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Die Mächtigen und ihr Gefolge | APuZ 40/1959 | bpb.de

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APuZ 40/1959 Die Mächtigen und ihr Gefolge Rußland und der Nahe Osten

Die Mächtigen und ihr Gefolge

LUDWIG FREUND

Erweiterte Fassung eines Vortrages, der am 6. Juli 1959 im Rahmen der „Abendländischen Woche" in Bad Münster am Stein gehalten wurde.

I. Einleitung

Es ist nützlich, bei allen Betrachtungen über den Menschen und seine Seinsverhältnisse sich zunächst einmal klarzumachen, daß er ein paradoxes Wesen ist. Dies heißt, er ist voller Widersprüche und — wie Nicolas Berdyaev es ausdrückte — in stetigem Konflikt mit sich selber Der Mensch liebt z. B.den Zustand der Freiheit, aber gleichzeitig ist in ihm lebendig der Wille sowohl zur Herrschaft als auch zur Gefolgschaft, und diese beide wirken freiheitsauflösend. Es gibt eine vertikale Stufenleiter der Macht. Der eine gebietet dem anderen und steht dann selbst wieder unter dem Befehl eines Höheren. Die Hierarchie der Rang-und Machtstufen bricht dann irgendwo an der Spitze s c h e i n b a r ab. Es scheint da jemanden geben zu müssen, dem nicht mehr befohlen werden kann. Er wäre also der wahre Souverän, der Inhaber höchster Gewalt. Gerade das aber gibt es in menschlichen Verhältnissen nicht, denn, wie Georg Simmel, der ausgezeichnete Soziologe und scharfe Beobachter menschlicher Vergesellschaftungsformen, sagte: „Jeder Führer wird auch geführt"

Dieser ganz unumstößliche Sachverhalt, der uns noch beschäftigen soll, beruht gleichsam auf einem gesellschaftlichen Mechanismus, den wir im Vergleich zur formalen „vertikalen“ Stufenleiter der Macht, ihr soziales Wechselseitigkeitsverhältnis oder ihre relative Umkehrbarkeit nennen möchten. Diese relative Umkehrbarkeit beweist, daß es kein unbedingtes Knechtschaftsverhältnis zu geben braucht, es sei denn, daß ein bedeutender, jedenfalls militanter, nicht notwendig die Mehrheit repräsentierender Bestandteil des Volkes dieses Knechtschaftsverhältnis will und über sich selbst und die anderen Mitglieder der Gruppe, die sich passiv verhalten, verhängt. Es gibt aber auch noch einen anderen unumstößlichen, angesichts moderner geistiger Strömungen nicht minder paradoxen Sachverhalt von sehr übergeordneter Bedeutung. Und dieser besteht darin, daß nicht nur „die Führer sowohl führen als auch geführt werden“, sondern daß menschliche Freiheit und somit menschliche Macht oder Autorität niemals absolut sind. In einem Zeitalter, aus welchem das religiöse Pathos entschwunden ist und der religiöse Geist nur noch eine Existenz buchstäblich am Rande der großen Geschehnisse führt, kann dieser Hinweis gar-nicht oft und betont genug zur Herstellung eines besser fundierten und sachlich wohlproportionierten Bewußtseins des Menschen von seiner Stellung in der Welt und in der Geschichte erfolgen. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung. Es ist das, was nach Spinoza „bloß vermöge seiner eigenen Natur existiert und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird“ Nichts Menschliches ist so souverän, daß es bloß vermöge seiner eigenen Natur oder seiner eigenen Kräfte existiert oder nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird. Richtig folgert Spinoza daher, daß „nur Gott absolute Freiheit" besitze.

Eine der Sünden des liberalen Zeitalters, das sich dadurch selbst ad absurdum geführt und nahe an den Rand der Selbstvernichtung gebracht hat, ist der Hochmut in bezug auf die menschlichen Kräfte, insbesondere die menschliche Vernunft, schließlich die menschliche Wissenschaft, welche im Urteil einer von einem einseitigen Humanismus gespeisten Intelligenzia die Religion überflüssig machen und die Menschheit einem Zustande völliger Freiheit, Gerechtigkeit und Perfektion auf allen Gebieten entgegenführen würden. Einige unserer Sozialgelehrten und Philosophen haben aus den tragischen Evolutionen seit der Aufklärungszeit immer noch nicht die Lehre gezogen, daß eine tiefere Begründung des menschlichen Daseins und der menschlichen Bestimmung nottut, als der Rationalismus der modernen Aufklärer uns bieten kann. Schließlich ist ja der fanatische Wissenschaftsglaube der Marxisten, so wie er im Kommunismus kulminiert, nicht nur eine Protestbewegung gegen die Setzungen und „Ungereimtheiten“ der liberalen Kultur, sondern lediglich der „verzweifeltere“ Versuch, die falsche Exaktheitspose sozial-philosophischer Doktrinen und den rein aufden Menschen und seine Wissenschaft gestellten Vervollkommnungsanspruch, die von der Aufklärung und dem Positivismus stammen, zur äußersten Wirkung und zu uneingeschränkter Geltung zu bringen.

II. Das Verhältnis der inneren zur äußeren Macht

Ohne das Bewußtsein, daß menschliche Macht und Freiheit endlich sind, gibt es kein adäquates Verhältnis auf Erden zu den Phänomenen der Macht und der Freiheit. Es gibt dann nicht einmal eine adäquate Definition beider. Denn Macht und Freiheit sind Korrelate. Der Mächtige ist frei. Aber es gibt eben keine absolute Macht auf Erden. Auch die Mächtigsten unterliegen dem Naturgesetz des Sterbens und somit der Endlichkeit und Vergänglichkeit. Und in ihrem irdischen Streben und Trachten stießen selbst solche unterschiedlichen Machttypen wie Caesar, Napoleon, Hitler und Stalin schließlich an die politischen Grenzen ihrer Macht.

Paradoxerweise ist überdies manchmal der Mensch, der von den politisch Mächtigen verfolgt wird, freier und mächtiger als die, die ihn verfolgen. Warum? Weil der Mensch der bloß-praktischen Erfolgsintelligenz, welcher Verfolgungen dekretiert, sowohl zu der Würde wie zu den Grenzen menschlicher Existenz, einschließlich seiner eigenen, überhaupt kein Verhältnis hat. Seine Macht, seine Freiheit, sein Leben sind ohne Proportionsbewußtsein, ohne inneren, geistig-moralischen, Rang und daher ohne den tieferen Sinn, welcher die Abhängigkeit des eigenen Lebens, der eigenen Freiheit und Macht von höheren Mächten begreift. Seine elementare Arroganz verleitet ihn dazu, seinen eigenen natürlich-begrenzten Willen zum absoluten Willen über alles und jeden zu setzen. Dieser Hochmut ist nach Reinhold Niebuhr die Quintessenz der menschlichen Sünde, die eigentliche Herausforderung Gottes, dessen Wille allein als absolut gesetzt werden kann Bei aller äußeren Macht ist dieser mächtige Mensch innerlich arm, irrend und unfrei. Der Mensch „der Masse , der ihm aus Furcht, oder aus moralischer Trägheit, aus persönlichem Selbstinteresse, aus irregeleiteter Bewunderung oder reiner politischer Ignoranz gehorcht, mag äußerlich frei bleiben, ganz einfach weil er rein äußerlich und legal die Forderung erfüllt, Konflikt mit der Obrigkeit zu vermeiden. Er hat dadurch seine äußere Ruhe um den Preis der Gesinnungsfreiheit erkauft, vorausgesetzt daß seine Gesinnung oder sein „Gewissen“ ihn überhaupt zum Protest gegen die äußere Gewalt treibt. Er ist also zumindest innerlich nicht frei.

Die Frühchristen Roms waren das. Aber sie waren äußerlich verfolgt, geschlagen und unfrei. Positive, innere Freiheit wurzelt in dem Gefühl der persönlichen Würde des Menschen. Diese setzt moralische Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung und Selbstgesetzgebung im Dienste des Glaubens an höhere Werte voraus. Wer jene hat, ist so autonom, wie es unter begrenzten menschlichen Verhältnissen möglich ist. Dies heißt also, daß derjenige, der im Besitze einer geistigen oder moralischen Sinngebung des Lebens ist, welche Würde und Ordnung in sein Leben bringt, äußere Eingriffe in seine innere Ordnung notwendig störender empfindet als äußere Opfer im Dienste seiner inneren Überzeugungen. Ein Jesus von Nazareth oder G a u t a m a Buddha oder Sokrates sind die großartigsten Wahrzeichen einer solchen moralischen oder geistigen Antwort im Sinne positiver Freiheit. Die späteren geschichtlichen Märtyrer für die Sache einer moralischen Überzeugung und eines inneren Lebensplanes von den Frühdiristen bis zu der Opposition unter Hitler und Stalin haben sich als stärker, als mächtiger, als freier erwiesen als alle von außen an sie herantretenden Drohungen, Entwürdigungen und Rohheiten der auf sie losgelassenen „Meute" und selbst als der über sie verhängte Tod. I h r Beispiel lebt unter den Freien und Freiseinwollenden über den Tod hinaus. Der Verfolger hat seine Gefolgschaft nur in der Zeit, und er ist niemandem ein bleibendes Beispiel, außer dem Unmenschen.

Die positiv und innerlich Freien fühlen sich offenbar nicht bedrückt oder ihrer Freiheit beraubt, sie fühlen nicht, daß sie durch ihre Standfestigkeit und deren Folgen „sich selbst Gewalt antun“, solange sie, unter dem Eindruck ihrer lebendigen Ideale stehend, „sich selbst beherrschen“ im Stile einer moralischen Souveränität. Ihre Selbstbeherrschung, „Selbstgesetzgebung" und innere Würde würden als unfrei vielmehr die Kapitulation vor einer ihren Idealen entgegengesetzten äußeren Willkürherrschaft empfinden. Ihre Selbstbestimmung, die sich oft vom Glauben an „höhere als menschliche Gewalten" ableitet und sich nur diesen „höheren Gewalten" beugt, dabei die Grenzen dessen, was von Menschen verhängt werden kann, mit tragischem Sinn für das Unvermeidliche, aber im Frieden mit sich selber ertragen heißt, schließt ohne Kompromiß eine Art Fremdbestimmung a u s , die darauf abzielt, ihre Ideale zu zerbrechen.

In diesem Verhalten liegt äußerstemenschliche Macht.

Wie viele unter uns Menschen zu irgendeiner Zeit und in irgendeiner Nation diese Haltung verwirklichen können, bleibt stets eine offene Frage. Diese Art Heldentum ist überall selten. Viel wird davon abhängen, wie stark und verbreitet die positiven Ideale des Geistes und der Gesittung zu einer gegebenen Zeit und in einem gegebenen Volke sind. Meine persönlichen Erfahrungen in bezug auf die Wirkungskraft dieser Ideale in der modernen bürgerlichen Welt sind nicht ermutigend. Lind reine Vernunfts-und Aufklärungsideale, denen gewöhnlich ein gehöriger Schuß von Pragmatismus, Utilitarismus und Opportunismus beigegeben ist, genügen nicht zur Verwirklichung dieser Haltung in existenziellen Krisen. Das haben wir in Deutschland schon einmal erfahren. Wenn wir nach jenem epochalen geschichtlichen Erlebnis und kulturellen Schock nichts besseres zu tun wissen, als auf die schon einmal als unzureichend erwiesenen reinen Aufklärungsideale zurückzugreifen, wie es unter vielen Intellektuellen Deutschlands und der Welt nun wieder geschehen ist, dann steht es abermals nicht gut um die geistige und moralische Krisenfestigkeit eines gesellschaftlichen Gefüges, welches der metaphysischen, über alle Wissenschaft hinausreichenden Spannweite bedaif und einer Glaubensdimension bedarf, die über die nur-menschliche Bindung und Abhängigkeit hinausweisende moralische Kräfte ins Leben zu rufen vermag. Die sozialwissenschaftlichen Zentralwerte der Gegenwart: Anpassung, Nachahmung, Nützlichkeit, Meßbarkeit, Meinungsforschung, so respektierlich und zeitnotwendig sie sind, genügen nicht ganz.

Hier aber geraten wir mit unseren Gedanken an eine Grenze. Wenn die Dinge so einfach lägen im menschlichen Bereich, daß hier ein böser politischer Wille und dort eine reine moralische Überzeugung stehen und beide fein säuberlich voneinander abgegrenzt werden könnten, so wäre das Problem der inneren gegen die äußere Macht immer noch relativ leicht gelöst, wenigstens im Theoretischen, obgleich im Praktischen der Zweifel fortbestünde, wieviele Menschen die innere Kraft haben, sich spontan gegen eine äußere Macht zu stellen, wenn diese vor äußerster Gewalt und krassem Unrecht nicht zurückschreckt.

So einfach wie ein Lewis Mumford sich das vorstellt, der sagte, die Atomphysiker hätten das moralische Dilemma, in welches die Erfindung der Atombombe sie versetzte, voraussehen können liegen die Dinge aber auch nicht, selbst unter relativ freien Verhältnissen. Auf einmal wurde diesem modernen Aufklärer die Theologie gut genug, um den Atomphysikern — wie er meinte — Aufschluß geben zu können über die allgemeine menschliche Neigung zum Machtmißbrauch. Andere amerikanische und auch europäische Geister glauben, das Dilemma schlicht lösen zu können, indem sie anraten, gewisse Arbeitsgebiete der naturwissenschaftlichen Forschung einfach nicht zu betreten. Wiederum andere empfehlen aus christlicher Sicht, daß „der betende Naturwissenschaftler", der „liebend experimentiert", der einzige sei, der den richtigen Weg in unserem technischen Zeitalter, welches eine neue Dämonie der Macht geboren hat, zu wandeln verstehe und vor-bauen könne, damit die verhängnisvolle, laufende Verbindung von wissenschaftlichen Erfindungen und militärischen Vernichtungswaffen aufhöre.

Dazu kann man nur sagen, daß hier der Naturwissenschaft ein Ethos unterschoben wird, das die Wissenschaft als solche nicht kennt, und daß es keine Möglichkeit gibt, die nicht aus christlicher Liebe oder nicht aus christlicher oder humanistischer Verantwortung Handelnden und Experimentierenden von der Wissenschaft fernzuhalten. Carl von Weizsäcker hat die Unlösbarkeit des Dilemmas erkannt und daraus als Physiker seine eigenen persönlichen Folgerungen des Abschieds von der Physik gezogen. Aber mit solchen Entscheidungen, so ehrbar sie sind, hört natürlich das Problem als solches nicht auf. Für den Forscher als Forscher gilt heute nur d i e S a c h e und d i e Sachlichkeit. „Die Liebe" geht über die Bereiche der Wissenschäft hinaus. Das Religiöse steht über, nicht i n der Wissenschaft, nischer Neopositivisten, alle menschlichen Probleme durch die Wissennischer Neo-positivisten, alle menschlichen Probleme durch die Wissenschaft lösen zu können, so absurd erscheint. Die „inneren" Entscheidungen von Menschen sind von den wissenschaftlichen Erfindungen und technischen Veranstaltungen so prinzipiell verschieden, die „inneren Werte“ folgen so sehr ihren eigenen, schwer determinierbaren Gesetzlichkeiten, daß der Versuch einer Koordination beider Seiten des Menschlichen in unserer Seinslage geradezu weltfremd erscheinen muß.

Die wissenschaftliche Sachlichkeit und Sachgebundenheit hat ganz natürlich ihre ethisch-neutralen Regeln und Folgen. Die Entdekkungen der beiden Moralisten und Pazifisten Albert Einstein und Robert Oppenheimer wurden von den Politikern, Wirtschaftlern, Technikern und Militärs ebenso benützt wie die des Chauvinisten Teller. Niemand kann ahnen, wann eine aus rein wissenschaftlich-sachlichem Erkenntnistrieb stammende Erfindung, wann auch nur ein allen praktischen Anwendungsbereichen anfänglich fernliegendes, theoretisches Forschungsprodukt wie die Relativitätstheorie Einsteins ihren Weg in das militärische Kalkül findet. Denn reine Wissenschaft, die sich bemüht, voraussetzungslos zu sein, und die anwendungsfremd ist, ist dennoch die Grundlage aller angewandten Wissenschaften. Lind schließlich kann doch überhaupt nur der völlig unpolitische Verstand die einseitige Einstellung von Erfindungen und der Produktion auf technologischem und physikalischem Gebiete anraten, solange eine politisch und moralisch gefährliche Gegenmacht mit Welteroberungsplänen die Garantie ähnlicher Abstinenz nicht bietet..

Hier rächt sich an uns Abendländern das gesamte Paradoxon unserer geistigen Vergangenheit. Im Abendlande erfolgte die eigenartige, ja einzigartige Fusion geistiger, moralischer und politisch-wirtschaftlicher und technologischer Formen der Macht. In ganz großen Zügen wollen wir andeuten, worum es sich soziologisch dabei handelt und welchen geistigen und moralischen Selbstwidersprüchen der abendländische Mensch dadurch unterworfen wurde.

IH. Abendländische Formen und Selbstwidersprüche der Macht

Die grundlegenden „Universalien“ der westeuropäischen Kultur sind mit der Erbschaft gegeben, die sie von Rom, Judäa und Hellas empfing. Mit diesen drei Namen sind jene Kulturtendenzen symbolisch angedeutet, die auf römischen Boden ihre Synthese suchten, aber nicht fanden, und die dann geschichtsnotwendig im sogenannten abendländischen Raum wiedererstanden, um bei dem gleichen Versuch im wesentlichen zu scheitern. Die fundamentalen Widersprüche zwischen dem wissenschaftlich-sachlichen oder philosophisch-kritischen Geiste der Griechen einerseits, dem schlichten christlichen Glauben andererseits sind den Reformern immer noch halb-bewußt, und genau so undeutlich ist den Kultur-kritikern der unaufhebbare Widerspruch zwischen dem von Rom ererbten Macht-und Expansionsdrange, der von dort gleichfalls überlieferten Organisationskunst einerseits, dem christlichen Ethos andererseits. Diese Widersprüche innerhalb unserer abendländischen Kultur, die wir in wachsendem Maße jetzt auch für die sogenannten Entwicklungsländer übertragen, soweit sie unsere gelehrigen Schüler in der Beherrschung der wissenschaftlichen und Machttechnik werden, muß man sich in ihrem vollen Ausmaße vergegenwärtigen. Unsere humanistischen und unsere christlichen Reformer machen es sich zu leicht, wenn sie diese wesentlichen Komplizierungen übersehen, welche den Charakter des abendländischen Menschen geprägt haben, denn dieser Mensch hat sichmehroderwen igerdarangewöhnt, mitseinen Widersprüchen zu leben.

Tatsächlich gibt es keine völlig integrierte, harmonische und logischen Definitionsansprüchen genügende Gemeinschaft, die von inneren Wider-und Gegensätzen frei wäre 0). Aber die geistigen Widersprüche innerhalb der abendländischen Kultur sind besonders eklatant, und sie erklären zutiefst die periodischen geistigen Krisen, die sie erschüttert haben.

Man bedenke: Der griechische analytische Geist liegt den unvergleichlichen Errungenschaften abendländischer Philosophie, Wissenschaft und Technik zugrunde. In ihrer endlichen Wirkung verstärkten diese geistigen Disziplinen den von Rom überkommenen Machtkomplex. Aber die Verstandeskultur mit ihrer betonten Sachbezogenheit begegnete in dem Bestreben, sich den bereits entwickelten dogmatischen Glaubens formen des Abendlandes anzupassen, bedeutenden Schwierigkeiten. Der auf ihn ausgeübte Zwang der kirchlichen Autoritäten führte zu einer Art von Reflexbewegung gegen alle Glaubensstandorte, sobald der wissenschaftliche Verstand seine notwendige Freiheit mühsam und unter Opfern errungen hatte.

Aber wir haben keine Wahl mehr. Der kritische Verstand, die Hingabe an die Verstandessache als solche, ist das Mittel der abendländischen Wissenschaft, und der Zweifel ist das Motiv des kritischen Verstandes. Er kann nur für wahr halten, was logisch und rational oder experimentell einwandfrei bewiesen ist. Dogmatischer Glaube und christliche Liebe haben daneben geringe Aussicht, als Garanten der Wissenschaftlichkeit jemals ernst genommen zu werden, wiewohl sie als tiefschichtigere Motive der Persönlichkeit des Wissenschaftlers diesen nicht selten gerade in unserem Zeitalter in private Gewissenskonflikte zu stürzen geeignet sind.

Das tiefere Anliegen in unserem Kulturkreis bleibt der mögliche Friedenszustand zwischen religiöser und wissenschaftlicher Haltung. Er ist möglich, wo das Religiöse sich nicht die Befugnisse des Richters über die profanen Wissenschaften aneignet, und wo der profane Wissenschaftler weiß, daß das Mysterium Tremendum über alle Wissenschaft erhaben, der wissenschaftliche Verstand im tiefsten Grunde, trotz aller Vorstöße ins Unendliche, endlich ist, und daß Agape oder der moralische Impuls, die Liebe und das tätige Mitleid, deren eine hochentwickelte Kulturgesellschaft bedarf, aus anderen Höhen oder Tiefen stammt als der bloß grübelnde und forschende Verstand, der seine autochthonen Tugenden und Regeln besitzt. Das Problem ist viel schwieriger und komplexer als die mannigfachen Simplifikationen zu seiner Erklärung es erscheinen lassen. Das nur sollte hier angedeutet werden. Damit aber zweigt unser Gedankengang ab zum ausschließlichen Thema des Verhältnisses von Wissenschaft und Moralität, und wir müssen beim Machtthema bleiben.

Im Hinblick auf den soziologischen Ursprung des betonten Zwiespalts zwischen „innerer“ Macht und „äußerer" Macht und deren Verwirrung müssen wir auf den seltsamen, aber geschichtlich unausweichlichen Bund zwischen christlichem und römischem Erbe verweisen. Das christliche Ethos der Demut, der Liebe und der Unterordnung des Strebens nach irdischen Gütern unter das Streben nach den Gütern der „anderen Welt“ — wie Paulus dieses Ethos den Völkern im Gebiete des Römischen Reiches erklärte — stand zur „virtus" des römischen Bürgers in diametralem Gegensatz. Das „neue Element“ konnte sich nur durchsetzen, nachdem beide Seiten des Gegensatzpaares ihr Wesen grundsätzlich geändert hatten. Im geteilten und zerfallenden Reich verlor der Römer seine „römischen Tugenden“ streng diesseitigen Daseinsbezuges sowie seine praktischen und organisatorischen Talente. Und das Christentum wurde allmählich zur festen Kirche. In dieser Form wurde es im Abendlande des späten elften Jahr-hunderts zur herrschenden Macht. Die Ideen der Nächstenliebe, Demut, der grundsätzlichen Sündhaftigkeit aller Menschen, die Forderung der Unterordnung der Macht und der irdischen Güter unter die Sorge um das Seelenheil waren nun die moralischen Normen und Leitgedanken einer ausgesprochenen kirchlichen Herrschaftsorganisation, deren Träger diese Gebote oft und grausam verletzten. Die geschichtliche Ironie liegt nun darin, daß das hinsiechende Römertum dem Abendlande seinen Genius der Verwaltungskunst und der Machttechnik vererbte, und zwar zunächst durch das Medium der Kirche, die dadurch in ihrem moralischen Fundament gespalten wurde.

Hier liegt der eigentliche Ursprung des tiefen moralischen Unbehagens in der abendländischen Kultur. Das ihr von Anbeginn zugrunde liegende christliche Ethos, daß alle säkularen ethischen Formulierungen überdauerte, ja diese meist unbewußt und weitgehend inspirierte, kann das in sozialen Machtstrukturen natürlicherweise angelagerte und geschichtlich entwickelte Unrecht nicht ohne Skrupel oder gelegentliche Auflehnung hinnehmen.

Der innerlich Mächtige und Freie beherrscht sich selbst, und er beherrscht andere nur durch sein Beispiel. Der äußerlich Mächtige beherrscht Andere, und er kann nur herrschen, indem er die Freiheit dieser anderen beschränkt. Nicht immer in der Freiheitsb e s c h r ä n k u n g der anderen, auf welcher Gesetz und Ordnung beruhen, aber im Freiheitsm i ß b r a u c h der herrschenden Schichten oder Institutionen, die deren Versuchung darstellt, liegt die Essenz des sozialen LInrechts. Im Abendlande sind es aber nicht nur die „entrechteten Klassen und Völker“, die sich gegen das Unrecht empören, sondern christliche, liberale und schlechthin moralisch gewissenhafte Elemente in den nicht direkt betroffenen Bevölkerungsgruppen, welche entweder ethisch begründete Unsicherheit verspüren oder sich offen und geheim sozialen Protestbewegungen anschließen, gelegentlich sogar zu ihren Führern aufschwingen. Dieses soziale Phänomen ist vielleicht nicht einzigartig und ist auch in anderen Kulturen, z. B. in Indien, zu beobachten. AIs ganz eigentümlich erscheint aber der sporadisch immer wieder ausbrechende Zweifel am Sinn unserer Kultur und die Selbstbesinnung über die moralische Qualität der äußeren Einrichtungen, über die Berechtigung der Macht und der Machtverteilung, die von den soge-nannten Naturrechtlern, von Thomas Morus, den Reformatoren, den Monarchomachen, Grotius, in einem spezifisch anderen Sinne von Hobbes, dann wieder von Locke, den französischen Aufklärern und endlich von der Vielzahl pessimistischer Denker des 19, und 20. Jahrhunderts vollzogen wurden. Der sogenannte „faustische Mensch des Abendlandes , wie Spengler ihn zeichnete, ist wahrscheinlich nichts anderes als der innerlich unbefriedigte und verzweifelte Mensch, der immer nach neuen Lösungen für die unmögliche Aufgabe der Beschwichtigung seines eigenen Schuldgefühls sucht, diesem vergeblich zu entrinnen trachtet und sich in Zwischenstadien — total unspenglerisch ist diese Auslegung natürlich -dem schicksalhaften Widerspruch zwischen Macht und Ethos einfügt.

Denn kein Mensch des Abendlandes kann diesem Widerspruch entfliehen. Er ist geschichtliches, nichtumkehrbares und gemeinsames Schicksal, und nur ein Kulturkreis, der liebendes Ethos, Machtdrang und Knechtschaft so eng verband wie der europäische, weiß, was er leidet. Nietzsches Protest ist so vergeblich wie Schopenhaue r s Weltverneinung, und die liberalen Weltverbesserer haben so wenig Aussicht wie die kommunistischen Weltverschwörer in ihrem utopischen Bestreben, die moralischen Selbstwidersprüche aus dem Wege zu räumen, es sei denn, daß es gelingt, eine ganz neue und bessere Kultur durch die radikale Zerstörung der bisherigen ins Leben zu rufen. Das aber wollen weder Christen noch Liberale. Und die Kommunisten sind ein lebendiges Beispiel dafür, daß, wie groß und meßbar äußerer Macht-aufstieg und technischer Fortschritt in Rußland und China auch sein mögen, der Triumph menschlicher Liebe sich aus den Trümmern einer zerschlagenen Tradition nicht zu erheben braucht.

IV. Die politisch Mächtigen und ihr Gefolge

Damit kommen wir zum endlichen Thema politischer Macht. Die Macht hat viele Dimensionen, und die Politik als die Steuerung des öffentlichen Lebens hat gleichfalls viele Gesichter. Es gibt nicht nur Staatspolitik, sondern auch Kirchenpolitik, Wirtschaftspolitik, Gemeindepolitik, Sozialpolitik, Militärpolitik, Parteipolitik, Interessenpolitik und viele andere Arten und Abarten politischer Tätigkeit. Mancher-orts wird eine Unterscheidung getroffen zwischen „Autorität“ und „Macht“, insbesondere in bezug auf die politischen Sphären Autorität komme — nach Jouverel und Gablentz — aus dem „Sein“, z. B.dem des legitimen Herrscherhauses (nach Friedrich aus den überlegenen Qualitäten der Person), Macht dagegen komme aus der „Funktion", z. B.der des gewählten oder ernannten Führers oder Premiers. Der englische Philosoph Bertrand Russell drückte den ähnlichen Sachverhalt so aus: „Der Prewiertninister hat mehr Macht als Ruhm, der König mehr Ruhm als Macht.“ Es kommt uns hier auf diese Unterscheidungen nur insofern an, als es Zeiten gegeben hat, in denen der König mehr „Macht“ hatte als seine Minister, und manchmal, in gewissen Ländern bis heute, stellt der „Ruhm“ der Krone mit all ihrer Symbolkraft eine ganz besondere und sehr intensive Form politischer Macht dar » wobei es nicht mehr darauf ankommt, ob die subtilen Unterscheidungen zwischen Autorität und Macht Gültigkeit haben oder nicht, denn es gibt die verschiedenen, auch diese begrifflichen Grenzziehungen einbeziehenden LIrsprünge und psychologisch-soziologischen Untermauerungen der Macht, welche der amerikanische Politikwissenschaftler Charles E. Merriam in seinem Werke „Political Power“ die „Credenda und Miranda der Macht“ nannte, und welche auch der deutsche Soziologe und Ethnologe W. E. Mühlmann in Anlehnung an Rudolf Otto und unabhängig von Merriam gekennzeichnet hat. Mühlmann zeigt die verschiedenartigen Gestalten — „Majestas“, „Energikum“, „Tremendum“, „Fascinans“ und „Mirum“ —, in denen die Psychologie des Machterlebnisses Herrschaften und deren Symbole in der Menschheit aufbaute. Diese Unterscheidungen des vielfältigen Machterlebnisses von der buchstäblichen Ehrfurcht vor der „hohen“ Majestät bis zum gleichsam mythischen Glauben an die Wunderkraft der Führergestalt möge man zusammenhalten mit Max Webers Begriffsgruppen der „charismatischen“ Herrschaft und inspirierten Gefolgschaft, der traditionsbedingten Herrschaft und Gefolgstreue und der „legalen “ Legitimation der Herrschaft, und es dürfte nun klar werden, wie sehr die Mächtigen von der psychologischen Bereitschaft und Empfänglichkeit der Vielen für das Machtverhältnis abhängen. Die Macht der Wenigen ruht in mannigfaltigen Formen auf dem GaubenundVertraue n der Vielen. Ohne die duldende und zustimmende Partnerschaft der Menge scheint es keine menschliche Macht geben zu können.

Dies hängt paradoxerweise zusammen mit dem, was unterschiedlich in der Literatur von G. Mosca, R. Michels bis C. Merriam, Karl Mannheim und Arnold Toynbee der „Kreislauf der herrschenden Klassen“, das „eiserne Gesetz der Oligarchie“, „the poverty of power", die „planende Elite“, die „schöpferischen Minoritäten“ genannt worden ist. Die Quintessenz dieser Feststellungen ist immer, daß überall, selbst in der Demokratie, die Mehrheit als solche keine direkte Herrschaft ausüben kann. Selbst „bei Wahlen“, sagte Mosca, „wie bei jeder anderen sozialen Tätigkeit, zwingen diejenigen, die einen festen Willen und die nroralisclten, geistigen und materiellen Mittel zu seiner Durchsetzung haben, ihren Willen den anderen auf............. Aber die einzigen, die die Chance besitzen, [zu gewinnen], sind diejenigen, die von einer Gruppe, einem Komitee, kurzum von einer organisierten Minderheit aufgestellt worden sind.“ Aber das Gehorsamsverhältnis der Vielen ist teilweise kompensiert durch das physische Unvermögen „des Herrschers“, die Herrschaft alleine auszuüben. Er bedarf eines Stabes oder einer Klasse oder einer Partei oder aller dieser Hilfsquellen, die aus Tradition, Überzeugung, Pflicht, Bewunderung, Interesse oder Prestigegründen mit ihm solidarisch sind und die subsidiären Kontrollen ausüben. Es gibt keinen „Monarchen“ — um zunächst bei ihm zu bleiben — im buchstäblichen Sinne, der „alleine herrscht“. Soziale und symbolische Auszeichnungen (Rang, Uniform, Ehrenzeichen u. s. w.)

oder materielle Belohnung oder beide sind die Mittel, mit denen der offizielle Machthaber seine engere Gefolgschaft an sich kettet. Furcht vor Bestrafung für Non-konformität, sowie Privilegien, Prestige und „esprit de corps“ erzeugen die innere Kohäsion der herrschenden Gruppe, welche die Herrschaft im Kontakt mit der Masse ausübt. Die gemeinsame Furcht vor dem Verlust der Macht, der Privilegien, des Prestiges und ein gewisses Mehr an psyschologischer Bindung an die gesellschaftlichen Institutionen, die ihre Macht und ihr Prestige begründen und symbolisieren, verstärken das gemeinsame Interesse und ketten die Mitglieder der privilegierten Gruppe intensiver aneinander, an den „Herrscher" und den „Herrscher“ an die engere Gefolgschaft. In jedem Falle sind die Herrscher und die Gesamtgruppe der Privilegierten abhängig vom Können und von der Loyalität jedes Einzelnen in ihrer Gruppe, der als Berater, als Feldherr, als Statthalter, als Botschafter u. s. w. entscheidende Funktionen der Mitherrschaft ausübt. Das Versagen eines oder mehrerer einzelnen in dieser Gruppe kann unter Umständen den Sturz des gesamten Herrschaftssystems herbeiführen, es jedenfalls intensiv gefährden. In diesem Zusammenhang taucht unwillkürlich die Erinnerung an das Schicksal des deutschen Kaisertums im Mittelalter und an das Versagen des Feudalsystems im Heiligen Römischen Reiche deutscher Nation auf. „Jeder Führer wird auch geführt“, im Guten wie im Bösen.

Es ist einleuchtend, daß die soeben gekennzeichneten Regeln in erster Linie für Monarchien, Aristokratien und die künstlichen Eliten eines auf Parteidiktatur beruhenden Staatswesens gelten. Das Verhältnis des offiziellen „Machthabers“ und der „führenden Schicht“ einerseits zur breiten Gefolgschaft andererseits hat aber auch seine besonderen Nuancen. Es handelt sich auch hier niemals um ein einseitiges Herrschaftsverhältnis, wie oft naiverweise angenommen wird, sondern um ein Wechselseitigkeitsverhältnis. Die Masse muß „königstreu“ sein, sie muß an die Berechtigung der Privilegien der regierenden Oberschicht glauben. Ihr Wunderglaube muß auch den d u x, den „Führer“ in der Diktatur, mit überirdischer Begabung ausstatten, der alle Schwierigkeiten souverän zu meistern versteht. Der Glaube an das „Gottesgnadentum" wird dennoch untergraben, wo das soziale LInrecht sich anhäuft über die Generationen, und Revolutionen bahnen sich langsam an, wenn der Machtmißbrauch herrschender Schichten zu offensichtlich wird. Und der Wunderglaube an den caesarischen „Führer“ erlischt, wenn er „nur Mensch“ wird, der anderen Menschen erliegt. Auch hier brauchen wir nicht alle Mitglieder der Nation, nicht einmal eine Mehrheit, gegen die bestehenden Institutionen aktiv Sturm zu laufen. Eine militante Minderheit genügt, genau so wie eine aktive Führerschicht genügt, um die Masse des Volkes in normalen Zeiten in Treue den herrschenden Schichten und Institutionen dienen zu lassen. Aber im Gesamtvolke darf kein verbreitetes Gefühl intensiver moralischer Entrüstung gegen die Machthaber entstehen. Sobald dies geschieht, besteht für die herrschende Schicht die Gefahr der Zusammenrottung militanter Minderheiten, welche den Umstürz, unter wenigstens passivem Beifall des Volkes, vollziehen.

Manchmal mißglückt der Versuch, wie z. B. im historischen Bauernaufstand. Doch ist die Geschichte aller erfolgreichen Revolutionen die Geschichte des aktiven Aufstandes von Minderheiten gewesen, welche von der Mehrheit des Volkes entweder apathisch geduldet oder aktiv unterstützt wurden.

Gerade das wissen die modernen totalitären Systeme. Aus diesem Grunde üben sie Kontrollen aus, die nicht nur in einem bis zum Extrem gehenden Spionagedienst am eigenen Volk bestehen, sondern schwere, abschreckende Strafen für politischen Widerstand der minimalsten Art verhängen, ja den auch nur leise Verdächtigten gesellschaftlich, politisch, oft auch wirtschaftlich abschnüren. Daneben aber geht die beständige einseitige Indoktrinierung aller Bevölkerungsschichten vor sich, insbesondere der Jugend, mit Ideen, welche die brutalen Gewaltakte ihrer Regierung als Liebeshandlungen im Dienste der Menschheit, Aggression als Friedensbestrebung und eine rachsüchtige Justiz als das Symbol einer wahrhaft „freien Gesellschaftsordnung“ erscheinen lassen sollen. Man belächle diese Dinge nicht in der falchen Annahme, daß „dieser Betrug doch jedem augenscheinlich“ werden müsse. Ich erinnere mich an das Beispiel eines australischen Geschichtsprofessors, der Monate zu Beginn der Naziherrschaft in Deutschland zubrachte, um nach seiner Rückkehr in sein Heimatland ein Buch darüber zu schreiben mit dem Titel „The House which Hitler built“. Er bekannte darin, daß in den anderthalb Jahren seiner Isolierung von dir Außenwelt und unter dem Eindruck der ununterbrochenen, oft unnachprüfbaren Propagandabehauptungen, welchen er fortgesetzt und überall ausgesetzt war (wie die Deutschen), selbst in ihm, dem überzeugten ausländischen Antifaschisten und Anti-Nazi, Vorurteile enstanden, so daß es ihn einige Mühe kostete, um sie später nach seinem Verlassen Deutschlands zu revidieren und wieder abzustoßen.

Das ist die diabolische Gründlichkeit des totalitären politischen Systems: Es duldet keine Opposition, erstickt sie im Keime und ist die einzige öffentliche Informationsquelle und -kontrolle in seinem Machtbereich. Es macht aus Schulen, Hochschulen, Presse, Literatur, Theater, Kino, Rundfunk und allen anderen Unterhaltungsmedia Ausstrahlungszentren der Propaganda, die nichts anderes darstellen als Mittel zur Monopolisierung und Verewigung der politischen Macht „der herrschenden Schicht“. Diese herrschende Clique weiß, wie ungeheuer wichtig die Gefolgschaft der Mehrheit im Volke ist und gönnt ihr daher nicht die geringste Spur der freien Meinungsbildung. Auf diesem Wege wird für die Clique die Gefahr des Verlusts der Gefolgschaft minimalisiert. Denn wo freie Information und Meinungsbildung sowie deren Verbreitung der Menge nicht zugänglich sind, da ist die Möglichkeit auch nur des passiven Massenwiderstandes aufs Äußerste reduziert, zumal auf Grund des physischen Machtmonopols eine unorganisierte Mehrheit, und das heißt jeder Einzelne in ihr als Einzelner ohne Aussicht auf wirksame solidarische Hilfe, der straff disziplinierten Parteihierarchie und -Organisation mit ihrer rücksichtslosen physischen Gewaltanwendung gegenübersteht.

Aus diesem Grunde kann ich nicht glauben, daß die führenden Kommuniste n Moskaus von ihrer eigenen Ideologie so überzeugt sind, wie einige westliche Interpreten der russischen Szene, z. B.der italienische Botschafter in Bonn, Dr. Pietro Quaronil®) dies ehrlich annehmen. Ideologien sind entweder Glaubenssache, oder sie sind Werkzeuge zur Beherrschung der Massen. Die Massen mögen (und es hat den Anschein, daß sie dies in Rußland weitgehend tun) an die ihnen beständig und ohne Wahlfreiheit aufgetischten Dogmen glauben, wenn auch vereinzelt mit Vorbehalten und innerer Unsicherheit. Aber in bezug auf die Führer kann man zumindest zweierlei Meinung sein. Sie haben das Mittel einseitiger Ideologie, die sie zudem oft und nach willkürlichen, völlig zeitbedingten Machtgesichtspunkten abgeändert und manipuliert haben (z. B. von der marxistischen und leninistischen kosmopolitischen Ausrichtung zum engherzigsten großrussischen Nationalismus), so sehr als zweckdienliches Werkzeug zur Perpetuierung ihrer eigenen Machtherstellung verwandt, daß es schwerfällt, ihnen bona fide Überzeugung an die wesentlichen Stücke ihrer eigenen Theorie zuzugestehen. Dieser Gedanke ist unabhängig von der Tatsache, daß in bezug auf das Resultat ihrer Innen-und Außenpolitik es wenig darauf anzukommen scheint, ob diese Männer an die Inhalte der von ihnen propagierten Lehren selber glauben oder nicht. Sie haben einstweilen durch die Kunstgriffe der ideologischen Beeinflussung das Volk weitgehend in seiner Haltung neutralisiert, ja aktiviert im Sinne der Einpartei-Herrschaft, eine militante engere Gefolgschaft an sich gekettet, die ihnen als die zweitrangige „dienende Elite", teils aus Überzeugung, teils aus Prestige-und Erfolgsgründen für die jeweils eigene Person, teils aus Furcht vor Bestrafung für Non-Konformität anhängt, und die im Kontakt mit der Masse die örtlichen Kontrollen ausübt. Die Machtkämpfe, die sich zeitweise ereignen, sind wesentlich auf die Spitzengruppe beschränkt, obgleich die kämpfenden Individuen jeweils ihre Anhänger in den Reihen der Zweitrangigen haben, ohne daß dadurch aber bisher die Grundlagen der Parteiherrschaft als solcher auch nur berührt worden sind. Solange die russischen Machthaber außerdem hoffen können, daß gewisse Kreise in anderen Völkern sich von ihren Lehren noch düpieren lassen, haben sie auch keine Ursache, die Grundlinien ihrer Außenpolitik, die auf vorläufig unbegrenzte Machterweiterung abzielt, zu revidieren, zumal die Einigkeit und Festigkeit der Völker und Staatsmänner des Westens, die ihre primären Gegenspieler sind, nie sicher zu sein scheint.

V. Und die Demokratie ?

Im Gegensatz zur Monarchie, zur Aristokratie und zum Einparteiensystem ist der Machtkampf in der „repräsentativen Demokratie“ theoretisch unbegrenzt. Eine „ideale Demokratie" im Sinne der Selbstherrschaft des Gesamtvolkes kann es in größeren menschlichen Verbänden nicht geben, wie Aristoteles, Tocqueville und Rousseau schon vor Mosca wußten. Jeder im Vollbesitze der Bürgerrechte befindliche Staatsbürger hat theoretisch die Möglichkeit, sich um jedes politische Wahlamt zu bewerben. In Wirklichkeit entscheidet allerdings nicht nur seine Popularitätsrate in der Wählerschaft darüber, ob ihm das Amt erreichbar ist, sondern auch seine Fähigkeit, sich mit den Instanzen seiner Partei auf „guten Fuß“ zu stellen. Innerhalb der Partei-hierarchien gibt es dann den inoffiziellen und nicht immer erbaulichen Kampf, „das Tauziehen“, um die höheren oder niederen Ränge. Wo, im Gegensatz zur Aristokratie oder zur erblichen Monarchie, die Zahl bzw. Auslese derer, die in die entscheidenden Ämter kommen, von vornherein nicht beschränkt ist, da besteht nach Bertrand Russell hohe Wahrscheinlichkeit, daß diejenigen im Volke, die ein über den Durchschnitt hinausgehendes Verlangen nach Macht haben, in die besondersbegehrten und machttragenden Ämter gelangen. In der erblichen Monarchie und der Aristokratie bestimmt das Privileg der Geburt den Machtstatus, und nicht jeder, der diesen Status hat, ist an Macht interessiert. In der Demokratie stehen die Menschen ohne politisches Machtinteresse gewöhnlich abseits, gleichgültig aus welchen Klassen und Schichten sie stammen, aber leider auch gleichgültig, welches moralische und geistige Niveau sie auszeichnet. Es ergibt sich, daß aus solchen und ähnlichen Gründen die Demokratie in Krisen Zeiten besonders anfällig ist für die Wirkung des rücksichtslosen Machtmenschen und Demagogen, der sich nicht nur in seiner engeren politischen Umgebung durchzusetzen versteht, sondern im Interesse der Macht g e w i n -

n u n g die öffentliche Meinung und Stimmung durch seine geistig und moralisch indifferenten Methoden vergiftet. Über diesen besonderen Umstand und verwandte Erscheinungen, die wir durchlebt haben, gibt es heute aufschlußreiche Abhandlungen wie diejenigen von Hannah Arendt und J. L. Talmon Es ist aber bemerkenswert, daß ein unermeßlich viel harmloserer, doch immerhin in gewisser Weise intensiver Machtkampf den Interessenten und Parteienstreit sowie den Streit um Rang und Vorteil gewisser Persönlichkeiten oder Gruppen beständig in fast allen Demokratien begleitet.

Bertrand Russell erklärt, daß dieser Machtkampf in der Demokratie nur begrenzt werde durch das Vorkommen anderer Verhaltensmotive in den Politikern, z. B. Bequemlichkeit, Genußsucht und Wunsch nach dem Beifall der Menge. Dies allerdings erscheint mir als eine reichlich zynische Erklärung der persönlichen Triebkräfte in der Demokratie. Ich bin nicht der Meinung, daß ein hoher demokratischer Amtsträger wie z. B.der amerikanische Präsident Eisenhower ein ausgesprochener politischer Machttyp ist. Im Gegenteil, Eisenhower hat oft bewiesen, z. B. auch in dem Falle des seinerzeitigen, inzwischen verstorbenen LI. S. -Senators Joseph McCarthy, daß ihm der rauhe politische Machtkampf nicht liegt. Auch kann man kaum von ihm behaupten, daß er sich seinen Weg mit aller Kraft in die führende Stellung seiner Partei bahnte, obgleich er, nachdem ihm die Präsidentschaftskandidatur von anderen angetragen wurde, den Wahlkampf mit dem in Amerika üblichen Brimborium und Verve führte. Auch glaube ich nicht, daß — — um bei dem Beispiel des mächtigsten Mannes in den westlichen Demokratien zu bleiben, obgleich die Beispiele beliebig vermehrt werden könnten — — Mr. Eisenhower an „Bequemlichkeit“ und übermäßiger „Genußsucht“ leidet. Auf einen Mann, der jeden Arbeitstag um 7 Uhr früh beginnt und oft bis spät in die Nacht hinein arbeitet, dabei, wie so viele amerikanische Präsidenten vor ihm, seine Gesundheit geopfert hat, darf man bestimmt derartige Cliches nicht anwenden. Sein,, Wunsch nach öffentlichem Beifall“ scheint gleichfalls nicht so stark ausgeprägt zu sein, daß er nicht einige höchst unpopuläre Maßnahmen, oft gegen den beifallssüchtigeren US. -Kongreß, vertrat, z. B. Widerstand gegen die Steuersenkung in einem Wahljahre, Widerstand gegen gewisse Vorrechte des mächtigen landwirtschaftlichen Interessentenblocks, Ernennung des unpopulären Lewis Strauß zum Handelsminister, Beibehaltung des während seiner Amtszeit oft sehr unbeliebten Außenministers John Foster Dulles. Ob er in all diesen Sparten weise gehandelt hat, steht hier nicht zur Debatte. Aber zur Debatte steht, daß es andere Eigenschaften außer dem Machttrieb und den anderen von Russell und ähnlichen Kritikern bezeichneten Eigenschaften und Motive des erfolgreichen demokratischen Staatsmannes geben muß. Es soll nicht bestritten werden, daß der Machttrieb erfahrungsgemäß eine bedeutende Rolle spielt, aber es erscheint offensichtlich, daß in der erfolgreichen Demokratie, genau so wie in anderen dauerhaften, nicht ausschließlich auf Tyrannei basierenden Regierungsformen, auch eine gute Ration von Pflicht-und Verantwortungsbewußtsein, von Patriotismus, von Hingabe an die Sache, von moralischer Konzeption der Aufgaben im Staate bei einer fühlbaren Mehrzahl von Politikern vorhanden sein muß, damit beim Volke der Glaube an die Führung in der Demokratie nicht langsam erlischt. Denn dann könnte sich leicht das tragische Spiel wiederholen, das wir schon einmal zu unser aller Unglück erlebt haben. Es dürfte feststehen, daß von allen Regierungsformen keine so sehr von der Volksgunst abhängt wie die Demokratie. Mit diesem kostbaren und sehr zerbrechlichen Gute des Volksglaubens an die Demokratie leichtfertig umgehen, wie es unter der Besatzung in Deutschland leider gelegentlich geschah und wie es gelegentlich durch die eigenen Repräsentanten der Demokratie in Deutschland, aber ähnlich

Fussnoten

Fußnoten

  1. Slavery and Freedom, New York 1944, I. Teil, S. 59.

  2. Soziologie, Leipzig 1908, S. 138.

  3. Ethik, IV. Teil.

  4. Reinhold Niebuhr, The Nature and Destiny of Man, 3. Ausl., New York 1948, Bd. I, S. 186 ff., u. a.

  5. Bulletin of Atomic Scientists, Februar 1954.

  6. Vgl. z B. Ralph Linton, The Study of Man, New York und London 1936, S. 347— 366.

  7. In anderer Weise hat Helmut Schelsky dieses Thema behandelt, indem anderem er unter von den „institutionellen oder sozio-taktischen Anpassungen" der kirchlichen Gemeinschaft spricht („Ist die Dauerreflektion institutionalisierbar?" in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, Heft 4, 1957, S. 153 ff.). Die amerikanischen Soziologen C. H. Cooley, R. C. Angell und L. J. Carr haben in: Introductory Sociology, New York 1933, S. 406 ff. das Thema der Institutionalisierung und ihrer Stufen in allgemeinerem Rahmen besrrticten! der Schelskys Ausführungen in gewisser Weise ergänzt und

  8. Bertrand Russell, Power: A Social Analysis, New York 1938, bietet eine im Rahmen des Möglichen vollständige Analyse der sozial wirksamen Macht-formen, vgl. besonders Kapitel 4, 6— 10.

  9. z. B. CarlJ. Friedrich, „Loyalty and Authority", in: Cenfluence, Sept. 1954, S. 307— 316. O. H. von der Gablentz, „Autorität und Legitimität im heutigen Staat", in: Zeitschrift für Politik, 1/1958, S. 19 ff. Bertrand de Jouvenel, De la souverainete, Paris 1955, S. ff., usw. 50

  10. a. a. O.

  11. Vgl. Harold Nicolson, George V., deutsche Übersetzung München 1954.

  12. New York 1934; Neuausgabe in: A Study of Power, Glencoe (III.) 1950, Kapitel IV.

  13. „Aspekte einer Soziologie der Macht", in: Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie, Bd. 41/1952, S. 84- 114.

  14. Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Ausl., Tübingen 1947 l. Halbbd., S. 124 ff.; vgl. auch: Politik als Beruf, S. 9f., und Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd., S. 650 ff. und 753 ff. zum Thema der Bürokratie und der „charismatischen Herrschaft".

  15. Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse, München 1950, S. 134 f.

  16. vgl. „Ost und West und die Gipfelkonferenz", Berlin-Dahlem 1958, S. 7 ff.

  17. a. a. O.

  18. The Origins of Totalitarianism, New York 1945, insbes. Kap. 10 und 11.

  19. The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952.

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