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Freiheit als pädagogisches Problem | APuZ 5/1959 | bpb.de

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APuZ 5/1959 Freiheit als pädagogisches Problem Überblick über die außenpolitische Lage

Freiheit als pädagogisches Problem

Wilhelm Flitner

Vortrag von Prof. Dr. Wilhelm Flitner, gehalten im Zyklus des Schweizerischen Instituts für Auslandsforschung, Zürich, am 18. November 1958. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Eugen-Rentsch-Verlages (Erlenbach-Zürich), der den Vortrag in dem Sammelband „Erziehung zur Freiheit“ im Mal dieses Jahres publizieren wird.

Freiheit ist ein vieldeutiges Gebrauchswort: aber wir müssen uns mit seiner Hilfe in einer Welt orientieren, in der unsere persönliche Existenz ebenso wie das Leben der Menschheit bedroht ist; ich brauche nicht auszuführen, daß wir kein umfassenderes Kennwort zur Verfügung haben, um die Kampflinie zu bezeichnen, in welcher geistig und politisch heute gerungen wird.

Auch im pädagogischen Bereich ist der Begriff unentbehrlich geworden; auch dort ist er vielschichtig und vieldeutig und doch ein Feld-zeichen in notwendigen Meinungskämpfen, weil er auf die zentralen pädagogischen Fragen unserer Epoche hinweist. Erlauben Sie, daß ich zunächst einige Tatbestände anführe, in deren Felde sich das Problem bewegt, ehe ich auf den Begriff selber eingehe.

In Goethes lateinischen Schülerübungen sind uns kleine Szenen aufbewahrt, wie der Knabe den Vater morgens begrüßte — er übte auf lateinisch, was die Sitte auf deutsch zu sagen vorschrieb: er grüßte mit höflichen Worten und religiösen Wendungen in zeremoniöser Art. Die Kindererziehung der ältesten Zeit war durch respektvolle Distanz gekennzeichnet; Söhne und Töchter auch der großen Häuser befanden sich in der Rolle der Untergebenen. In der ständisch aufgebauten Gesellschaft bildete auch die Jugend einen Stand; sie unterwarf sich der Zucht und den Normen dieses Standes. Wurde sie erwachsen, so trat sie in andere ständische Formen ein, für die sie in aller Klarheit vorbereitet war. In Gegenwart der Älteren keck zu reden, war verpönt; untereinander jedoch waren die Jungen fröhlich und im Gespräch und Spiel so phantasievoll wie nur je. Die Familie kontrollierte den LImgang, aber es bestand überall ein reiches geselliges Leben.

In der beruflichen Lehre ging es oft hart zu, Lehrjahre, hieß es, sind keine Herrenjahre; und doch setzte sich auch da eine patriarchalische Erziehung fort. Die Achtung vor dem Alter, vor dem Sachverstand, den Vorgesetzten war allgemein — die wenigen Rebellen, die sich der Ordnung nicht fügten oder allzu sehr unter Druck standen, brannten durch; sie gingen als Schiffsjungen über See und wurden entweder Vagabunden oder tüchtige Selfmademen. Wer in der Bahn blieb, dem wählten die Väter den Beruf; ihren Töchtern suchten sie den Ehemann aus und hielten die Heimstatt bereit.

Diese altertümlichen Verhältnisse, an die sich heute noch Lebende gut erinnern, die auch noch vielfach fortbestehen, sind durch eine andere Form der Erziehung abgelöst worden.

Sie bietet uns ein zwiefaches Gesicht. Wir können sie als einen Fortschritt zum Vernünftigen hinstellen, uns des intimeren Kontaktes zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern freuen, auf die bessere Hygiene hinweisen. Es läßt sich aber auch nicht verkennen, daß die Erziehungsverhältnisse schwieriger geworden sind.

Die nächstliegenden Gründe sind bekannt. Sie mögen in unseren Wohnund Arbeitsverhältnissen ausgesucht werden oder in dem Wandel unseres Weltbildes. Das Haus hat sich für die meisten in die gemietete Etagenwohnung verwandelt, Lebensstätte der modernen Kleinfamilie ohne großelterliche Generation; die Arbeitsstätte des Vaters, neuerdings auch die der Mutter, verschwindet aus dem Blickfeld der Kinder. Der Spielraum für die Jugend wird eng, der Feierabend passiv. Die Sicherheit des Lebens liegt nicht mehr im ererbten Besitz, sondern im erworbenen Können; eine geistige Lebensorientierung, ehemals durch die Kirche eindeutig gegeben, muß individuell erworben werden.

Lim aber die innere Notwendigkeit des neuen Erziehungsstils zu erläutern, darf ich nunmehr den Begriff der Freiheit zu Hilfe nehmen und ihn stufenweise in den einzelnen Schichten des Erziehungsproblems aufsuchen. Denn die Verdrängung der alten Erziehungsformen hängt mit dem Aufbruch des europäischen Menschen in die Freiheit zusammen, und die Freiheit wieder ist es, die paradoxerweise unsere Jugend und unsere Erzieher in Drangsal bringt und ihnen eine schwere Last auferlegt — uns vor Aufgaben stellt, denen unsere Kräfte vielleicht noch nicht gewachsen sind.

Der erste, der die neue Situation nach allen Seiten hin und in ihrer Tiefe gesehen hat. ist Pestalozzi gewesen. Ihm begegneten die veränderten Sozialzustände zunächst in der Form verwahrloster Armenkinder, er sah die Sittenzerstörungen, welche durch die frühkapitalistische Heimarbeit und den hohen, aber unregelmäßigen Fabrikverdienst verursacht wurde. Es ist bezeichnend für ihn, daß er den Übergang zur Industrie als eine Notwendigkeit erfaßte, ihre notlindernde Kraft erkannte, aber zugleich die entstehenden Schäden wahrnahm und alle Verantwortlichen beschwor, durch eine erneuerte Erziehung ihnen mit größter Energie entgegenzutreten. Sein kampfreiches Leben im Getriebe seiner scheiternden praktischen Versuche ist ungemein aufhellend für die Situation, in welcher sich die Erziehung auch unserer Zeit befindet. Er hat einen stellvertretenden Kampf geführt in einer Sache, in welche die europäische Erziehung seit zwei Jahrhunderten verwickelt ist, und deren Problem sich immer deutlicher herausbildet.

Es handelt sich um die Erscheinung der Freiheit im Medium gesellschaftlicher Realverhältnisse.

Die Umwandlung unserer sämtlichen Lebensverhältnisse und auch der Erziehungssituation ist in einer Reihe von Bewegungen erfolgt, die sich als Befreiungen verstanden wissen wollen. Im sozialen und politischen Gebiet richten sie sich gegen die feudalen mittelalterlichen Ordnungen, auf geistigem gegen die scholastische Denkweise. Woher die Anstöße zu diesen Bewegungen gekommen sind, ist eine geschichtsphilosophische Frage; der Historiker sieht sie spontan auftreten und allmählich den Menschen verwandeln. Die Marxisten glauben zwar, die Umstellung sei durch eine Art Automatismus erfolgt, der sich im Bereich der Klassenkämpfe, des Bevölkerungsdruckes, der technischen Erfindungen abspielte, und gewiß sind auch Automatismen in der Gesellschaft wirksam, welche neue Situationen schaffen können. Was aber aus solchen Situationen gemacht wird, unterliegt nicht den Automatismen; es wird durch ein freies Handeln erzeugt, das von führenden Persönlichkeiten ausgeht und sich großen Kreisen mitteilt. Diese schöpferischen Gruppen aber leben von einer geistigen Substanz, die in ihrem Lebens-kreis vorhanden ist und in solchen Situationen produktiv wird — daß sie es wird, ist Ereignis oder Gnade; es ist nicht voraussehbar.

Unsere europäische Welt lebt aus den geistigen Impulsen der griechischen Philosophie, der römischen Rechts-und Staatsauffassungen und der christlichen Offenbarung. Der Geist, in dem sich diese drei Momente erhalten, gesteigert und ausgebreitet haben, hatte seine Stätte zunächst in den Bischofssitzen und Klöstern des frühen Mittelalters, dann in den LIniversitäten, dann in den Kreisen der Renaissance-Gesellschaft, in denen die römische und später auch die griechische Denkund Bilder-welt in ihrer Tiefe wieder verstanden und erneut wirksam gemacht worden war. Dieser Geist hat nach und nach alle europäischen Völker in Bewegung gebracht Lange Zeit hindurch, von der Völkerwanderung bis zum Ausgang der staufischen Kaiserzeit, lebte diese abendländische Gesellschaft noch in einer archaischen Seelenverfassung Altertümliche Stämme hatten auf den Trümmern des Römerreiches und seiner germanisch-slawischen Randzonen einen eng verbundenen Kulturkreis aufgebaut, der sich nach dem Muster des byzantinischen Reiches zu organisieren suchte aber in stammesmäßigen und feudalen Verhältnissen verharrte Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts jedoch bilden sich allmählich Territorialstaaten die von einer juristisch gebildeten Beamtenschaft verwaltet werden. Zugleich regen sich geistige Kräfte, die aus der archaischen Ordnung herausstreben; es sind das dieselben geistigen Impulse, die sich in der antiken Welt zusammengefunden, aber in der byzantnisch-mittelalterlichen Ordnung nicht frei hatten regen können Jetzt vollzog sich ein Durchbruch zu den Ursprüngen jener geistigen Kräfte;

ein tieferes Verstehen begann auf dem religiösen Gebiet; es nimmt nacheinander die Formen der franziskanischen Bewegung, dann die der Reformation und der gegenreformatorischen Erneuerung an. Auf dem politischen Gebiet machten sich Wirkungen sowohl dieser erneuerten Frömmigkeit wie der antiken Philosophie geltend; man gewann den Gedanken der res publica wieder, die Idee eines nach Prinzipien des Naturrechts geordneten Gemeinwesens. Zugleich erneuerte sich das wissenschaftliche Denken, sowohl das philosophische wie das naturwissenschaftliche, das seine schöpferische Glanzzeit im 17. Jahrhundert hatte;

am Ende des 18. und im 19. schlossen sich die geschichtlichen Wissenschaften an, die im Verein mit den Naturwissenschaften das neue aufgeklärte Weltbild geschaffen haben. Ende des 18. Jahrhunderts entstand dann auf gewerblichem Gebiet, nach Auflösung des mittel ‘t rl ichen Zunftwesens und der agrarischen Vorherrschaft, die Wirtscokt der reien Einzelunternehmer einerseits, der Wettbewerb staatlich gelenkter Volkswirtschaften auf einem globalen Markt, den der Weltverkehr geöffnet hatte, anderseits.

Neue erzieherische Aufgaben

Jeder dieser Impulse verstand sich selber als Befreiungstat. Es entstanden die Freiheitsparolen, welche für die europäische Welt kennzeichnend sind. Auf das Kennwort von der Freiheit der Kirche, das Papst Gregor VII. verwendete, folgte der reformatorische Kampf um die Glaubens-und Gewissensfreiheit; es folgte die Forderung der liber-tas philosophandi, der Geistesfreiheit erst für die Forschung, dann auch für die Lehre, zuletzt für die Presse und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Weiter ergab sich, in England vom Kleinadel, in Frankreich vom Bürgertum ausgehend, der Kampf um den freien Rechtsstaat und equal chances for everybody im beruflichen Leben. Englische und französische Revolution erstrebten die politische Staatsbürgerfreiheit, Garantie der Menschenrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Sicherheit der persönlichen Sphäre, Sicherstellung politischer Kritik. Alle diese Motive haben eine lange europäische Geschichte hinter sich, und wir leben nun in den Folgen von Einrichtungen, die unter ihrem Einfluß geschaffen sind.

Damit wird eine erste Schicht in dem Problemkreis des Freiheitsgedankens sichtbar, und wir dürfen diese Tatbestände nun von der pädagogischen Seite aus sehen. Denn aus jeder dieser großen Emanzipationsbewegungen ging eine erzieherische Aufgabe hervor, die allmählich n das öffentliche Bewußtsein gelangt ist

Beginnen wir mit der g e i s t i g e n Emanzipation in der europäischen Menschheit. Das letzte große Ereignis auf diesem Gebiet bezeichnen unsere Historiker als die A u f k 1 ä r u n g s bewegung. LInter den Gelehrten, in der höfischen Gesellschaft, im städtischen Patriziat war seit der Renaissance ein selbständiges Denken entstanden, das den scholastischen Konformismus überwunden hatte. Am Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich in Europa die Überzeugung, daß dieses Denken auch allen anderen Volksschichten zugemutet und daß es propagiert werden müßte. „Was ist Aufklärung?“ hatte Kant gefragt, und geantwortet: „Das Heraustreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen.“ Die Unmündigkeit Wurde als Schuld erkannt, woraus sich die Pflicht ergab, für Aufklärung der Bevölkerung zu sorgen. Damals war man sich noch bewußt, daß dieser Impuls auf die Reformation zurückging, welche die Mündigkeit des Laien in Glaubensdingen verkündet hatte. Aus beiden Thesen, der reformatorischen wie der aufkläreri-schen, ergab sich die Folgerung einer öffentlichen Lehre und Erziehung, die jedermann erreichen müsse; sie sollte ihm diese Freiheiten des Glaubens und Denkens bringen, ihm aber auch in der Situation helfen, die dadurch geschaffen wird. Denn es ist ja keine Kleinigkeit, den Herm Omnis, wie Luther sagt, in Glaubensdingen für mündig zu erklären. Die Reformatoren vertrauten auf die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, der diese mündigen einzelnen aufrichten und zur einmütigen Gemeinde verbinden werde. Die Aufklärer verließen sich auf die Güte der menschlichen Natur, die so eingerichtet sei, wie sie wähnten, daß die Menschen, wenn man ihnen nur die Freiheit gibt, sie auch sinnvoll verwenden und sich gemeinsinnig in die Wahrheit stellen würden. Aber es stellte sich bald heraus, daß man dem Heiligen Geist oder der menschlichen Natur in der besten aller denkbaren Welten, wie Leibniz gesagt hatte, doch zu Hilfe kommen müsse. Luther machte seine Erfahrungen mit den Schwarmgeistern und die Aufklärer die ihrigen mit den Septembermorden der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen. Glaubens-und Denkfreiheit rufen also nach erzieherischer Hilfe, wenn die Menschheit nicht in Anarchie und in eine neue, größere Unfreiheit und unter die Herrschaft von Tyrannen getragen soll. Schon Wiclif hatte die Forderung erhoben, in der erneuerten Kirche müsse jedermann ein theologus werden. Die Aufklärer forderten dann, jeder solle ein Selbstdenker werden. Nur wenn der mündig gesprochene Mensch sich geistig an der Wahrheit orientiert, konnten die Freiheitsbewegungen ein gutes Gewissen behalten. So entstand der Impuls der reformatorischen und danach der aufgeklärten Volkserziehung für jedermann.

Auch das zweite Motiv der modernen Freiheitsbewegung, das gewerbliche, erzeugte die Forderung einer neuen, planvollen Erziehung. Es galt, die Industriosität, den Gewerbefleiß der Bevölkerung zu steigern. Die Begründung war zunächst ebenfalls religiös. Schon die alten Benediktiner hatten das orare mit dem laborare in enger Verbindung gesehen. Wenn in der Reformation jeder für das Heil seiner Seele selbst verantwortlich gemacht wird, so wird ihm auch auferlegt, für sein Haus und sich selbst wirtschaftlich zu sorgen; das wirtschaftliche Gedeihen der Haushaltungen und ihrer Unternehmungen konnte sogar, besonders unter calvinistischem Einfluß, als eine Bewährung im Gnaden-stande aufgefaßt werden. Wie dieses Motiv für die Entstehung des modernen Kapitalismus und der Industriosität gewirkt hat, wie es noch in säkularer Form in Europa weiterwirkt, hat Max Weber in seinen reli-

gions-soziologischen Forschungen nachweisen können; es ist durch ihn bekannt geworden und trotz mancher Kritik auch anerkannt geblieben

Es wird aus diesem Zusammenhang auch deutlich, daß ein Erziehungsprogramm entstehen konnte, welches auf gesteigerte Industriosität eingerichtet war. Hier ist die Forderung, jeder solle ein homo oeconomicus werden, er solle seine Kräfte möglichst mobilisieren, eine ausgebreitete Kenntnis der materiellen und technischen Welt erwerben, sich in einer Fachrichtung tüchtig machen und im Wettbewerb der Fachkräfte und der Volkswirtschaften seinen Mann stehen. Auch dies ist nur durch freie gesteigerte Erziehung möglich, die nun ein Interesse der Öffentlichkeit wird.

Vollends mündet die d r i 11 e Befreiungsrichtung, die politische, in ein öffentliches Erziehungprogramm aus. Wenn das Recht nicht mehr durch die alten sakralen Ordnungen gesichert ist, sondern das souveräne Volk beliebig die Gesetze verändern kann und nur an eine ethische Grenze dabei gebunden ist, so hängt das Gedeihen der Gesamtheit davon ab, daß der Volkssouverän vernünftig ist und sich an Wahrheit und Gerechtigkeit bindet. Wenn aber Mehrheitsbeschlüsse den Willen des Souveräns enthalten, so muß jeder einzelne zum mündigen und vernünftigen Glied des souveränen Volkes erzogen werden. Hatte man bisher in der politischen Welt den Staatsmann für sein Regierungsamt erzogen, indem man ihm Kavaliersgesinnungen zumutete, so mußte jetzt jeder Bürger zum homo politicus, zum gebildeten Staatsmann, erzogen werden. Mindestens muß der einzelne verstehen, auf welchen Grundsätzen der Staat beruht; er muß so viel Selbstzucht entwickeln, daß er das Gesamtinteresse auch da wahrnehmen kann, wo es seinem Privatinteresse widerstreitet —, er muß die Fähigkeiten gewinnen, andere freie Bürger in ihren Meinungen anzuhören, den Mehrheitswillen respektieren, aber auch sinnvoll kritisieren, das Zusammenleben seines Staates mit anderen Staaten mit bedenken und ermöglichen. Es entsteht so die allgemein-europäische Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung.

Dieses große Programm öffentlicher Erziehung mag verstiegen und utopistisch erscheinen, wenn man es in solchen abstrakten Idealforderungen ausspricht. Die es zuerst entwickelt haben, waren eschatologisch gestimmte Naturen wie Comenius und August Hermann Franke, oder idealisch-romantische Geister wie Rousseau, und noch unter den Reform-Pädagogen des 20. Jahrhunderts tauchen Utopisten und weltfremde Originale auf, die aber die besten Gedanken erdacht und Modelle neuer Erziehung in die Welt gesetzt haben. Sie sprechen im Ton eines gläubigen, oft kindlichen Optimismus, und doch liegt hinter ihren abstrakten Forderungen ein furchtbarer Ernst. Die folgende Betrachtung mag ihn uns sehen machen.

Die freie Welt ist menschlicher, aber beschwerlicher

Daß der Mensch in Sitte und Brauch, daß er im Kultus und Ritus und in seinen ethischen Normen einem gemeinsamen Muster folgt, ist in der älteren Geschichte die Norm. Konformismus ist das, worauf sich Völker und Kulturen einspielen. Er gibt den einzelnen Menschen das Pflanzen-hafte und Sichere in Lebensführung und Gebärde, die archaische Haltung und Gelassenheit, die unsere Romantiker an alten Völkern und Überbleibseln alter Verhältnisse verehrt haben. Der Mensch in der europäischen Neuzeit jedoch lebt unter der Wirkung jener drei Befreiungsereignisse: geistig in der Welt der Glaubensspaltung, der Aufklärung und der kritischen Wissenschaft, ökonomisch unter den Gesetzen der offenen Berufswahl, des wettbewerblichen Weltverkehrs und der Gewerbefreiheit, politisch im Staat der Volkssouveränität, die sich nur durch die Rücksicht auf die Rechtssicherheit und die Menschenrechte begrenzt weiß Die freie Welt ist menschlicher, aber für den einzelnen sittlich und geistig beschwerlicher, weil die Übereinstimmung, der gesellschaftliche Consensus, gefährdet ist Seine Freiheiten zu ertragen, dazu muß der Mensch erst gebildet werden, oder er verliert sie wieder.

Schwierigkeiten haben wir bereits durch die Folgen der Geistes-und Glaubensfreiheit. Kleine Distrikte sind noch konfessionell einheitlich wie das Mittelalter, im Großen aber leben wir Europäer in einer kritischen Luft, welche in die naive Geborgenheit oft scharf hineinbläst. Aber die Kirchenspaltung wird in absehbarer Zeit fortbestehen, auch wenn das brüderliche Miteinander der Christen verschiedener Konfessionen besser geworden ist als in den vergangenen Jahrhunderten. Lind neben die beiden christlichen Konfessionen ist eine dritte, dissidentische getreten: die der religiös Indifferenten, die Formen nichtchristlicher Gläubigkeit, und schließlich der antireligiöse Atheismus. Die Glaubens-und Geistesfreiheit macht, daß dieser Pluralismus sich auf unsere öffentliche Gesittung auswirkt. In die magisch-mythische Lebensorientierung des Mittelalters, in die mancher ausweichen möchte, können wir nicht zurück; das kritische Denken der modernen Wissenschaft verwehrt es, und auf das Dasein dieser freien Wissenschaft sind Wirtschaft und Staat heute angewiesen. Was bedeutet das erzieherisch? Daß der junge Mensch unserer Epoche sich die Lebensorientierung selbst erkämpfen muß. Er kann dem entgehen, indem er sich seinem Milieu bloß anpaßt, aber dann bleibt er allen Zufällen und Widersprüchen dieses Milieus ausgeliefert und verliert seine Personalität. Also muß er sich zu einer Position durchringen, die er als mündiger Mensch zu vertreten weiß und in seiner Familie, im Beruf, in der Gesellschaft durchhält. Die Hilfe der Eltern ist ihm dabei die entscheidende Wohltat, reicht aber in den meisten Fällen nicht, und so wird die Hilfe der Schule und anderer öffentlicher Einrichtungen ganz unentbehrlich, um den Geist heil zu halten.

Schon diese Seite der Aufgabe läßt erkennen, daß die großen europäischen Befreiungen höhere Möglichkeiten des Menschen eröffnen, aber zugleich neue Gefahren erzeugen und der Erziehungsarbeit eine Last auflegen. In der alten Ordnung wurde der einzelne von einer Geisteswelt umfangen, die ihn leitete, auch wenn er sie nur mangelhaft verstand; es war ihm eine Auffassung gleichsam verordnet, welche Normen anzuerkennen sind, wie man sich zum Mitmenschen stellen müsse, wie zu den Tatsachen der Schuld und des Todes. In der heutigen Welt geistiger Freiheit sind zwar diese alten Grundauffassungen noch immer wirksam und für viele bindend; aber entgegengesetzte Auffassungen beanspruchen die gleiche Autorität, so daß viele sich nicht mehr zurechtfinden, den Boden unter den Füßen wanken spüren und bei Psychiatern und Psychotherapeuten Hilfe suchen müssen. Es entsteht ein Bedürfnis nach Geborgenheit, welches energische Führer und Verführer sich zunutze machen können, um Geistesdiktaturen zu errichten, wie sie im hochzivilisierten Europa zu unserem Schrecken aufgetreten sind. Der wirklichen Geisteslage unserer Zeit sind also große Kreise, wie sich gezeigt hat, praktisch nicht gewachsen. Man könnte nun meinen, die Erziehungsaufgabe löse sich einfach dadurch, daß man den Protestanten und den Katholiken; jeden in seiner Art und in seinem Lebenskreis, zu einem wahren, guten Christen erziehe; und daß man den Dissidenten zum Anhänger eines philosophischen Glaubens oder einer humanen Ethik mache. Freilich ist das der richtige Weg, aber er ist nur zureichend, wenn ein wichtiges Moment hinzukommt: Wir müs-

sen lernen, auch mit den Andersgläubigen zu leben, wir müssen einen gemeinsamen menschlichen Boden gewinnen, von dem aus sich unsere Sitten, unsere Wirtschaft und unsere Politik verbindlich hüten und gestalten lassen. Es bleibt also nichts übrig als der Versuch, jeden einzelnen so zu bilden, daß er in dieser pluralistischen Geisteswelt noch immer einen Gemeingeist anerkennt und ihn mit in die Richte bringen hilft. Die Forderung klingt wirklich utopisch; aber jede Mutter, die ihr Kind zum Spielen auf die Straße schickt, jeder Geschäftsmann und Politiker, jeder Geistliche und Lehrer macht in der täglichen Kleinarbeit die Erfahrung, daß jene Aufgabe tatsächlich besteht und konkret von Fall zu Fall eine Lösung verlangt.

Ist es mit dem zweiten Moment anders? Daß jeder alle seine Kräfte mobilisieren und in einer bestimmten Richtung fachlich für eine Gruppe artverwandter Berufe ausgebildet werden muß, ist allgemein einleuchtend. Sein soziales Schicksal hängt von seiner Leistungsfähigkeit und seinem beruflichen Können ab. Aber die Erziehungsaufgabe beruhigt sich dabei nicht. Auch in dem Programm einer gesteigerten Industriosi-tät lauert eine neue Art von Unfreiheit, die es durch Erziehung zu bekämpfen gilt. Das technische und berufliche Streben, hinter dem die fatale Gefahr der Arbeitslosigkeit steht, führt leicht zu einer Haltung, welche uns zur Jagd nach Sicherheit, Geld und Erfolg verführt und uns dadurch in eine Abhängigkeit von unserer Apparatur und unserem Betrieb bringt, die das Menschliche zerstört. Ich erinnere wieder an Altbekanntes, das uns durch die Unheilsliteratur unserer Tage eindrucksvoll und gespenstisch vor’s Auge gerückt wird. Die Erziehung zur Freiheit auf dem wirtschaftlichen Gebiet steht also in der Paradoxie, daß sie einerseits Leistungssteigerung und anderseits Schutz vor den menschlichen Gefahren unserer wettbewerblichen Tüchtigkeiten anstreben soll:

Schutz vor der Gefahr, bloßes Objekt der Werbetechnik zu werden, dem Technizismus zu verfallen, die skrupellose Zerstörung des Naturhaften unserer Landschaft mitzumachen, und was alles sonst von den prophetischen Mahnern eines ungehemmten Ökonomismus, von den Huxley, Orwell, Ortega y Gasset vorgebracht worden ist. Auch diese Aufgabe ist real, und in täglicher Kleinarbeit begegnen wir ihr.

Zwischen freier Verfassung und totalitärem Volksstaat

Erst recht gilt das von der dritten, dem Auftrag an die Erziehung, jeden zum mündigen und vernünftigen Glied des Volkssouveräns zu erziehen. Die demokratische Staatsform hat die ständische abgelöst; es gibt keine Rückkehr in die patriarchalisch-feudale Ordnung, sondern nur die Wahl zwischen der freien Verfassung und dem Volksstaat nach totalitärem Zuschnitt. Es bleibt nichts übrig, als jeden Bürger anzusprechen, ihn zum sinnvollen Gebrauch der politischen Freiheit und zur opferwilligen Verteidigung dieser Freiheit zu bilden, mögen die Verhältnisse dafür so günstig liegen wie in der Schweiz oder so schwierig sein wie im übrigen Mitteleuropa. Mit großer Eindringlichkeit hat Karl Jaspers in seinem Buch über die Atombombe und die Zukunft des Menschen diesen Satz noch einmal erhärtet. Ich darf ihn zitieren: „Der vernünftige Staatsmann weiß, daß der Kampf um Freiheit oder totale Herrschaft vordergründig eine militärische und politische Seite hat, aber er weiß auch, daß im Grunde geistig-sittlich gekämpft und auf die Dauer entschieden wird. Mit diesem Wissen sieht er die Erziehung. In ihr ist organisatorisch das Größte zu leisten. An ihr liegt nicht nur der geistige Rang der kommenden Generation, sondern heute die Entscheidung zwischen Freiheit und totaler Herrschaft und am Ende das Dasein der Menschheit überhaupt" (S. 338). An anderer Stelle heißt es: „Demokratie ist Erziehung" (S. 443), denn „der Volkssouverän ist weder weise, noch gut, noch göttlidt. Er muß erst vernünftig werden" (S. 440).

Demokratien gedeihen nicht durch den Automatismus ihrer Einrichtungen — „die abstrakt denkenden Politiker des Völkerbundes , die das geglaubt haben, irrten da sehr (S. 440). Es bedarf einer langen Erziehung, um Demokratien funktionabel zu machen. Freilich kann die planvolle und institutionelle öffentliche Erziehung — in erster Linie die Schule — nur einen bescheidenen Teil der Aufgabe übernehmen. Das Fundament muß die Geschichte selbst gelegt haben; sie ermöglicht durch bestimmende Erlebnisse und Taten einem Volk jene Gesinnung, welche man im 18. Jahrhundert als „Patriotismus“ bezeichnete, den wir heute vielleicht besser den bewußten Gemeinsinn nennen. Dieses Grundlegende und durch die Geschichte zu Stiftende muß aber bewahrt werden, es muß auch in ganz andersartigen Situationen neu durchdacht werden und fruchtbar bleiben. Auch dies ist in erster Linie eine Frage des öffentlichen Geistes und der Elternhäuser. Aber wenn diese Gesinnung gestiftet ist, muß sie im Bewußtsein erhalten, verstanden und geübt werden; hier muß die öffentliche Erziehung eingreifen, hat die Schule Entscheidendes zu leisten.

Ich fasse zusammen: Die moderne europäische Welt der freien Völker beruht auf einer Reihe schwer erkämpfter Libertäten, die sämtlich in Gefahr sind, mißbraucht zu werden und unversehens in Unfreiheit umschlagen können. In einer solchen Welt ist eine intensive öffentliche Erziehung unentbehrlich, die sich bewußt ist, daß jeder einzelne ein verantwortlicher Träger jener Freiheit ist, daß jeder Kräfte und Gesinnungen entwickeln sollte, welcher das Gemeinwesen bedarf, die aber auch er, der einzelne, braucht, um in einem solchen Gemeinwesen bestehen zu können. Die Aufgabe wird dadurch schwierig, daß in den neuen Verhältnissen die Erziehungskräfte der Familie und des wirtschaftlichen Betriebes zurückgegangen und noch nicht hinreichend regeneriert worden sind, so daß die zusätzliche Aufgabe für die Schulen entsteht, diesen Ausfall zu kompensieren.

Mündigkeit als Ziel, freie Methoden als Weg

Die pädagogische Reformbewegung der beiden letzten Jahrhunderte hat nicht nur diese Zielsetzung herausgearbeitet und eine Organisation des Bildungswesens geschaffen, die ihr entsprechen soll, sondern sich auch um die Aufgabe bemüht, eine freiheitlid'ie Methode der Erziehung zu finden. Der Angriff auf die alte Erziehung war von Anfang an verbunden mit einer Kritik der überlieferten Erziehungsmittel. Das Programm hat Rousseau geschaffen, mit einem genialen Blick für den Zusammenhang zwischen der Mündigkeit als Ziel und den freien Methoden als Weg zu diesem Ziel. Aber von Anfang an haben seine Nachfolger an dem gleichen Fehler gelitten, der auch in Rousseaus politischer Theorie von der volonte generale auftritt und sich im pädagogischen Gebiet wiederholt. Politisch geht ja auf Rousseau, den Mitbegründer demokratischen Denkens, die gefahrvolle Auffassung zurück, daß der Volkswille der Mehrheit von Natur das Rechte treffen müßte und nicht irren könne; im Pädagogischen tritt die Vorstellung auf, daß die freiheitliche Erziehung „natürlich“ sein müsse. Aber epochemachend ist die Entdeckung Rousseaus geworden, daß freiheitliche Erziehungsmethoden sich ergeben, wenn die Auffassung vom Kinde sich ändert und dieses nicht als ein mit Mängeln versehener kleiner Erwachsener verstanden wird, sondern als ein voller Mensch, der mit Wachstumskräften, natürlichen Interessen und Lernvermögen ausgestattet ist. In der Nachfolge Rousseaus hat Fröbel, hat die moderne Kinderforschung die pädagogische Bedeutung des kindlichen Spiels erkannt, den spontanen Schaffenswillen und die schöpferischen Kräfte; und seither sind die pädagogischen Reformer damit beschäftigt, Wege zu erproben, wie das spontane Schaffen-und Lernenwollen des Kindes mit den Anforderungen, welche die Gesellschaft stellt, zu verknüpfen sei. An die Stelle des alten Lehrsystems gelehrter Schulen traten nun die Methoden des selbständigen Lernens und der Aktivierung des Kindes im Lernprozeß; anstelle der alten Formen der Zucht wurde die Kunst entwickelt, die Jugend zur Selbstdisziplinierung zu ermutigen. Die Freiheit, welche am Endpunkt des Erziehungsprozesses stehen soll, durchzieht also schon das ganze Verfahren.

Aber auch an dieser Stelle erscheint eine innere Problematik des Freiheitsgedankens in der Methode. Sie wird deutlich aus extremen Auffassungen, wie sich besonders bei Schulreformen der 1920er Jahre und in Nordamerika unter dem Einfluß John Dewey’s und der psychoanalytischen Freud’schen Schule gebildet haben. Hier spielt der Ros-

seau’sche Gedanke eine Rolle, die Natur habe den Menschen so ausgerüstet, daß er sich von selbst in die Gesellschaft einordne und für sie ausbilde, wenn er daran nicht von den Autoritäten und den Erwachsenen aus gestört werde. Populäre Vereinfachungen tiefenpsychologischer Befunde haben zu der Meinung geführt, jeder Druck der erwachsenen Generation erzeuge seelische Komlexe, Angst, Vaterhaß und Entmutigung. Folge man den natürlichen Interessen der Jugend und dem Grundsatz des learning by doing, so werde sich der soziale Konformismus und das Lernen des Notwendigen von selbst einspielen. Man übersah, daß auf diesem Wege, worauf eigentlich Rousseau schon aufmerksam gemacht hatte, kindliche Tyrannen der Erwachsenen entstehen mußten, daß die plastischen Jugendjahre des Lernens ungenutzt bleiben und grundlegende Erfahrungen im Sittlichen und in der Geistesbildung versäumt werden. Inzwischen ist die schon alte Kritik an dieser extremen Freiheits-Pädagogik wieder lebendig geworden, seitdem eine entgegengesetzte Erziehungsform bedeutende technische und politische Erfolge hervorgebracht zu haben scheint: die Gesinnungszucht und der Lernzwang im sowjetrussischen System. Die Situation ist nun die, daß das Problem der freiheitlichen Methode erneut durchdacht und in Modellen erprobt werden muß. Es ist deutlich geworden, daß freiheitliche Erziehung nicht so verstanden werden darf, als sollte auf Autorität verzichtet, Normsetzung aufhören, die Stellung von Aufgaben, die vorsätzliche Weckung von Interessen und der Appell an die Jugend vermieden werden. Die Reform-Pädagogen müssen also bei der tiefen und richtigen Einsicht bleiben, daß Druck und Zwang zu meiden sind, daß Spiel mit seiner belehrenden Kraft sich entfalten muß, spontane Interessen und Liebhabereien der Jugend zu unterstützen sind, daß die Selbstverwaltung von Schülern, die Selbständigkeit im Lernen eine hohe Bedeutung haben; sie können aber nicht darauf verzichten, Autorität geltend zu machen, Normen zu setzen, Aufgaben zu stellen, der Jugend Interessen zuzumuten und sie in die Erfahrung und das Verstehen planvoll einzuführen.

An dieser Stelle herrscht in der freien Welt noch Unsicherheit, was darin zum Ausdruck kommt, daß die reform-pädaogischen Bestrebungen fast überall ins Stocken gekommen sind. Soll dieses Problem gelöst werden, so kann es nur geschehen, wenn eine tiefere Auffassung von der inneren Freiheit des Menschen gewonnen wird und wenn dieses Denken unsere gewöhnlichen Auffassungen von den europäischen Libertäten durchseelt.

An dieser Stelle erscheint das Freiheitsproblem der Erziehung abermals in einer anderen Ebene. Wo die freiheitliche Methode sinnvoll ist und wo ihre extreme Selbstauslösung beginnt, läßt sich nur ententscheiden, wenn man den Begriff der Freiheit als philosophisches Problem betrachtet, oder bescheidener ausgedrückt: Wenn man sich den Begriff der inneren Freiheit verdeutlicht.

Das enorme Freiheitsstreben, das alle jungen Menschen eigen ist, und besonders der heutigen Generation, hat gewiß einen vitalen Sinn; geistig wird es erst ermöglicht durch die Verhältnisse des freien Europa; mit innerer Freiheit hat es nichts zu tun. Aber vielleicht ist es ein Weg dahin? Die jüngere Generation hat einen unmittelbaren Kontakt zu jener führenden Gruppe von Künstlern, Philosophen und Schriftstellern, die einen bestimmten Begriff von innerer Freiheit vertreten, der die gesamte Tradition, die christliche wie die platoische, hinter sich 1ößt. Diese Gruppe glaubt, sich um der Ehrlichkeit willen jede Hoffnung auf eine jenseitige Wirklichkeit ebenso verweigern zu sollen wie den Rückgriff auf das Ursprüngliche unserer abendländischen Tradition. Darin stehen sie den Naturalisten nahe; aber sie unterscheiden sich von ihnen, wenn sie den Menschen auffassen als das nichtfestgelegte, das grundsätzlich Undefinierte Wesen, das gleichsam zur Freiheit verurteilt ist, das nicht seiner Natur gemäß wachsen kann, sondern sich erst zu dem machen muß, was es dann ist. Von dieser Grundlage aus würde ei': Erziehung zur Freiheit kaum in etwas anderem bestehen können als im Abbau der etwa noch wirksamen geistigen Traditionen, und dies, um den Einzelnen freizumachen zur Wahl irgendeines Lebensweges, auf dem er meint, zu sich selbst zu kommen.

Dagegen steht die Auffassung von dem Menschen als dem Wesen, das von früh an aus naturhaften Bindungen heraustritt, sich von seiner Sippe, von der Welt, schließlich von sich selbst distanziert, um auf eine neue Weise Kontakt zu gewinnen, ebenfalls mit der Welt, den Mitmenschen und sich selbst als einer freien Person. In dieser Auffassung ist der Mensch erst wirklich durch die Kommunikation. Nicht der Absprung in die Freiheit des sich selber Entscheidens für irgendeinen Weg ist das Wichtige, sondern die Freiheit, eine Antwort zu sein auf die Anrede, die von der Welt herkommt, von dem anderen Menschen und von seiner Wirklichkeit, die alles Endliche übersteigt und begreift.

Von dieser Auffassung allerdings aus gibt es eine Erziehung zur inneren Freiheit, die darin besteht, sich selbst zu finden als einen, der Anrede versteht und antworten kann. Dann ist auch das Kind schon ein voller Mensch. Und die erste Begegnung mit der Mutter kann sich schon in der Sphäre innerer Freiheit vollziehen. Die Erziehung ist dann das immer fülliger werdende Leben zwischen Anrede und Antwort. In dem Kreis des kindlichen Umgangs, Wirkens und Schauens wird die Sprache verständlich, in der die Erwachsenen sich der Kommunikation mit der Seinsfülle erschlossen haben, und das Kind erweist sich als voller Mensch, und zwar einer, der nicht nur erzogen werden muß, sondern es in der Tiefe auch will.

Wenn einem Kinde der Vater genommen wird, wenn der Vater keine Autorität ist, auf seine Sorge und seinen Willen kein Verlaß, so gerät das Kind in Not; man muß ihm zu Hilfe kommen, weil ein Leben, r-hältnis zerstört ist, das schwer zu ersetzen, das wesenhaft ist. Das gleiche gilt für das ganz andersartige Verhältnis zur Mutter, zu Geschwistern, Großeltern, Nachbarn, Freunden, Spiel-und Altersgefährten. Das Kind bedarf einer heilen Sozialwelt und beständiger Hilfe. Diese muß ihm sorgend und lehrend begegnen. Das Kind bedarf daher der inneren Sicherheit, die ihm von den Erwachsenen, seinen Erziehern, zukommt; es will hören, was sie für wahr halten, mitleisten, was sie leisten, an ihrer Verantwortung mittragen und Aufgaben von ihnen gestellt erhalten. Es muß geliebt werden, um selber lieben zu können, angesprochen werden, um Sprache zu lernen, unterwiesen werden, um auf den kulturellen Stand zu kommen, den die vorangehende Generation erreicht hat, die selbst auf den Schultern früherer Geschlechter steht. Dies ist das Gesunde und Heile und Normale. Selten ist es in Vollkommenheit da, und in solchen Fällen vollzieht sich die Erziehung wie von selbst. Aber auch wo es vollkommen ist, diese und jene Voraussetzungen fehlen, wo die Hilfe der Erwachsenen stärker eingreifen muß, kann die Erziehung glücken; sie ist genügsam; wenn nur an einigen Punkten das pädagogische Grundverhalten seine innere Freiheit hat — wie man sich auch mit trockenem Brot noch nähren kann, wenn es gut ist. Dieses Grundverhalten ruft in der erziehenden Gemeinschaft ein schaffendes Leben hervor, das sich im Wirken für andere beglückt fühlt und das Fludium der Liebe und des Anständigen bei sich hat. Erziehende und Erzogene sind vom gleichen Fludium umgriffen. Der Geist muß immer schon gestiftet sein, wenn er unsere Kinder neu ansprechen soll.

Selbständig und mündig werden kann der Mensch nur, wenn er in einem solchen Kreis der Anrede und der Antwort steht. Dort stellt sich in freier Weise der Zustand ein, daß die Jugend nicht nur lernen will, was zufällig ihr Interesse erweckt, sondern über dieses hinaus auch dasjenige, was in diesem Lebenkreis als Fundament der Menschlichkeit gestiftet ist und sich als fruchtbar lebendig erhält. Die Tradition gibt ihre Starre auf, und der Zugang wird frei zu den Quellen des Geistes und der Liebe, des Weltvertrauens und der Hoffnung.

Die europäischen äußeren Freiheiten — die politische der Demokratie und des Völkerrechtsgedankes, die industriose Freiheit des beruflichen Schaffens, sowie die Freiheit der Forschung und die Glaubens-und Gewissensfreiheit — sie stehen zu diesem inneren personalen Frei-sein in einem Wesenszusammenhang. Sie sind die öffentliche Ermög-lichung für Zustände und Lebensverhältnisse, in denen die innere Freiheit leben kann. Aber die innere ist keine automatische Folge jener öffentlichen; sie kann auch in der Not sich bewahren, und wenn die öffentliche Freiheit verloren geht, so wird sie im Widerstand weiter existieren, nur nicht in der LInterwerfung. Aber umgekehrt gilt, daß die öffentliche Freiheit nicht behauptet werden kann, wenn nicht Personen in reicher Fülle im Gemeinwesen vorhanden sind und öffentlichen Einfluß gewinnen, die in dieser inneren Freiheit erzogen wurden.

Daher hängt von dem Wie der Erziehung viel ab. Die freiheitliche Methode in der Erziehung hat ihre Ordnung von der inneren Freiheit, um die es eigentlich geht.

Prüft man von diesen Einsichten aus die pädagogische Lage im heutigen Europa, die freilich in den einzelnen Ländern und Landschaften sehr verschieden ist, so ist gemeinsam, daß die Erziehungskräfte in den Familien und in der beruflichen Lehre durch unsere industrielle Arbeitsform und Wohnweise bedroht sind, vor allem aber durch die innere Unsicherheit der heutigen Erwachsenen. Dieser Bedrohung kann nur durch eine größere Intensität der öffentlichen Erziehung begegnet werden, wobei auch auf die Betriebe selbst und auf die Elternhäuser die Einwirkung der Öffentlichkeit zu wünschen ist. Der Sinn dieser Einwirkung aber kann nur sein, die Freiheiten, die wir genießen, zu erhalten und die Jugend, die in ihnen aufwächst, zur Verteidigung dieser Freiheit zu erziehen, indem man sie kräftig macht, auch die Gefahren, die damit verbunden sind, zu bestehen. Wir dürfen der Jugend das Bild der Realität, wie sie ist, nicht verstellen und nicht schön-färben, was an dieser Wirklichkeit sich zeigt. Es muß gewagt werden, die Jugend der Freiheit auszusetzen, die unsere Lebenslust geworden ist. Sie aber in dieser Freiheit zu stärken, kann nur von innen her gelingen. Durch geistige Erweckung und den unermüdlichen Versuch, die Aufgabe zu erfassen, die die freie Welt heute hat, und sie der jungen Generation von innen her verständlich zu machen.

Fussnoten

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