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Italien in der Atlantischen Gemeinschaft | APuZ 27/1959 | bpb.de

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APuZ 27/1959 Italien in der Atlantischen Gemeinschaft Politik und Ethik

Italien in der Atlantischen Gemeinschaft

Pietro Quaroni

Als Rede am 15. Juni 1959 vor der Deutschen Atlantischen Gesellschaft in Stuttgart gehalten. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft.

Man diskutiert so viel über die Atlantische Allianz, daß man beinahe vergessen hat, wie sie entstanden ist. Ich denke, es ist nicht völlig nutzlos, daran zu erinnern.

Die Atlantische Allianz ist nicht ausschließlich eine amerikanische Initiative. Man könnte eher sagen, daß sie eine europäische Initiative ist. Nach der Demobilisierung der amerikanischen Armee hat Westeuropa sehr bald den Eindruck bekommen, vor der sowjetischen Macht nackt dazustehen. Man muß gestehen, daß anfangs die Europäer nicht völlig den Unterschied zwischen den Möglichkeiten Europas und den Möglichkeiten Rußlands erkannt haben. Die größeren europäischen Mächte hatten noch bis zu einem gewissen Grad die Illusion, viel mehr von sich selbst aus machen zu können.

Der erste Versuch, die Verteidigung Europas zu organisieren, war der Brüsseler Pakt, der eher eine Ergänzung des Vertrags von Dünkirchen zwischen England und Frankreich ist als Erinnerung an die anglo-französische Allianz.

Ich war damals Botschafter in Paris und erinnere mich noch, wie die Franzosen und auch die Engländer überzeugt waren, daß die Möglichkeit bestünde, aus dem Brüsseler Pakt ein militärisches Bündnis — natürlich auch mit ökonomischen und kulturellen Verbindungen (heutzutage versteht man eine militärische Allianz nicht mehr ohne Verbindungen dieser Art) — zwischen Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Ländern zu entwickeln. Man hat mir damals gesagt: Sie werden sehen, wir werden sehr bald eine wichtige militärische Macht darstellen. Aber diese Illusion war nicht von langer Dauer. Man hatte im besonderen nicht völlig verstanden, welche ungeheuren finanziellen und ökonomischen Anstrengungen eine moderne, kampffähige militärische Kraft erfordert.

Auch etwas anderes hatte man nicht verstanden. In Rußland hat die kommunistische Partei alles darangesetzt, um die Wiederherstellung des Landes zu fördern. Aber in Europa war im Gegenteil Interesse des Kommunismus, die ökonomische und militärische Stabilisierung Westeuropas zu verhindern. Darum hat man alles getan, um soziale Unruhen überall zu entfachen: höhere Löhne, höherer Konsum — gerade das Gegenteil von dem, was man zu Hause machte. Man wollte, so lange wie möglich, den westlichen Regierungen so wenig Mittel wie möglich für langfristige Investitionen oder für Rüstungen zur Verfügung lassen. Lind das hat überall gewirkt, und wirkt zum Teil noch heute.

Die ökonomische Lage Europas — ich spreche von den Jahren 47 und 48 — sah damals verzweifelt aus. Die Zerstörungen des Krieges waren so groß gewesen, daß es unmöglich schien, den Wiederaufbau Europas mit eigenen Mitteln zustande bringen zu können.

Dann kam die großartige amerikanische Intervention, die unter dem Namen Marshall-Plan bekannt ist: das heißt, eine kolossale Hilfe. Hilfe, nicht Anleihe: die Anleihen des Marshall-Plans sind nur ein Bruchteil des Gesamtplanes. Wenn Europa heute ökonomisch wieder in Blüte steht, dann dürfen wir nicht vergessen, daß es ohne den Marshall-Plan kaum möglich gewesen wäre, den toten Punkt zu überwinden.

Jeder ökonomische Wiederaufbau braucht Vertrauen. Man kann nicht für die Zukunft arbeiten, wenn man kein Vertrauen in die Zukunft hat. Der Marshall-Plan hat Europa das ökonomische Vertrauen zurückgegeben; hat die europäischen Länder von dem Alpdruck der Dollarzahlungen der nächsten Wochen befreit. Aber die psychologische Unsicherheit Europas hatte nicht nur ökonomische Ursachen sondern auch eine militärische. Die Europäer dachten und wußten, daß es in Europa keine Kräfte gab, die einem sowjetischen Angriff Widerstand leisten könnten. Damals hatte eine Anekdote von Marschall Montgomery einen großen Erfolg: Auf die Frage, ob er glaube, daß die Russen auch Atombomben besäßen, antwortete er: „Ich weiß nicht, ob die Russen Atombomben haben oder nicht, aber ich bin sicher, daß sie keine Fahrräder haben, sonst wären sie schon lange in Brest“. Der alte Marschall liebte schon damals Paradoxe. Aber diese Paradoxe waren leider beinahe hundertprozentige Wahrheit.

Damals war Bidault französischer Außenminister, ein Mann, der im Laufe seiner Karriere manchmal gezeigt hat, die Zukunft in der Weltpolitik klar erfassen zu können. Und er schrieb dem amerikanischen Außenminister, General Marshall, einen mutigen Brief, in welchem er sagte, daß der ökonomische Wiederaufbau Europas nur möglich sei, wenn die Völker Europas überzeugt wären, auch militärisch von den Amerikanern gegen einen Angriff der Russen geschützt zu werden. Ohne eine derartige Garantie wäre jegliche amerikanische Hilfe auf ökonomischem Gebiet so gut wie zwecklos.

Truman und Marshall haben das verstanden: aus diesem Brief, kann man sagen, ist der Atlantik-Pakt entstanden. Alles Umstände, die man nicht vergessen sollte.

Zu Anfang hatte man gedacht, daß das Wichtigste beim AtlantikPakt die amerikanische Garantie sei: das heißt, eine Erklärung Amerikas, daß jeder Angriff auf eine der Mächte des Atlantik-Pakts einen Angriff auf Amerika bedeuten würde und die amerikanische atomare Reaktion unmittelbar nach sich gezogen hätte.

Aber bald zeigten zwei Ereignisse — die Berliner Blockade und der Angriff auf Südkorea -daß diese atomare Garantie Amerikas allein nicht genügen konnte: und daß es nötig war, den Atlantik-Pakt zu einer Atlantischen Allianz zu entwickeln: dies erforderte allgemeine militärische Anstrengungen nicht nur von Seiten Amerikas sondern auch von selten anderer europäischer Staaten. Man kann sagen, daß» obwohl die Atlantische Allianz juristisch im Jahre 1949 entstanden ist, sie zu ihrer jetzigen Form, das heißt zu einer militärischen Allianz,, erst im Jahre 1950 wurde.

Ein militärisches Abenteuer des Westens?

Die Russen sprechen die ganze Zeit so viel von der Atlantischen Allianz als einem militärischen Abenteuer des Westens, daß man überall, und zu viel, ihre Herkunft und ihre Ursachen vergessen hat.

Zur Zeit der Berliner Blockade hatten die Russen an den Grenzen Rußlands und in Ost-Deutschland und in den anderen kommunistischen Staaten 27 Divisionen stehen, davon ungefähr die Hälfte Panzerdivisionen, vollkommen einsatzbereit, die durch einen telefonischen Befehl von Moskau ohne weiteres in Bewegung gesetzt werden konnten. Wenn man nicht die westlichen Papierdivisionen sondern die kampffähigen Divisionen zählt, verfügten die Amerikaner über eineinhalb Divisionen und eine englische Brigade, das war alles: keiner der anderen hatte etwas. Und der Zweck der Atlantischen Allianz war und bleibt, einen militärischen Schild zu konstruieren, der den Europäern die Möglichkeit geben würde, sich gegen einen unerwarteten Angriff zu verteidigen. r, . 5

Diese rein defensive Allianz hat diesen bescheidenen Zweck noch nicht vollkommen erfüllt: das, meine Herren, muß man doch manchmal erwähnen, um in der Verwirrung der Polemiken um die Atlantische Allianz noch ein wenig klarer zu sehen.

Zu Beginn-war die Atlantische Allianz eher als eine Art Erweiterung des Brüsseler Paktes gedacht, eigentlich nur eine Beteiligungsgarantie Amerikas an diesem Vertrag: unter diesen Umständen war Italien, das nicht Mitglied des Brüsseler Paktes war, als Mitglied der Atlantischen Allianz nicht vorgesehen. Einige Monate hat man darüber gestritten, ob mit Italien oder ohne Italien. Für die Inklusion Italiens war vom ersten Augenblick an Frankreich.

Es handelte sich auch um zwei verschiedene militärische Auffassungen der atlantischen Strategie. Die Engländer betrachteten, bewußt oder unbewußt, Westeuropa als eine Art großen Brückenkopf für die Verteidigung Englands. Darum wollten sie sich nicht weiter als bis zum Rhein engagieren, und der Rückzugsplan war besonders dafür gedacht, um die Nordatlantik-Küste Frankreichs und der Niederlande zu schützen. Damals war von Raketen und von einer allgemeinen Atom-strategie noch nicht die Rede.

Die Auffassung der Franzosen war natürlich ganz anders. Sie wollten erstens die Verteidigungslinie soweit als möglich nach Osten verlegen, das heißt bis zur Elbe-Linie; zweitens wollten sie, wenn möglich, ganz Frankreich verteidigen und nicht Frankreich als einen Brückenkopf Englands erhalten. Um eine Verteidigung ganz Frankreichs unentbehrlich zu machen, war es sehr nützlich, auch Italien im Spiel zu haben: wollte man auch Italien verteidigen, und mit Italien den MittelmeerRaum, war es unumgänglich, auch ganz Frankreich zu verteidigen.

Wie gewöhnlich wurden diese nationalen strategischen Ideen mit ganz anderen politischen Gründen bemäntelt: die Engländer sagten, zum Beispiel, daß es zu früh sei, einen ehemaligen Feind zum Verbündeten zu machen: daß die italienische innere Lage zu unstabil sei, um Italien zum Mitglied einer militärischen Allianz zu machen. Dieser Streit hat beinahe acht Monate gedauert. Die Entscheidung wurde wie gewöhnlich in Washington getroffen: und bei den Amerikanern hat zum Schluß doch die französische Konzeption gesiegt. Für die Amerikaner ist an sich auch ganz Westeuropa ein Brückenkopf und nicht nur die Nordatlantik-Küste.

Es sind Dinge, die jetzt der Geschichte angehören, nicht nur weil sie politisch überwunden sind, sondern auch weil die strategische Lage sich infolge der Entwicklung der nuklearen Waffen völlig verändert hat. Aber die tiefen politischen Strömungen eines Landes ändern sich nicht so leicht: es bleibt immer etwas im Unterbewußtsein zurück, und das kommt dann hervor. Darum halte ich es nicht für völlig zwecklos, an all das zu erinnern.

... 2. -ft Italien hat von Anfang an die Atlantische Allianz nicht für eine bloße militärische Allianz gehalten: im Gegenteil. Die italienische Anschauung war immer die, daß der Atlantik-Pakt als bloße militärische Allianz keine wirkliche Entwicklungsmöglichkeit hatte. Sie sollte sich auch im ökonomischen, politischen und kulturellen Sinn entwickeln; sie sollte eher eine atlantische Gemeinschaft werden. Jemand hat scherzend gesagt, daß, wenn Italien den Atlantik-Pakt unterschrieben hat, dies besonders wegen Artikel 2 des Paktes geschehen ist. Lind das ist auch zum Teil wahr. Warum? Italien hat ungeheuere Probleme zu lösen. Diese Probleme bestehen zum Teil darin, daß. es . in seiner Gemeinschaft Gebiete hat, die noch völlig unentwickelt sind, Süditalien und die Inseln. Es gibt in Italien enorme Unterschiede des Wohlstands: in der Provinz von Mailand ist das pro-Kopf-Einkommen ungefähr 900$im Jahr. Am anderen Ende steht die Provinz von Avellino, mit einem pro-Kopf-Einkommen von ungefähr 90$im Jahr.

Das ist nichts Neues. Man kann sagen, daß die Südfrage eine der ersten und wesentlichsten Fragen des vereinten Italiens war. Warum hat man so viele Jahrzehnte lang nichts getan, um sie zu lösen? Das ist nicht leicht zu sagen. Wahrscheinlich war damals das soziale Welt-gewissen nicht so entwickelt wie heute: lange Zeit hat man geglaubt, daß das natürliche Spiel der ökonomischen Kräfte Süditalien im Fahrwasser der Entwicklung des Nordens mit sich reißen würde; wahrscheinlich hat man auch geglaubt, daß die koloniale und allgemeine Expansion Italiens am besten dazu geeignet war, diese Frage zu lösen. Aber wie dem auch sei, so muß man sagen, daß erst nach Kriegsende von allen führenden Leuten und Parteien Italiens erkannt wurde, daß es politisch ungesund und fast unmöglich war, in ein und demselben Land einen solchen unterschiedlichen Lebensstandard und Kulturniveau zu haben. Die militärischen Rüstungen sind nötig: ohne militärische Kraft sind Diplomatie und Politik reine Illusionen. Aber sie kosten auch viel Geld. Und wenn ein Land, wie es bei Italien der Fall ist, nur über begrenzte Mittel verfügt, ist die Frage der Verteilung dieser Mittel immer akut. Die Entwicklung Süditaliens kostet auch ungeheuer viel Geld. Italien konnte sich mit eigenen Mitteln nicht genügend rüsten und gleichzeitig die Entwicklung Süditaliens so weit fördern, um eine politische Stabilität in diesen Gebieten zu erreichen. Ich möchte hier noch nebenbei erwähnen, daß bis zum Kriegsende Süditalien am stabilsten im politischen Sinne war, in einer ausgeprägten konservativen Richtung. Das ist immer beim Sub-Proletariat der Fall. Aber der Krieg hatte sich zum größten Teil in Süditalien abgespielt und die alte soziale Ordnung in Süditalien — man könnte sagen, den alten sozialen Schlaf — gebrochen: das Land war in Bewegung, und wenn ein Sub-Proletariat erwacht, wird es gefährlich. Italien war und ist auch heute noch zum Teil überzeugt, daß es mit seinen eigenen Kräften seine beiden Probleme — ich wiederhole: die Modernisierung des Landes und seine Rüstung — nicht lösen kann. Hilfe zu erflehen, ist für einen selbstbewußten Staat unpassend; eine Gemeinschaft wäre für italienische Zwecke das beste, was man sich denken kann. In einer Gemeinschaft werden alle Probleme der Mitglieder der Gemeinschaft zu allgemeinen Problemen. Es liegt im Interesse aller, dem schwächeren Mitglied der Gemeinschaft zu helfen, seine Probleme zu lösen. Darum ist diese Gemeinschaftsidee in Italien so entwickelt und populär, ob es sich nun um die Europäische Gemeinschaft handelt oder um die Atlantische Gemeinschaft.

Politik ist keine Schwärmerei

Daß dies den Interessen Italiens entspricht, daß es sich nicht um eine sentimentale politische Neigung handelt, halte ich für einen positiven Faktor. Politik ist keine Schwärmerei. Eine gute Politik stützt sich auf Tatsachen. Eine Gefühlspolitik hat keine Stabilität. Ich habe nie in meiner diplomatischen Laufbahn gesehen, daß die Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Ländern sich auf solche abstrakte Ideen, wie Freundschaft, Liebe, Anziehungskraft oder Tradition, fest stützen können. Die solideste Politik ist die, wo die Interessen der verschiedenen Länder sich begegnen. Meiner Meinung nach entspricht diese Konzeption Italiens ohne Zweifel den Interessen Italiens, aber sie ist auch politisch an sich richtig.

Wir sprechen immer von Krisen der Atlantischen Allianz, und es gibt Krisen ohne Zweifel. Krisen hat es gegeben zur Zeit der Suez-Expedition, als verschiedene Anschauungen und Interessen in der Kolonialfrage zusammenprallten. Wir sehen das noch heute, zum Beispiel, in der jetzigen Krise, wo die Haltung der verschiedenen Länder nicht hundertprozentig identisch ist.

Wir alle, Mitglieder der Atlantischen Allianz, bemühen uns immer, eine gemeinsame Haltung oder eine gemeinsame Formel zu erreichen. Das ist zweifellos nötig, besonders wenn man mit anderen, den Gegnern, verhandeln muß. Aber sich darauf zu beschränken, hier und da eine allgemeine Formel zu finden, bedeutet nur, die offensichtliche Äußerung einer Krankheit zu behandeln. Die Verschiedenheit, manchmal die Gegensätze der Interessen, bleiben weiter bestehen: darum müssen wir uns keine Illusion machen. Die atlantischen Länder, besonders die wichtigsten, die mit Weltinteressen, sehen die Dinge nicht mit denselben Augen. Und es wird immer so sein, wenn es uns nicht gelingt, diese Gemeinschaftsidee wirklich zu entwickeln. Solange wir als nationale Staaten mit allen unseren alten Traditionen der nationalen Politik in die Atlantische Allianz eintreten, sind diese Differenzen unvermeidlich: und das kann nicht so bleiben, ohne gefährlich zu werden. Die Atlantische Allianz muß zu einer Art von Kollektiv werden: sonst kann sie kein wirklicher Faktor der Politik sein.

Die Atlantische Allianz ist eine militärische Allianz, die sich wahrscheinlich und hoffentlich nie in einem heißen Krieg — ich gebrauche die jetzt üblich gewordene Bezeichnung — bestätigen wird. Sie ist eine Allianz für einen kalten Krieg: das heißt, einen Krieg, der manchmal viel schwieriger sein kann als ein heißer Krieg. Sie ist außerdem eine Allianz auf sehr lange Sicht. Mehr über den kalten Krieg zu sprechen, würde über den Rahmen dieses Vortrags hinausgehen: ich möchte nur sagen, daß man meiner Meinung nach nicht allzu pessimistisch ist, wenn man für den kalten Krieg eine Dauer von ungefähr hundert Jahren vorsehen kann. Die Atlantische Allianz für eine so lange Periode des kalten Krieges zusammenzuhalten, ist nicht möglich, wenn wir diese Gemeinschaftsidee nicht genügend entwickeln.

Frankreich hatte nach dem ersten Weltkrieg ein wunderschönes Netz von Allianzen entwickelt: Bündnisse mit Polen, die Kleine Entente, die Balkanische Entente. Auf dem Papier schien das alles herrlich: man konnte glauben, Frankreich hatte ganz Europa in seinen Händen. Aber ein Gemeinschaftsgefühl hatte man nicht entwickelt, und was ist im kritischen Moment von diesem Allianz-Netz geblieben? Es ist ein Beispiel, das man nie vergessen sollte.

Was bedeutet diese Gemeinschaftsidee? Natürlich wäre es ideal, die Atlantische Allianz in eine Föderation umzuwandeln. Gegen eine solche Umwandlung hätte die italienische Regierung nichts einzuwenden: im Gegenteil, es gibt viele politische Denker in Italien, ohne Zweifel die besten, die ganz offen dafür sind. Aber die anderen, und besonders die Vereinigten Staaten, sind dafür nicht reif, und es ist fraglich, ob sie je dazu reif sein werden. Eine militärische Allianz heißt, daß, wenn ein Mitglied der Allianz angegriffen wird, ihm die anderen zu Hilfe kommen, aber nur dann. Eine Gemeinschaft heißt, in meinem Sinn, daß die Probleme eines jeden auch die Probleme von allen sind, und daß, wenn ein Mitglied der Gemeinschaft sich in Schwierigkeiten befindet — nicht militärische — auch dann alle anderen zu Hilfe kommen müssen: und das tun nicht alle aus einem pietätvollen Mitgefühl heraus, aber zur Wahrung ihrer eigenen Interessen.

Es ist nicht leicht: ich habe soeben von der Suez-Krise als einer Krise der Atlantischen Allianz gesprochen: wieso? Gehen wir ein bißchen weiter. Die Franzosen sagen und glauben, daß sie in Algerien nicht nur für die eigenen Interessen kämpfen sondern für die allgemeinen Interessen des Westens. Wenn es so ist, dann müssen wir alle anderen unsere eigenen Interessen beiseite lassen und Frankreich helfen, den Algerien-Krieg zu gewinnen. Andere sagen und glauben, im Gegenteil, daß die Tatsache, daß ein Mitglied der Atlantischen Allianz sich mit einem arabischen Volk im Krieg befindet, die ganzen Beziehungen des Westens zu der mohammedanischen Welt erschwert, nur zum Vorteil der Sowjet-Union. Wenn es so wäre, dann sollte Frankreich seine eigenen nationalen Interessen opfern — Algerien vor allem aufgeben — im Namen der Interessen der Allianz. Nicht einfach, wie Sie sehen: und solche Probleme und Differenzen gibt es eine Menge in der Allianz. Einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist nicht leicht.

Als militärische Allianz hat der Atlantik-Pakt den Zweck, Europa gegen einen russischen Angriff zu verteidigen. Aber es genügt nicht, Europa zu verteidigen; die Festung Europa kann umgangen werden. Sollten die Russen zum Beispiel den ganzen mittleren Westen und das muselmanische Nordafrika in ihre Einflußsphäre bekommen, wäre das mehr als eine Schwächung der Verteidigung Europas. Man könnte dann die Elbe-Linie nicht mehr halten.

Das heißt in anderen Worten: man kann die Europa-Frage nicht von der Weltpolitik isolieren. Dazu kann man sagen, daß wenigstens drei der atlantischen Mächte — die Vereinigten Staaten, England und Frankreich — wenn nicht alle drei Weltmächte im alten Sinne des Wortes, so doch Mächte mit wichtigen Interessen außerhalb Europas sind. Darum ist es nicht möglich, eine wirkliche intime Zusammenarbeit in Europa zu haben, wenn die Interessen dieser Mächte im Globalen sich widersprechen. Aber eine Entscheidung der drei Westmächte, in China nehmen wir an, kann einen Krieg entfesseln: und da wir, die wir nicht Weltmächte sind, mit len dreien im Bündnis stehen, können wir — eigentlich werden wir — in diesen Krieg verwickelt sein. Darum können wir nicht zum Beispiel die Fernostpolitik so blindlings den Entscheidungen der Weltmächte überlassen: es handelt sich um Krieg oder Frieden auch für uns. Das ist auch nicht leicht und einfach. Nichts ist leicht und einfach in der Politik: auch nicht eine Lösung im negativen Frieden.

Dies ist auch ein wichtiges Element der italienischen Politik in der Atlantischen Allianz. Die atlantischen Mächte müssen auch eine allgemeine Außenpolitik entwickeln, und diese Außenpolitik kann sich nicht nur auf den europäischen Sektor begrenzen: sie muß eine gemeinsame Welt-Außenpolitik sein.

Konsultation heißt Mitspracherecht

Man spricht viel von Konsultation: Was meint man, wenn man von Konsultation spricht? Wie Sie wissen, sitzt in Paris der Atlantische Rat, wo die verschiedenen Länder gelegentlich vom Außenminister oder auch vom Ministerpräsidenten und ständig von hohen diplomatischen Beamten vertreten sind. Dieser Rat sollte allen die Möglichkeit geben, alle wichtigen und auch nicht so wichtigen Probleme miteinander zu diskutieren, um einen gemeinsamen Standpunkt zu erreichen und eine gemeinsame Linie zu fixieren. Italien hat immer die Ansicht vertreten, daß jede eigenmächtige Handlung bei einer Angelegenheit, die die Interessen aller betrifft, wenn nicht eine Verletzung so doch wenigstens eine Schwächung der atlantischen Politik ist.

Konsultation ist etwas anderes als Information. Information funktioniertheute in der Atlantischen Allianz gut, kann man sagen. Aber Information ist nicht genug: Konsultation heißt Mitspracherecht. Jedes Mitglied der Atlantischen Allianz sollte die Möglichkeit haben, seine Ideen, seine Interessen verteidigen zu können, im Interesse der Allianz, bevor eine Entscheidung, eine wichtige Entscheidung getroffen ist.

Im Prinzip sind wir alle, und seit langem, damit einverstanden. In der Praxis ist das aber nicht so leicht. Eigentlich muß man gestehen, daß das die größte Schwierigkeit der Atlantischen Allianz ist. Diese Schwierigkeit besteht darin, daß juristisch natürlich alle Länder gleich sind und darum alle die gleichen Rechte haben. Tatsächlich gibt es aber einen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Luxemburg, und diesen Unterschied darf man nicht übersehen. Konsultation kann, wie gesagt, nicht nur ein Austausch von Informationen sein; sie muß ein gewisses Mitspracherecht gestatten.

Es gibt zwei Extreme: auf der einen Seite kann man unmöglich annehmen, daß Amerika, bevor es eine wichtige politische Entscheidung trifft, vorher Luxemburg fragt, ob es einverstanden ist, und im Falle, daß Luxemburg nicht einverstanden ist, Amerika auf seinen Entschluß verzichtet; das andere Extrem ist, daß Amerika von sich allein einen wichtigen Entschluß faßt. Obwohl, wie gesagt, die Atlantische Allianz wahrscheinlich eine militärische Allianz ist, die nie zum heißen Krieg führen wird, muß man doch annehmen, daß diese oder jene Entscheidung in sich eine Kriegsgefahr bergen kann. Sollte Amerika das Recht haben, einen derartigen Entschluß ausschließlich von sich selbst aus zu treffen, dann bedeutete der Atlantik-Pakt eine Änderung der Verfassung der Mitgliedstaaten, im Sinne, daß es der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist, der für sie den Krieg bestimmt und nicht der nationale Präsident der Republik. Wie gesagt, sind diese Extreme beide unannehmbar: die Lösung kann eine praktische, pragmatische sein und muß irgendwie zwischen diesen beiden Extremen gefunden werden. Fürst von Bülow, glaube ich, hat einmal gesagt, daß es in jeder Allianz einen Reiter und ein Pferd gibt: aber der Reiter muß das Pferd verstehen und von ihm nicht das Unmögliche verlangen. Das ist auch heute wahr. Man braucht auf beiden Seiten Verständigung, bei den Großen und bei den Kleinen. Es kommt manchmal vor, daß ein kleines oder ein mittleres Mitglied fest auf einer gewissen Position besteht: und es kann auch sein, daß, pro bono pacis, der äußeren Einheit wegen, sich alle anderen Mitglieder dieser Stellung anpassen. Aber auch das kann nicht von Dauer sein. Politik ist immer und nur Kompromiß: kompromißlos sein zu wollen, ist immer gefährlich für eine Allianz, für eine Gemeinschaft, ob es sich nun um große, mittlere oder kleine Mitglieder handelt. Das alles, wiederhole ich, ist nicht leicht, das geschieht nicht von selbst, aber das ist und bleibt die größte Schwierigkeit der Atlantischen Allianz: man kann sagen, daß es die ständige Krise der Atlantischen Allianz ist.

Es liegt an sich nichts neues darin. Jede Allianz hat solche Schwierigkeiten: Darum ist eine Allianz immer etwas problematisch. Sie ist ohne Zweifel auch eine juristische Verpflichtung, aber sie muß auch den Interessen der Mitglieder entsprechen. So haben wir in der Geschichte Hunderte von Fällen: Allianzen, die ihre Krisen überwunden haben, Allianzen die nicht verstanden haben, daß kein Land ständig gegen seine Interessen gehen kann. Mein Professor für Internationales Recht, damals eine weltberühmte Persönlichkeit, sagte immer, daß es in jedem Vertrag eine ungeschriebene Klausel gäbe: der Vertrag ist gültig, solange er den Interessen der beiden Kontrahenten entspricht: und er hatte recht. Darum ist eine Allianz, jede Allianz, immer nur eine vernünftige Anpassung der Interessen ihrer Mitglieder, der größeren und kleineren. Wenn eine Allianz zu einer Gemeinschaft wird oder wenn sie einer Gemeinschaft näherkommt, so wird diese Anpassung der Interessen leichter und damit beinahe automatisch. Das ist es, was man unter Konsultation von italienischer Seite versteht. Dies war, wie gesagt, von Anfang an eine der wichtigsten Auffassungen der italienischen Politik; und wir haben immer alles mögliche getan, um die Atlantische Allianz in diesem Sinne zu entwickeln. Mit welchem Erfolg? Bis zu einem gewissen Punkt: aber wir Italiener sind viel hartnäckiger als man denkt, und wir gehen weiter, so weit es in unseren Möglichkeiten steht.

Die Atlantische Allianz steht wie jede andere Allianz und jede Außenpolitik im allgemeinen in enger Verbindung mit der Innenpolitik. Was die Atlantische Allianz betrifft, ist in Italien die Lage etwas klarer als in anderen Ländern.

In Italien haben wir leider eine große kommunistische Partei: 140 Abgeordnete in einem Parlament von etwas mehr als 600 Mitgliedern. Leider sind in Italien — und in diesem Sinn ist Italien eine Ausnahme in der westlichen Welt — die Kommunisten nicht völlig isoliert. Die sozialistische Partei Nennis, die größte sozialistische Partei (sie hat 84 Abgeordnete; die andere, die sozialdemokratische, hat nur 23 Abgeordnete), ist nicht von den Kommunisten klar getrennt. In den letzten Jahren hat man auf eine gewisse Entwicklung der sozialistischen Partei in Richtung Selbständigkeit hoffen können, aber die Konturen dieser Bewegung sind noch lange nicht genügend charakterisiert. Die sozialistische Partei Nennis muß man noch wenigstens als „fellow travellers" besonders in der Außenpolitik betrachten. Diese Gruppe ist natürlich schroff gegen die Atlantische Allianz eingestellt. Sie vertritt mehr oder weniger intelligent den russischen Standpunkt. Man kann nicht verhehlen, daß eine so große und kompakte politische Gruppe, die faktisch unter dem politischen Einfluß des Weltkommunismus steht, wenn auch nicht eine unmittelbare revolutionäre Gefahr so doch ein ständiges Hindernis zur Entwicklung der italienischen Außenpolitik vorstellt.

Aber das hat auch seine Vorteile. Die Anwesenheit einer so großen kommunistischen Partei macht es den anderen Italienern leichter verständlich, daß eine Außenpolitik, eine feste und entschlossene Außenpolitik im Rahmen der Atlantischen Allianz, die auf der Freundschaft und der Mitarbeit Amerikas und der anderen westlichen Mächte ruht, im Interesse Italiens ist, nicht nur vom Standpunkt der Außenpolitik, sondern auch vom Standpunkt der Innenpolitik. Die Atlantische Allianz ist ein fester Punkt und eine scharfe Scheidelinie der ganzen italienischen Innenpolitik. Darum sind alle Parteien Italiens von den demokratischen Sozialisten bis zu den äußersten Rechten, ohne Ausnahme fest und einmütig für die Atlantische Allianz.

Die Atlantische Allianz ist nicht eine Alternative in der Außenpolitik für uns alle: sie ist die einzig mögliche Politik. Das ist aber nicht überall klar.

Es gibt doch eine Menge Leute unter uns, die noch an die Möglichkeit einer freundschaftlichen und gründlichen Verständigung mit den Russen glauben. Daß die Russen sagen, es sei die Atlantische Allianz, die eine Verständigung zwischen den zwei Welten unmöglich macht, ist von ihrem Standpunkt aus ganz verständlich. Die Franzosen sagen: „einsehr gefährliches Tier — wenn es angegriffen wird, will es sich sogar noch verteidigen“. Ich weiß nicht, ob ein solches Sprichwort auch auf Deutsch existiert.

Daß die Kommunisten, deren Wunsch es ist, die Russen bei uns hier zu Haus zu sehen und es immer wiederholen, das ist auch selbstverständlich. Aber daß Leute, die keinen Wunsch haben kommunistisch zu werden, dieselben Ideen verfechten, das ist nicht so leicht zu verstehen.

Was sollen wir tun, um diesen Gedanken einmal zu folgen? Abrüsten, nur von unserer Seite abrüsten: und warten, bis die Russen durch unser einseitiges Abrüsten sich zum Pazifismus bekehren.

Neutralität ohne Waffen?

Man hat für diese Politik auch ein sehr anziehendes Wort gefunden: die dritte Kraft. Aber an sich sollte sich diese dritte Kraft erst selbst entmilitarisieren: so daß, in der Tat, diese Politik eine Politik der Neutralität ist. Sehr gut, wer möchte nicht neutral bleiben? Wir haben alle so viele unangenehme Erfahrungen mit dem Krieg gemacht.

Neutral in Friedenszeiten zu bleiben, ist sehr leicht: was schwieriger ist, ist neutral in Kriegszeiten zu bleiben: um, mit gewissen Chancen, in Kriegszeiten neutral zu bleiben, muß man militärisch so mächtig sein, daß die kriegführenden Mächte es sich zweimal überlegen müssen bevor sie uns angreifen. Das hat die Geschichte der zwei letzten Weltkriege ganz klar gezeigt.

Sodaß eine Politik der Neutralität als Politik nur möglich sein könnte, wenn wir, Italien, Deutschland oder Frankreich, die Möglichkeit hätten, von uns selbst aus eine eigene Militärmacht zu entwickeln, die imstande wäre, sich gegen einen Angriff der Russen — oder wenn Sie wollen auch der Amerikaner — verteidigen zu können. Ist das möglich? Haben wir genug Geld und Mittel dazu? Das ist eine andere Frage.

Aber unsere Neutralisten fassen die Neutralität nicht so auf: diese dritte Kraft ist an sich eine unbewaffnete Neutralität: die Tolstoische Theorie des Nichtwiderstandes dem Übel gegenüber: oder die Theorie von Gandhi, auf das Feld der Außenpolitik übertragen.

Eine herrliche Theorie, vom ethischen Standpunkt: und auch eine wirksame Politik, wenn ein jeder von uns bereit wäre, für seine Idee dem Märtyrertod entgegenzugehen. Aber sind wir wirklich Kandidaten für diesen Märtyrertod?

Es ist eigentlich illusorisch, sich mit den Waffen der Diplomatie verteidigen zu wollen ohne die militärischen Waffen zu besitzen: aber die Waffen der Diplomatie existieren nicht: man kann eine Diplomatie haben, wenn man auch wirkliche Waffen hat: wenn die Diplomatie nur die Schlauheit der Schwachen ist, ist sie eigentlich keine Diplomatie mehr

Auch mit der Schlauheit können Sie es nicht immer so arrangieren, daß Sie einen Stockhieb auf den Rücken bekommen und nicht auf den Kopf. Auf jeden Fall hekommen Sie einen Hieb.

In Italien gibt es keinen Neutralismus des Zentrums oder der Rechten, einen nationalen Neutralismus — wie man ihn nennen könnte — wie er in den anderen Ländern Europas besteht. Was die Beteiligung Italiens an der Allianz betrifft, ist in Italien alles schwarz und weiß. Es gibt keine grauen Zonen. Darum war es zum Beispiel für die italienische Regierung verhältnismäßig leicht, als einzige Regierung in Kontinental-Europa eine Verabredung mit den Amerikanern zu treffen für die Errichtung von Stützpunkten für Raketen mittlerer Reichweite. Meine Landsleute denken ziemlich einfach oder klar, wenn Sie es vorziehen, daß, da sich Italien gegen einen Gegner, der alle möglichen Waffen zu seiner Verfügung hat, verteidigen muß, es wirklich keinen Grund hat, auf möglichst entscheidende Waffen für eine Verteidigung zu verzichten. Und da Italien nicht die Möglichkeit hat, diese Waffen selbst herzustellen, muß es diese Waffen von dort herbeiholen, wo es möglich ist, das heißt von den Vereinigten Staaten. Eine Abmachung mit den Amerikanern, um Raketenbasen in Italien zu errichten, ist nicht eine Konzession Italiens an die Vereinigten Staaten, denkt man in Italien, es ist ein wichtiges Element der Verteidigung Italiens und zugleich auch ein praktisches Beispiel von Mitarbeit im Rahmen der Atlantischen Allianz. Das hat die öffentliche Meinung klar und einfach akzeptiert. Die Kommunisten und ihre Weggenossen haben natürlich auf Befehl Moskaus eine Reihe von Krawallen im Parlament und im Lande heraufbeschworen: aber die anderen politischen Parteien, die doch die große Mehrheit des italienischen Parlamentes vorstellen, haben sich einstimmig für diese Raketenbasen entschieden. Das ist ein Beispiel für das, was ich soeben gesagt habe, das heißt, daß die italienische politische Lage wegen der Anwesenheit einer großen kommunistischen Partei einige Elemente politischer LInstabilität aufweist, aber doch im allgemeinen klipp und klar gezeichnet ist.

Soll man aus meinen Worten den Schluß ziehen, daß Italien das Vorbild der atlantischen Verbündeten ist? Nein, Italien ist kein Vorbild und hat auch nicht den Ehrgeiz, Vorbild zu sein. Ich möchte nur sagen, daß mein Land die Probleme der Atlantischen Allianz und auch die Beschränkungen dieser Allianz und ihre Schwierigkeiten klar erblickt. Das istnicht nur eine Eigenschaft der italienischen Denkweise, es liegt auch an den realen italienischen Interessen. Wir sehen in der Atlantischen Allianz eine Formation, die unseren Interessen entspricht und unsere Interessen vernünftig garantiert. Eine Gemeinschaft wäre für uns noch besser: aber was schon besteht, ist ja gut. Wir haben keine großen Interessenkonflikte mit den anderen Mitgliedern der Atlantischen Allianz: das macht es uns leichter, uns in den Rahmen der Allianz einzugliedern. Wir sind überzeugt, daß unsere Probleme im Rahmen der Atlantischen Allianz besser gelöst werden können als von uns allein, und daß die atlantische Solidarität, das heißt die Notwendigkeit, dieser Solidarität irgendwelche Konzessionen zu machen, keine bedeutenden Opfer im Sinne der italienischen Interessen erfordert. Ich möchte einfach sagen: wir haben es in diesem Sinne leichter als andere Mitglieder der Atlantischen Allianz, und das gibt auch Italien die Möglichkeit, eine gewisse Vermittlerrolle zu spielen. Man könnte sagen, daß Italien zu viel an seine Möglichkeit als Vermittler denkt: man kann sagen, daß die italienische Presse zum Beispiel und auch die italienischen politischen Denker zu viel von dieser Vermittlerrolle Italiens sprechen. Wie gesagt, Italien könnte eine Vermittlerrolle spielen, weil es, da es außerhalb der wichtigsten Konflikte der Atlantischen Allianz steht, klarer sehen kann wo eine vernünftige Lösung möglich wäre. Es fällt uns leichter vernünftig zu sein, wenn unsere lebenswichtigen Interessen nicht im Spiel sind. Aber um wirklich die Rolle eines Vermittlers spielen zu können, muß man auch ein eigenes politisches Gewicht haben, und das hat Italien nicht immer zur Genüge. Italien kann eine bescheidene Vermittlerrolle spielen, und nicht mehr. Man könnte sagen, daß Italien eine gewisse Tendenz hat, von den atlantischen Mitgliedern mehr zu fordern, als Italien zu geben hat; eine gewisse Tendenz zu denken, daß die Probleme Italiens die Probleme aller sind; daß dies schon Tatsache ist, und daß darum Italien unbedingt auf das Verständnis seiner Verbündeten rechnen kann. Das bringt gewisse Ärgernisse mit sich, wenn dieses Verständnis nicht völlig vorhanden ist. Man kann der italienischen Politik auch vorwerfen, daß sie wahrscheinlich zu viel von Prestige spricht und an Prestige denkt.

Das ist nicht nur bei Italien der Fall. Es ist selbstverständlich, daß die wichtigsten europäischen Mächte, die ehemaligen Großmächte, sich nicht leicht mit ihrer heutigen bescheidenen Rolle abfinden. Die italienische Regierung muß, wie gesagt, mit einer mächtigen und gut organisierten kommunistischen Opposition rechnen. Ein Lieblingsargument dieser Opposition ist stets, daß Italien in der Atlantischen Allianz seine politische Selbständigkeit geopfert hat, daß es in der Atlantischen Allianz keine würdige Rolle spielt und daß seine Interessen vernachlässigt werden. Ein schlechtes Argument an sich, denn was die Kommunisten uns tatsächlich vorschlagen, wäre eine völlige Abhängigkeit von Rußland. Aber die Masse ist nicht immer besonders intelligent: und manchmal haben schlechte Argumente viel mehr Erfolg als gute Argumente: und das nicht nur in Italien. Die Notwendigkeit, sich gegen diese schamlose Opposition zu verteidigen, macht die italienische Regierung in Fragen des bloßen Prestiges empfindlicher, manchmal nervöser, als es an sich notwendig oder nützlich wäre. Aber die Innenpolitik hat in Italien ihre Forderungen, wie überall.

Man kann auch Italien vorwerfen — aber das ginge wohl über den Rahmen der rein Atlantischen Allianz hinaus -nicht genug getan zu haben, um seine inneren Probleme, besonders eine bessere soziale Verteidigung der Güter und eine bessere Lösung der Südfrage, zu fördern. Alle diese Kritiken sind nicht grundlos. Alle Regierungen haben ihre Mängel, alle Regierungen machen ihre Fehler — die demokratischen Regierungen wie die nichtdemokratischen Regierungen — und es ist Immer leichter, die Irrtümer der anderen zu sehen und für die Probleme anderer eine vernünftige Lösung zu finden. Ich will hier nicht behaupten, daß die regierenden Leute Italiens weit besser als der Durchschnitt der politischen Leiter anderer Länder sind, aber sie sind auch zweifellos nicht schlechter. Lind was die atlantische Politik im allgemeinen betrifft, glaube ich sagen zu können: Italien ist und wird immer ein überzeugtes Mitglied der Atlantischen Allianz bleiben. Ob die Atlantische Allianz ihre Zwecke wirklich in zufriedenstellender Weise erfüllen wird, das steht im Buch der Geschichte geschrieben, das erst unsere Enkel lesen können werden. Aber wenn die Atlantische Allianz ihre Ziele nicht erreicht, so wird das sicher nicht Italiens Schuld sein, und dies nicht nur deshalb, weil Italien nicht entscheidend in dieser Allianz ist, sondern weil Italien im Rahmen der Atlantischen Allianz immer vernünftig sein wird. Wir haben, wie alle anderen, unsere wirklichen Interessen und unsere imaginären Interessen. Aber die Italienische Regierung wird keine unbesonnenen Forderungen an die Atlantische Allianz stellen und wird sich auch nicht weigern, vernünftige Forderungen der Allianz zu erfüllen.

Die italienische politische Lage im Parlament macht es unmöglich, eine stabile Regierung in Italien zu haben wie in anderen Ländern. Sie haben viele italienische Ministerpräsidenten gesehen, Sie werden wahrscheinlich noch viele sehen. Aber das ändert nichts an der italienischen Außenpolitik und an der italienischen Politik in der Atlantischen Allianz. Die verschiedenen Kombinationen, die von der Mehrheit der Parteien für ein Gleichgewicht im Parlament gefordert werden, berühren nicht die Außenpolitik. Wer auch der italienische Ministerpräsident oder Außenminister sein mag, wird nichts daran ändern. Die Grundlinien der italienischen Außenpolitik — und die Atlantische Allianz ist eine der Grundlinen, ich möchte fast sagen die Grundlinie der italienischen Außenpolitik — sind eigentlich von der Geographie und von der Geschichte vorgezeichnet. Das hat die große Mehrzahl der Italiener verstanden: das haben alle Italiener verstanden, die Nicht-kommunisten sind, und wahrscheinlich auch viele Italiener, die für die Kommunisten ihre Stimme abgeben: Italien kann nicht, wie gesagt, ein entscheidender Faktor in der Atlantischen Allianz sein, aber es ist ein treuer und stabiler Faktor dieser Allianz und wird es immer bleiben.

Fussnoten

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