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Grundfragen der Geschichte Rußlands bis 1917 | APuZ 35-36/1959 | bpb.de

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APuZ 35-36/1959 Chinas Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Kommunismus Grundfragen der Geschichte Rußlands bis 1917

Grundfragen der Geschichte Rußlands bis 1917

WERNER PHILIPP

Diese Betrachtung wurde am 16. 7. 1958 vom Sender Freies Berlin in der Reihe Nachtprogramm „Rußland — gestern und heute" gesendet.

Wenn schon für eine politische Beurteilung der westeuropäischen Länder eine Kenntnis ihrer Geschichte wünschenswert ist, so ist für ein Verstehen der Sowjetunion eine Kenntnis der Eigentümlichkeiten der Geschichte Rußlands unerläßlich notwendig. Denn fast ein halbes Jahrtausend lang, vom 12. — 16. Jahrhundert etwa, hat Rußland seinen historischen Weg abgesondert von den anderen europäischen Völkern zurückgelegt.

Das westeuropäische Fremdheitsgefühl gegenüber Rußland, das seit dem 17. Jahrhundert lebendig ist, läßt sich auch nicht durch den Hinweis auf ungeschichtliche Größen, wie die so oft zitierte Weite der russischen Seele oder des russischen Landes erklären; es bleibt dann immer noch offen, wie sie der Mensch geformt, was für Inhalte er ihr gegeben hat. So wenig die bolschewistische Herrschaft in Rußland als historisch zwangsläufig nachgewiesen werden kann, so wenig hätte sie sich natürlich ohne entsprechende historische Voraussetzungen durchsetzen können. — Von bleibender und die historische Gestalt Rußlands prägender Bedeutung scheint mir zu sein, in welcher Weise Rußland die Antike, das Christentum und das moderne westeuropäische Denken ausgenommen hat. Diese drei Fragen möchte ich besprechen.

Rußland war der Antike bekannt. Seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert siedelten Griechen am Nordrand des Schwarzen Meeres, auf der Krim und an den Mündungen der Flüsse. Das Hinterland, die sich im Norden anschließende Steppe, war fast ein Jahrtausend lang in der Hand der iranischen Sarmaten und Skythen (vom 7. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr.) Mit dem Hunneneinfall im 4. Jahrhundert, der die Erinnerung an diesen Vorposten antiker Kultur endgültig auslöschte, setzte die Jahrhunderte lang währende Invasion turktatarischer Völker ein. Als letztes dieser Völker kamen unter mongolischer Führung im 13. Jahrhundert die Tataren, die länger als zweihundert Jahre über Rußland herrschten, freilich ohne es zu einem asiatischen Lande gemacht zu haben. Die Ostslaven siedelten von alters-her noch weiter nördlich, jenseits der Steppe, etwa in einem Gebiet, das sich von Podolien über den mittleren Dnjepr und oberen Don in Westostrichtung innerhalb der Waldzone erstreckte. Die Steppe und ihre Nomaden riegelten die Slaven von dem antiken Bereich ab, erst im 18. Jahrhundert gelangten die Russen in den Besitz der nördlichen Schwarzmeerküste. So haben die Ostslaven — anders als die Südslaven oder die Germanen — niemals auf antikem Kulturboden gelebt, niemals antike materielle Kultur bzw. ihre Reste gesehen und benutzt, niemals Erfahrungen mit antiken Rechtsinstitutionen und Gewohnheiten gemacht.

Die geistige Macht, die bis ins 17. Jahrhundert hinein in Rußland allein geherrscht hat, ist das byzantinische Christentum gewesen, das Rußland kurz vor dem Jahre 1000 übernommen hatte. Lim 1037 ist eine russische Kirche als Metropolitankirche des Patriarchats von Konstantinopel sicher nachweisbar. Bis zu diesem Zeipunkt hatte sich bereits die christliche Kirche in Westrom und in Ostrom sehr unterschiedlich entwickelt. In Westrom war die römische Reichsverwaltung zusammengebrochen. Hier hatte die Kirche die Aufgabe der Politik und der profanen Kultur um ihrer eigenen Existenz willen aufgreifen müssen. Auch mag sich der ausgeprägte Sinn der Römer für das Konkrete geschichtliche Leben stark ausgewirkt haben, jedenfalls wurde seit Augustin etwa das geschichtlich-politische Leben in die heilsgeschichtliche Betrachtung einbezogen und in seinem relativen Wert anerkannt.

In Ostrom war der Staatsapparat und eine staatliche Pflege der weltlichen Kultur heil in die christliche Zeit hinübergerettet worden. Die Kirche brauchte und durfte sich hier nicht in den staatlichen Bereich einmischen. Das kam ihrer eigenen, urchristlichen Tradition entgegen, die mit der eschatologischen Möglichkeit, daß der Herr heute oder morgen wiederkommen könnte, ernst machte. An ihr gemessen, lohnte es sich dann freilich nicht, sich in der Welt einzurichten. Diese Welt-gleichgültigkeit wurde durch den im griechischen Bereich entstandenen und hier besonders stark fortwirkenden Neuplatonismus vertieft: er sah die irdische Welt als partielle und unvollkommene Entsprechung der reinen, göttlichen Ideen an; ihm war der Leib ein Gefängnis der Seele, aus der sich der Gläubige durch Askese und mystische Versenkung herauslösen sollte. Die faktische, historisch-politische Situation der Kirche, ihre unchristliche und ihre neuplatonische Tradition — alles das bewirkte, daß in Ostrom die Kirche streng auf den geistlichen Bezirk verwiesen blieb, neben dem der Staat stand, mit dem sie in wechselseitiger Achtung, in einer „Sinfonia" verbunden sein sollte.

Staat und Kirche zusammen aber ohne wechselseitiges Übergreifen ergaben die Fülle der byzantinischen Kultur.

Die Situation dieser Kirche war nun in Rußland insofern vollständig anders, als weder eine ausgeformte profane Kultur, noch ein festes Staats-gefüge vorlag. Die Kirche hatte in Rußland, aufs Ganze gesehen, diese neue Voraussetzung nicht berücksichtigt, sondern war weiterhin die Kirche der Weltabgeschiedenheit geblieben. Die russische Kirche lebte gemäß ihres byzantinischen Ansatzes, zumal mit wenigen Ausnahmen die Metropoliten bis ins 15. Jahrhundert hinein Griechen waren. Dadurch ist die russische Kirche gewiß freier von weltlicher Verstrickung geblieben als die christliche Kirche in Westeuropa; aber es ist auch gewiß, daß die russische Kirche als einzige geistige Macht darauf verzichtet hatte, Normen und Aufgaben für das geschichtliche und damit für das politische Leben zu entwickeln. D. h., anders ausgedrückt, sie hat die Welt den weltlichen Mächten überlassen und sich der ihr hier auferlegten Verantwortung entzogen. Die russische Kirche entfaltete ihren ganzen Reichtum im Gottesdienst, in der Liturgie und im Hymnus, im Gebet und in der Martyriumsbereitschaft, aber es ist bezeichnend, daß sic keine Theologie hervorgebracht hat, d. h. daß ihr das Bedürfnis nach einer begrifflichen, dem Verstand einsichtigen Aussage fehlt. Es fehlt jede Philosophie, und niemals ist das Kloster wie in Westeuropa eine Stätte schulmäßiger und gelehrter Bildung geworden.

Die Kirche hatte schon in Byzanz keine Auseinandersetzung mit der Antike gesucht, sondern sich nur im christlich-neuplatonischen Kreis bewegt; nach Rußland hat sie die Antike erst recht nicht vermitteln können. Antike Philosophie und römisches Recht, die Fülle der naturkundlichen, geographischen und historischen Kenntnisse der Antike, ihr künstlerisches Bemühen, das Typische und das Individuelle des Menschen darzustellen, das alles blieb Rußland auch später vorenthalten. Erst im 16.

und 17. Jahrhundert wurden Teilstücke der antiken Kultur bekannt, ohne daß wir von einem tiefen, bleibenden Einfluß sprechen können, der etwa der Scholastik oder der Renaissance in Westeuropa vergleichbar wäre.

Jede theoretische Distanzierung von Bestehendem und damit der Entwurf von Neuem, jedes Abgrenzen von Kompetenzen und Rechten lag außerhalb des Interesses der Kirche. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in Altrußland eine politische Theorie fehlt; wohl hatte die Kirche das ihr aus Byzanz vertraute Bild des Autokrators auf Rußland übertragen, aber nachdem in Moskau im 16. Jahrhundert das Zarentum eingerichtet worden war, geriet die Kirche in Abhängigkeit vom Staat und wurde unter Peter dem Großen schließlich zur Staatskirche. Eine andere geistige Quelle aber bestand nicht neben ihr, zumal die Kirche eben auch das klassische Erbe nicht pflegte. So wurde das politische Leben Altrußlands mehr durch Fakten als durch Normen bestimmt, richtete sich nach Präzedenzfällen der Vergangenheit, ohne Relativierung durch grundsätzlidie Aussagen über das individuelle und soziale Leben des Menschen, wodurch Rußland zu dem konservativen Lande wurde. Insbesondere ist hervorzuheben, daß die religiösen und humanistischen Voraussetzungen für einen Personalismus fehlten. Das Gewissen des Einzelnen, das Augustin zuerst als Quelle der Frömmigkeit betont hatte, wurde in der Ostkirche eher als Absonderung, als verwerfliche menschliche Selbstbehauptung betrachtet, vor allem in der zentralen Bedeutung, die Luther ihm zuschrieb. Für eine Pflege des hmnanistisdten Persönlichkeitsideals fehlte die Verbindung zur Antike. Damit tritt sicher die Gefahr der menschlichen Selbstverherrlichung und des Individualismus zurück zugunsten einer starken brüderlichen Gemeinschaft, aber es entfällt damit zugleich eines der wichtigsten Prinzipien des modernen Lebens, wie es sich in Westeuropa seit dem Ausgang des Mittelalters herausgebildet hatte.

Das Einströmen westlichen Gedankengutes

Als im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert die politischen Ereignisse zu immer engeren Kontakten mit Westeuropa führten, spürte das Moskauer Rußland die Überlegenheit der westeuropäischen materiellen Kultur. Die Regierung versuchte, sie durch die Übernahme westlicher Produkte, Techniken und Lehrmeister wett zu machen. Allmählich mußte man jedoch einsehen, daß das nicht genügte, daß man auch die Pflege weltlichen Wissens und alle die geistigen Disziplinen übernehmen mußte, die die Beherrschung der Welt erst ermöglichten und in einer Bejahung der Welt als Aufgabe des Menschen wurzelten. An der eigenen geistigen Tradition vermochte man sich nicht zu orientieren; sie enthielt, wie gezeigt wurde, keine relative Anerkennung und Rechtfertigung der geschichtlichen Welt. Vielmehr hatte sich über ihr in Rußland ein geistiges Vakuum gebildet, in das nunmehr westeuropäisches Gedankengut mit immer größerer Macht einströmte. Die Kirche konnte es nur ablehnen, sie vermochte es nicht aufzufangen und mit dem herkömmlichen Denken in Rußland zu verschmelzen. Im 17. Jahrhundert schwankte Rußland zwischen Annahme und Ablehnung westeuropäischer Denkund Lebensweisen. Peter der Große (1682— 1725) hatte die Entscheidung gebracht, indem er die Verbreitung westeuropäischer Kultur zum politischen Programm erhob und danach trachtete, das bisherige historisch-religiöse Fundament durch ein willentlich-vernunftrechtliches Prinzip zu ersetzen. Er vollzog die große Revolution von oben her, die mit konservativen Aufständen von unten her beantwortet wurde. Er schaltete den Widerstand der konservativen Kirche aus, indem er nach dem Tode des Patriarchen Adrian im Jahre 1700 für zwei Jahrzehnte das Patriarchat unbesetzt ließ und 1721 der Kirche eine neue, synodale Verfassung gab; durch sie wurde die Kirche der Kontrolle und Lenkung des Staates unterworfen. Profane Bildung und moderne Wirtschaften, westeuropäische Institutionen und Gewohnheiten wurden um des staatlichen Nutzens willen von der Regierung in Rußland propagiert. Bis in die Herrschaft Katharinas der Großen (1762— 1796) hinein förderte die Regierung das zeitgenössische vernunftrechtliche und aufklärende Denken.

Das ändert sich erst, als eine kleine Gruppe von Intellektuellen begann, die Zustände Rußlands nicht nur mit der russischen Vergangenheit zu vergleichen und die erreichte Modernisierung zu preisen, sondern sie kritisch an dem Ideal der Aufklärung selbst zu messen. In diesem Augenblick zeigte sich, daß die von der Regierung, auch noch von Katharina, verkündeten Ideale keineswegs die sozialpolitische Wirklichkeit verändert hatten. 1790 erschien ein erstes Werk, das nicht nur Einzelerscheinungen der Autokratie kritisierte, sondern sie insgesamt verwarf, die berühmte „Reise von Petersburg nach Moskau“ von Radischtschev. Dieses Buch, das in Form eines Reisejournals vor allem das Elend und die Verkommenheit der Leibeigenen, aber auch der Korruption in der Residenz aufdeckte, beschwor alle die, die von der Freiheit und der Würde des Menschen wußten und von der brüderlichen Liebe zu den Sklaven erfüllt waren, durch eine revolutionäre Tat einer gewaltigen, chaosstiftenden Erhebung der Leibeigenen zuvorzukommen. Bezeichnend ist, daß diese erste, umfassende politische Kritik in Rußland, die noch keinerlei politische Programme entwickelte, nicht daran glaubte, daß die Autokratie gewillt und fähig wäre, auf evolutionärem Wege eine Neuordnung, eine wirkliche Besserung der Lage des Volkes herbeizuführen. Deshalb war bereits diese Kritik erfüllt von einem revolutionären Voluntarismus, der für immer ein Merkmal der russischen Opposition bleiben sollte. Jetzt schwenkte die Regierung um und versuchte, Rußland gegen den Einfluß westeuropäischer Ideen abzuschirmen. Denn so sehr die Autokratie glaubte, Kenntnisse für einen wirkungsvolleren Staatsdienst aus Westeuropa beziehen zu müssen, so wenig wollte sie die Herausbildung einer autonomen Geistigkeit, einer geistig mündigen Gesellschaft dulden.

Von jetzt ab werden Staat und Kirche Hand in Hand arbeiten, um eine weitere Ausbreitung modernen Denkens in Anlehnung an Westeuropa zu verhindern; um so hartnäckiger wird im 19. Jahrhundert die sich langsam bildende Opposition an den Ideen Westeuropas festhalten, an der Aufklärung und am Fortschrittsglauben, am Liberalismus und am Sozialismus. Dabei bilden sich zwei Gefahrenmomente für die Opposition heraus: einmal eine Radikalisierung und Konservierung dieser Ideen als reines Glaubensgut, da die Autokratie keine öffentliche, breite Diskussion und erst recht keine Erprobung der Vorstellungen in politischer Mitarbeit erlaubte; sondern die Tatsache, daß die aus dem bürgerlichen, frühkapitalistischen Westeuropa stammenden Ideen in Rußland keine soziale Entsprechung fanden. Noch um 1870 waren 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung Bauern, und einen selbstbewußten, in einer eigenen Kulturtradition wurzelnden Bürgerstand hat es in Ruß-land nie gegeben, wie ja überhaupt die russische Gesellschaft in ihrer Geschichte nicht nach Ständen, sondern nach Staatsdiensten gegliedert war. Die fortschrittliche Opposition im Rußland des 19. Jahrhunderts hatte also keine feste soziale Verankerung, sondern wurde getragen von einer Gruppe von Intellektuellen, Schriftstellern und Akademikern sehr unterschiedlicher Herkunft.

Ein erstes revolutionäres, noch von den Ideen des 18. Jahrhunderts erfülltes Aufbegehren bringt der Dekabristenaufstand, ein Offiziersputsch im Dezember 182 5. Anläßlich des Todes Alexanders I. versuchten einige gebildete Offiziere, die während der Napoleonischen Kriege Vergleiche zwischen Rußland und Westeuropa anstellen konnten, durch einen Handstreich eine Neuordnung in Rußland zu begründen. Ihre uneinheitliche Zusammensetzung — sie schwankte zwischen konstitutioneller Monarchie und agrar-sozialistischer Republik — vor allem aber in ihre Isolierung von den Soldaten und erst recht vom Volk, ließen den Aufstand sofort scheitern. Danach entfaltete die Autokratie, gestützt allein auf Polizei, Bürokratie und Militär, noch einmal ihre volle, bevormundende und niederhaltende Macht über die Gesellschaft. Außenpolitisch hatte Rußland zwar noch die in dem Kriege gegen Napoleon begründete Position einer militärischen Hegemonie auf dem Kontinent inne, aber es wurde zum schärfsten Verfechter eines Konservatismus zum Gendarmen Europas, und geriet in immer größere wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber Westeuropa.

Unter diesem Druck eines Polizei-und Militärstaates versuchte die Opposition der 30er und 40er Jahre sich in geschichtsphilosophischen und religiösen Erörterungen über die historische Eigenart und Aufgabe des russischen Volkes klar zu werden. Für kurze Zeit wird Hegel der Lehrmeister; aber da Hegel die Slaven nicht zu den geschichtstragenden Völkern zählte, und die Weltgeschichte in seinem System eigentlich zu einem Abschluß gekommen war, entwickelte sich in Rußland rasch eine Art Linkshegelianismus, zumal die Diskrepanz zwischen einer idealen Wirklichkeit als der Weltvernunft und der politischen Wirklichkeit in Rußland besonders scharf empfunden werden mußte. Überhaupt scheint die Dialektik des deutschen Idealismus Rußland weniger beeinflußt zu haben als der französische Materialismus und Sozialismus.

Vorsichtige Reformen nach dem Krimkrieg

Der Krimkrieg 1853 bis 1856 hatte die Unmöglichkeit einer autokratischen Staatsführung offenbar gemacht. Die Regierung begann unter vorsichtiger Hinzuziehung der Gesellschaft den Staat zu reformieren. Am wichtigsten war die Bauernbefreiung 1861, d. h. die persönliche Befreiung der Bauern und die Umwandlung ihrer Abgabenpflicht gegenüber dem Gutsherrn in eine Abgabenpflicht gegenüber dem Staat. Eine echte Lösung brachte die Reform nicht, da die Abgaben an den Staat weiterhin eine hohe Belastung des Bauern darstellte und die Landzuteilung an sie unzulänglich war. Die Unzufriedenheit und Unruhe im Lande wuchs, und die politische Opposition wurde wirklichkeitsnäher und differenzierter, nicht zuletzt dank des Einflusses einer breiten Emigration, die unaufhörlich von Westeuropa aus revolutionäres Gedankengut nach Rußland einschleuste. Die Hoffnung der Opposition richtete sich auf das Volk, d. h. auf das Bauerntum, freilich in verschiedener Weise. Die einen glaubten, daß man die Bauern durch eine breite Bildungsarbeit und durch eine Erziehung zur politischen Tätigkeit und Verantwortung heranbilden müßte; daher gingen in den 60er Jahren viele Intellektuelle „in das Volk“, d. h.: sie versuchten auf dem Dorf im Zusammenleben mit den Bauern diese zu beeinflussen. Die anderen glaubten, es genüge durch Terrorakte den Staatsapparat zu zerschlagen, um das heile, bäuerliche Volk freizulegen von den geistigen und politischen Fesseln. Beide Richtungen glaubten daran, daß die russische Bauerngemeinde mit ihrer eigenartigen genossenschaftlichen Wirtschaftsweise und Selbstverwaltung die soziale Basis für Rußlands zukünftige soziale Entwicklung abgeben könnte, daß Rußland also eine klassenmäßige Aufspaltung wie in der westeuropäischen Gesellschaft umgehen und direkt eine demokratische oder kommunistische Ordnung hervorbringen könnte. Beide Richtungen scheiterten trotz aller Opferbereitschaft an der unüberbrückbaren Fremdheit zwischen den Bauern und den städtischen Intellektuellen, bzw. an der reaktionären Wiedererstarkung der Autokratie gerade in Abwehr revolutionärer Verschwörungen und Attentate. Aber anders als vor dem Krimkrieg nahm die sich weiterhin behauptende Autokratie seit den 70er und 80er Jahren die kapitalistische Wirtschaft und Denkweise aus Europa auf. Es entstand eine sich allmählich verbreiternde, reiche, aber traditionslose Bourgeoisie, die auf den Staat angewiesen blieb und von der Autokratie bis zu ihrem Sturz in Abhängigkeit gehalten wurde.

Die Zeit bis zum ersten Weltkrieg war für die Herausbildung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung und damit für eine Annäherung an Westeuropas Zukunft zu kurz, auch fehlte jede Einsicht seitens der autokratischen Regierung. Als sich der Kapitalismus in Rußland noch ganz in den Anfängen befand, verschaffte sich bereits der Marxismus Eingang und half, die tiefe Resignation der Sozialisten revolutionärer und evolutionärer Prägung zu überwinden. Der Marxismus brachte erstmalig ein angeblich wissenschaftlich begründetes, politisches Handeln und geschichtliche Notwendigkeit umfassendes Geschichtsbild nach Rußland und entließ den vereinzelten Revolutionär aus seiner bis dahin individuell getragenen Verantwortung.

Freilich erhob sich hier sofort wieder die seit dem 17. Jahrhundert lebendige Frage: läßt sich diese Lehre auf Rußland übertragen? Zahlreiche russische Sozialisten hatten Marx diese Frage gestellt; er hatte sie immer nur unter der Voraussetzung bejaht, daß sich auch in Ruß-land der Kapitalismus entwickelte. Das aber war gerade die Frage, ob sich in Rußland ein Kapitalismus wie in Westeuropa entwickeln könnte.

Plechanov, der erste bedeutende russische Marxist, hatte in Anlehnung 'n die deutsche Sozialdemokratie den Marxismus für Rußland propa-giert. Er bezeichnete das sich eben erst bildende, noch bäuerlich gebundene Industrieproletariat als Träger der zukünftigen Entwicklung. Er forderte, eine Durchkapitalisierung Rußlands abzuwarten, damit die Revolutionäre nicht durch eine verfrühte Machtübernahme gezwungen wären, selbst einen Kapitalismus auszubilden, oder ohne ein ausgebildetes Proletariat despotisch zu regieren, oder einen primitiven Bauern-kommunismus zu stützen. Dem Bauerntum maß er in seinen Überlegungen keine politische Bedeutung bei. Die Frage aber blieb für die russischen Sozialisten, wie lange man auf eine Kapitalisierung Rußlands warten sollte. Und wie sollte man die revolutionäre Gesinnung fördern, wenn man zugleich den Kapitalismus als notwendige Stufe bejahen mußte? Lenins Bedeutung beruhte darin, daß er die Besonderheit der russischen Situation richtiger nicht durch die Kategorien der westeuropäischen Sozialdemokratie gesehen hatte. Er sah, daß in Rußland die Bourgeoisie ein Geschöpf der Autokratie war, keineswegs ihr ernsthafter Gegner; deshalb erhoffte er sich für die proletarische Bewegung keine demokratisierende, erleichternde Vorarbeit seitens der Bourgeoisie, wie sie in Westeuropa von ihr geleistet worden war.

Vielmehr propagierte Lenin-den direkten Kampf gegen die Autokratie, von der er die Diktatur der Führung und die militärische Unterordnung für seine Partei entlehnte. Er sah die zahlenmäßige Schwäche und mangelhafte Bildung des russischen Proletariats; deshalb rechnete er die verelendeten Bauernmassen zum Proletariat und propagierte ein befreundetes Bündnis zwischen Industrieproletariat und Bauernschaft. Er sah die unabsehbar lange Dauer eines Kapitalisierungsprozesses in Rußland voraus, deshalb setzte er sich für eine möglichst baldige Revolution um jeden Preis ein, um erst nach dem Umsturz die fortschrittlichen Voraussetzungen zu schaffen, die in Westeuropa die Bourgeoisie allmählich hervorgebracht hatte. Er war sich bewußt, daß eine solch.

Revolution nicht wie bei Marx das Endergebnis eines langen sozialen Reifeprozesses darstellen würde, sondern ein Vorgreifen, und deshalb bereitete er seine Anhänger auf eine ausgedehnte Zwischenperiode quasistaatlichen Charakters der Diktatur des Proletariates vor, die bei Marx nur als ein kurzer Übergang zur staatenlosen, freien kommunistischen Gesellschaft bewertet worden war.

Kurzum, Lenin bemühte sich angesichts dieser Schwäche der russischen Bourgeoisie und angesichts der fehlenden sozialen Verwurzelung der Autokratie, in einer einzigen, gewaltigen Anstrengung die proletarische Herrschaft zu errichten. Das ist ihm nach dem Zusammenbruch Rußlands im ersten Weltkrieg 1917 gelungen.

Aber nun erfüllte sich die Voraussage des Sozialdemokraten Plechanov, daß das Proletariat bei einer vorzeitigen Machtübernahme genötigt sein würde, eine Despotie zu errichten. Die Revolution Lenins erfüllte keineswegs die seit Generationen gehegten Hoffnungen der Mehrheit der russischen Sozialisten und Demokraten auf eine Freiheit und menschliche Würde sichernde neue Ordnung. Vielmehr wurde die autokratische Monarchie mir von der Diktatur einer Partei, ja eines Parteiführers abgelöst. Der Marxsche Ansatz war im Kern verfehlt. Man hatte gelehrt, daß der Mensch der Notwendigkeit einer objektiven Ent Wicklung der Produktionsmittel unterworfen, aber für die tätige Frei Setzung einer neuen Entwicklungsstufe verantwortlich sei. Marx sa den Menschen also noch in der Polarität von Notwendigkeit und Frei heit, entsprechend der geistigen Tradition Westeuropas. Diese Polarität schon bei Engels verdeckt, ist bei Lenin nicht durch einen neuen ge schichtstheoretischen Ansatz, sondern durch sein politisches Tun auf gelöst worden zugunsten eines einlinigen Voluntarismus, der, wie wir sahen, seit jeher ein charakteristisches Element der Opposition ist.

Rußland hat für diese, die Marxsche Lehre verfälschende, der geschichtlichen Entwicklung vorgreifen wollende Revolution mit bitteren Opfern durch viele Jahre bezahlen müssen, um schließlich heute eine Existenz erreidit zu haben, die in all ihren Äußerungen an das positivismus-und fortschrittsgläubige Bürgertum Westeuropas im 19. Jahrhundert erinnert. Uneingeschränkter als sie jemals in Westeuropa geherrscht haben, sind die Bestandteile eines reinen innerweltlichen, bürgerlichen Denkens, die die revolutionäre Opposition konserviert hatie, in Rußland zur Entfaltung gekommen, zu einem Zeitpunkt, als Westeuropa begann, diese Denkweise zu überwinden. Rußland ist heute kein fortschrittliches, sondern ein konservatives Land, insofern es durch staatliche Gewalt an einem Menschenbild festhält, daß den Menschen als durch seinen reinen Immanenzbezug bestimmt zeigt. Das ist ein sehr einfaches, aber auf die Länge der Zeit den Menschen nicht ausfüllendes Und ihn nicht tragendes, ihm nicht entsprechendes Bild. Es ist die einseitige Antwort darauf, daß in Rußland durch Jahrhunderte der Mensch in einem reinen Transzendenzbezug gesehen worden ist. Er ist nicht durch die bolschewistische Revolution überwunden, sondern durch sein Gegenteil ersetzt worden. Das Vakuum, das einst die Orthodoxie in Rußland so lange über dem geschichtlichen Leben hatte bestehen lassen, ist durch rein innerweltliche Kräfte ausgefüllt worden. Die Totalität des Menschen zu verwirklichen, die sich in der Spannung zwischen Immanenzund Transzendenzbezogenheit des Menschen erfüllt, ist eine Aufgabe, die Rußland in der Zukunft lösen muß. Ihre Lösung wird Rußland Westeuropa annähern, wenn Westeuropa seinerseits willens ist, den Forderungen gegenüber offen zu bleiben, die sich aus dem von ihm selbst entworfenen polaren Geschichtsbild immer wieder neu ergeben.

Fussnoten

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