Januar: In der Franziskanskastraße 60 ist Fräulein Bluma Lichtenstein vom dritten Stock aus dem Fenster gesprungen. Sie blieb tot liegen. Der Grund ihres Selbstmordes war Hunger. . .

4. Februar: Auf dem Friedhof liegen heute wieder 150 Tote. Die Opfer mehren sich. Meistens sterben sie an der Kälte. Es vergeht kein Tag, an dem man nicht Erfrorene findet. Aber es macht schon auf niemand mehr großen Eindruck ... 26. Mai: Wieder zwei schreckliche Selbstmorde junger Frauenl Renia Hecht, 37 Jahre alt, sprang aus einem Fenster des dritten Stocks. Sie ließ ihr drei Monate altes Kind und den Mann zurück, der in der Schneiderwerkstatt arbeitet.

Zippe Skschepitzka, 46 Jahre alt, hinterließ drei kleine Kinder. Der Mann ist in Rußland. In ihrem Abschiedsbrief standen die Worte: , lch konnte das Jammern meiner drei kleinen Kinder nicht mehr ertragen. Sie hungern und betteln jeden Tag um ein Stückchen Brot. Ich arme, unglückliche Mutter kann das einfach nicht mehr mit ansehen. Mein Mann hat sich das Leben leicht gemacht! Ich will ihn — Gott behüte — nicht anklagen, denn wüßte er von meiner Lage hier, würde er sicher schnell zu uns zufückkommen. Leider wollte es das Schicksal aber anders, und ich muß nun sterben, weil ich die Leiden nicht länger zu ertragen vermag.'“

So notierte es Schlomo Frank, ein Insasse des Ghettos Lodz.

Falls aber wirklich noch irgend so eine halbverhungerte Jüdin genügend Energie aufbrachte, den Versuch zu unternehmen, sich Nahrungsmittel zu organisieren, schoß man sie gewöhnlich einfach über den Haufen. Darüber gibt es viele kurze Berichte.

Hier sei einer dieser Art zitiert, den ein Wachtmeister Naumann aus der 1. Schutzpolizei-Kompanie, Bataillon Ghetto, Ghettowache 6. am 1. Dezember 1941 in Lodz verfaßte. Unter dem Betreff „Schußwaffengebrauch“ heißt es bei ihm lakonisch: „Am 1. Dezember 1941 in der Zeit von 14. 00 bis 16. 00 Uhr befand ich mich auf Posten 4 in der Hohensteiner Straße. Um 15. 00 Uhr sah ich, wie eine Jüdin auf den Zaun des Ghettos kletterte, den Kopf durch den Ghettozaun steckte und den Versuch machte, von einem vorüberfahrenden Wagen Rüben zu stehlen. Ich machte von meiner Schußwaffe Gebrauch. Die Jüdin wurde durch zwei Schüsse tödlich getroffen. Art der Schußwaffe: Karabiner 98. Verschossene Munition: Zwei Patronen.“

Weil also eine an sich ganz harmlose und dem Wachtmeister völlig unbekannte Jüdin aus Hunger ein paar Rüben zu stehlen versuchte, wurde sie erschossen. So unmenschlich wirkte sich nun einmal die nationalsozialistische Weltanschauung auf ein anonymes Judentum aus.

Tröstlich ist es, daß auch ganz andere Dinge geschahen, die fast einen versöhnlichen Ausgang nahmen. So beobachtete man am 23. November 1941 die ganz ungewöhnliche Handlungsweise eines anderen jungen deutschen Wachtpostens am Ghettozaun. Hunderte von halbverhungerten Juden erfüllte sie mit wehmütiger Freude.

Eine junge jüdische Kölnerin schlenderte innerhalb des Ghettos am Zaun entlang, um das Leben und Treiben jenseits in der Freiheit zu betrachten. Plötzlich wurde sie angerufen: „Lisa! Mein Gott, wie kommst du denn hierher?“ Der Soldat forderte das Mädchen auf, zu ihm hinauszukommen, und als dieses zögerte, beruhigte er es mit den Worten: „Komm nur! Es geschieht dir nichts. Ich fühle mich für dein Leben verantwortlich.“ Tatsächlich ging die Kölnerin dann zu ihm. Innerhalb des Ghettozaunes beobachtete man, wie die beiden jungen Menschen sich umarmten und küßten. Beide weinten. Hunderte von Menschen zu beiden Seiten des Zaunes schauten ihnen gerührt und nicht ohne Besorgnis zu, als das Mädchen den gelben Stern abnahm und mit dem Posten davonging. Man sah sie beide nicht wieder und erfuhr niemals, was aus den beiden jungen Menschen geworden ist

Hier handelte es sich einmal nicht um eine anonyme Jüdin, sondern um das jüdische Mädchen Lisa aus Köln, welches den Posten aus der Heimatstadt kannte. Wie die Kölnerin nach Lodz und ins Ghetto gekommen war, läßt sich denken, denn Transporte aus dem Altreich oder anderen Ländern Europas trafen ja laufend in Lodz ein und wurden auch noch ins überfüllte Ghetto hineingestopft. Sie vergrößerten das Elend innerhalb der Ghettomauem immer mehr.

Im November noch erhielten auch alle zuständigen Stellen, so der Regierungs-Vizepräsident Dr. Moser, der Polizeipräsident und SS-Brigadeführer Dr. Albert, der Kommandeur der Schutzpolizei Oberst K e u c k und sein Stellvertreter, Oberstleutnant Roese, ferner verschiedene Herren der Geheimen Staatspolizei, der Kriminalpolizei und der Ghettoverwaltung einen ausführlichen Bericht über die Einweisung von 20 000 Juden und 5000 Zigeunern in das Ghetto Lodz, obwohl alle diese Herren, und sogar der Regierungspräsident Dr. Übelhör, gelegentlich persönlich bei den Ausladungen und Überführungen der Ankömmlinge ins Auffanglager des Ghettos Lodz zugegen gewesen waren.

Jedenfalls geht aus dem Bericht hervor, daß in der Zeit vom 16. Oktober bis einschließlich 4. November 1941 insgesamt 19 837 Juden auf dem Bahnhof Radegast in Empfang genommen und ins Ghetto Lodz eingewiesen wurden. Die zwanzig Transporte bestanden hauptsächlich aus älteren Männern und Frauen, denen die Reichsbahn Sonderzüge mit Personenwagen zur Verfügung gestellt hatte. Jeder Zug brachte etwa 1000 Deportierte nach Lodz. Aus Wien und Prag kamen je fünf Transporte mit zusammen 10 000 Juden; aus Berlin trafen Transporte mit zusammen 4187 Juden ein; aus Hamburg waren es 1034 und aus Frankfurt am Main 1113 Juden; zwei Züge aus Köln brachten 2007 Menschen und einer aus Düsseldorf nur 984; der kleinste Transportzug aus Luxemburg brachte nur 512 Juden nach Radegast, dem Ausladebahnhof des Ghettos Lodz.

Der Bericht hebt ausdrücklich hervor, alle Ankommenden seien gut gekleidet gewesen, hätten je 50 kg Gepäck bei sich gehabt und jeder sei im Besitz von 100, — Reichsmark gewesen. Das Geld wurde mit den Einweisungspapieren durch den Transportführer jeweils den Beamten der Geheimen Staatspolizei oder Kommissar Fuchs persönlich ausgehändigt.

Weshalb die Ausladung der hilflosen Opfer und ihre Überführung hinter die Mauern des Ghettos von so starken Polizeikräften überwacht und gesichert werden mußte, ist kaum erfindlich. Jedenfalls besagt der Bericht ausdrücklich, die Absicherung sei durch die Reserven der Ghettowache 6 und die Bereitschaft der Ghettowache 4 erfolgt. Das Begleitkommando des jeweiligen Sonderzugs beteiligte sich selbstverständlich ebenfalls an der Bewachung. Wie der Bericht außerdem erwähnt, war der Ghettobahnhof Radegast sowieso ringsum von Stacheldrahtzäunen umgeben und konnte so leicht gesichert werden. Dennoch hatte sich das Polizeibataillon Litzmannstadt veranlaßt gesehen, für alle Fälle einen Zug Einsatz-Reserven in Bereitschaft zu halten, die allerdings in keinem Falle benötigt wurden. Kein Wunder, denn der Polizeischutz lag ja auch in den bewährten Händen des stellvertretenden Abschnitts-kommandeurs, des Hauptmanns der Schutzpolizei Künzel!

Es folgt eine genaue Beschreibung, wie das Ausladen der menschlichen Fracht vor sich ging, und man erfährt so aus dem Bericht, daß jeweils sechs Eisenbahn-Personenwagen auf einmal entladen wurden. Aus den Juden wurde ein Trupp zusammengestellt und von zwei Schutzleuten zum Ghettotor begleitet, wo schon der jüdische Ordnungsdienst und auch der jüdische Arbeitsdienst warteten, um sich ebenfalls an der Bewachung der Neuankömmlinge zu beteiligen. Ersterer führte die Trupps zum Auffanglager im Ghetto, letzterer schaffte das Gepäck der Betreffenden auf Wagen der Ghettoverwaltunng ins Ghetto hinein. Alte, kranke und schwache Reisende ließ man sogar durch Droschken transportieren, die zu diesem Zweck im Ghetto bereitstanden, und übergab sie jüdischen Ärzten.

Das Ausladen verlief stets reibungslos, obwohl manche Eisenbahnwagen nur zweitürig waren und die mit dem Gepäck vollgestellten Gänge ein schnelles Vorankommen unmöglich machten. Die Zugbegleit-Kommandos wurden beim Polizei-Reserve-Bataillon im Ghetto und in drei Fällen auch bei der Polizeischwadron untergebracht, wie der Bericht besagt. Daß dies natürlich ohne Verpflegung geschah, wird noch ausdrücklich erwähnt. Dreimal fuhr das Begleitkommando sogar noch am gleichen Tage zu seinem Standort zurück, ohne sich vom Transport in Lodz erholen zu können. Die Verspätungen der Züge lagen zwischen 60 und 470 Minuten. Wodurch sie entstanden, ließ sich nicht ermitteln. Wahrscheinlich handelte es sich um betriebstechnische Gründe auf den verschiedenen Stationen. Weshalb auf dem Bahnhof Widzew laufend Verspätungen entstanden, war ebenfalls nicht zu ermitteln. Durch derartige Verspätungen war es jedoch oft nötig, wie der Bericht ausdrücklich vermerkt, daß die im Einsatz befindlichen Mannschaften über Gebühr lange Dienst tun mußten. Ihre Arbeit wurde auch noch dadurch unnötig erschwert, weil die Dunkelheit längst hereingebrochen war, wenn die Ausladungen und die Überführung ins Ghetto stattfand. Aus gleichen Gründen wurden die Einsatzkräfte ihren eigentlichen Aufgaben viel zu lange entzogen. Es heißt im Bericht da wörtlich: „Bei dem an sich knappen Bestand der Chettowache 4 und 6 war es daher notwendig, daß die übrigen Kräfte den Ausfall der zum Ausladen der Juden benötigten Kräfte durch vermehrten Postendienst — bis zu zwölf Stunden — ausgleichen mußten. Es wird daher gebeten, bei künftigen gleichen Aktionen Kräfte des Polizeibataillons Litzmannstadt zur Verfügung stellen zu wollen. Zum Schutz gegen die schlechte Witterung dürfte es sich empfehlen, die Einsatzkräfte mit Zeltbahnen auszurüsten In der ersten Hälfte 1942 wurden dann auch noch aus dem. Warthegau selbst 7694 Juden ins Lodzer Ghetto umgesiedelt Da ihr Gesundheitszustand wohl manches zu wünschen übrig ließ, war Herr Hans Biebow von diesem Zuwachs wenig erbaut und nahm ihn übel. Er vertrat den Standpunkt, bevor man ihm die kranken Juden in „sein“ Ghetto stopfte, sollte doch gefälligst erst einmal bei der Geheimen Staatspolizei angefragt werden, wohin sie abtransportiert werden sollten. Hier sei eines dieser Schreiben des Herrn der Ghetto-verwaltung wiedergegeben, das er an die Geheime Staatspolizei Litzmannstadt, zu Händen des Kommissars Fuchs, richtete. Es wurde am 18. März 1942 geschrieben: „Betrifft: Zuweisung von 650 Juden in das Ghetto Litzmannstadt. In der Anlage übersende ich Ihnen ein Originalschreiben des Herrn Reichsstatthalters, woraus hervorgeht, daß dem Ghetto 650 Juden zugeführt werden, die ja inzwischen angekommen sind. Teilweise ist der Gesundheitszustand dieser Arbeiter sehr schlecht, und ich bitte höflichst dem Reichsstatthalter, Abteilung Arbeit, mitzuteilen, daß er fernerhin vor der Verladung von Juden, die nicht mehr arbeitsfähig sind, erst Rückfrage bei Ihnen hält, wohin diese abzutransportieren sind. Meiner Überzeugung nach war es grundfalsch, diese Juden überhaupt nadt Litzmannstadt zu transportieren. Übrigens wäre es für mich sehr erwünscht, wenn ein derartiger Schriftwechsel des Reichsstatthalters direkt mit Ihnen geführt würde. Biebow“

Genauso verärgert war Biebow bereits gewesen, als irgendeine NS-Behörde auf den Gedanken verfallen war, ihm auch noch 5 007 Zigeuner in sein Ghetto hineinzupferchen Das war schon am 5. November 1941 der Fall gewesen, und der Leiter der Ghetto-Verwaltung mußte sich damals genauso damit abfinden wie der Judenrat.

Man riegelte einfach etwa 300 Quadratmeter durch doppelte Stacheldrahtzäune vom übrigen Ghetto ab und schuf so gewissermaßen ein kleines Ghetto im großen Ghetto Lodz. Auf den eingezäunten 300 Quadratmetern wurden 5 000 Menschen untergebracht. Die Folge davon war, daß schon im Verlauf von knapp zwei Monaten 613 der 5 000 Zigeuner gestorben oder auch ermordet waren. Im Januar 1942 befreite man Herrn Biebow dann wieder von diesen, seiner Ansicht nach absolut nicht in „sein" Ghetto passenden Zigeunern und siedelte sie nach Kulmhof aus. Die Zigeuner landeten also ebenfalls in dem berüchtigten Vernichtungslager Chelmno. Das Ghetto im Ghetto aber verschwand wieder von der Bildfläche

Bei allem, was das Ghetto Litzmannstadt und seine Insassen anlangte, leistete der Ghettoverwaltung wie auch den anderen deutschen Behörden der sogenannte „Älteste der Juden in Litzmannstadt“ große Hilfe. Dieser Älteste, Chaim Mordechai Rumkowski, wurde im Jahre 1877 geboren und war also bereits ein alter Mann, als er Gelegenheit fand, den Deutschen behilflich zu sein und sein Licht leuchten zu lassen. Vor dem Kriege betätigte er sich als Direktor eines jüdischen Waisenhauses in Lodz und hatte in der ganzen Stadt eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil er unübertreffliche Geschicklichkeit entwickelte, sobald es galt, Geldspenden zu organisieren

Chaim Mordechai Rumkowski darf mit einiger Berechtigung wohl als Prototyp des Kollaborateurs bezeichnet werden. Im Ghetto führte er sich wie ein Diktator auf. Deshalb nannten ihn die Ghetto-Insassen, denen trotz allem Elend und nagendem Hunger der Witz noch nicht ganz abhanden gekommen war, auch spöttisch „Chaim I“. Rumkowski fuhr in einer uralten Kutsche durch sein Reich und war sich wohl kaum dessen bewußt, daß selbst die Mauern dort vor Qual und Verzweiflung stöhnten. Ebensowenig wird er sich klargemacht haben, daß die von ihm so königlich Beherrschten ja nur in Entrechteten und zum Untergang Verdammten bestanden.

Rumkowski brauchte jedenfalls nicht zu Fuß zu gehen, weil ihm sein Gönner Hans Biebow die Benutzung der alten Kalesche, großzügig wie immer, gestattete. Diese Kutsche schmeichelte der Eitelkeit des „Ältesten der Juden von Litzmannstadt“ gewaltig. Ebenso erfüllte es ihn mit Stolz, daß die Scheine des Ghettogeldes seine Unterschrift trugen und auf den Ghetto-Briefmarken — die gab es nämlich tatsächlich — sein Konterfei prangte. Es war das Bild eines älteren, ganz gut aussehenden Mannes, der den Eindruck erweckte, er sei ein Menschenfreund.

Selbstverständlich kann nicht von einem regelrechten und normalen Postverkehr des Ghetto Lodz mit der Außenwelt gesprochen werden.

Eingang und Abgang der Ghettopost waren vielmehr sehr ungewiß und von den verschiedensten Einflüssen abhängig. Nach wessen Lust und Laune dieser Postverkehr sich richten mußte, ist bis heute nicht geklärt worden. Es sind überhaupt nur sehr wenige Tatsachen darüber bekannt und in die Außenwelt oder Nachwelt gedrungen.

Am 20. Juli 1941 erhielt die Post im Ghetto aber eine Verfügung, daß es keinen Postverkehr mit Frankreich, Belgien und Holland geben könne. Lange vorher schon war auch jegliche Postverbindung zu den Überseeländern abgerissen, respektive unterbunden worden. Am 5. Januar 1942 stellten die deutschen Behörden der Ghettopost dann eine Verordnung zu, der zufolge jeglicher Postverkehr mit jenseits der Ghettomauern ein für allemal untersagt wurde

Zeitweilig gab es in Lodz auch eine Ghettozeitung, deren erste Nummer am 7. März 1941 herauskam. Die letzte erschien dann allerdings schon am 21. September 1941. Im ganzen mögen achtzehn Nummern der Ghettozeitung gedruckt worden sein. Ein etwas umständliches Unternehmen war es auch wohl sowieso, da jede Nummer der natürlich in yiddischer Sprache erscheinenden Zeitung zunächst einmal in die deutsche Sprache übersetzt werden mußte, um der Kriminalpolizei Lodz zur Zensur vorgelegt werden zu können

Gelang es wirklich einmal, irgendeine Tageszeitung oder Zeitschrift ms Ghetto einzuschmuggeln, so zahlte man nicht etwa nur die üblichen 0, 30 Pfennig dafür, sondern liebend gern 3 Mark. Aber es war leider nur sehr selten der Fall

Die Ghetto-Zeitung, die nur knapp achtzehn Monate erschien, fand nicht viel Anklang, denn sie befaßte sich vorwiegend mit einer einzigen Persönlichkeit, deren Leistungen, Verdienste um das Wohl der Allgemeinheit und deren Anweisungen, die schon mehr regelrechten Erlassen oder Verordnungen glichen. Nämlich Chaim I.! Alles, was mit ihm irgendwie zusammenhing, trat die Zeitung ausgiebig breit, rückte es ins rechte Licht und veröffentlichte — um nur ja jeden Zweifel auszuschalten — bei allen seinen „Verordnungen“ auch nochmals . ausdrücklich seine Unterschrift. Es handelt sich bei der Zeitung eben auch um ein dem Diktator Chaim I. entsprechendes Unternehmen, das genauso wenig wie er selbst von Dauer sein konnte. Das ist halt der Lauf der Geschichte!

Chaim Mordechai Rumkowski selbst pflegte zu sagen: „Man behauptet immer, ich sei ein Diktator. Das ist aber nicht wahr. Idt strebe lediglich danach — vielleicht habe ich auch den Ehrgeiz — einen kleinen Rest des Judentums zu retten. Die künftige Judenheit wird mir das Dank wissen, denn mein Werk kann nur von der Geschidite beurteilt werden. Und sie wird es rückblickend als segensreich erkennen.“

Natürlich war auch Rumkowskis Macht in Wirklichkeit äußerst begrenzt. Lediglich im Ghetto durfte er sie bis zu einem gewissen Grade ausüben und sich in ihrem Glanz sonnen oder sich ihrer sonstwie erfreuen. Außerhalb der Ghettomauern aber achtete Hans Biebow mit Argusaugen darauf, daß nicht etwa Rumkowski, sondern allein er selbst — offiziell natürlich die Ghettoverwaltung — alle Fäden in der Hand behielt und die Puppen tanzen ließ. Von Chaim I. war da nicht mehr die Rede und kein Gedanke an ihn!

Hatte Hans Biebow erst einmal etwas in die Hand genommen, ließ er sich die Sache auch nicht mehr entreißen. Ebenso wenig konnte man ihn an die Wand drücken oder umgehen: schon gar nicht, falls dies geschah, weil man Chaim I. Kompetenzen zutraute, die dieser nicht besaß.

Als daher der Ingenieur Rudolf L a u t r i c h aus Hohensalza es unternahm an Rumkowski persönlich zu schreiben, schaltete Biebow sich schleunigst ein. Lautrich war Leiter eines Wasserbau-und Wasserwirtschafts-Unternehmens und schien Rumkowskis Befehlsgewalt reichlich zu überschätzen. Es ging ihm bei dem Schreiben um 216 Juden in seinem Arbeitslager. Da gerade die Tiefbauarbeiten die Kleidung außerordentlich ruinierte, bestand dringender Bedarf an Kleidungsstücken bei Lautrich. Die von den Juden mitgenommenen Anzüge waren längst dahin und außerdem war ein Feuer im Lager ausgebrochen, bei dem alles vielleicht noch Vorhandene auch noch vernichtet worden war. Bei dem gleichen Feuer war leider darüber hinaus auch noch die vom Bürgermeister in Litzmannstadt zugeteilte Wäsche und Kleidung draufgegangen. Deshalb also wandte sich der Betriebsführer vertrauensvoll an den Diktator Chaim I., da er annahm, dieser würde seine bedauernswerten Glaubensgenossen mit der erforderlichen Wäsche und Kleidung versehen. Vorsorglich gab Lautrich gleich an, es handele sich bei seinem Lager um 54 Frauen und 162 Männer und versicherte Rumkowski, er würde selbstverständlich die ihm bewilligten Textilien von seinem „Oberjuden“ gerecht verteilen lassen und persönlich darauf achten.

Wie vorauszusehen, landete der Brief des Betriebsführers auf Hans Biebows Schreibtisch und dieser nahm ihn ein wenig übel. Er teilte Lautrich mit, das an Rumkowski gerichtete Schreiben sei zuständigkeitshalber ihm zugeleitet worden, da nur er allein Erforderliches veranlassen könne. Bei dieser Gelengenheit wolle er auch gleich darauf aufmerksam machen, obwohl das Lautrich ja eigentlich hinlänglich bekannt sein dürfte, daß alle Korrespondenz über Kleidung und Leihgebühr für Juden ausschließlich mit der Ghettoverwaltung und nicht etwa mit dem Ältesten der Juden zu führen sei. Herr Biebow zeigte sich sogar dermaßen ungehalten, daß er dem Betriebsführer androhte, die Angelegenheit unverzüglich der Geheimen Staatspolizei zu übergeben, falls Lautrich nochmals den Versuch unternehmen sollte, sich mit den Juden direkt in Verbindung zu setzen. Im übrigen verwies Biebow auf ein früheres Schreiben, in dem er Lautrich gegenüber die Belieferung mit Kleidungsstücken von dessen pünktlicher Lohnverrechnung abhängig gemacht hatte. Obwohl er deswegen auch noch im Juni gemahnt hätte, wäre Lautrich nun aber immer noch im Rückstand mit den „Judenleihgebühren“ — so nannte man das in der Sprache des Unmenschen jener Zeit — und hätte nicht einmal auf die Mahnung reagiert. Solange diese Angelegenheit nicht bereinigt würde, könne daher der Betriebsführer auch nicht damit rechnen, von der Ghettoverwaltung Kleidungsstücke für seine Juden zu erhalten. Biebow behielt sich darüber hinaus vor, dem Herrn Reichsstatthalter Meldung von dieser leidigen Saumseligkeit zu erstatten. Es gehe nicht an, daß trotz Mahnung einfach keine „Judenleihgebühr“ gezahlt würde.

Nein, derartiges Benehmen schätzte der Herr Biebow nicht! Was blieb also dem Betriebsführer übrig, als sich in aller Form bei der Ghettoverwaltung zu entschuldigen! Das Schreiben an den Ältesten der Juden sei von seinem Schachtmeister verfaßt worden, den wiederum die Juden ausdrücklich darum baten, und er — der Betriebsführer, der immerhin schon 60 Jahre zähle und überlastet sei — habe den Brief dann versehentlich mit unterzeichnet, als ihm die Post vorgelegt wurde. Die Bekleidung seiner Juden sei jedoch tatsächlich unzureichend und deshalb müsse unbedingt etwas unternommen werden. Lautrich schreibt wörtlich: „Einew großen Teil der Juden fallen die Lumpen buckstäblich vom Leibe und sind nur noch mit Papierspagat zusammengekalten. y/äsche und Schuhe haben viele überhaupt nicht mehr.“

Dann kommt der Betriebsführer auf die rückständigen Leihgebühren zu sprechen und versichert, die Verzögerung sei ihm sehr peinlich. Er habe deshalb sofort an sein Stammhaus in Posen geschrieben, da sich dort die Buchhaltung befinde und alle Rechnungen von dort aus beglichen würden. Im übrigen habe er das von Herrn Biebow erwähnte Schreiben vom 29. Juni bisher nicht erhalten. Doch kommt er dann gleich wieder auf seine Juden zurück und teilt wörtlich mit: „Während es mir durch unnad-isichtige Härte gelungen ist, aus den Männern nach und nach wenigstens halbwegs gute Arbeiter zu machen, muß idt feststellen, daß dies bei den Weibern nicht der Fall ist. Von letzteren ist kaum der dritte Teil in der Lage, soviel zu arbeiten, daß ich auf die Selbstkosten kommen kann, während ich bei dem anderen Teil auf die Selbstkosten noch zuzahlen muß. Über den Winter haben aber auch die Männner infolge der bedingt kurzen Arbeitszeit und des Frostes kaum für 80 RAI Arbeit je Tag geleistet. Dieser Betrag geht restlos für Verpflegung auf, so daß für Judenleihgebühren nichts übrig bleibt. . . . Ich soll nun den ganzen Winter über die Leihgebühren aus eigenen Mitteln zahlen, ohne die Juden beschäftigen zu können. Und wenn die Zeit kommt, wo wirklich etwas gearbeitet werden könnte, kommt das Landratsamt in Hohensalza und nimmt mir den größten Teil der Juden weg, um diese anderweitig zu beschäftigen. Knapp vor Eintritt des Winterwetters rücken diese Juden sodann vollkommen verlaust wieder ein, und ich soll den Winter über für Verpflegung und Leihgebühren aufkommen."

Wenige Tage später teilte der Ingenieur der Ghettoverwaltung mit, sein Stammhaus in Posen habe, wie ihm versichert worden sei, die rüdeständigen Leihgebühren inzwischen bezahlt am 14. Juli bereits und RM 10 110, 10 überwiesen

Herr Biebow ließ sich auch durch Chaim I. das Zepter bestimmt nicht aus der Hand nehmen, wie man sieht. Er klopfte ihm im Gegenteil oft recht unsanft auf die Finger und hatte manches an ihm auszusetzen. Andererseits konnte Rumkowski sich gelegentlich revanchieren, weil er besser rechnen konnte als die Buchhalter der Ghettoverwaltung, deren Tätigkeit ja auch recht vielseitig war.

So fiel Biebow eines Tages bei Durchsicht verschiedener Aufstellungen ins Auge, daß unverhältnismäßig viele Schreiben des Ältesten der Juden einliefen, in denen dieser auf die Fehler in der Berechnung hinwies. Biebow konnte unschwer feststellen, daß Rumkowski recht hatte und ersuchte seine Mitarbeiter ungehalten, in Zukunft gefälligst besser aufzupassen und ausgerechnet bei den Judenabrechnungen keine Fehler zu machen. Es sei immerhin recht peinlich, sich durch den Ältesten der Juden darauf hinweisen lassen zu müssen

So schlimm war das nun aber gar nicht, denn es ging nicht immer sehr würdevoll bei den deutschen Dienststellen und der Ghettoverwaltung zu. Schlomo Frank weiß in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen manches darüber zu berichten. So erzählt er auch von der Feier am 20. April 1941, die anläßlich des Geburtstags des „Führers“ stattfand. Er meint, alle Deutschen seien restlos betrunken gewesen. Selbst Biebow und seine Helfer Ribbe, Schwind und Schaumburg hätten sich kaum noch auf den Beinen halten können, als sie im Ghetto laut das „Deutschland, Deutschland über alles" sangen. Schwind wollte dann von einem jüdischen Ghettopolizisten wissen, weshalb denn dieser nicht auch mitlache? Die deutschen Armeen würden immer weiter so siegen und dann hätten es ja auch die Juden wieder besser. Da der jüdische Polizist nicht recht wußte, was er dem Betunkenen am besten antworten sollte, hielt er den Mund. Er bekam zwei Maulschellen und anschließend zum Trost ein Stück Brot

Derartiges war dem Leiter der Ghettoverwaltung jedoch wohl ebenso wenig unangenehm wie viele andere Sachen, die ihm Nutzen brachten.

Er scheute sich keinesfalls selbst Schriftliches darüber von sich zu geben.

Als ihn der Älteste der Juden einmal darauf aufmerksam machte, man sei außerstande, die Monogramme aus der ihm übergebenen Tischwäsche zu entfernen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen, schrieb Biebow seelenruhig:

„Deshalb bitte ich, neue Monogramme anzufertigen, und zwar H. B.“

Selbstverständlich ließ sich Rumkowski solche kleinen Extrawünsche seines Gönners angelegen sein und alles wurde zur vollsten Zufriedenheit des Herrn und Meisters ausgeführt.

Es mutet fast wie eine makabre Karikatur an, wenn man sich vorstellt, daß Heinrich Himmler persönlich am 13. Juni im Ghetto Litzmannstadt für ein paar Minuten mit Chaim Mordechai Rumkowski zusammentraf.

Chaim I. kam in seiner alten Kalesche angefahren und der Reichsführer-SS mit sechs Wagen.

Es gibt sehr verschiedene Versionen über das kurze Gespräch der beiden Männer. Schlomo Franks Tagebuch ist zu entnehmen, daß Rumkowski bereits einen Tag zuvor davon unterrichtet wurde, am nächsten Tag um 17. 00 Uhr wolle Himmler das Ghetto besichtigen. Alle Beamten wurden auf das große Ereignis vorbereitet und erhielten genaue Instruktionen, wie sie sich bei dem hohen Besuch zu verhalten hatten. Vor allem sollte größte Sauberkeit im ganzen Ghetto herrschen. Die Ghettopolizei wurde bis zum letzten Mann eingesetzt, um darauf zu achten, daß es keine Störungen irgendwelcher Art geben könne, solange Himmler sich im Ghetto aufhielt. Als es dann am nächsten Tag soweit war und der gefürchtete Reichsführer-SS das Ghetto mit seiner Anwesenheit beehrte, rief der Polizeipräsident Chaim Mordechai Rumkowski herbei, um ihn Himmler vorzustellen. Heinrich Himmler fragte dann herablassend: „Wie geht es euch denn im Ghetto?“ Daraufhin soll Rumkowski dienstbeflissen geantwortet haben: „Alles in bester Ordnung, Herr Minister.“ Himmlers diverse Fragen nach dem Essen und dem Gesundheitszustand im Ghetto beantwortete der Älteste der Juden ebenso zufriedenstellend, und das Gespräch war damit beendet. Himmler fuhr weiter, um die Arbeitsstätten zu besichtigen

Das Kapitel wäre unvollständig, wenn hier nicht noch darauf hingewiesen würde, daß sämtliche Vorkriegs-Parteien ihre politische Arbeit trotz Hunger und Not auch im Ghetto weiterführten, so gut dies gehen wollte. Sie vesammelten sich heimlich und besprachen ihre Probleme. Sie veranstalteten kulturelle Zusammenkünfte und sorgten dafür, daß die Kinder etwas lernten.

Bis 1942 gab es tatsächlich auf diese Weise im Lodzer Inferno noch ein regelrechtes jüdisches Schulwesen. In 23 Elementarschulen lernten 13 000 jüdische Kinder und in zwei Mittelschulen wurden auch noch 1 278 Schüler unterrichtet. Der Unterricht wurde von 414 Lehrern unentgeltlich erteilt.

Sobald dann allerdings 1942 das Ghetto offiziell in ein Arbeitslager umgewandelt wurde, schloß man die Schulen alle. Dann mußten kleine Gruppen organisiert werden, um die Kinder heimlich auch weiterhin unterrichten zu können.

Selbst eine Liebhaberbühne ist im Ghetto ins Leben gerufen, die von Moses P ulla w e r und David Beigelman geleitet wurde und einmal wöchentlich Vorstellungen gab.

Manchen Ghetto-Insassen war es gelungen, heimlich Radio zu hören. Leider kam ihnen die Geheime Staatspolizei schnell auf die Spur und nahm acht Personen fest. Diese wurden auch bald darauf erschossen.

Nach dem Kriege fanden sich die Notizen einer zionistischen Jugendgruppe über ihre kulturelle Arbeit im Ghetto Lodz. Die Titel ihrer Vorträge und kurze Inhaltsangaben waren ebenfalls ausgezeichnet. Es handelte sich dabei vornehmlich um allgemeine Geschichte, aber auch um die jüdische: ebenso befaßten sie sich mit jüdischen und nicht-jüdischen Schriftstellern oder Philologen und anderen Wissenschaftlern

Nach dem Kriege fand man auch das Tagebuch von David Sierakowiak, der 1925 geboren wurde und im Ghetto ums Leben kam. Dieses Tagebuch befaßt sich nur mit der Zeit vom 6. April bis zum 23. Oktober 1941 und berichtet von wissenschaftlichen Problemen, literarischen Kreisen, Zirkeln für Soziologie, Geschichte und anderem. Alles wurde damals von der Jugend im Ghetto ins Leben gerufen. Sie gaben auch eine Art Schulzeitung heraus Übrigens lehnten es alle im Lodzer Ghetto eingeschlossenen Schriftsteller und Journalisten ab, mit dem Judenrat zusammenzuarbeiten, als es darum ging, die Ghettozeitung herauszugeben. Chaim Mordechai Rumkowski gab sich große Mühe mit ihnen, scheiterte jedoch an ihrem nicht zu brechenden Widerstand. Die meisten jener Literaten versuchten, so gut es gehen wollte, unter den erbärmlichen Bedingungen ihre Tätigkeit im Ghetto Lodz irgendwie fortzusetzen. Alles, was sie jedoch geschrieben haben mögen, ist mit ihnen gemeinsam zugrunde gegangen, denn nach dem Kriege wurde nur ganz wenig aufgefunden

VII. „Aussiedlungen"

Es waren die Juden des Warthegaus, die das erste polnische Vernichtungslager Chelmno -Kulmhof — sozusagen „einweihten".

Im Verhältnis zu den anderen polnischen Vernichtungslagern wie Belsec — dort kamen etwa 600 000 Juden ums Leben — oder Treblinka, wo ungefähr 700 000 Juden ermordet wurden, ist Chelmno recht unbedeutend und fast harmlos zu nennen. Ganz besonders dann natürlich, wenn man erst an Auschwitz denkt, wo mehr als zwei Millionen ausgerottet worden sind.

In Chelmno waren es nähmlich „nur“ ca. 300 000 Juden, die dort ihr Leben lassen mußten. Eigentlich kann man Chelmno kaum als richtiges Vernichtungslager bezeichnen, denn dort gab es keine Gaskammern und auch noch kein Krematorium wie in allen anderen derartigen Vernichtungsstätten. Man möchte fast sagen, es war nicht so recht auf Vernichtung eingerichtet. Freilich war ein altes pompöses Schloß vorhanden, das Heim des früheren Besitzers, in dem die Ankömmlinge ganz höflich empfangen worden sind. Frauen und Kindern half man sogar häufig von den Lastwagen herunterzuklettern. Die Höflichkeit dauerte jedoch dann nur so lange, bis man bereit stand, um im Schloß nackt zu „baden“.

Wie schon gesagt, gab es in Chelmno keine Gaskammern, sondern lediglich Vergasungswagen, die das Werk vollenden mußten. Der Chauffeur war der Henker. Er drückte auf ein bestimmtes Ventil, das sich dadurch öffnete und Gas ins Wageninnere einströmen ließ. Der Mann am Steuer wartete dann eine Viertelstunde — vielleicht manchmal auch etwas länger — und schon war alles erledigt. Kamen einmal an einem Tage zu viele Juden in Chelmno an, und konnten die Gaswagen den Andrang nicht bewältigen, so sperrte man die übrigen einfach für die Nacht in der alten Dorfkirche ein. Daß die solcherweise „Ausgesiedelten“ und in der Kirche auf ihr Schicksal Wartenden meistens keine Ahnung hatten, was ihnen tatsächlich bevorstand, beweisen noch heute die Inschriften, die sie auf den Kirchenwänden hinterließen. Da stand beispielsweise zu lesen: „Wir sind 700 und fahren nach Leip.

u ^sDie ersten „Aussiedlungen" nach Chelmno begannen im Dezember 1940.

Es existiert ein sehr bezeichnender Brief des Rabbiners von Grabow an seinen Schwager in Lodz, der allerdings aus einer viel späteren Zeit stammt, aber erst nach dem Kriege aufgefunden und seither aufbewahrt worden ist. Er zeigt das Datum „ 19. Januar 1942“ und lautet:

Meine Teuren, bisher habe ich eure Briefe alle nicht beantwortet, da idi selbst nichts Genaues wuflte. Unglüdtlicherweise weiß ich inzwischen aber alles. Ein Augenzeuge der entsetzlichen Gesdtehnisse, der sidt retten konnte, kam nämlidt zu mir und hat mich aufgeklärt. Nadidem er der Hölle entkommen war, habe ich nun alles erfahren. Der Ort, an dem alle umgebradtt werden, heißt Chelmno. Er liegt ganz in der Nähe von Dabie. Später werden dann die Leidten im Wald von Lodtow begraben. Man tötet die Menschen in Chelmno auf zwei versdtiedene Arten: durch Erschießen oder durch vergiften mit Gas. So gesdiah es jedenfalls schon den Juden von Dabie, Izbica-Kujawska, Klodawa und vielen anderen Orten. Kürzlich bradtte man auch Zigeuner aus dem sogenannten Zigeunerghetto in Lodz dorthin, um sie umzubringen. Seit einigen Tagen jedoch treffen Tausende von Lodzer Juden dort ein und mit ihnen allen verfährt man ganz genauso. Denkt bitte nicht, daß euch ein Irrer dies alles schreibt. Es ist leider sdtreckliche, tragische Wahrheit.

Reiß dir die Kleider vom Leibe, oh Mensch, und streue Asdte auf dein Haupt! Laufe durch die Straßen und tanze im Wahnsinn!

Mir brechen die Leiden Israels das Herz. Ich bin ihrer so müde und meine Feder vermag kaum noch zu schreiben. Ich meine, das Herz müsse mir zerspringen. Ob sich vielleicht der Allmächtige erbarmt und doch noch die letzten seines Volkes gnädig errettet? Schöpfer der Welt, rette uns! Rette!

Grabow, den 19. Januar 1942 Jakob Szulman“

Mit diesem Unternehmen in Chelmno befaßte sich von Anfang an ein Sonderkommando. Es bestand aus 8 5 SS-Leuten unter dem Befehl des SS-Hauptsturmführers Hans Bothmann. Bis März 1943 war Hans Bothmann mit seinen Mannen eifrig damit beschäftigt, die Juden des Warthegaues zu liquidieren. Dann wurde er plötzlich zu neuen Aufgaben nach Kroatien beordert.

Bevor dies jedoch geschah, schrieb Heinrich Himmlers persönlicher Referent Rudolf Brand — ein SS-Obergruppenführer — noch einen aufschlußreichen Brief an den Chef des Sicherheitsdienstes, SS-Brigadeführer Emst Kaltenbrunner, dem er Abschrift eines Schreibens beilegte, das Gauleiter und Reichsstatthalter Greiser an den Reichsführer-SS gerichtet hatte. Brand teilte Kaltenbrunner mit, daß der Reichsführer den SS-Hauptsturmführer Bothmann und sein Sonderkommando von 85 Mann geschlossen in der SS-Freiwilligen-Division „Prinz Eugen" eingesetzt sehen wolle, nachdem die braven Recken ihren wohlverdienten Urlaub genossen haben würden. Im Brief Brands heißt es wörtlich: „. . . Der Reichsführer-SS bittet Sie, die Männer vor ihrem Einsatz noch einmal zusammenzunehmen und sie eindringlich zu verpflichten, unter die Zeit ihres Sonderkommandos einen Strich zu setzen und auch nicht a n d e u t u n g s v o 11 davon zu reden.“

Brand fährt fort, daß selbst der Chef des SS-Führungshauptamtes, SS-Gruppenführer J ü 11 n e r , lediglich die Mitteilung erhalten habe, im April würden 85 Männer mit ihrem Vorgesetzten geschlossen der SS-Freiwilligen-Division zugeführt werden

Wie aus einer Aufstellung von Dr. Josef Kermisz, der heute in Israel lebt, hervorgeht — er leitet das Archiv des Instituts „Yad Vashem" in Jerusalem —, wurden aus dem Lodzer Ghetto in Chelmno umgebracht: vom 2. bis 9. Januar 1942 14 Transporte mit Zigeunern aus dem Ghetto Lodz 5 000 Mann vom 16. bis 19. Januar 1942 10 000 Juden im Februar 1942 7 000 Juden im März 1942 (hier handelt es sich hauptsächlich um Nichtarbeitende, von Unterstützung Lebende, die alle ohne Gepäck eintrafen) 24 700 Juden im April 1942 2 350 Juden im Mai 1942 (66 Transporte, bei denen auch Juden aus dem Altreich, Wien, Luxemburg etc. waren) 5 5 000 Juden im September 1942 (hauptsächlich Kinder)

17 000 Juden 121 050 Seelen und zwar 5 000 Zigeuner und 116 050 Juden

Bei Hans Biebow und seinen Helfershelfern hießen diese Aussiedlungen, die unweigerlich und ausnahmslos zum Tode führten, „Sonderaktionen". Man wird nun fragen, was er oder seine Ghettoverwaltung denn überhaupt damit zu tun hatten.

Nun, zunächst sorgte er einmal für alle, die bei solchen „Sonderaktionen" mitwirken mußten. Vor allem lag ihm am Herzen, sie mit genügend Trinkbranntwein zu versorgen, wie aus seinem nachstehend wiedergegebenen Schreiben an den Reichsbeauftragten für das Trinkbranntweingewerbe beim Reichsnährstand in Berlin W 52, Kleiststraße, zu ersehen ist. Biebow schrieb den Brief am 13. Juni 1942. Er lautet: „Betrifft: Zuteilung von Trinkbranntwein für bei einer Sonderaktion Beschäftigte.

Beifolgend überreiche ich Ihnen iw Original wein Schreiben vow 22. Mai 1942 an das Städtische Gesundheitsawt Litzwannstadt — das ich nach Einsidttnahwe zurück erbitte — wit einer nawentlichen Aufstellung von Leuten der Ghettoverwaltung, die bei einer Sonderaktion eingesetzt sind und die auf Grund dieser Tatsache unbedingt eine Zuteilung an Trinkbranntwein erhalten wüssen.

Eine diesbezügliche Bescheinigung des zuständigen Awtsarztes des Gesundheitsawtes ist auf dew vorstehend erwähnten Schreiben verwerkt und ich bitte freundlichst, die hiesige Reichswonopolverwaltung anzuweisen, wir die erforderliche Menge Trinkbranntwein in wöchentlichen oder wonatlichen Rationen auszuliefern. Biebow, Awtsleiter“

In dieser Beziehung war Herr Biebow sehr aktiv, wie auch aus einem anderen Schreiben an das Landeswirtschaftsamt Posen vom 26. Juni 1942 über die Sonderzuteilung von Zigaretten hervorgeht. Da heißt es: „Die Ghettoverwaltung ist iw Zuge der Entjudung des Warthegaus, in Zusawwenarbeit wit der Geheiwen Staatspolizei, wit der Durchführung einer Sonderaktion beauftragt worden.

Für die Abwicklung, die etwa bis Ende Oktober 1942 dauern wird, sind 25 Leute der Ghettoverwaltung abgestellt, die täglich durchschnittlich 14— 16 Stunden tätig sind. Unter Bezugnahwe auf die heute wit Herrn Regierungsrat Dr. M o r a v s k i geführte Unterredung, bei der iw einzelnen eine Begründung weines Antrags erfolgte, bitte ich, wir für die Dauer dieser Sonderaktion für die Beteiligten eine wonatliche Sonderzuteilung von 5 000 Zigaretten zukowwen zu lassen. Die Lieferung könnte durch die hiesige Firwa Hellwut Böhlke, Strafe der 8. Arwee 101, erfolgen. Biebow, Awtsleiter“

Aus unzähligen Briefen geht hervor, wie intensiv sich der Leiter der Ghettoverwaltung für diejenigen seiner Untergebenen einsetzte, die bei solchen „Sonderaktionen" mitmirken mußten. Er sorgte stets dafür, daß die schwere Arbeit ihnen auch Sonderzuteilungen einbrachte. Auch eine geldliche Belohnung, eine sogenannte „Gefahrenzulage“ wollte er für sie herausschlagen. Deswegen ließ er ein streng vertrauliches Schreiben an die im Hause befindliche Personalstelle los, in welchem es im nationalsozialistischen Amtsdeutsch hieß: „Betrifft: Gefahrenzulage für die bei der Sonderaktion Eingesetzten. Den bei der Sonderaktion eingesetzten Leuten der Ghettoverwaltung wird seit Beginn ihrer Tätigkeit eine Gefahrenzulage von täglich RM 6, — bewilligt, ganz gleich, ob es sich hierbei uw Angestellte oder Arbeiter handelt.

In dieser Sonderzulage sind bereits die RM 2, — je Tag enthalten, die die Betreffenden bereits durch ihre Tätigkeit auf dew Baluterring bekowwen, so daß lediglich noch eine Nachverrechnung von RM 4, — täglich zu erfolgen hat.

Non Herrn Schwind als dew Nerantwortlichen für diesen Sondereinsatz sind wonatlich nawentliche Listen anzufordern und anhand dieser dann die zu zahlende Differenz-Gefahrenzulage von RM 4, — zu errechnen. Diese Differenzzahlung wird von dew Sonderkonto 12 300 bestritten; die in Frage kowwenden Beträge sind wonatli. ch bei Herrn Luchterhandt anzufordern. Zwei Listen für den Einsatz in der Zeit vow Beginn der Tätigkeit bis Ende Mai dieses Jahres liegen diesew Schreiben bei. Biebow“

Tatsächlich lag dem Schreiben auch eine Liste bei, welche die Namen aller so schwer arbeitenden enthielt, die in den Genuß dieser Gefahren-Zulage kommen sollten. Diese „Zusatz-Gefahrenzulage" erhielten 1942 im Ghetto Lodz: „ Gehaltsempfänger: Dreger, Walter ab 28. 4. -10. 5. äRM 4, -RM 52, — Henschel, Emil ab 26. 4. — 30. 6. d RM 4, — RM 264, -Hoffschild, Richard ab 20. 4. — 30. 6. ä RM 4, — RM 288, — Schwind, Heinrich ab 20. 4. -30. 6. ä RM 4, — RM 288, — Zippel, Otto ab 3. 5. -30. 6. ä RM 6, — RM 354, -RM 1246, -“

Es lohnte sich also wohl für die Beteiligten, denn es kamen ja ganz nette Summen zusammen!

Über die „Aussiedlung", welche zum Beispiel vom 7. bis 12. September 1942 stattfand, gibt es eine Lageberichterstattung für den Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD, aus der hervorgeht, daß es sich meistens um alte, schwache oder sieche Personen handelte, die schon über 65 Jahre alt waren. Außerdem kamen Personen ohne Rücksicht auf ihr Alter in Frage, die krank waren, und Kinder unter 10 Jahren.

Unter Mitwirkung des Ordnungsdienstes wurde von der Geheimen die — Aussiedlungsbehörde Staatspolizei denn das war sogenannte — schlagartig ein ganzer Häuserblock abgeriegelt. Sobald er durchsucht worden war, kam der nächste an die Reihe. Leider erwies es sich dann jedoch als unumgänglich, die bereits erfaßten Häuserblocks später nochmals gründlich durchzukämmen. Immer wieder flüchteten sich nämlich Leute — manchmal waren das sogar ganze Familien — in die bereits durchsuchten Häuser, wo sie sich sicher fühlten. Dennoch ging die ganze „Aussiedlung" ziemlich reibungslos vonstatten, wie der Bericht ausdrücklich hervorhebt. Jeder nur aufflackernde Widerstand konnte sofort mit den zur Verfügung stehenden Mitteln unterbunden werden. Es heißt da wörtlich im Bericht: „Non ihr (der Aktion) betroffen wurden ca. 18 000 Personen, Erwachsene und Kinder.“

Die Zurückbleibenden konnten den dem „Endziel“ Entgegenfahrenden nur noch nachwinken. Nachdem die Alten, Kranken und Kinder fort waren und die Aussiedlungsaktion beendet wurde, mußten . sie wieder fleißig arbeiten. Sofort nach Ende der „Aussiedlungsaktion“ erschien am 12. September 1942 überall an der Ghettomauer folgender Anschlag:

„Wiedereröffnung aller Fabriken und Werkstätten ab Montag, den 14. Septewber 1942.

Nachdew die Aussiedlung wit dew gestrigen Tage beendet ist, werden ab Montag, den 14. Septewber 1942 säwtliche Arbeitsstätten des Ghettos wieder voll in Betrieb genowwen. Jeder Leiter, Arbeiter und Angestellte ist verpflichtet, pünktlich seinen Arbeitsplatz einzunehwen, wenn ihw daran gelegen ist, sich vor denkbar größten Unannehmlichkeiten zu schützen. Es wird von dön nunmehr anerkannten Arbeitskräften verlangt, daß sie mit größtem Fleiß ihre Aufgaben erfüllen und sich befleißigen, die durch die Ruhepause hervorgerufenen Rückstände schnellstens aufzuholen. Ich werde strenge Kontrolle durchführen lassen, ob diese meine Anordnung restlos befolgt wird.

Ghettoverwaltung Biebow“

Bis 1944 arbeiteten im Ghetto Lodz immer noch 70 000 Juden. Es war in jenem Jahr das einzige Ghetto, welches überhaupt noch-auf polnischem Boden vorhanden war. Offiziell wandelte man es in ein Konzentrationslager um.

Es gibt darüber auch ein Schreiben des Chefs des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes (WVHA), des SS-Obergruppenführers Oswald Pohl, an Heinrich Himmler. Dieser Brief wurde am 9. Februar 1944 geschrieben. Oswald Pohl nimmt darauf Bezug, daß Himmler ihm bebereits am 3. März 1943 im Beisein von SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner den Auftrag erteilt habe, das Ghetto Litzmannstadt in ein Konzentrationslager umzuwandeln, und nicht — wie wohl ursprünglich beabsichtigt war — den ganzen Betrieb nach Lublin zu verlegen. Pohl bedauert, daß der Reichsstatthalter Greiser jedoch offenbar von diesem Auftrag nicht unterrichtet worden sei, denn er behauptete, ihm läge als letzter Bescheid des Reichsführers-SS nur dessen Brief aus dem September vergangenen Jahres vor, dem zufolge Heinrich Himmler mit der Verlegung des Ghettos Litzmannstadt nach Lublin einverstanden sei. Pohl weist darauf hin, daß bei Lage der Dinge ja wohl nunmehr eine Verlegung nach Lublin sowohl in technischer als auch in politischer Beziehung überhaupt nicht mehr in Frage kommen könne. Er bat seinen Vorgesetzten daher, den Reichsstatthalter Greiser deshalb doch nunmehr von dem Entschluß zu unterrichten, damit Pohl das Ghetto noch im gleichen Monat in ein Konzentrationslager umzuwandeln vermöchte

Heinrich Himmler überlegte sich die Angelegenheit aber dann offenbar nochmals, denn schon am 14. Februar 1944 teilte der Gauleiter und Reichsstatthalter Arthur Greiser seinerseits dem Chef des SS-Wirt-Schaftsverwaltungshauptamtes mit, daß er in Posen mit Himmler besprochen habe, das Ghetto Litzmannstadt nun doch nicht in ein Konzentrationslager umzuwandeln. Der Erlaß des Reichsführers-SS vom 11. Juni 1943 sei somit wieder hinfällig geworden. Stattdessen habe er mit Himmler vereinbart, das Ghetto Litzmannstadt müsse dermaßen dezimiert werden, daß nur noch so viele Juden darin zurückblieben, wie dies im Interesse der Rüstungswirtschaft unbedingt erforderlich erscheine. Hinfort würde Litzmannstadt eben das Gaughetto des Warthelandes sein. Die notwendig gewordene Dezimierung der Insassen aber würde von dem ja bereits früher im Warthegau zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten tätig gewesenen Sonderkommando SS-Hauptsturmführer Bothmann durchgeführt werden. Der Reichsführer-SS wolle zu diesem Zweck das Sonderkommando Bothmann sofort aus dem Einsatz in Kroatien herausziehen und es zur Durchführung dieser vordringlichen Aufgabe dem Gau Wartheland wieder zur Verfügung stellen.

Somit sei das Problem Ghetto Litzmannstadt auf beste Weise gelöst, und absprachegemäß bliebe dann auch die Verfügung über das Inventar des Ghettos und die Verwaltung desselben allein Sache des Reichsgaus Wartheland. Der gesamte Grundbesitz des Ghettos solle nach Auflösung desselben und nach Entfernung auch der letzten Juden darin, der Stadt Litzmannstadt wieder zufallen. Der Reichsführer-SS würde unverzüglich in diesem Sinne auch der Haupttreuhandstelle-Ost entsprechende Weisungen erteilen. Am Schluß seines Schreibens bittet Gauleiter Greiser dann noch, der Chef des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes möchte ihm baldmöglichst für diese Lösung entsprechende Vorschläge unterbreiten

Bei dieser Entscheidung blieb es, denn tatsächlich kehrte dann auch SS-Hauptsturmführer Bothmann im Frühsommer 1944 mit den bewährten Mannen seines Sonderkommandos aus Kroatien in den Warthegau zurück und nahm die frühere Beschäftigung an seiner alten „Arbeitsstätte" wieder auf.

Das Schicksal der 70 000 Juden, die damals noch im Ghetto Lodz lebten, war damit eigentlich schon besiegelt. Aber man hatte die Rechnung ohne den Reichsminister Albert Speer gemacht. Dieser gedachte als Vorsitzender des Rüstungsrates die Arbeitsstellen im Ghetto Lodz auf jeden Fall für seine Kriegswirtschaft zu erhalten. Er versuchte alles, um zu retten, was noch zu retten war, und intervenierte seiner Ghetto-Sklaven wegen energisch. Gauleiter Greiser sah sich daher erneut veranlaßt, Heinrich Himmler um Hilfe anzugehen, denn Sonderführer Bothmann, dessen Arbeit Greiser so wohlgefällig war, hatte ja auch inzwischen sein Werk begonnen. Am 9. Juni 1944 schickte Greiser seinem Reichsführer-SS nachstehendes Geheim-Telegramm:

„Gegenüber der von Ihnen befohlenen Räumung des Ghettos Litzmannstadt werden seitens der Rüstungsinspektion erhebliche Gegen-vorstöße unternommen. Reichsminister Speer hat am 5. Juni nadits durch den Offizier vom Dienst der Rüstungsinspektion die Zahl der im Ghetto in den einzelnen Fertigungen beschäftigten Personen, ihre wöchentliche Arbeitszeit sowie die wöchentliche Fertigung in den einzelnen Produktionszweigen angefordert, um angeblich diese Ziffer beim Führer vorzutragen.

Da ich mit den Vorbereitungen für die Räumung des Ghettos fertig bin und die ersten Evakuierungen vorgenommen habe, mache ich pflichtgemäss auf diesen Vorstoß zur Durdtkreuzung Ihrer Anordnung aufmerksam. Greiser“

Das Sonderkommando Bothmann war eifrig am Werk. Allein zwischen dem 2. und dem 30. August 1944 wurden über 60 000 Juden aus dem Ghetto Lodz „ausgesiedelt“. In einem der letzten Todestransporte befand sich dann auch der „Älteste der Juden in Litzmannstadt“, Chaim Mordechai Rumkowski höchst persönlich.

Im Ghetto blieb nur ein sogenanntes Aufräumungs-Kommando von 870 Juden zurück. Man kasernierte sie in einem einzigen Haus der Jakubastraße 16.

Dieses Häuflein von 870 Menschen ist alles, was aus dem großen Ghetto in Lodz übriggeblieben ist. Außerdem überlebten noch 30 jüdische Kinder das große Sterben in Lodz und achtzig erwachsene Juden, die an verschiedenen Stellen versteckt, die Hölle und alle Gefahren überstanden

Fussnoten

Fußnoten

  1. Tabaksblat, Seite 15.

  2. Friedman I, Seite 32.

  3. Dort, Seite 55 ff.

  4. Nazi Conspiracy and Aggression, Band IV, Seite 97, Washington 1946.

  5. AJHi; AJ, Band 9.

  6. Tabaksblat, Seiten 18— 19.

  7. Lodzer Zeitung, 14. XI. 1939.

  8. Dort vom 6. XII. 1939.

  9. IMT PS— 686.

  10. PJB, Band 86, Sp. 12— 14.

  11. AIZ, Dok. 1— 200, Sp. 35.

  12. PJB, Band 8, Sp. 82.

  13. Berenstein, Seiten 36— 37.

  14. Dort Seite 34.

  15. IMT, NO. 5322.

  16. Berenstein, Seite 47.

  17. GVIII/46.

  18. Eisenbach, Seiten 26- 31.

  19. Hershkovitch, Seite 21.

  20. Im August 1944 als einer der letzten Juden aus dem Ghetto ins Vernichtungslager Chelmno transportiert (s. u.).

  21. Eisenbach, Seite 74— 75.

  22. Dort, Seite 86— 87.

  23. Dort Seite 172.

  24. Blumental I, Seite 233.

  25. Document Centre Berlin.

  26. Eisenbach, Seite 252.

  27. Dort Seite 253.

  28. Dort Seite 255.

  29. Dort Seite 256— 257.

  30. Dort Seite 258.

  31. Hershkovitch, Seite 26.

  32. AJ Bekanntmachung Nr. 71.

  33. Hershkovitch, Seite 26.

  34. AJ, Nr. 7.

  35. Berenstein, Seite 150.

  36. Eisenbach

  37. Dort Seite 99.

  38. PW, Seite 71.

  39. GV Nr. VI/45.

  40. Blumental I, Seite 245— 246.

  41. GV Nr. IV/65.

  42. Kermisz, Seite 126— 127.

  43. Berenstein, Seite 172— 173.

  44. Dort Seite 238.

  45. Kermisz, Seite 149— 151.

  46. Eisenbach, Seite 174— 175.

  47. Blumental I, Seite 228— 229.

  48. PW, Seite 69.

  49. Kermisz, Seite 162.

  50. PW, Seite 58— 59.

  51. Dort Seite 72.

  52. Dort Seite 70.

  53. Blumental I, Seite 62.

  54. Dort Seite 71.

  55. Eisenbach, Seite 241— 242.

  56. Dort Seite 243— 245.

  57. Abraham Melezin " Demografie Processes among the Jewish Population of Poland", Lodz 1947, Seite 17.

  58. Ringelblum, 18. Mai 1941.

  59. Hershkovitch, Seite 40.

  60. Blumental I, Seite 150- 151.

  61. Dort, Seite 171.

  62. Hershkovitch, Seite 47.

  63. Blumental I, Seite 180.

  64. Dort, Seite 176— 177.

  65. Hershkovitch, Seite 35.

  66. N. Grüss „Kinder Martyrologie" (yiddisch), Buenos Aires 1947, Seite 49.

  67. Eisenbach, Seite 173.

  68. Frank, Seite 120— 121.

  69. PW

  70. .

  71. Eisenbach, Seite 203— 206.

  72. Friedman II, Seite 9.

  73. Blumental I, Seite 149.

  74. Kormisz, Seite XT

  75. Bulletin des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau Nr. 29, Januar—März 1959, Seite 141.

  76. Salomo Blum „Dictator of the Lodz-Ghetto" in „Commentary“, New York, Februar 1949, Seite 110— 122.

  77. Bulletin des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Nr. 28, Oktober-Dezember 1958, Seite 101.

  78. Dort Seite 99.

  79. Ringelblum, 8. — 9. September 1940.

  80. S. F. Bloom „The Ghetto-Dictator" in „Jewish Social Studies", New York, Januar 1950, Seite 73.

  81. Blumental II, Seite 308— 313.

  82. PW, Seite 363.

  83. Frank, Seite 77.

  84. Eisenbach, Seite 263.

  85. Frank, Seite 112.

  86. Betti Ajzensztajn: „Rudi podziemny w Ghettach i Obozach" (polnisch) •— Die Untergrundbewegung in Ghettos und Lagern — Warschau-Lodz-Krakau 1946, Seite 72 ff. Dokumente.

  87. Das Tagebuch fand man nach dem Kriege. Das Original befindet sich im Jüdischen Historischen Institut in Warschau.

  88. Ber Mark: „Umgekommene Schriftsteller in den Ghettos und Lagern'(Yiddisch), Warschau 1954, Seite 160 ff.

  89. Sämtliche Angaben über das Vernichtungslager Chelmno stammen aus der Dokumenten-Sammlung Blumental II, Seite 227— 253.

  90. Blumental II, Seite 233.

  91. Berenstein, Seite 326.

  92. Kermisz, Seiten X, XI, XIV, XV, XVII, XXXVI.

  93. Eisenbach, Seite 227.

  94. Dort, Seite 229.

  95. PW, Seite 202.

  96. Kermisz, Seite 80.

  97. Blumental I Seite 137— 138

  98. Eisenbach, Seite 236.

  99. IMT NO. 519.

  100. Ebenfalls dort.

  101. Archiv der „Hauptkommission zur Erfoschung der Hitlerverbrechen in Polen" in Warschau (polnisch) — Glowna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce —. Dokument 109/334.

  102. Kermisz, Seite LXIX, Friedman II, Seite 29 und Hershkovitch, Seite 57— 58. .

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