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Polens widerspruchsvoller Entwicklungsweg | APuZ 47/1958 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 47/1958 Polens widerspruchsvoller Entwicklungsweg Jugend zwischen Ost und West

Polens widerspruchsvoller Entwicklungsweg

ALFRED BURMEISTER

Wir setzen in dieser Nummer unsere Artikelserie fort, die sich mit dem Polen von heute und mit der durch die Abtrennung der deutschen Ostgebiete geschaffenen Problematik beschäftigt. — Die an dieser Stelle veröffentlichten Auffassungen zum Problem Polen stellen jeweils die Meinung ihres Verfassers, nicht aber die der herausgebenden Stelle dar.

Erst jetzt, nach zwei Jahren seiner Herrschaft fühlt sich Wladyslaw Gomulka auch innerhalb seiner Partei so stark, daß er einen Parteitag einberufen kann. Das zwölfte Plenum des polnischen Zentralkomitees im Oktober dieses Jahres hat für den 10. März 19 59 den 3. Parteitag der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei einberufen, der seit vielen Monaten immer wieder verschoben wurde. Dieser Parteitag wird endlich ein neues Zentralkomitee wählen — bisher nämlich — das vergißt man manchmal, wenn man die Entwicklung in Polen beobachtet — hat der neue Parteisekretär mit einem Zentralkomitee gearbeitet, das noch in der „Stalinära“ (wenn auch nach dem Tode des Diktators) im März 1954 unter Bierut gewählt worden ist. Es zählt prozentual mehr Stalinisten in seinen Reihen als alle anderen Institutionen, die ja während der Oktoberereignisse von 1956 von ihnen gereinigt worden sind. Nur einige seiner Hauptwidersacher gelang es Gomulka aus dem ZK zu entfernen, vielfach war er gezwungen auf Kompromisse einzugehen, zu lavieren und nachzugeben.

Lavieret! und nachgeben mußte er auch gegenüber dem Kreml. Deshalb scheint mir nichts charakteristischer für die Stellung zu sein, die Polen heute im Ostblock einnimmt, als die Reaktion des polnischen Parteichefs Gomulka auf die unerwartete Nachricht von der Hinrichtung Imre Nagy und seiner Genossen im Sommer dieses Jahres. Obwohl dieses Ereignis durch all das, was die Weltgeschichte uns danach bescherte sowohl in Polen wie in der Welt schon wieder etwas in Vergessenheit geraten ist, wirft es ein bezeichnendes Licht auch auf die Grenzen die der Selbständigkeit der polnischen Kommunisten unter den heutigen Machtverhältnissen gesetzt sind.

Man erinnert sich: kurz vor der Bekanntgabe des Mordes an den ungarischen „Nationalkommunisten“ hatte sich Wladyslaw Gomulka nach langem Zögern schließlich dazu verstanden, Janos Kadar einen offiziellen Besuch abzustatten und damit auf nachdrücklichen Wunsch Moskaus wenigstens äußerlich eine Anerkennung seines Regimes zu dokumentieren. Kaum nach Warschau zurückgekehrt, erfuhr er dann von den inzwischen in Budapest erfolgten Hinrichtungen. Wie durchaus glaubhaft aus Warschau berichtet worden ist, soll Gomulka daraufhin tagelang getobt haben, man hätte ihn hinters Licht geführt. Während alle anderen KP-Führer von Peking bis Ostberlin sich darin überboten, den toten Imre Nagy, General Maleter und die anderen mit Schmutz zu bewerfen und die schweren Geschütze gegen Jugoslawien aufzufahren, das angeblich an der ungarischen Revolution schuld gewesen war, schwieg der polnische Parteichef hartnäckig. Bis er dann um 12 Tage verspätet sein Sprüchlein doch herunterbetete.

Es heißt, es seien sowjetische Truppenbewegungen notwendig gewesen, um ihn dazu zu veranlassen — vorfristig, schon im Juli durchgeführte „Herbstmanöver“ auf polnischem Gebiet. Sowjetische Rohstoff-lieferungenhätten gestoppt und polnische Fabriken zum Stillstand gebracht werden müssen, ehe sich der polnische Parteichef zu seiner Erklärung gegen die ungarische Revolutionäre und Tito entschloß. Es ist schwer festzustellen, ob diese Meldungen zutreffen, daß es aber eines harten Drucks bedurfte, um dem ergrimmten Gomulka seine häßliche Epistel abzuringen, steht außer Zweifel. Ebenso steht außer Zweifel, daß die Sowjets alle Mittel dafür besitzen, eine solche Erklärung zu erzwingen. Man soll in Polen schließlich tief aufgeatmet haben, als Gomulka sie abgegeben hat, denn so meint man: „was er sagt, ist unwichtig, wenn er nur nichts tut, um unsere relative innerpolitische Freiheit zu gefährden.“

Inwieweit aber tut Gomulka nichts, um diese Freiheit zu gefährden? Was von dieser polnischen Freiheit ist noch erhalten geblieben, die im Oktober 19 56 errungen wurde? Welche Hoffnungen, die damals gehegt wurden, sind erfüllt worden?

Es ist bei weitem nicht immer sowjetischer Druck gewesen und auch nicht der Druck der Stalinisten im polnischen ZK, der zu einer „Abkehr vom Oktober“ geführt hat. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, die eine demokratische Entwicklung in Polen verhinderten, sind vom neuen Parteichef selbst ausgegangen, viele politische und wirtschaftliche Konzeptionen scheiterten an Gomulkas eigener Auffassung darüber, was Polen frommt und was nicht.

Andererseits aber hat er es verstanden, einige recht wesentliche Errungenschaften des Oktoberumschwungs von 1956 auch entgegen der rückläufigen Entwicklung in Moskau und den anderen „Volksdemokratien“ fest zu verankern und entscheidende Veränderungen nicht wieder rückgängig zu machen. Trotz eines gewissen Pessimismus, der in Polen in der letzten Zeit um sich greift, sieht das Gros der Bevölkerung daher doch auch das Positive in der Haltung der polnischen Parteiführung unter Gomulka. Jedenfalls in der jetzigen Konstellation der Kräfte scheint seine Herrschaft die für Polen günstigste zu sein. Diese Auffassung hat dazu geführt, daß es Gomulka gelungen ist, seine Macht zu konsolidieren.

Aber betrachten wir die verschiedenen Maßnahmen der polnischen Parteiführung im Einzelnen: die Maßnahmen zur Festigung der Partei und ihrer Machtposition im Volk und die Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, die Politik gegenüber der Kirche und den General-angriff gegen die „revisionistischen“ Intellektuellen, die Schritte zu besseren Industrieverwaltung und die Konzessionen gegenüber der Bürokratie. Es ist eine Politik voller Widersprüche — der Weg, den die polnische Staats-und Parteiführung schreitet, ist alles andere als klar und einfach, aber er unterscheidet sich trotz allem immer noch erheblich von dem anderer kommunistischer Länder, insbesondere von dem der „DDR“ und verdient daher unser lebendiges Interesse.

Gewerkschaften und Arbeiterräte

Beginnen wir mit einer Frage, die in der westlichen Welt wenig Verständnis findet, aber für die Auseinandersetzung in den totalitären kommunistischen Ländern äußerst wichtig ist: mit der Frage der Räte. Es hat sich gezeigt, daß der gefährlichste Feind der Sowjets — die Räte sind. Es scheint ein Widersinn zu sein, denn „Sowjets“ ist das russische Wort für „Räte“ — aber es ist dennoch so. Die größte Gefahr für einen Staat, der sich auf die Diktatur der Partei stützt, ist die Arbeiterbewegung, die ihren Willen durch die spontan in den Fabriken gebildeten Arbeiterräte zum Ausdruck bringt. Erst wenn es gelingt mit ihnen fertig zu werden, kann sich die Partei wieder als eine autoritäre Macht etablieren. In Ungarn waren dazu sowjetische Panzer nötig, dort hat man die Arbeiterräte kurzerhand verboten. In Polen wurden sie schrittweise entmachtet, „eingegliedert“, übernommen und zum Teil auch noch, mehr oder weniger gezwungermaßen, unverändert bestehen gelassen. All das ist für Gomulka keine leichte Aufgabe, denn die Bewegung, die vor zwei Jahren zu seinem Sieg geführt hat, stützte sich auf diesen Teil der Arbeiterschaft, der die Räte gebildet hat. Der Streik in der Lokomotivfabrik „Cegielski" in Posen und die spontane Entstehung von Arbeiterräten in einer Reihe anderer polnischer Staatsbetriebe offenbarten, wie groß die Unzufriedenheit gerade dieses Teils der Bevölkerung mit dem System war, das angeblich im Namen der Arbeiter das Land regierte. Die „Oktoberereignisse“, wie man heute sagt, waren in gewissem Sinn eine Revolution gegen die verbürokratisierte und über-zentralisierte stalinistische Wirtschaftsführung, ein Aufstand gegen die Kaste der Partei-, Staats-und Gewerkschaftsfunktionäre, die das Land in ein Wirtschaftschaos gesteuert hatte. Unmittelbar vor und wochenlang nach dem stürmischen Oktoberplenum 19 56 wurde in großen Massenmeetings in allen Betrieben des Landes eine strenge Abrechnung mit diesen Funktionären durchgeführt. Viele von ihnen mußten abtreten und neuen, fachlich besser geeigneten Personen Platz machen. Der Arbeiterrat, eine Körperschaft, die nicht von oben eingesetzt und gelenkt war, bildete den Motor des Geschehens. Alle anderen, bisher in den Betrieben wirkenden Organisationen: Betriebsrat, Parteikomitee, Jugendverband — waren über Nacht ausgeschaltet worden. Längst als Hilfsfaktoren der staatlichen Ausbeutung erkannt, hatten sie ohnehin nicht das Vertrauen der Belegschaften genossen. Nun, da in echter, freier Wahl und an Ort und Stelle eine neue Körperschaft gewählt wurde, war ihre Rolle ausgespielt. Der Arbeiterrat wurde zur Exekutive des Volkswillens.

Er bestand gar nicht vornehmlich aus Arbeitern. Es ist bezeichnend, da in den meisten Fällen in diese Körperschaft, die nicht nur eine entscheidende politische Bedeutung hatte, sondern als eine wirksame wirtschaftliche Institution gedacht war, Techniker, Ingenieure und jüngere Ökonomen hineingewählt wurden. Oft kamen erprobte Facharbeiter dazu — es kam vor allem auf das Vertrauen an, daß sie persönlich bei der Belegschaft hatten.

Gomulka hat in seiner großen Antrittsrede auf dem 8. Plenum die Bildung von Arbeitsräten in den Betrieben ausdrücklich befürwortet.

In seiner Vorstellung sollte dadurch die Aktivität der Arbeiter und Ingenieure erhalten und im Interesse der Betriebsproduktion ausgewertet werden. Auch den übrigen Befürwortern der Arbeiterräte ging es darum — nur waren sie sich darüber im Klaren, daß die Aktivität des Arbeiterrats von den Vollmachten abhing, die er erhielt. Ihr Ziel war es die Arbeiterräte zu den entscheidenden Verwaltern der Betriebe zu machen. Sie sollten die größten Vollmachten besitzen:

über den Plan, das Budget, die Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften, die Verteilung des Profits usw. verfügen können. So würde die von den Kommunisten immer verkündete Losung „die Arbeiter sind die Herren der Betriebe“ endlich Wirklirchkeit werden.

Gleichzeitig wäre durch eine solche weitgehende Vollmacht der Arbeiterräte ein anderes wichtiges Problem der kommunistischen Staatswirtschaft gelöst: das Problem der Dezentralisierung. Eine Betriebs-führung, die sich auf einen mit größten Kompetenzen ausgestatteten Arbeiterrat stützte, würde notwendigerweise auch von der Bevormundung durch die Staatsfunktionäre freier werden. Die Unabhängigkeit von dem Diktat des Zentrums, die von allen Fabrikdirektoren und Betriebsleitungen im kommunistischen Machtbereich seit Jahren angestrebt wird, könnte reale Gestalt annehmen. Dafür, daß auch die Parteiorgane im Betrieb nicht allzuviel mitzureden hatten, sorgten die Arbeiterräte in Polen von Anfang an; in den Statuten der ersten Arbeiterräte war festgelegt worden, daß der Parteisekretär des gegebenen Betriebes nicht Mitglied des Arbeiterrats sein kann.

Die Einschränkung der Parteidiktatur durch die Arbeiterräte war augenscheinlich. Audi ohne daß ihre revolutionäre Bedeutung in Ungarn vordemonstriert worden wäre', mußte es klar sein, daß eine solche aus dem unabhängigen und ungelenkten Willen der Produzenten entstandene Institution ein gefährliches Gegengewicht gegen die Parteiorganisation darstellte. Selbst wenn die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei sich nicht in einer Krise befunden hätte, wäre sie den Arbeiterräten nicht gewachsen — ihre Autorität mußte von ihnen untergraben werden, da es nach den Erfahrungen der letzten Jahre ohne administrativen Druck unmöglich war, daß Parteimitglieder den Ton in den Räten angeben oder sie gar im Interesse der Partei „übernehmen“ konnten.

Die Regierung Gomulkas zögerte lange damit, die Kompetenzen der Arbeiterräte gesetzlich festzulegen. Man förderte zwar ihre Bildung, hemmte aber durch dieses Hinzögern ihre Tätigkeit. Viele Arbeiterräte verloren dadurch die Lust zur Anbeit und die Belegschaften das Interesse an ihnen. Da es zu dem Aufgabenkreis der Arbeiterräte gehörte im Interesse der Produktion zu wirken, hätten neben ihnen aktive neue Gewerkschaftsorgane tätig sein können, die ihrerseits die Interessen der Arbeiter gegenüber den reinen Produktionsinteressen vertreten hätten. Die große Säuberung in den polnischen Gewerkschaften, die nach dem Oktober zur Absetzung des als Stalinisten bekannten Gewerkschaftsvorsitzenden Wiktor Klosiewicz geführt hatte, sollte eine Wiedergeburt der polnischen Gewerkschaftsbewegung einleiten. Mit dem neuen Sekretär Loga-Sowinski, einem Gefolgsmann Gomulkas, hofften viele, alte Gewerkschaftstradition wieder zum Leben zu erwecken und den Schematismus in diesen Organisationen zu beseitigen. Vom Bürokratismus gereinigte Betriebsräte sollten mit den Arbeiterräten zusammen, aber jeder Rat auf seinem Gebiet — tätig sein.

Diese Entwicklung wurde verhindert. Nachdem die Arbeiterräte immer mehr in die Defensive gedrängt worden waren, fand die Parteiführung im Frühjahr dieses Jahres den Weg, auf dem. man sie praktisch ganz zur Strecke bringen konnte: Gomulka propagierte eine neue Institution: die ständige „Konferenz der Arbeiterselbstverwaltung“.

Die Arbeiterräte seien eine zu enge Körperschaft, verkündete der Parteichef auf dem IV. Gewerkschaftskongreß im April 1958. Um die Arbeiterselbstverwaltung deutlich zum Ausdruck zu bringen, müßten Gewerkschaften, Arbeiterrat und Parteiorganisationen zusammenwirken. Der Plan der Produktion, die Arbeitsbedingungen und auch die Verfügung über einen gewissen Teil des Überschusses müßte von einem möglichst großen Kreis von Menschen bestimmt werden.

Das hörte sich sehr schön und demokratisch an, bedeutet aber in Wirklichkeit die Entmachtung des Arbeiterrats und seine Unterstellung unter die Partei. Die Verwirrung der Kompetenzen einerseits und die Verwässerung des „Mitbestimmungsrechts“ konnte nichts anderes zur Folge haben, als daß ein wirklicher Einfluß des Arbeiterrats unmöglich wurde. Ein Gremium von einigen Hundert Personen kann selbst, wenn es häufig tagt — was es jedoch nicht wird tun können — unmöglich einen Betrieb leiten.

Der „Arbeiterselbstverwaltung“ widmete Gomulka einen großen Teil seiner Rede auf dem 12. Plenum im Oktober d. Jahres. Er beklagte sich bitter darüber, daß die Genossen die Bedeutung dieser Organisation nicht verstünden. Sie seien der Auffassung, die Konferenz der Arbeiterselbstverwaltung hätte nur die Aufgabe den Arbeiterräten Anweisungen für ihre Arbeit zu geben und Pläne für sie aufzustellen, während es sich doch darum handle, daß die Partei-und Gewerkschaftsfunktionäre aktiv an der Arbeit des Rates teilnähmen. Gomulka verlangte, daß der Parteisekretär oder zumindest sein Stellvertreter aktives Mitglied des Arbeiterrats sei und seine Tätigkeit tatsächlich beeinflusse. Augenscheinlich ist die Infiltration dieser Organisation durch die Partei keine leichte Aufgabe und selbst durch größere Druckanwendung nicht ohne weiteres durchführbar. Andererseits ist sich Gomulka wohl auch der positiven Seiten einer wirklich funktionierenden Arbeiterselbstverwaltung nicht nur für die Produktion, sondern auch für die Aktivierung der Partei bewußt. Mag sein, daß in einigen Betrieben sogar eine gewisse Synthese zwischen dem Arbeiterrat und der Parteiorganisation tatsächlich möglich wäre. Ist der Parteiführer nicht zuletzt aus diesem Grund Mitglied der Parteizelle in der Automobilfabrik Zeran geworden, die den ersten und stärksten Arbeiterrat besitzt, dessen Aktivität in den Oktobertagen den Ausgang der Ereignisse weitgehend bestimmt hat?

Gomulka will und kann in seiner Funktion nicht daran glauben, daß Parteidiktat und Arbeiteraktivität zwei Dinge sind, die einander ausschließen. Sollte er es aber wirklich begreifen, so wird er sich bestimmt ohne weiteres für das Parteidiktat entscheiden. Das liegt im Wesen jeder Machtausübung.

Von Anfang an hatte Gomulka aus denselben machtpolitischen Erwägungen heraus die Bildung einer zentralen allpolnischen Organisation der Arbeiterräte verhindert.

Der IV. Gewerkschaftskongreß im April brachte außer dem Schlag gegen die Arbeiterräte noch einen anderen Beweis für eine „Abkehr vom Oktober“. Und zwar Gomulkas scharfe Verurteilung der Streikbewegungen. Im Oktober hatte Gomulka den Streik in Posen als eine „Lehre“ bezeichnet, „die die Arbeiterklasse der Partei erteilt hatte". Mit Nachdruck bezeichnete er damals, diejenigen, die in diesem Streik eine ausländische Provokation sehen wollten, als „naiv“. Seit er Erster Parteisekretär geworden war, hatte es im Lande viele Streikbewegungen gegeben. Kleinere und größere Streiks — begründete und weniger begründete Protestaktionen hatten in Polen ebenso Platz gehabt wie in „kapitalistischen“ Ländern, und das hatte unter den sicher nicht leichten wirtschaftlichen Bedingungen des Landes zu empfindlichen Störungen geführt. Da gleichzeitig die Arbeitsdisziplin in Polen nach dem Oktober keinesfalls besser, ja eher schlechter geworden ist, konnte man sich über die Empörung Gomulkas nicht wundern. Dennoch war seine leidenschaftliche Verurteilung von Streiks in „sozialistischen“ Betrieben sicher nicht dazu angetan, die Begeisterung der polnischen Arbeiter zu erwekken. Auch seine aus Tausenden ähnlicher Reden bekannten Ausführungen über die „andere Rolle“ der Gewerkschaften in einem „sozialistischen“ Staat und über die „nicht-antagonistischen Widersprüche" zwischen den Arbeitern und der Betriebsverwaltung in einem kommunistischen Staat überzeugten nicht. Der Appell, daß die Gewerkschaften sich um die Produktivität des Betriebes kümmern sollten, verwandelte diese sofort wieder in dieselben Scheinorganisationen, die sie vor dem Oktober gewesen waren: die Hoffnungen auf eine Renaissance der Gewerkschaftsbewegung waren zunichte, die Arbeiter hatten keinerlei Interesse mehr für sie. Loga-Sowinski, der Vorsitzende des polnischen Gewerkschaftsverbands, versuchte etwas vorsichtiger zu formulieren als Gomulka. Er wies zwar ebenso energisch wie der Parteisekretär den Streik in einem „sozialistischen“ Betrieb zurück und wandte sich besonders gegen die wilden Streiks, die in Polen so häufig geworden seien, aber er ließ doch die Möglichkeit gelten, daß es in manchen Ausnahmefällen zu Streikbewegungen kommen könnte. Falls die Betriebsbürokratie durchaus nicht auf die Vorhaltungen des Betriebsrates reagiere, könne dieser die Belegschaft zu „kurzen, einige Minuten währenden Warnstreiks" aufrufen, meinte Loga-Sowinski. Er unterstrich auch wie in seinen Reden kurz nach dem Oktober, daß es die Aufgabe der Gewerkschaften sei, die Interessen der Arbeiter gegenüber den Betriebsleitungen zu wahren und gegen die „Auswüchse des Bürokratismus" aufzutreten, aber die Verwässerung des Arbeiter-Mitbestimmungsrechts durch die Schaffung der sogenannten Arbeiterselbstverwaltungen, deren Idee offensichtlich von ihm ausgegangen ist, macht diesen Kampf jetzt mehr oder weniger illusorisch.

Inzwischen ist diese „Arbeiterselbstverwaltung“ in ganz Polen forciert worden, es hat einen Kongreß dieser Institutionen gegeben und man ist dabei, Statuten für sie auszuarbeiten. Die Arbeiterräte aber haben nur dort noch einen wirklichen Einfluß, wo sie sich über die Beschränkungen, die man ihnen von offizieller Seite auferlegt, hinwegsetzen.

Die Lage der Intellektuellen

Es dauert eine Weile, bis stürmische Zeiten ihren Niederschlag in der Kunst gefunden haben — auch dann, wenn es die Künstler, die Schriftsteller, Dramatiker, Maler selbst waren, die in diesen stürmischen Zeiten den Ton angegeben haben. Lind es dauert noch länger, ehe die Kunstwerke eines Landes auch in anderen Ländern bekannt werden. Jetzt erst laufen im Westen polnische Filme an, die in der Atmosphäre der künstlerischen Freiheit nach dem Oktober 19 56 dort entstanden sind. Modernste Auffassungen in der künstlerischen Gestaltung vereint sich in ihnen mit einer eigenwilligen Behandlung des Themas. Man spürt förmlich den Hauch des Neuen, das sich von der ihm jahrelang aufgezwungenen Konzeption des sogenannten sozialistischen Realismus endlich befreit hat. Prompt erhalten sie denn auch bei internationalen Festspielen Preise und Auszeichnungen, und inzwischen erscheinen auf den westlichen Büchermärkten die ersten Übersetzungen polnischer Novellen und Romane, die den polnischen Oktoberumschwung 1956 vorbereitet und begleitet haben oder deren Erscheinen erst durch ihn ermöglicht wurde.

Die Verzögerung hat zu einer sonderbaren Situation geführt: die leidenschaftliche Anklage, die Polens Intellektuelle gegen den Stalinismus erhoben, ihre aufwühlende Darstellung der stalinistischen Verbrechen, deren Zeugen sie waren, gelangen in einem Augenblick zum westlichen Leser, da eine Fortsetzung dieser Art von Veröffentlichungen in Polen selbst gerade unterbunden worden ist. Die Autoren, deren Namen jetzt in den Spalten der deutschen, französischen, italienischen und amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften erscheinen, wenn man ihre Bücher bespricht — sind von höchster parteiamtlicher Stelle in Polen gerade diese Bücher wegen mehr oder minder scharf gerügt worden. Neuauflagen dieser Romane und Novellen sind — obwohl sie größten Erfolg hatten und zumeist vergriffen sind — nicht erlaubt worden. Sammelbände der in den zwei vergangenen Jahren gedruckten politischen Artikel und Aufsätze, von philosophischen oder soziologischen Essays — wie etwa derjenigen des Philosophen Leszek Kolakowski oder des Publizisten und Schriftstellers Andrzej Braun — dürfen nicht erscheinen. Schon zum Druck angenommene Erzählungen ähnlicher Art wurden im letzten Augenblick zurückgestellt.

Aber am charakteristischsten war vielleicht die Beschlagnahme der kulturellen Monatszeitschrift „Tworczosc“ („Das Schaffen“) Anfang des Jahres. Die Zeitschrift hatte die Erzählung des alten kommunistischen Schriftstellers, Stefan Wygodzki, über seinen Freund gedruckt, der sieben Jahre unschuldig im polnischen kommunistischen Gefängnis verbracht hatte. Die Erzählung, die den bezeichnenden Titel „Verhaftet bis zur Aufklärung“ war von allen, die sie noch im Manuskript gelesen hatten, als ausgesprochen künstlerisch wertvoll bezeichnet worden. Auch der Referent des Zentralkomitees, der sie kritisierte, hatte nichts an ihrem künstlerischen Wert auszusetzen, er sagte nur sie sei „in ihren Auswirkungen auf die parteilosen Leser schädlidi“ und „die in ihr enthaltene Kritik würde dem Ansehen der Partei schaden, auch wenn sie in bezug auf die Vergangenheit richtig ist!"

Diese Worte wurden in einer Sitzung im Zentralkomitee im Mai dieses Jahres gesprochen, die eigens mit den Parteimitgliedern der Redaktion der kulturellen Wochenzeitung „Nowa Kultura" abgehalten worden ist, um ihnen einen neuen Chefredakteur aufzuzwingen und damit ihren „revisionistischen“ Widerstand zu brechen. Referent war der Agitpropleiter des ZK, Andrzej Werblan, und was er in seiner viele Stunden währenden Ansprache sagte, ist die Quintessenz der neuerlich verschärften Politik der polnischen Parteiführung gegen die Intelligenz.

Neun Mitglieder der Redaktion der „Nowa Kultura", der Zeitschrift, deren Publikationen neben denen der im vorigen Jahr von Gomulka verbotenen Studentenzeitung „Po prostu" das politische Tauwetter in Polen zum Ausdruck gebracht, den „Oktober“ vorbereitet und die wich-tigsten Gedanken über den „neuen polnischen Weg“ enthalten hatten —-traten aus Protest gegen die Ernennung des neuen Chefredakteurs aus der Redaktion aus. Die meisten von ihnen sind ohne Anstellung geblieben, aber die neue Redaktionsleitung ist ständig bemüht, sie zur Mitarbeit am Blatt zu bewegen und sie hat ihre Tätigkeit damit begonnen, Artikel und Gedichte, die vorher von der Zensur beanstandet worden sind, zu veröffentlichen.

Die kritisierten Schriftsteller werden nicht verfolgt, sie dürfen bis auf wenige, die ausgesprochenes Publikationsverbot erhielten (darunter der im Zusammenhang mit dem Po Prostu-Verbot aus der Partei ausgeschlossene Literaturkritiker Zimand und die wegen ihrer Kontro-verse mit der SED im November 1956 bekannt gewordene Journalistin Edda Werfel) auch weiter schreiben. Nur eben keine „nihilistischen“, keine allzu kritischen Dinge.

So ist das „Wetter", das sich jetzt „stabilisiert" hat. nicht ganz hoffnungslos, aber doch lange nicht mehr so hoffnungsvoll, wie selbst noch vor einem Jahr.

Es ist nicht allein der Druck von Moskau, obgleich sowohl in Moskau wie vor allem in Pankow nichts unterlassen wird, um sofort geifernd über jedes offene Wort herzufallen, das in Warschau von Intellektuellen ausgesprochen wird — der als Anlaß für die Unterdrückung solcher Art von Veröffentlichungen angesehen werden kann. Gomulka selbst glaubt, im Irrtum aller kommunistischen Partei-und Staatsoberhäupter befangen, daß offene Kritik mehr schade als unterdrückte. Er meint, das ständige Hinweisen auf Verbrechen der Vergangenheit — deren Opfer er ja selbst gewesen ist — und das Brandmarken aller neuen Fehler hindere die Konsolidierung der Partei und des Staates unter seiner Führung. Die wieder energisch arbeitende Zensur richtet sich deshalb vor allem gegen diejenigen, die das wollen: gegen die eigene störrische Parteijugend, die nie zufriedenen jungen Intellektuellen und diejenigen etwas älteren Schriftsteller und Publizisten, die seinerzeit, zum Teil ohne es zu durchschauen, der Stalinisierung Polens Vorschub leisteten und sich dann als erste empörten. Nun haben sie Angst, durch erneutes Nachgeben und allzu eifrige Unterstützung der Parteiführung eine ähnliche Lage, wie damals herbeizuführen. Sie wollen nicht schuld daran sein, wenn die Parteibürokratie und sei es eine, die unter Gomulkas Leitung steht, die Kunst wieder unter ihre Fittiche nimmt. Sie widersetzen sich. Gomulka aber wirft ihnen vor, daß sie, die so eilfertig dem Stalinismus gedient hatten, ihm jetzt Widerstand leisten. Diese bitteren Worte aus dem Munde eines Mannes, der damals mutiger war als sie, entbehren nicht einer gewissen Berechtigung, und doch sind Verbote und zwangsweise Einsetzungen von Redakteuren Dinge, die die freiheitliche Meinungsbildung und schöpferische Initiative im Lande stark beeinträchtigen. Die Begrenzung der künstlerischen Freiheit stellt eine Fortsetzung der im vorigen Jahre so verheißungsvoll begonnenen literarischen Produktion der polnischen Schriftsteller sehr in Frage.

Vorläufig jedenfalls. Denn die polnischen Intellektuellen wollen nicht daran glauben, daß sich die erneute Unterdrückung ihres Schaffens auf die Dauer durchsetzen wird. Sie ist auch keinesfalls so hart, wie in anderen Ländern des Ostblocks. Trotz aller Kritik an ihnen, weiß die polnische Parteiführung — im Gegensatz zu der SED-Führung etwa — den Wert der Intellektuellen sehr wohl zu schätzen. Während sie einerseits zensiert und unterdrückt, ist sie andererseits bemüht, sich ihre Gunst zu erhalten. Es kommt dabei zu den sonderbarsten Situationen.

Der 1957 erschienene Roman von Kazimierz Brandys „Die Mutter der Könige“ (er kommt bald auch in deutsch heraus) darf nicht neu aufgelegt werden, aber man schlägt dem Autor die Neuauflage eines Buches vor, das er in seiner stalinistischen Zeit geschrieben hat und für welches er damals einen Preis erhalten hat. Als er das Ansinnen ablehnt, gibt man andere Bücher von ihm heraus, die er noch vor der Schdanow-Ära geschrieben hat, also vor der Zeit der so verhängnisvollen Unterwerfung der Kunst unter das Parteidiktat. Die gleichen Bücher dieses und ähnliche anderer polnischer Autoren erscheinen übrigens jetzt in der Sowjetunion, wo man bemüht ist, die eigene Reklame, die man den polnischen Schriftstellern durch ihre ständige Verdammung gemacht hat, nun auszunützen. Nachdem die sowjetischen Zeitungen z. B. monatelang unaufhörlich gegen den polnischen „Rabiaten“ Andrey Braun gewettert hatten, der angeblich „im Fahrwasser der bürgerlichen Ideologie schwimmt“ — druckt man jetzt einen Roman von ihm aus dem Jahr 1952 ab. (Natürlich, nicht das Buch „Die gepflasterte Hölle“, das seine ketzerischen Ideen enthält und selbst in Polen nur in der „Nowa Kultura" in Fortsetzungen erschienen ist — deutsch im Steingrüben-Verlag). „Wenn wir auch nicht drudten dürfen, so können wir dodt sd'ireibena, sagen die polnischen Schriftsteller, „wir haben nidu nur die materiellen \oraussetzungen dafür, sondern nadt den Ereignissen der letzten Jahre 'auch die Überzeugung, dafl das, was wir heute für die Sdtublade schreiben, so oder so dodh einmal das Licht der Öffentlichkeit erblickt.“

Wie man sieht, ist die Lage der „Tauwetter" -Intellektuellen in Polen jetzt zwar schwer, aber nicht hoffnungslos. Nicht hoffnungslos vor allem ihrer eigenen konsequenten Haltung wegen. Über diese Haltung gelangt nicht alles in die Presse, aber die polnische Öffentlichkeit ist dennoch darüber informiert. So weiß man z. B. in Warschau von der eindrucksvollen Demonstration des polnischen Schriftstellerverbandes nach dem Budapester Bluturteil. In einer Plenarsitzung des Verbandes ehrten die Schriftsteller in Warschau das Andenken von Nagy, Maleter und ihren Kameraden durch eine Minute des Schweigens.

Kaum einige Wochen später ist der Vorsitzende des polnischen Schriftstellerverbandes, Antoni Slonimski, nach Moskau eingeladen worden. In einem Interview, das der Pole der Moskauer Literaturzeitung gab, forderte er nicht nur „mehr Verständnis von Seiten der russischen Kollegen“, sondern nannte auch, nach den besten polnischen Literaten gefragt, ohne zu zögern, an erster Stelle Mieczyslaw Jastrun und Jerzy Andrzejewski. Beide waren vor einem Jahr aus Protest gegen die Unterdrückung einer neuen literarischen Zeitschrift unter dem Titel „Europa" aus der Partei ausgetreten. Als beste Schriftsteller und Publizisten der jungen Generation bezeichnete Slonimski die in der Sowjetpresse ständig angegriffenen Marek HIasko (der inzwischen in der Bundesrepublik um politisches Asyl gebeten hat) und Krzysztof Teodor Toeplitz. Er wies die Behauptung, HIasko „male zu schwarz“, dabei nachdrücklich zurück: Das Interview wurde sowohl in der russischen Literaturzeitung wie in polnischen Blättern abgedruckt.

Es sei tatsächlich so, da die Parteiführung keinen Intellektuellen finden könne, der sich zu einer nicht-revisionistischen Haltung bekenne, sagen polnische Besucher. Das heißt, niemand sei bereit eine Parteikontrolle auf intellektuellem Gebiet, in Kunst und Wissenschaft vor allem, zu befürworten. Man wehre sich energisch gegen eine Rückkehr zum „sozialistischen Realismus“ und verachte diejenigen sowjetischen Kollegen, die sich widerstandslos wieder dem alten Joch beugen. AIs zum Jahrestag der polnischen kommunistischen Staatsgründung am 22. Juli die Partei sich an eine Reihe führender polnischer Schriftsteller und Publizisten wandte, einen Artikel für das sowjetische Partei-oder Regierungsorgan zu schreiben, wollte sich niemand dazu bereit erklären. Der antirussische Komplex ist in Polen infolge der ungarischen Ereignisse in letzter Zeit immer stärker geworden. Das zeigt sich auf kulturellem Gebiet besonders darin, daß vor allem Bücher und Filme des westlichen Auslands dem polnischen Leser und Zuschauer zugänglich gemacht werden. Übersetzungen aus dem Russischen, die in den letzten Lebensjahren Stalins den polnischen Büchermarkt völlig beherrscht hatten, sind äußerst eingeschränkt worden, russische Filme und Gastspiele sowjetischer Theater bleiben hinter französischen z. B. weit zurück.

Die sowjetische Zeitschrift „Swesda“ griff deshalb die angeblich „nihilistische“ Tendenz der polnischen Intellektuellen im Sommer dieses Jahres scharf an. Sie verkündeten den Unglauben an den Menschen und die Philosophie der Verzweiflung, meinte das Blatt. Es war die literarische Beilage des polnischen Parteiorgans „Trybuna Ludu“, die dem sowjetischen Kritiker darauf entgegnete und die polnische Kulturpolitik folgendermaßen in Schutz nahm:

„Sidter muß es eine kluge kommunistische Verlagspolitik geben, und wo ihre Prinzipien verletzt werden, da greift die Partei ein. Aber das Sdrerbengericht ist eine schlechte Methode und sich in einer kulturellen Autarkie zu verschließen, ebenfalls. Es ist falsch, den erwachsenen Leser wie ein Kind zu behandeln, dem man die Lektüre „unanständiger“ oder „zu schwerer“ Büdter verbietet. Man soll aud'i Sartre nicht verbieten, weil uns sovieles bei diesem Schriftsteller abstößt. Niemand wird natürlich verlangen, daß unmenschliche und faschistische Literatur bei uns gedruckt wird. Aber es wird doch wohl auch niemand Camus oder Sartre, Faulkner oder Caldwell, Moravia oder Dürrenmatt und sogar jene pessimistischen Verirrten von der Art eines Bedtett nicht — Faschisten nennen?“

Daß so viele westliche Schriftsteller in den letzten beiden Jahren ins Polnische übersetzt wurden, erklärt die Parteileitung damit, daß man „Unterlassungssünden wiedergutmachen“ mußte. Dann führt sie ungeniert als Beweis dafür, wie viele sowjetische Stücke gespielt wurden, folgende Zahlen über die Theaterpremieren in Warschau und anderen polnischen Städten an:

1957 gab es in Polen 449 Premieren, davon waren 193 polnische Stücke (8 8 klassisch und 105 modern). Von den ausländischen Stücken, die in Polen zur Aufführung gelangten, waren 87 französische, 41 englische, 24 sowjetische, 24 italienische, 19 amerikanische usw. Der Autor des Artikels bedauert zwar, daß so wenig sowjetische Stücke aufgeführt wurden, wendet sich aber gleichzeitig noch einmal ganz energisch gegen das Administrieren in der Kunst und gegen die Intoleranz, die er zum Haupthemmschuh jeglicher künstlerischer Entwicklung erklärt.

Diese Antwort der polnischen Parteizeitung auf die Vorwürfe der sowjetischen Zeitschrift ist deshalb besonders bemerkenswert, weil das Blatt, das sie veröffentlichte, sonst zu den schärfsten Kritikern der „revisionistischen“ polnischen Intellektuellen gehört. Aber auch diese Kritiker sind in Polen, wie man sieht, immer noch weit von der Haltung ihrer sowjetischen Kollegen entfernt.

So ist es auch mit Gomulka: zwar hat er, wie man sich in Warschau erzählt, empört über eine „unkeusche“ Darbietung des Fernsehens, kurzerhand den verantwortlichen Redakteur absetzen lassen, aber er verbietet und beschränkt den Empfang ausländischer Radiostationen im Lande nicht. Es gibt in Polen seit dem Oktober 1956 keine Störsender, man kann sich am Zeitungskiosk westliche Zeitungen kaufen und jederzeit moderne Musik hören — der heiße Jazz ist dort sogar mehr zu Hause als in der Bundesrepublik.

Dennoch gibt es keinen Künstler, keinen Schriftsteller oder Wissenschaftler, der bei Besuchen im Ausland nicht wenigstens mit dem Gedanken spielt, ob er nicht im Ausland bleibt. Dennoch wählte Marek Hlasko, vor die Alternative gestellt, in seiner Heimat zum Schweigen verurteilt zu sein, oder zu emigrieren, den letzteren Weg und einige Regisseure taten es ihm gleich.

Es bleibt nur zu hoffen, daß dieser Weg nicht zur einzigen Möglichkeit für die Intellektuellen Polens wird — so wie er es für die Intellektuellen der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands beinahe schon geworden ist.

Staat und Kirche

Eine der Besonderheiten der Gomulka-Politik ist bekanntlich seine Toleranz gegenüber der Kirche. Unmittelbar nach dem Oktober 1956 wurde der unter Bierut gefangengesetzte Kardinal Stefan Wyszynski freigelassen und konnte sein Amt als Primas von Polen wieder übernehmen. Kurze Zeit darauf wurde zwischen Staat und Kirche ein Übereinkommen abgeschlossen, in dem der Kirche eine Reihe von Zugeständnissen gemacht wurde — u. a. die Wiedereinführung des Religionsunterichts in den Schulen —, während sich die Kirche verpflichtete, der Regierung ihrerseits keine Hindernisse in den Weg zu legen. Bei den Neuwahlen zum Sejm, der polnischen Volksvertretung, im Januar 1957, hat die Kirche dann auch durch ihre Unterstützung nicht wenig zum Sieg Gomulkas beigetragen.

Inzwischen haben sich die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Polen jedoch etwas verschlechtert. Es ist nicht ganz einfach festzustellen, wer daran die Schuld trägt. Es scheint uns falsch, allein Gomulka dafür verantwortlich zu machen. Andererseits wäre es sicher auch nicht richtig, alle Schuld bei den kirchlichen Behörden zu suchen. Wahrscheinlich sind sowohl die kirchlichen wie die staatlichen Organe schuld an dieser Verschärfung. Auch die beinahe sagenhafte Religiosität des polnischen Volkes und nicht zuletzt einige auf Grund dieser Religiosität möglich gewordenen Tatsachen dürften nicht ohne Einfluß gewesen sein.

Die ersten Spannungen begannen im Zusammenhang mit der Spenden-aktion für Polen. Neben anderen ausländischen Spenden, der Hilfe des Roten Kreuzes etwa oder der Unterstützung, die im Ausland lebende Polen ihren Landsleuten in der Heimat zukommen ließen, hat im vorigen Jahr auch eine große Hilfsaktion der amerikanischen Katholiken für Polen begonnen. Nun werden aber alle Spenden, die nach Polen gelangen, von einer eigens dazu geschaffenen staatlichen Kommission verwaltet und verteilt. Die Kirche weigerte sich, die Geschenke der kirchlichen amerikanischen Organisation ebenfalls dieser staatlichen Kommission zur Verteilung zu übergeben und bestand darauf, sie selbst zu verwalten. Daraufhin beschloß die Regierung die Spenden als „Privatsendungen“ zu behandeln und dementsprechend zu besteuern. Monatelang dauerten die Auseinandersetzungen darüber, bis die Kirche sie schließlich den Opfern der Überschwemmungskatastrophe übergab. Die Angelegenheit hatte jedoch auf beiden Seiten viel böses Blut hervorgerufen. Zu einem zweiten noch schärferen Konflikt kam es im Juli, als sich der Staat entschloß, die Verlagstätigkeit des Primas-Instituts im Kloster Jasna Gora in Tschenstochau einer scharfen Kontroffe zu unterziehen.

Die Vorgeschichte dieses Zwischenfalls, der die ganze Welt erregt hat, ist folgende: Gesetzlich ist es in Polen sogenannten „gesellschaftlichen“

Organisationen erlaubt, hektographiert vervielfältigtes Material zu vertreiben. Das heißt also, Gewerkschaften, Sportorganisationen, Pfadfinder, Singvereine usw. haben das Recht, ihre Rundschreiben, Verordnungen und Mitteilungen zu vervielfältigen und an ihre Mitglieder zu versenden. Die Kirche zog Erkundigungen darüber ein, ob sie als eine „gesellschaftliche Organisation“ gelte und als sie die Bestätigung dafür erhielt, begann das Institut des Primas Predigten, Artikel usw. zu vervielfältigen und in großem Rahmen an die Gläubigen zu verteilen. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Tätigkeit — die Auflagen dieser internen Mitteilungen gingen bald in die Hunderttausende — den kommunistischen Staats-und Parteiorganen immer weniger gefiel. Sie begannen die Schriften unter die Lupe zu nehmen und nach Dingen zu suchen, die man als „nicht mehr religiös“ beanstanden konnte — und schließlich erteilte die Staatsanwaltschaft die Anweisung, eine Haussuchung in dem Primas-Institut durchzuführen. Primas Kardinal Wyszynski wurde zwar vorher brieflich davon verständigt, daß die Absicht bestünde, im Kloster von Jasna Gora eine Haussuchung abzuhalten, aber der Brief wurde an einem Sonnabend nachmittag abgeschickt, so daß der Kardinal, der sich zur Zeit gar nicht in seinem Amtssitz befand, ihn nicht rechtzeitig erhalten konnte. Er konnte auch nicht von seinem Inhalt verständigt werden, denn da der Brief mit der Aufschrift „persönlich“ versehen war, hatte ihn niemand in seiner Kanzelei geöffnet. Die Miliz drang also faktisch ohne vorherige Benachrichtigung in das Kloster ein.

Die Haussuchung selbst verlief dann ebenfalls regelwidrig. Das vorgefundene Material wurde, ohne daß man es registriert hätte, einfach in Säcke gestopft, zum Teil auch unter Anwendung von Gewalt den Ordensbrüdern entrissen. Sofort hatte sich die Kunde von dem Eindringen der Miliz in das Kloster im ganzen Ort verbreitet und eine große Menge von Menschen sammelte sich vor den Toren, um gegen das Vorgehen der Staatsorgane zu protestieren. Auch aus anderen Ortschaften begannen die Gläubigen zu dem berühmten Pilgerort zu strömen. Die Weltpresse hatte bereits von den Zwischenfällen im Zusammenhang mit dieser Haussuchung berichtet, als sich die Regierung schließlich zu einer Erklärung darüber entschloß. Zu gleicher Zeit wurde der offizielle Protest Kardinal Wyszynskis gegen die Haussuchung bekannt.

Zwar ist der Zwischenfall damit beigelegt worden, aber der Unwille den die Verlagstätigkeit des Primas-Instituts bei Partei und Regierung auslöst, war deutlich zum Ausdruck gekommen. Von nun an werden die Publikationen des Instituts von der Presse regelmäßig angegriffen. Man bezeichnet sie nicht nur als „illegal" und den Abmachungen der Verständigung von 19 56 zuwiderlaufend, sondern vor allem als „politisch“. Die Kirche ginge über den Rahmen der religiösen Fragen heraus, wirft man ihr vor. Die Geistlichen hätten sich in einer von Predigten und gedruckten Artikeln gegen Grundsätze des sozialistischen Staatswesens gewandt, die nun einmal für Polen bindend seien. Zum Beweis wurden sowohl Auszüge aus den Predigten des Kardinals Wykzynski selbst angeführt, wie Auszüge aus Aussprüchen anderer kirchlicher Würdenträger. So wurde z. B. in einem Artikel in der Warschauer Tageszeitung „Zycie Warszawy“ (8. August 19 58) folgendes Zitat aus einer Predigt angeführt, die Kardinal Wyszynski an die Warschauer Jugend gehalten hatte: „Das Recht des Einzelnen auf Eigentum ist ein integrales Recht, das ihm von Gott verliehen wurde und niemand darf dieses Recht beeinträchtigen . . . die Kirclte ist gegen alle Formen der Verstaatlichung der Güter in großem Maßstab. Das ist nämlich ein Übergriff und eine Rechtlosigkeit.“

Die Predigt des Kardinals stelle eine deutliche Kritik an der Vergesellschaftung des Eigentums dar, kritisierte das Blatt, diese aber sei das Fundament der polnischen Gesellschaftsordnung.

Das Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen und dadurch sinn-entstellend dargeboten worden, erklären andererseits die Vertreter der Kirche, dem Kardinal läge es fern, die polnische Staatsordnung anzugreifen. Tatsächlich klingt es manchmal beinahe wie eine Variation desselben Leitmotivs, das alle Reden Gomulkas kennzeichnet, wenn Kardinal Wyszynski in einem seiner Artikel etwa schreibt: „Di Katholiken sind verpflichtet, den schlechten nationalen Eigenschaften unseres Volkes den Kampf anzusagen: der Faulheit, dem Leichtsinn, der Vergeudung, der Trunksucht und der Unbeherrschtheit. Sie sind verpflichtet, sich die Tugenden: Treue und Pflichtbewußtsein, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit anzueignen, sich in Verzicht und in gegenseitiger Achtung zu üben, in der Liebe und der sozialen Gerechtigkeit . . („Tygodnik Powszechny" 1. Juni 1958).

Aber hat nicht der Primas auch von einer Bedrohung gesprochen, der die Katholiken angeblich ausgesetzt sind? fragen kritisch die polnischen Parteizeitungen. Einer Bedrohung von Seiten eben jenes Staates, der Wyszynski ja wieder seine Rechte zurückgegeben hat? Haben die kirchlichen Würdenträger nicht laut und deutlich die Auffassung vertreten, die Lehrerschaft und die Schule überhaupt müsse in erster Linie der Kirche untertan sein und nicht dem Staat, der einen schlechten Einfluß auf die Kinder ausübe?

Die Auseinandersetzungen um die Schule ist einer der wichtigsten Punkte der Spannungen zwischen Staat und Kirche.

Kurz nach der Haussuchung in Jasna Gora — Anfang August dieses Jahres — wurde amtlich verkündet, es sei nicht zulässig, daß Mönche und Nonnen in den Staatsschulen Religionsunterricht erteilen. (Es gibt in Polen auch ausgesprochene Klosterschulen.) Nach der generellen Wiedereinführung dese Religionsunterrichts in den Schulen — der zwar offiziell in Polen nie verboten, praktisch aber in den letzten Jahren vor 1956 unterbunden gewesen ist — reichte die Anzahl der Katecheten, über die die Kirche verfügte, nicht mehr aus. Sie setzte daher rund 2000 Mönche und Nonnen für den Religionsunterricht in den Schulen ein. Das hat der Staat mit seiner Verfügung jetzt verboten. Seine Forderung, sie zurückzuziehen, erfolgt unter dem Hinweis, auch vor dem Kriege seien in Polen Mönche und Nonnen nicht als Religionslehrer an den staatlichen Schulen zugelassen gewesen.

Ob es nicht genug sei, wenn der kommunistische Staat die Katecheten bezahle? — fragen die Zeitungen.

Die Ablehnung der Mönche und Nonnen als Religionslehrer trifft die Kirche mehr als der staatliche Protest gegen das Anbringen von Kreuzen in den Schulräumen. Selbst die Worte, die Gomulka in einer Rede im Sommer dieses Jahres gegen diese Kreuze richtete, haben nämlich nicht den geringsten Eindruck gemacht. Überall dort, wo es eine Schulleitung in Polen versucht hat, Kreuze aus den Schulräumen zu entfernen, kam es zu wahren Aufständen, vor allem der bäuerlichen Eltern. Sie drangen in die Schule ein und brachten gewaltsam die Kreuze wieder an, wobei sie nicht selten andere Bilder demolierten. Um der Ruhe willen gaben die Schulleitungen dann meist nach.

Diese Szenen aber und noch mehr die unliebsamen Zwischenfälle, die sich in einigen Schulen ereigneten, als Eltern ihre Kinder veranlaßten, „Ungläubige“, d. h. Kinder Andersgläubiger oder religionsloser Eltern, zum Religionsunterricht zu zwingen, sind sicher nicht zuletzt Ursache für die Nervosität der polnischen Parteiführung. Immer wieder wird deshalb in letzter Zeit darauf hingewiesen, daß es in Europa kaum ein Land gibt, in dem die Kirche solche Rechte genießt wie in Polen. Man erinnert daran, daß seit dem Krieg in Polen 700 Kirchen wieder aufgebaut und neugebaut worden sind — 276 befänden sich zur Zeit im Bau, daß die Zahl der Alumnen, die zu Priestern ausgebildet würden, jetzt doppelt so hoch sei, wie vor dem Krieg und die Zahl der Mönche und Nonnen in Polen proportionalhöher als in vielen anderen Ländern des kapitalistischen Auslands.

Das einzige, was die Regierung verlange, sei, daß die Kirche den Rahmen religiöser Betätigung nicht überschreite und tolerant gegenüber dem nichtkatholischen Teil der Bevölkerung sei. Die Toleranz fällt dem polnischen Volk, das zu über neunzig Prozent aus Katholiken besteht, nicht sehr leicht. Andererseits ist die Partei nun dazu übergegangen, der ideologischen Beeinflussung durch die Kirche zwar nicht die sich als unwirksam erwiesene offene antireligiöse Propaganda entgegen-zusetzen, aber doch eine Reihe von atheistischen Institutionen und Organisationen zu schaffen. Unter anderem wurde eine Schule für Religionswissenschaft eröffnet. Besondere Zeitungen und Zeitschriften setzen sich mit dem Problem des Glaubens auseinander und innerhalb der kommunistischen Intelligenz wird eifrig darüber diskutiert, welcher Weg am sichersten zu einer Einschränkung des religiösen „Fanatismus“

in Polen führen könnte.

Im Zusammenhang mit dem tausendsten Jahrestag des polnischen Staatswesens, der 1960 gefeiert werden soll, ist das Problem der religiösen-Propaganda in Polen wieder akut geworden. Da die Staatsgründung mit der Christianisierung zusammenfällt, hat das Episkopat die Tausendjahrfeier auch zum Anlaß einer großen kirchlichen Feier genommen. Im Zeichen des Milleniums ist ein besonderes Programm der Kirche ausgearbeitet worden, eine Novene, die in neun Jahresbotschaften aufgeteilt wurde. Ein Gelübde, das von über einer Million Menschen in Jasna Gora abgelegt und in allen Kirchen Polen'wiederholt wurde, eröffnete die kirchlichen Aktionen anläßlich des bevorstehenden Jahrestages und die Regierung sieht dem von ihr selbst vorgeschlagenen Feiertag nun mit gemischten Gefühlen entgegen: wird er nicht Anlaß zu einer unentwegten Demonstration religiöser Gefühle werden? In Polen ist die Verbindung zwischen Religion und Nationalempfinden sehr eng. Seinen Glauben zu bewahren hieß im Verlauf der vielen Jahrhunderte nationaler Unterdrückung des Volkes auch immer sein Polentum zu bewahren. Ein Bekenntnis zum Polentum war immer auch ein Bekenntnis zum Katholizismus. Es war gleichzeitig auch eine Demonstration gegen den fremden Unterdrücker, sei es nun ein Russe oder ein Deutscher gewesen. Unter dem Kommunismus ist das Bekenntnis zum Glauben gleichzeitig eine Demonstration für Polen und gegen Moskau, aber auch für Polen und gegen die Kommunisten. Es ist oft nur schwer festzustellen, ob die Scharen der Pilger, die nach Jasna Gora wallführen, das um des Glaubens willen tun oder um ihre Abneigung gegen die kommunistische Staatsform zum Ausdruck zu bringen. Das Millenium, das ursprünglich die nationalen Gefühle der Polen in den Dienst der kommunistischen Staatsführung spannen wollte, ist dadurch, daß sich die Kirche so aktiv in die Vorbereitungen eingeschaltet hat, zu einer problematischen Angelegenheit für Gomulka geworden.

Wyszynski hätte sich unter dem Einfluß des Vatikans, den er im Sommer 1957 besuchte, zu einer aggressiven Haltung gegenüber dem Staat verleiten lassen — behaupten die polnischen kommunistischen Zeitungen. Die Verschärfung der Beziehungen sei nur ein Teil der allgemeinen Verschärfung, die Gomulkas Politik erfahren habe — antwortet die Kirche und läßt inoffiziell verlauten, es sei eigentlich nur ihr Widerstand, der verhindere, daß die Abkehr vom Oktober nicht weiter ginge.

Mag sein, daß die letzte Behauptung etwas auf sich hat, aber es ist ebenso wahrscheinlich, daß Gomulka selbst keine größere Abkehr beabsichtigt, daß er selbst bei seiner Politik einer Toleranz der Kirche, deren Kraft in Polen zu unterschätzen, politische Blindheit wäre — zu bleiben beabsichtigt. Es ist jedenfalls nichts darüber bekannt geworden, daß Kardinal Wyszynski etwa Schwierigkeiten bei seiner Reise zur Papstwahl gehabt hätte. Als einziger Kardinal aus dem Ostblock konnte er ungehindert an ihr teilnehmen, ebenso wie die polnischen Sender als einzige Sender des Ostblocks ausführliche Berichte über die Trauer-feierlichkeiten beim Ableben des Papstes übertrugen und ihre Programme im Zusammenhang mit diesen Feierlichkeiten umgestalteten. Ebenso haben auch die kommunistischen polnischen Zeitungen solche Berichte veröffentlicht.

Von einer Unterdrückung oder gefährlichen Beeinträchtigung der Kirche in Gomulkas Polen kann jedenfalls noch keineswegs gesprochen werden.

Die Lage in der Landwirtschaft

Das entscheidende Merkmal des „Gomulkismus", wenn man von einem solchen sprechen kann, ist die Einstellung zur privaten Landwirtschaft. Im Gegensatz zu anderen kommunistischen Führern ist Gomulka immer der Ansicht gewesen, man müsse die Kollektivierung der Landwirtschaft äußerst vorsichtig handhaben und auf keinen Fall irgendwelche Zwangsmittel anwenden, um die Bauern in die Genossenschaften zu bringen. Er weiß, daß jegliche kommunistische Politik in Polen zum völligen Scheitern verurteilt ist, wenn sie es nicht vermag, den polnischen Bauern wenn nicht für sich zu gewinnen, so doch zu neutralisieren. Die Wiederwahl Gomulkas zum Parteisekretär im Herbst 1956 war daher mit einer Massenauflösung der bestehenden Kolchose verbunden. Die Agrarpolitik, die die polnischen Kommunisten seither betreiben, stützt sich auf die mittlere Bauernwirtschaft, auf den privaten Bauern. Ungeachtet aller Angriffe der polnischen Stalinisten und der Kritik Moskaus ist Gomulka bei dieser Politik geblieben. Er hat es erreicht, daß man im Kreml keine offenen Ausfälle gegen ihn in dieser Hinsicht unternimmt, ja eine ganz bemerkenswerte Zurückhaltung bei der Beschreibung der Lage im polnischen Dorf in der sowjetischen Presse übt. Einer Lage, die doch derjenigen im sowjetischen Dorf propagierten diametral entgegensteht.

Einige Male, bei Besuchen hoher sowjetischer Würdenträger in Polen, erwartete man dort und in der UdSSR, daß nun endlich scharfe Worte der Verurteilung gegen die „Revisionisten“ der kommunistischen Agrarpolitik fallen würden — sie blieben aus. Noch wird Gomulkas Agrarpolitik offensichtlich von Chruschtschow geduldet. Hat der polnische Parteichef den sowjetischen überzeugt? Wenn es so ist, so ist Gomulka sich dessen jedenfalls nicht sehr gewiß.

Auf dem diesjährigen Erntedankfest in Warschau hielt er eine Rede, in der er sic. inbrünstig zum System der kollektiven Bodenbearbeitung bekannte und ihre Vorzüge gegenüber der individuellen anpries. Manchen war angesichts dieser Rede der Gedanke gekommen, Gomulka habe nun doch vor, sich von dem „eigenen polnischen Weg“ in der Landwirtschaft abzuwenden. Dafür liegt jedoch kein Grund vor. Gomulka hat auch vorher nie verhehlt, daß er im Prinzip für Genossenschaften ist. Als er im Oktober 19 56 der Zwangskollektivierung ein Ende setzte, hat er gleichzeitig sofort die Bildung anderer Arten bäuerlicher Genossenschaften empfohlen. Wogegen er sich mit aller Schärfe wandte, war die Vernichtung bäuerlichen Eigentums, die die stalinistische Kollektivisierungskampagne mit sich gebracht hat und seither wird in Polen alles vermieden, was auch nur im Geringsten an eine solche Kampagne erinnern könnte. Das und selbst die genaue Lektüre von Gomulkas Rede an die Bauern muß einen davon überzeugen, daß der polnische Parteichef nicht an eine Änderung seiner landwirtschaftlichen Politik denkt. Die Versuche der stalinistischen Fraktion seiner Partei ihn zu einer „deutlicheren Abwehr kapitalistischer Elevnente auf dein Dorf“ zu veranlassen, blieben ohne Erfolg.

Die Bauern verstehen das sehr wohl. Über sechzigtausend von ihnen waren zu dem diesjährigen Erntedankfest nach Warschau gekommen.

Nationaltrachten, Blumenkränze und Bänder schmückten die Menge, die dem „Patron“ des Bauernfestes, dem kommunistischen Parteichef, ihre Sympathie bekundete. Ehe er seine strengen Worte an die Versammelten richtete, nahm Gomulka erst aus der Hand einer stattlichen Bäuerin Brot und Salz in Empfang.

Die Bauern hätten noch viel zu wenig getan, um Polen von den großen Getreideeinkäufen im Ausland zu befreien, warf er ihnen vor.

Dazu um die steigenden Bedürfnisse des Landes zu befriedigen, müßte die Landwirtschaft nicht nur besser technisch ausgerüstet sein, sondern die Bauern müßten auch die vorhandenen Möglichkeiten mit mehr Verständnis ausnützen. Der Staat hat in den letzten drei Jahren große Summen in den Ausbau der im Verlauf der stalinistischen Zeit vernachlässigten Bauernwirtschaften investiert. Nachdem die Regierung erkannt hatte, daß es die große Differenz zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Produktionsentwicklung war, die zu der katastrophalen Wirtschaftslage Polens geführt hat, ist man wirklich mit allen Mitteln daran gegangen, diese Differenzen zu verringern.

19 56 erhielten die polnischen Bauern Investitionskredite von 6 50 Millionen Zloty, in diesem Jahr sind es bereits über zwei Milliarden Zloty, die der Staat ihnen zum Ankauf von Inventar, zum Häuserbau und für Düngemittel vorschoß. Die Ausgaben des Staates allein für Bewässerungsanlagen sind für die Jahre des nächsten Planjahrfünfts (1959— 60) mit drei Milliarden Zloty veranschlagt.

Allerdings sind die Anforderungen der Bauern, die nun wieder sehr an ihrer Arbeit und an ihren Feldern interessiert sind, weitaus höher als die Möglichkeiten der staatlichen Industrie. Weder die Erzeugung von landwirtschaftlichen Maschinen noch die von Kunstdünger reicht aus, um das Land zu versorgen. Das ist unter anderem der Grund, warum Gomulka so nachdrücklich empfiehlt, daß wenigstens die landwirtschaftlichen Maschinen gemeinsam von Bauernzirkeln oder Bauern-gruppen angeschafft werden, die sie untereinander austauschen. Alle Formen solcher Kooperierung erhalten vom Staat Privilegien, sie werden bevorzugt bedient und erhalten die größten Zahlungserleichterungen.

Dennoch sind die Bauern durch die schlechten Erfahrungen der Kolchoszeit gewitzt, nur schwer dazu zu bewegen, irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Sie zahlen lieber mehr, warten länger, aber besitzen allein.

Im Zusammenhang mit diesem Wunsch nach ausschließlichem Alleinbesitz ist jetzt in Polen die Zersplitterung der Bauernwirtschaften zu einer akuten Gefahr geworden. Über 5 5 Prozent der Bauernwirtschaften in Polen besitzt trotz der Bodenreform von 1945 nur eine Bodenfläche von einem halben bis zu fünf Hektar. Nun ist aber Polen zur Zeit das Land Europas mit dem größten Bevölkerungszuwachs. Besonders viele Kinder haben die Bauern, die jetzt, da der Landbesitz wieder an Wert gewonnen hat, ihn an ihre Kinder vererben und also unter sie aufteilen werden. Die Perspektiven einer zum großen Teil aus Zwerg-wirtschaften bestehenden Landwirtschaft kann die polnische Regierung wirklich mit Sorge erfüllen. Reformen des Erbrechts werden erwogen und besondere Gremien zerbrechen sich den Kopf darüber, wie man, wenn schon nicht eine Zusammenfassung des Bodenbesitzes erreichen, so doch seine völlige Zersplitterung verhindern kann.

Es mag sein, daß die Verzögerung bei der Ausstellung der Besitz-urkunden für den Boden — die so viel Ärger bei den Bauern hervorruft, auch damit zusammenhängt. Wahrscheinlicher ist allerdings, daß neben fachlicher Unkenntnis und einer gewissen Schlamperei, der böse Wille des alten bürokratischen Apparats die Schuld daran trägt. Dieser Apparat — und zwar sowohl die Partei-wie die Staatsfunktionäre, die in den vergangenen Jahren das Dorf beherrscht haben und sich mit der neuen Sachlage nicht abfinden wollen — wirkt sich hemmend auf die Gesundung der Landwirtschaft aus. Auch der Bodenverkauf aus dem Staatsbesitz wird sicher nicht zuletzt durch diesen Apparat hintertrieben.

Dieser Bodenverkauf ist eine der charakteristischsten Maßnahmen, die die polnische landwirtschaftliche Entwicklung von der in anderen kommunistischen Ländern unterscheiden. Im vorigen Jahr nahm der Sejm ein Gesetz an, daß den Verkauf von rund einer halben Million Hektar Land aus dem Besitz der Staatsgüter an private Interessenten vorsieht. Schon die Ankündigung, daß der Verkauf beginnt, im Frühjahr dieses Jahres, rief Tausende von Bauern auf die Beine. Die Nachfrage überstieg bald das Angebot. Um Zwischenhändler auszuschalten und auch um den Boden wirklich Menschen zukommen zu lassen, die ihn benötigen, und solchen, die imstande sind, ihn zu bearbeiten, wurden eine Reihe von Bestimmungen ausgearbeitet, denen die Käufer entsprechen mußten. Das und die bürokratische Erledigung der Anträge, wie auch, daß die Staatsgüter tatsächlich nur den schlechtesten Boden zum Verkauf freigegeben hatten — bewirkte schließlich eine gewisse Unlust der privaten Käufer und hat dazu geführt, daß diese Aktion, die so vielversprechend für den Staat und für die Bauern ausgesehen hate, sich nur langsam und lustlos weiterschleppt.

Hat in diesem Fall zu einem gewissen Teil die Regierung schuld, so ist im Fall der Steuerschulden die Bauernschaft selbst im Unrecht. Das Dorf sei dem Staat rund acht Millarden Zloty schuldig, sagte Gomulka am 6. September. Natürlich mache man nicht jenen Bauernwirtschaften einen Vorwurf, die ihren Boden erst jetzt aus der Aufteilung erhalten hätten, oder jenen, die sich aus sonst einem Grunde in einer schlechten wirtschaftlichen Lage befänden, aber es gäbe auch andere. Die Grundsteuer sei 1957 neu geregelt worden und diejenigen, die sie nicht entrichtet hätten, obwohl sie nun auf ganz gerechter Grundlage festgelegt worden sei, und obwohl sie durchaus dazu in der Lage wären, würden nunmehr zur administrativen Verantwortung gezogen.

Diese Forderung des Staates scheint gerecht zu sein, wenn man bedenkt, daß die polnischen Bauern durch die höheren Preise, die der Staat ihnen jetzt für ihre Produkte zahlt, einen nicht geringen Vorteil haben. Rund 22 Prozent mehr als im Vorjahre haben die Bauern in dem ersten Halbjahr dieses Jahres für die an den Staat gelieferten Produkte erhalten. Auf die Pflichtablieferung, die Gomulka abzuschaffen versprach, konnte zwar in diesem Jahr noch nicht restlos verzichtet werden, aber das Ausmaß der Lieferungen ist in diesem Jahr um 60 000 Tonnen geringer als im Vorjahr. Lind auch 1957 war schon eine beträchtliche Einschränkung der Lieferungen durchgeführt worden — kleine Bauern-wirtschaften waren ganz von der Pflichtablieferung befreit worden und die Ablieferung von Milch und Kartoffeln war aufgehoben worden.

Der Übergang zum freien Ankauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Rahmen des staatlichen Monopols konnte in diesem Jahr unter anderem deshalb nicht erfolgen, weil die großen Überschwemmungskatastrophen einen großen Teil der Ernte vernichtet hatten. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, daß die polnische Stadtbevölkerung nicht schlechter, sondern sogar besser mit Lebensmitteln versorgt ist:

der privatwirtschaftende Bauer, der keine Angst mehr hat zwangs-kollektiviert zu werden und wieder an die Beständigkeit seines Besitzes glaubt, ist eine sicherere Grundlage für die Lebensmittelversorgung als anhaltend gutes Wetter ... Trotz der ungünstigen Witterung haben die Bauern es erreicht, daß der Gesamternteertrag in diesem Jahr nicht hinter dem anderer guten Jahre zurückbleibt. Die Geldeinnahmen, die die Bauern aus dem zentralisierten Verkauf hatten, betrug in diesem Jahr schätzungsweise 4 5 Milliarden Zloty, also rund 7, 5 Milliarden Zloty mehr als im Vorjahr — teilte Wladyslaw Gomulka auf dem 12. Parteiplenum im Oktober mit und schätzte, daß das Realeinkommen der Landbevölkerung in diesem Jahr im Verhältnis zum vorigen Jahr um rund vier Prozent gestiegen sei.

Wenn man die große Bautätigkeit der Bauern hinzurechnet, die bedeutenden Summen, die die Regierung außerdem in den Bau der Dorfschulen, Lesehallen usw. investiert, so kann man bedenkenlos feststellen, daß die polnische Bauernschaft immer noch die größten Vorteile aus dem Gomulka-Regime in Polen zieht. Wenn auch mit größerer Reserve als vor zwei Jahren, ist sie daher weiterhin hinter dem Parteichef. Um allen Eventualitäten vorzubeugen, bauen ganz Vorsichtige zunächst einmal ausschließlich Ställe. Das Vorhandensein privater kleiner Stallungen ist ein gutes Mittel gegen die Kollektivisierung — das ist eine der Lehren, die sie aus der Vergangenheit gezogen haben.

Sie sind sehr mißtrauisch geworden, die Bauern. So kommt es auch, daß sie, obwohl sie so für Gomulka sind, nicht in seine Partei gehen.

Es ist ein offenes Geheimnis in Polen, daß es auf dem Land überhaupt keine Kommunisten gibt. Die Partei, die auch nach der Parteisäuberung noch über eine Million Mitglieder hat, besitzt kaum Parteigruppen in den Dörfern.

Statt ihrer gibt es dort die Vereinigte Bauernpartei, die in der Stalinära gleichgeschaltet wurde und nun wieder versucht, den Eindruck einer unabhängigen Organisation zu erwecken. Diese politische Unabhängigkeit ist allerdings sehr beschränkt, und wo sie wirklich zu Tage tritt, sofort heiß umstritten. Nur wo sich die Bauernpartei wirklich für Dinge einsetzt, die den Bauern nützlich erscheinen, und die zumeist den Absichten der Kommunisten widersprechen, hat sie Aussicht Anklang bei ihnen zu finden. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die Forderung nach Landübergabe und Landverpachtung durch die Staatsgüter.

Es ist sicher ein Erfolg der Bauernpartei, wenn sich die Regierung zum Landverkauf entschloß — aber es ist ein Zeichen der Schwäche dieser Partei, daß sie der Forderung der Bauern nach konsequenterem Vorgehen gegen die Staatsgüter nicht mehr Nachdruck verleiht.

Die Staatsgüter sind seit ihrem Bestehen ein ständiges Sorgenkind der Partei und Regierung. Als Bastionen des Kommunismus gedacht, sind sie immer nur Zuschußbetriebe geblieben und auch die Reformen, die unter Gomulka in Bezug auf sie vorgenommen wurden, haben ihre Produktivität nicht wesentlich erhöht. Immer noch wird ihr Plan in Kategorien wie „Verringerung des Defizits“ abgefaßt und die Beschwörung „atdclt sie wüßten endlich für sich selbst anfkoninten", die Gomulka vor kurzem erst wieder ausstieß, wird nicht viel nutzen. Die Regierung kann sich aber nicht dazu entschließen, auf die Staatsgüter zu verzichten, die — wenn es wirklich gelingen würde, ihre Produktion gewinnbringend zu gestalten — eine wichtige Stütze des Staates auf dem Lande sein würden. Und so werden immer neue Maßnahmen und Reformen zur Aktivisierung ihrer Tätigkeit ersonnen, immer andere Mittel um die Fluktuation der in den Staatsgütern beschäftigten Landarbeitern zu stoppen. In letzter Zeit sollen Arbeiterräte und Arbeiterselbstverwaltungen das Rettungsmittel sein. Aber auch das wird sicher ebensowenig wie die Massenansiedlung von polnischen Heimkehrern aus der Sowjetunion in den „PGR’s“ — den Panstwowe Gospodarstwa Rolne (Staatlichen Landwirtschaftsgütern) von großem und baldigem Erfolg sein.

Nach der Selbstauslösung des größten Teils der Kolchose gleich nach Gomulkas Machtantritt, hat die Regierung, um die Produktionsgenossenschaften für die Bauern attraktiver zu machen, eine Veränderung ihrer Statuten beschlossen. Sie sind jetzt freier — die vier „sozialistischen Etappen", die sie pflichtgemäß durchlaufen mußten, wurden abgeschafft und die Mitglieder der Kolchose können auch eigenen Besitz nebenher haben, über den die Genossenschaft nicht verfügen kann.

Die Maschinen-Ausleihstationen sind durch den Massenverkauf von landwirtschaftlichen Maschinen an die Privatbauern stark zusammengeschmolzen und haben nur noch geringen Einfluß. Während aber einerseits Bestrebungen im Gang sind, die Bauern wieder von ihnen abhängig zu machen, befürwortet die Regierung offensichtlich mehr die Bildung von privaten Bauernvereinigungen, die zusammen landwirtschaftliches Gerät anschaffen. Für solche Gruppen ist der Staat bereit, vorzugsweise Maschinen abzustellen.

Eine Organisation, die besonders Anfang des Jahres noch hart umkämpft war, sind die sogenannten Bauernzirkel. Es ist eine Bauern-organisation, die in Polen bereits vor dem Weltkrieg verbreitet war und eine Art bäuerlicher Interessengemeinschaft darstellte. Man könnte diese polnischen Bauernzirkel vielleicht am ehesten mit einer Gewerkschaft vergleichen, und ihre Aufgaben waren in erster Linie wirtschaftlicher Art. Absatzfragen, Organisierung des Verkaufs und Einkaufs gehörten zu den Dingen, die den Bauernzirkeln früher oblagen. Nach dem Sieg Gomulkas und der Auflösung der Produktionsgenossenschaften, hat die Partei die Bildung der Bauernzirkel breit propagiert und es ist anzunehmen, daß sie es nicht ausschließlich aus ökonomischen, sondern auch aus politischen Gründen getan hat. Die Zirkel sollten ein Gegengewicht gegen die wohlhabenden Bauern bilden, die nun wieder zur einflußreichsten Macht im Dorf wurden.

Da diese wohlhabendere Schicht der Bauernschaft aber die einflußreichste war, so wurde sie es auch innerhalb der Zirkel, von denen bisher etwa 15 OOO in Polen entstanden sind und in denen sich etwa knapp eine halbe Million Bauern zusammenfand. Die wohlhabenden Bauern geben in ihnen den Ton an und die Zahl der kleinen und armen Bauern in den Zirkeln ist verhältnismäßig gering.

Während die wirtschaftliche Lage des Dorfes in Polen ausgesprochen besser geworden ist und die Agrarpolitik Gomulkas von diesem Gesichtspunkt aus auch von den hartgesottensten Stalinisten nicht mehr angriffen werden kann — ist die politische Einstellung des Bauern keineswegs kommunistenfreundlich geworden. Sie war es nie und kann es, so wie die Dinge liegen, schwerlich überhaupt werden. Aber das wollen jene sturen Parteifanatiker nicht wahr haben, die meinen, man müsse die Bauern zum Kommunismus zwingen.

Wie wichtig die Erfolge in der Landwirtschaft sind, kann man daran ermessen, daß sie die Grundlage für die Verbesserung der gesamten Wirtschaftslage in Polen bilden. Ohne sie wären auch diese noch lange nicht befriedigende Verbesserung auch nicht möglich gewesen.

Industrie und Handel

Zu den wichtigsten Erfolgen des polnischen Wirtschaftslebens gehört, daß es gelungen ist, die Gefahr der Inflation, die das Land im letzten Jahr bedrohte, abzuwenden. Die Produktion und die Arbeitsproduktivität bleibt nicht mehr hinter dem Wachstum der Einnahmen der Bevölkerung zurück, die vorhandene Warenmenge ist größer geworden und der Wert des Zloty ist durch sie gedeckt. Wie Gomulka in seinem Referat vor dem 12. Plenum sagte, wird der Anstieg der für den Markt bestimmten Warenmenge in diesem Jahr größer sein, als im Plan vorgesehen und der zusätzliche Wert der Konsumtionsgüter wird in der Industrie elf bis zwölf Milliarden Zloty betragen. Das hat zu einer relativen Sättigung des Marktes in Bezug auf eine Reihe von Artikeln des Konsums, der Gebrauchsgüterindustrie und der landwirtschaftlichen Produktion geführt und die Möglichkeiten der Spekulationen, die in Polen immer noch wie in allen Ländern, in denen Warenmangel herrscht, sehr groß ist, etwas beschränkt. Die Produzenten und der Handel werden gezwungen, mehr auf das Assortiment und die Qualität der Waren zu achten.

Dabei kommt es manchmal zu einer sonderbaren Preispolitik der verstaatlichten Industrie, die es entgegen den Anweisungen aus dem Zentrum versucht, höhere Preise für ihre Produkte bei den Abnehmern zu erzielen. Da die Preise festgesetzt sind, tut sie das nicht direkt sondern auf ausgesprochen „kapitalistische“ Weise — in dem sie gewisse billige Assortiments aus dem Verkauf zieht und andere, leicht verbesserte und erheblich teurere auf den Markt wirft. Die Partei-und Staatsführung prangern zwar solche Manipulationen an, können sich aber heute schon oft nicht gegen die entsprechenden Instanzen in der Wirtschaft durchsetzen. Auch andere Übergriffe in der Preispolitik besonders in den ländlichen Bezirken kommen ständig vor. So bemühen sich die Bezirks-funktionäre ihre Pläne auf Kosten der Bauern zu erfüllen, denen sie höhere Preise für Industriewaren abverlangen, als gesetzlich erlaubt ist. Die Entwicklung ist immer noch etwas chaotisch und die größte Schwäche des Systems: der Einsatz fachlich nicht kompetenter, halbgebildeter oder ganz ungebildeter Funktionäre an Stelle von Fachleuten ist noch lange nicht überwunden.

Unter den Wirtschaftsleitern, Fabrikdirektoren, Partei-und Staats-funktionären ist es die Inkompetenz die eine schnellere Überwindung der Krise verzögert. Unter den Arbeitern die Arbeitsunlust, die Trunksucht und Disziplinlosigkeit. Nicht nur Gomulka und seine Freunde auch Kardinal Wyszynski und die Kirche sind sich darüber klar und versuchen durch Ermahnungen eine Änderung zu erringen. Aber es ist nicht leicht dieses Übel Herr zu werden, die durch jahrelanges fehlerhaftes protegieren von Menschen verursacht worden ist, die nur vom politischen Standpunkt nicht aber vom fachlichen her geeignet waren, die entsprechende Arbeit auszuführen. Es ist umso schwerer, wenn man bedenkt, daß sich Menschen, nicht gern ihrer Privilegien berauben lassen, daß sie sich an die Stellungen klammern und wenn sie aus einer entfernt wurden in eine andere, ebenso vorteilhafte hineinzurutschen bemüht sind. Der stille verbissene Kampf gegen die Neuerungen Gomulkas ist insofern weniger ein politischer Kampf als ein Kampf um den Futtertrog. Tausende von Apparatleuten, die Gomulka herausreinigen ließ, deren „Planstellen“ abgeschafft oder zusammengelegt wurden, intrigieren, sabotieren, bestechen nicht um irgend welcher abweichender politischer Konzeptionen willen, sondern um ihre günstige soziale Stellung zu behalten.

Es ist nicht zum geringen Teil auch diese Schicht der Bürokraten, die die große Reform des polnischen „Wirtschaftsmodells“ hintertreibt. Das neue Wirtschaftsmodell sollte wie es nach dem Oktober 1956 hieß, recht bald ausgearbeitet werden und für den „polnischen Weg zum Sozialismus“ charakteristisch sein. Ein besonderer Wirtschaftsrat wurde damals vom Sejm gewählt, der sich mit den Einzelheiten dieses Modells zu beschäftigten hatte. Dem Wirtschaftsrat gehörten die größten polnischen Experten für Wirtschaftsfragen wie Prof. Oskar Lange und Prof. Borowski an und bereits im Sommer vorigen Jahres legte der Rat ein umfangreiches Programm für die „Modellveränderungen“ vor.

Die wichtigsten Reformen, die der Ökonomische Rat vorschlug, waren eine umfangreiche Preis-und Lohnreform und eine solche Umgestaltung der Produktionsleitung, daß die einzelnen Betriebe weitgehend vom Zentrum unabhängig würden und über ihre Produktion selbständiger als bisher bestimmen konnten. Lim diese Selbstständigkeit der Betriebe im Rahmen der verstattlichten und immer noch von einem gemeinsamen Plan dirigierten Volkswirtschaft verwirklichen zu können, sollten die bisherigen zentralen Verwaltungen aufgelöst und sogenannte Branchenvereinigungen geschaffen werden, die eine losere Zusammenfassung der Betriebe einzelner Industriebranchen bilden.

Mit dieser Umstellung auf Branchenvereinigungen wurde im Juli dieses Jahres begonnen. Ob sie sich bewähren werden und ob vor allem die Tendenzen zur zentralen Planung, zum Diktat der Funktionäre „oben“

wenigstens teilweise überwunden werden können und tatsächlich Fachleute zum Zuge kommen, ist noch abzuwarten. Es wird umso langsamer Erfolge zeitigen, da die vom Wirtschaftsrat vorgeschlagene Preis-und Lohnreform, die die Preise der Rohstoffe und Produkte endlich auf reale Grundlagen stellen sollte vom Zentralkomitee vorläufig „vertagt“ worden ist.

Man kann dieser „Vertagung“ nicht eine gewisse Berechtigung absprechen, wenn man die großen Komplikationen in Betracht zieht, die gerade im jetzigen Augenblick eine Lohnreform, d. h. praktisch eine völlige Umstellung im Lohnsystem mit sich bringen würde. Die Arbeitsunlust der polnischen Arbeiter ist ja zum Teil dadurch bedingt, daß die Löhne im Vergleich zu den gehegten Erwartungen, ja im Vergleich zu den Lohnerhöhungen im vorvorigen Jahr nicht allzusehr gestiegen sind.

Auch die Forderung zur „Einhaltung des Lohnfonds", die die Parteiführung mehrfach an die Betriebsführungen stellte, d. h. die Forderung die für die Lohnauszahlung bestimmten Summen nicht zu übersteigen, hat vielen Arbeitern Extraverdienste unmöglich gemacht. Andererseits ist eine Lohnerhöhung erst dann möglich, wenn die Warenmenge im Land groß genug ist, was erst eintreten kann, wenn die Produktivität der Arbeit sich steigert . . . diesem Kreislauf kann auch die sogenannte sozialistische Produktion nicht entgehen und wie die Praxis zeigt, ist er dort sogar mit mehr Entbehrungen der Arbeiter verbunden.

Unter den jetzigen Umständen fürchtet sich daher die polnische Regierung eine Situation zu schaffen in der, wenn auch vorübergehend, die Entbehrungen der Arbeiterschaft wieder größer würden.

Statt dessen versucht sie mit Teilmaßnahmen die Lage zu verbessern. Gegen Ende des Jahres werden die Textil-und Kommunalarbeiter in Polen eine Lohnzulage erhalten, die Lehrer erhielten sie bereits und die Erhöhung der Rnten, die am 1. Juli dieses Jahres durchgeführt wurde, ist sehr erheblich. (Während 195 5 insgesamt 3 Milliarden 70 Millionen Zloty jährlich für Renten ausgegeben wurde, wird der Staat in diesem Jahr 7 Milliarden 800 Millionen zahlen.)

Auch die Vergrößerung des sogenannten Betriebsfonds, die durch die Aktivität der Arbeiterräte erzielt wurde und in einigen Fabriken dazu führte, daß die Arbeiter ein dreizehntes Monatseinkommen erhalten, zählt Gomulka, der keinesfalls zufrieden mit den erreichten Resultaten ist, zu den Pluspunkten seiner Politik.

Die kritische Einstellung zu den eigenen Erfolgen und die seit dem Oktober in Polen praktizierte unretuschierte Berichterstattung über die Erfolge und Mißerfolge in der Wirtschaft ist sicher auch ein Pluspunkt. Mit aller Offenheit werden Mängel zugegeben, ebenso wie es Bergwerk-unglücke gibt (bei denen man nicht wie früher „Schädlinge“ sucht) wie Zugzusammenstöße und Flugzeugabstürze registriert werden, heißt es auch in Presse und Rundfunk immer ganz eindeutig: der Betrieb so und so hat so und so viel produziert, daß ist umso viel weniger als geplant, die Grube hat so und soviel Kohle gefördert, daß ist um so und soviel weniger als geplant usw. Auch daß es immer noch nicht gelang, die Soldatenarbeit in den Gruben abzuschaffen und bisher nur die Sonntags-arbeit und die Arbeit der Gefangenen im Bergbau aufgehört hat, wird nicht verheimlicht. Es ist jedoch ein weiter Schritt von der Feststellung eines Mangels bis zu seiner Beseitigung. Selbst dann wenn der gute Wille dazu vorhanden ist.

Schlußbemerkungen

Das wären die wichtigsten Dinge, die sich, meiner Meinung nach, zur gegenwärtigen Lage in Polen sagen lassen. Sie zeigen, wie eingangs schon gesagt, ein widerspruchsvolles Bild, in dem sich Positives eng mit Negativem berührt. „Die Hoffnungen der Gegner des Sozialismus gingen nicht in Erfüllung“ — hat Gomulka kürzlich pathetisch ausgerufen — „Polen ist nicht aus dem sozialistischen Lager ausgebrochen, es ist nicht zum Kapitalismus zurückgekehrt!“ Nun, es waren nicht unbedingt „Gegner des Sozialismus“ oder „westdeutsche Imperialisten“, die die Hoffnung hegten, Polen würde sich von dem „sozialistischen Lager“ — das heißt von Moskau, unabhängiger machen können. Es hätte auch nicht unbedingt eine Rückkehr zu Verhältnissen bedeuten müssen, wie sie in Polen vor dem Krieg geherrscht haben. Eine solche Rückkehr ist weder möglich noch für irgend jemand — außer einem kleinen Grüppchen innerhalb der großen polnischen Emigration — wünschenswert. Aber diese Hoffnung hatte von Anfang an recht wenig Aussicht in Erfüllung zu gehen und so muß sich Gomulka, ob ihm das immer genehm ist, oder nicht, damit abfinden, daß er trotz allem von vielen im Westen als kleineres Übel oder als beste Chance aufgefaßt wird. Als beste Chance für das polnische Volk, das seinen Willen zur nationalen Unabhängigkeit und innerpolitischen Freiheit laut und deutlich bekundet hat.

Eine Garantie dafür, daß diese Freiheit und LInabhängigkeit wenigstens in gewisser Weise in Polen erhalten bleibt, ist allerdings nicht allein der Parteichef. Es ist das Volk selbst, das mit seiner Haltung eine Garantie dafür gibt, die unnachgiebigen Intellektuellen und vor allem die Jugend.

Diese Jugend, skeptisch einerseits auf reale Kenntnisse, fachliches Wissen und Forschungsfreiheit bedacht, andererseits, ist die sicherste Gewähr für eine positive Entwicklung in Polen. Sie bildet das Material, aus dem in Polen bald bessere Wirtschaftsleiter, bessere Fabrikdirektoren, bessere Facharbeiter aber auch bessere Politiker entwachsen werden, als sie das Land bisher hatte.

Vorausgesetzt natürlich, daß nicht wieder eine neue Sturmflut kriegerischer Invasionen, wie so oft in der Geschichte des Landes, diese hoffnungsvolle Jugend, die nicht nur für Polen allein Werte schaffen könnte, dahinrafft.

Fussnoten

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