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Die wissenschaftliche Hochschule in der Zeitwende | APuZ 36-38/1958 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 36-38/1958 Die wissenschaftliche Hochschule in der Zeitwende

Die wissenschaftliche Hochschule in der Zeitwende

AUREL VON JUCHEN

Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, bringen wir in dieser und der folgenden Ausgabe einen Vorabdruck des Buches „Was die Hunde heulen" in Kurzfassung.

Idi hörte, was die Hunde heulen. . .

Was kann es für einen Sinn haben, zu wissen und zu verstehen, was die Hunde heulen? Mancher wird meinen: was die Menschen reden, was die Dichter singen, was die Wissenschaftler zu berichten wissen, was die Bücher und die Zeitungen schreiben und was das Radio verkündet, das zu wissen sei viel wichtiger und interessanter, als zu wissen, was die Hunde heulen. Aber ist es wirklich so zuverlässig, was die Bücher schreiben und die Zeitungen? Ist nicht da, wo die Menschen einen Tatbestand beschreiben, ein Gewirr von vielen einander widersprechenden Meinungen zu vernehmen? Wie viele verschiedene Meinungen und Urteile über die Sowjetunion sind in unserem Leben auf uns eingestürmt! Die einen suchen uns die Meinung aufzunötigen, sie, sei das Vaterland aller Werktätigen, bei ihr liege die Zukunft der Menschheit, die anderen betrachten ihre Ordnung als ein interessantes, überaus ernst zu nehmendes Experiment, und wieder andere sehen in ihr ein System, in dem der Mensch entwürdigt und das Leben verteufelt wird. — Es ist eben gar nicht so einfach, eine Wirklichkeit zutreffend und verläßlich zu beschreiben. Einen Gegenstand verstehen heißt, ihn möglichst allseitig zu verstehen, ihn von oben und von-unten, von rechts und von links zu betrachten, ihn in seiner gegenwärtigen Existenz und im Prozeß seines Gewordenseins zu begreifen. Solche allseitige Beschreibung ist schon bei Dingen und bei natürlichen Vorgängen oft schwer zu erreichen. Lim wieviel mühsamer und problematischer ist sie bei gesellschaftlichen Erscheinungen! Wie schwer würde es uns fallen, die gesellschaftliche Situation Deutschlands, in der wir selbst stehen und die wir täglich mit allen Sinnen erfahren, zutreffend zu beschreiben! Bei der Sowjetunion aber kommt hinzu, daß sie für uns eine in jeder Hinsicht fremde Welt ist und daß diese fremde Welt sich obendrein Jahrzehnte hindurch mit allen Mitteln der Tarnung und der Geheimhaltung künstlich gegen jeden Einblick abgeriegelt hat. Es kommt weiter hinzu, daß sie ständig durch ihre Propaganda den Versuch macht, uns eine ganz bestimmte Sicht aufzunötigen. Der Versuch einer objektiven, unvoreingenommenen Darstellung begegnet auf Schritt und Tritt den verwirrenden Lichtern und Beleuchtungseffekten, die eine geschickte Propaganda der sowjetischen Wirklichkeit aufsetzt. Von wieviel verschiedenen Ebenen kann man sich dieser sowjetischen Wirklichkeit zu nähern versuchen!

Da ist jener impressionistische Journalismus, der flüchtige, zufällige Eindrücke sammelt, wie sie die Straße, das Sportstadion, der Besuch eines Schauspiels oder Balletts, der Besuch einer Kolchose oder eines industriellen Werkes gerade bieten. Da werden ein paar Worte über Deutschland, über den Frieden oder über den letzten Atombombenversuch mit einem Rentner, einem Eisenbahner oder mit dem Vorsitzenden eines Dorfsowjets getauscht. Die Eindrücke werden gesammelt, gemixt, geschüttelt und mit ein paar eigenen Einfällen garniert, und tausenden Lesern wird ein interessant aufgemachtes Bild des sowjetischen Lebens entworfen.

Nicht weniger oberflächlich ist das Bild, das die großzügig eingeladenen internationalen Touristen entwerfen oder die wallfahrenden Parlamentarier, Schriftsteller, Musiker, Sportler, Schachspieler und Studenten, die in Moskau und in einigen anderen großen Städten die Auslagen besichtigen dürfen, die man für sie aufgebaut und dekoriert hat. Diese Touristen sollten in keinem Augenblick vergessen, daß diese Städte, Moskau. Kiew, Leningrad und Eriwan, selbst dekorierte Schaufenster sind. Sie sind es in doppelter Hinsicht. Sie sind es für die Bewohner der Sowjetunion und sie sind es für die Ausländer. Dem sowjetischen Bauern, der im Schweiße seines Angesichtes Jahr um Jahr für den Aufbau des Kommunismus kämpft und sich abmüht, sollen diese großen Städte, ihre breiten Straßen, ihre prächtigen Bauten, ihre verschwenderischen gärtnerischen Anlagen, ihre strahlenden Theater und Konzertsäle und im Falle Moskaus die prunksüchtige Metro zeigen, welch ein Glanz einmal auf dem ganzen Lande liegen wird. Hier wird gleichsam eine Vorwegnahme dessen geboten, was einmal überall sein wird. So sprechen die Straßen, Plätze und Gebäude zu dem Bauern, der sie zum ersten Male sieht: „Siehe, es lohnt sich zu hungern, zu schwitzen und zu schuften. Siehe, es lohnt sich, sich abzurackern und das eigene Lebensglück zu opfern. Gewiß, du wohnst in einer armen und jäminerlid'ien Bruchbude, aber einmal wird dein und deiner Kinder Haus sein wie dieser Palast da oder wie jene freundlidte Datsdtka inmitten grüner Bäume. Gewiß, du ißt heute ein bitteres und kümmerliches Brot!

Käse, Wurst und Sdtinken sind nicht zu haben auf deinem Dorf, aber einmal wird es überall sein, wie hier in Moskau oder Eriwan! Ein jeder wird sich alles kaufen können, was das Herz begehrt von der Ananas und der Weintraube bis zur erlesenen Odtsenzunge! Gewiß, dein Dorf, deine kleine Stadt, sie sind schmutzig, man muß es zugeben. Im Laufe des langen Winters wachsen die Asdien-und Sdtlad^enberge wie Gebirge vor allen Türen. Sie wadtsen den Ställen und den Schuppen über den Kopf, aber einmal wird es in jedem Dorf eine Kanalisation geben wie hier, in den breiten Straßen Moskaus, und Zehnersdtaften von besenbewaffneten Frauen werden dem Staub und dem Sdtmutz auf den Straßen zu Leibe rücken."

Dem Ausländer aber legen diese Schaukastenstädte den Fehlschluß nahe, den Teil für das Ganze zu nehmen. Sie flüstern ihm gleichsam heimlich zu: „Schau, das hättest du gar nidit gedadtt, wie sauber es hier ist, und wieviel schöne Häuser doch diese Stadt hat und wieviel breite Plätze es gibt und wie überall in allen Stadtteilen gebaut wird, ein Haus größer und prächtiger als das andere. Sieh, wie sich das Gesicht des alteit Moskau in wenigen Jahren geändert hat. Lind siehe, so wird in der ganzen Unermeßlicltkeit dieses großen Landes geplant, gebaut, geändert!

Der normale Tourist kommt gar nicht auf den Gedanken, daß sich alles auch gerade umgekehrt verhalten könnte, daß nämlich diese großen Städte auch vom Lande zehren, daß sie unersättlich seine Menschen, seine Kräfte, seinen Reichtum und den Ertrag seiner Arbeit ansaugen und aussaugen könnten, daß die Heere von Beamten, die in diesen großen Büroplätzen wohnen, auch wie Schröpfköpfe auf dem Lande sitzen könnten.

Von einer anderen, solideren Ebene nähern sich die Berichte fachgebundener Experten der sowjetischen Wirklichkeit. Physiker, Biologen, Astronomen, Mediziner, Techniker erhalten auf Kongressen oder durch das Studium bestimmter Fachliteratur teilweise einen Einblick in einen bestimmten Arbeitsbereich. Aber diese Einblicke in die Bemühungen russischer Techniker und Wissenschaftler bringen gerade nicht die eigentliche sowjetrussische Wirklichkeit ins Blickfeld des Betrachters. Je gründlicher er in ein bestimmtes Einzelgebiet eindringt, desto mehr entzieht sich ihm die eigentliche Lebensmitte der sowjetischen Gesellschaftsform.

Aber ist nicht die Voraussetzung einer Erfassung der sowjetischen Wirklichkeit die intensive Beschäftigung mit dem theoretischen Schrifttum des Marxismus? Liegt nicht in den Theorien der Väter des Marxismus der Schlüssel zum Verständnis der sowjetischen Wirklichkeit? — Selbstverständlich ist eine Kenntnis des Marxismus unerläßlich, wenn man das Pathos und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Sowjetunion verstehen will. Aber das Problem, um das es uns geht, liegt ja gerade jenseits der theoretischen Überlegungen. Es geht ja gerade um die Frage:

was ist eigentlich in der Sowjetunion aus dem Marxismus geworden?

Wie hat man ihn verstanden? Welche praktischen Konsequenzen haben Lenin und seine Nachfolger aus der marxistischen Lehre gezogen? Wo und wie haben sie sie verändert, abgeschwächt oder übersteigert? Wie ist die Wirkung der gesellschaftlichen Neuordnung auf die 200 Millionen Menschen, die mit den Segnungen der bolschewistischen Revolution beglückt worden sind? Welche Beglückungen haben sie erfahren und welche Leiden ergeben sich aus dem sowjetischen System? Welche neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme tun sich vor ihnen auf? Das sind Fragen, auf die auch das intensivste Studium des Marxismus keine Antwort gibt, sondern nur die nüchterne Durchleuchtung der sowjetischen Wirklichkeit.

Ähnlich liegt es mit einer Betrachtung der Sowjetunion, die sich auf die Selbstzeugnisse über Vorgänge auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiet gründet. Selbstverständlich können wir eine intensive Auswertung dieser Selbstäußerungen ebensowenig entbehren wie de Kenntnis der theoretischen Väter des Marxismus. Die Selbstzeugnisse bleiben eine der wichtigsten Quellen zur Beurteilung aller Zustände und Veränderungen hinter dem Geheimnis-Vorhang, den die Sowjetunion zwischen sich und die Welt gezogen hat. Aber da die Sowjetunion ihr Verhältnis zu den kapitalistischen Ländern ständig als einen latenten Kriegszustand betrachtet, muß sie folgerichtigerweise ständig zu den Kriegslisten der Tarnung und der Irreführung greifen. Sie kann ihre Nöte und Probleme nicht offen vor aller Welt aufdecken. Eine jede Äußerung überwachende Zensur und strenge Grenzkontrollen sorgen dafür, daß keine Aussage in die Welt dringt, die der Regierung und die dem Exekutivkomitee der Partei nicht erwünscht erscheint. Erst die Zentrifugalkraft des Krieges, erst die gewaltigen Umsiedlungen großer Bevölkerungsteile der Sowjetunion, die tausendfältigen Desertionen aus der Roten Armee, die gewaltige Welle der sogenannten zweiten Emigration, der Emigranten aus Litauen, Lettland, Estland, aus der Ukraine und aus Polen, die Rückkehr von Millionen deutschen Kriegsgefangenen, die Heimkunft derer, die wegen ihres Widerstandskampfes in die Sowjetunion verschleppt waren, hat viele verborgene Vorgänge für die westliche Welt enthüllt. Sie hat uns immer klarer erkennen lassen, was von den Selbstäußerungen, die aus der Sowjetunion zu uns dringen, zu halten ist.

Die Betrachtung von unten Entschleierung der Wirklichkeit

Worin liegt die Besonderheit der hier vorliegenden Betrachtung? Sie hat ihre Besonderheit darin, daß sie eine Betrachtung „ex tenebris“, eine Betrachtung aus der Tiefe ist. Der Blickwinkel, aus dem hier die Dinge gesehen werden, ist der des „untersten Weges“, wenn ich dieses Wort des alten Bodelschwingh in diesem Zusammenhang gebrauchen darf. Es ist ein Bericht aus dem Bereich, wo man verstehen lernt, was die Hunde heulen.

Die Gebrüder Grimm erzählen uns das Märchen „von den drei Sprachen“. Dem tumben Söhnlein eines Grafen war es unmöglich, die Sprache der Menschen zu erlernen. Mit sechs oder sieben Jahren konnte er immer noch nicht sprechen. Da gab ihn der verzweifelte Vater zu einem Meister, damit er das Sprechen lerne. Er erlernte die menschliche Sprache nicht. Doch dafür lernte er drei andere Sprachen, die der Hunde, der Frösche und der Vögel, und jede dieser drei Sprachen erwies sich als für sein Lebensschicksal außerordentlich wichtig. Als der Vater ihn verstoßen hatte, kam er eines Tages an ein fremdes Schloß und bat um Herberge. Doch es war ein schreckliches und verwunschenes Schloß. Im Zwinger und im Hofe des Schlosses lagen Hunde, die so schrecklich heulten bei Tage und bei Nacht, daß die Menschen in der Stadt und im Schloß vor dem Geheul der Hunde nicht schlafen konnten. Krank und verzweifelt waren sie von dem unaufhörlichen durch alle Häuser gellenden Heulen der Hunde. Lim dann und wann einmal eine Nacht schlafen zu können, warfen sie den Hunden einen Menschen vor. Als das Grafensöhnlein um Herberge bat, warfen sie ihn in den Zwinger zu den Hunden. Doch seltsam, die Hunde leckten ihn, schmeichelten ihm und taten ihm nichts zu leid. Das tumbe Söhnlein verstand ihre Sprache. Er verstand, daß im Verließ des Schlosses ein Schatz verborgen lag, um den einmal Menschen einander ermordet hatten. Der Schatz wurde gehoben und von Stund an waren die Hunde still. Die Menschen konnten, wenn der Abend und die Nacht kam, in Ruhe zu Bett gehen und in Frieden schlafen. Dadurch, daß das tumbe Söhnlein die Sprache der Hunde verstand, erlöste er die Hunde und das ganze Schloß.

In seiner symbolstarken Bildsprache erinnert uns das Märchen daran, daß es keineswegs witzlos und unnütz ist, zu verstehen, was in einem Lande, in einem fremden oder in unserem eigenen Lande, die Hunde heulen. Man kennt ein Land noch nicht, wenn man weiß, was die Schriftsteller schreiben und was die Politiker sagen. Man muß auch wissen, was die Hunde heulen. Der Blick von unten nach oben enthüllt in vielen Fällen weit mehr als der von oben nach unten.

Wer in der Zeit der Republik von 1918 in Deutschland in der Haut eines Arbeitslosen steckte oder in der Haut eines Bauern, der seinen Hof aufgeben mußte, der kennt die Schwächen der Weimarer Republik, der Notstandsgesetze besser als der, der eine wohlbezahlte Stellung bekleidete.

Wer in der Zeit des Dritten Reiches aus der Nähe die Zertrümmerung der Arbeiterbewegung erlebte, wer aus nicht zu großer Entfernung die Auswirkung der „Judengesetze“ erfuhr, wer die langsame Abwürgung des freien Geistes erlitt, der erkannte das Dritte Reich in seinem Wesen besser als der wohlbezahlte Studienrat einer höheren Schule oder der Redakteur des „Völkischen Beobachters“ oder der „Nationalsozialistischen Monatshefte“.

So aber verhält es sich auch mit der Sowjetunion. Der Gefangene erfuhr in der tödlichen Abgeschiedenheit eines Lagers im Ural oder am Nördlichen Eismeer hinter hohen Pallisaden und Stacheldrahtzonen viel, viel mehr von der Wirklichkeit der Sowjetunion als die Abgeordneten, die auf dem Wege des parlamentarischen Austauschs in die Sowjetunion fahren, oder als die Schriftsteller, die sich zu einem Treffen von Schriftstellern dorthin begeben. Kann man die touristisch-impressionistische Berührung vieler Rußlandreisenden mit einer schnellen Automobilfahrt durch eine weiträumige und volkreiche Stadt vergleichen — kann man ein intensives Studium der Selbstäußerungen der Sowjetunion über seine politische und wirtschaftliche Wirklichkeit dem Panoramablick von einem hohen Turm auf diese Stadt vergleichen — kann man den Versuch, die Sowjetunion aus dem theoretischen Schrifttum des Kommunismus zu deuten, dem Flug vergleichen, mit dem ein viermotoriges Düsenflugzeug über die Straßen und Plätze dieser Stadt dahinschießt, so gleicht der Aufenthalt in einem Lager einem langen, erzwungenen Aufenthalt in dieser Stadt, bei dem man ihre Höfe und Hinterhöfe, ihre Fassaden und ihre Elendsquartiere, vor allem aber die Menschen kennen lernt, die in dieser Stadt leben müssen.

Daß der Gefangene infolge seiner räumlichen Abschließung nur sehr wenig von den unendlichen Weiten des russischen Raums und von den verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion gesehen hat, ist kein Einwand gegen seine Beobachtungen. Goethe sagt in einem seiner „Sprüche in Prosa“: „Uw zu erkennen, das] der Himmel blau ist, braucht man nicht um die ganze Erde zu laufen.“

Die Frage ist vielmehr so zu stellen: Ist die Zusammensetzung eines Lagers typisch für die Sowjetunion? Jeder Heimkehrer, der in Workuta oder Saransk, in Karaganda oder in Kingir in einem Lager war, wird diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Denn in jedem Lager befinden sich Menschen aus der ganzen Weite des sowjetischen Gebietes und aller der Randgebiete, die durch die Bewegungen des Krieges irgendwann einmal mit der Sowjetunion in freundschaftliche oder feindliche Berührung gekommen sind. Großrussen, Weißruthenen, Ukrainer, Letten, Litauer, Esten. Karelier, Kaukasier, llralier, Sibiriaken, Dadschiken, Kasachen, Turkmenen und Armenier leben und arbeiten in jedem Lazer miteinander. Die vom Kommunismus im Endziel erstrebte Aufhebung der Nationen in einer kommunistischen Gesellschaft, die ein russisker Kommunist sich natürlich nur unter russischer Führung vorstellen kann ist in jedem Lager verwirklicht. Auch die von Stalin in seiner Arbet über die Sprachen vorausverkündete einheitliche Weltsprache wird im Lager in Gestalt eines mit vielen Brocken fremder Sprachen vermischten, seines Glanzes und seines grammatikalischen Formenreichtums beraubten Lager-Russisch bereits gesprochen. — Es sind in jedem Lager aber auch alle Altersstufen vertreten vom Schuljungen, der gestohlen oder aus Versehen ein Stalinbild zertrümmert hat, und vom Hütejungen, dem man einen Prozeß wegen Spionage gemacht hat, weil er seine Kühe wieder holen wollte, die, von menschlichen Grenzleidenschaften nichts ahnend, über eine Grenze gelaufen waren, weil drüben das Futter besser war, bis zum „aktierten", d. h. als Arbeitskraft aus den Akten gestrichenen, Invaliden.

Lind wiederum treffen sich in einem Lager alle sozialen Schichten vom ehemaligen Universitätsprofessor und vom orthodoxen Priester bis zum Kolchosbauern und zum organisierten Banditen. Winzig klein ist ein Lager, gemessen an der Weite des russischen Raums. Doch auch das Planquadratchen, das ein Arzt unter dem Mikroskop betrachtet und auf dem er das Verhältnis der roten und der weißen Blutkörperchen durchzuzählen sucht, ist nur wenige Millimeter groß, und doch erlauben die dort gefundenen Verhältniszahlen Rückschlüsse auf das gesamte Blutbild eines Menschen. So ist uns in jedem Lager, durch das wir wanderten, das ganze russische Volk begegnet. Oftmals, wenn ich im Lager einen russischen Intellektuellen fragte, wie das Volk über seine Regierung dächte oder über diese oder jene Maßnahme, so bekam ich zur Antwort: „Das Volk? Sehen Sie dieses Lager an, sehen Sie die Mensd'ien dieser Barad^e an, da haben Sie einen Querschnitt durdi das Volk.“

Ich hörte, was die Hunde heulen. Niemand, der den Weg durch sowjetische Lager gegangen ist, glaubt, daß das, was wir dort sahen, hörten, erfuhren, nur eine Randerscheinung der sowjetischen Wirklichkeit sei. Es leitete uns vielmehr mitten hinein in die Erschütterungen, Qualen, Hoffnungen, Versuchungen, in die unsagbaren Leiden eines großen, aber stumm gewordenen Volkes. So, wie Eugen Kogon in seinem Buche „Der SS-Staat“ den Nachweis führt, daß die Konzentrationslager des Nationalsozialismus nicht eine Randerscheinung, sondern einen integrierenden und höchst wichtigen Bestandteil des ganzen Systems darstellten, so ist es in einem wahrscheinlich noch viel zentraleren Maße mit dem sowjetischen Lagersystem.

Inferno von heute

Das Bild des Infernos ist für das Lagerleben und für die Verbannung innerhalb der Sowjetunion schon so oft gebraucht worden, daß die Feder sich sträubt, es abermals zu benutzen, zumal das Bild, das Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ vom Inferno entworfen hat, einen ausgesprochen mittelalterlichen Geschmack verrät. Das Bild, das Jean-Paul Sartre in seinem Stück „L‘huis close" von der Hölle gezeichnet hat, dieses Stück, in dem sich eine Handvoll Menschen gegenseitig unaufhörlich quälen und wiederquälen und doch für eine Ewigkeit gezwungen sind, auf engstem Raum, nämlich in einem einzigen Zimmer, zusammengepfercht zu leben, dürfte der wirklichen Hölle weit näher kommen als Dantes großartige und schaurige Höllenanlage. Nun, auch die sowjetischen Lager sind keine Hölle im Sinne des Danteschen Infernos, keine Räume, in denen Heulen und Zähneklappern herrscht, in denen das Stöhnen und das Wehklagen gequälter Menschen die Luft erzittern macht, und in denen die Menschen unter unerträglichen körperlichen Martern vergehen. Nein, es läßt sich leben in dieser Hölle. Käme der Mensch in eine wirkliche Hölle, so würde er sich dort sofort etablieren. Er würde sich gleichsam häuslich in ihr einrichten. Ein sowjetisches Lager hat seinen Sport-und Fußballplatz, hat seine Fußballmannschaft, seine Ausscheidungskämpfe, ein Klubhaus, ein Orchester, eine Theater-gruppe, seinen Chor, seine Sauna. Das Stöhnen und Klagen, das bei Dante die Luft erzittern macht, bleibt stumm und tief vergraben in der Brust. Es würgt in der Kehle, es bedrückt die Männer bei Tag und bei Nacht, es raubt ihnen viele Stunden des Schlafes, es verstimmt alle Sinne und alle Gedanken, aber es wird kaum einmal laut. Die Qual dieses Infernos beruht in der körperlichen Ülberbeanspruchung durch schwerste Arbeit, sie beruht darin, daß diese Arbeit als Zwang und als Fron empfunden wird, und daß sie durch nichts mit dem eigenen Willen, dem eigenen Interesse verbunden ist. Je mehr auf die Erfüllung und Über-erfüllung der Norm, auf die Erfordernisse des Fünfjahresplanes, auf den Wettbewerb mit anderen Betrieben durdi Sprüche und Transparente hingewiesen wird, desto deutlicher wird dem Gefangenen — und dem „freien Arbeiter“ dürfte es nicht anders gehen — der Froncharakter der Arbeit. Die Qual dieses Infernos liegt in der Sinnlosigkeit des Daseins.

Denn da das gesellschaftliche Kollektiv, für das er seine letzten Kräfte hergeben soll, ihn nicht mit meint, sein Wohl nicht mit einbezieht, kommt es als Sinnquelle für die Arbeit nicht in Betracht. Hinzu kommt das Ausgeschlossensein vom Leben, das Zusammengepferchtsein mit Menschen, die man in all ihren Lebensäußerungen bis zum Überdruß kennt. Hinzu kommt vor allem die Tatsache, daß körperlich, seelisch und geistig der Mensch von einem äußersten Minimum zu leben gezwungen ist.

Der Körper erhält eine genau errechnete Zahl von etwa tausend Kalorien, bei der er beständig darbt, ohne doch sterben zu müssen. Der Körper zehrt sich gleichsam ganz allmählich selbst auf. Er zehrt zunächst die Reserven an Fett und alsdann die viel entscheidenderen Reserven an Eiweiß auf. Entsprechend dem durch die Normenvorschrift höher oder tiefer eingestuften Wert seiner Arbeitsleistung erhält er ein paar hundert Kalorien mehr oder weniger. Die Schlafzeit ist gerade ausreichend, um den Körper zu neuer Anspannung regenerieren zu lassen. Und doch fühlt er sich beim Aufstehen noch völlig zerschlagen von der Arbeit des vergangenen Tages. Erst über der neuen Anspannung vergißt der Körper die schwere Müdigkeit, die von der Anstrengung des vorigen Tages herrührte. Hat aber der Schneesturm Straßen und Wege verweht, sind die Schienenwege der Eisenbahn auf Hunderte von Kilometern hin meter-hoch zugeschneit, ist irgendwo eine Autokolonne hoffnungslos im Schnee steckengeblieben oder gar von der schmalen Straße abgerutscht, sind Waggons eingelaufen, die unbedingt in der nächsten Stunde entladen werden müssen, da der Waggonmangel in der Sowjetunion groß ist, und da die Lokomotive, die sie gebracht hat, sie sofort wieder mit zurücknehmen muß, dann werden die todmüden Schläfer brutal von ihren Pritschen heruntergezerrt und unter furchtbaren Beschimpfungen und Drohungen von neuem an die Arbeit getrieben. Jedes Lager besitzt eine Zentralstelle für Arbeitsorganisation. Im unmittelbaren Dienst der Zentralstelle steht eine Gruppe von Antreibern und Schlägern, die die Brigaden bzw. einzelne Gefangene zur Arbeit aufrufen, und die vor keiner Roheit und Gewalt zurückschrecken, um ihren'Auftrag zu erfüllen. Der kostbare Lohn, für den sie diese Tätigkeit verrichten, ist die Tatsache, daß sie selbst nicht mit zur Arbeit hinausbrauchen. Wir Deutschen hatten ihnen den Namen „Kettenhunde gegeben. Sie sind tatsächlich auf den Gefangenen dressiert, wie ein scharfer Hund auf den Mann dressiert ist. An sich gilt im Regimelager die Regel, daß ein Mann innerhalb von 24 Stunden nur einmal zur Arbeit angehalten werden darf. Doch ist dies eine Regel, die nur den Gefangenen heilig war. In Wirklichkeit war sie von Ausnahmen durchlöchert. Um die Einhaltung dieser Regel fanden furchtbare Kämpfe und manchmal blutige Barackenschlachten statt. Oftmals wurde ein Gefangener bei dieser Gelegenheit von den Kettenhunden lazarettreif geschlagen. Leider gab es in diesen Schlachten keine Solidarität der Gefangenen untereinander, weil jeder froh war, daß ein anderer zur Arbeit aufgerufen wurde und nicht er selbst. Während die Kettenhunde auf einen Gefangenen einschlugen, der vielleicht vor sechs Stunden erst von der Arbeit gekommen war, lagen die anderen auf ihren Pritschen, zogen die Decke über die Augen und stellten sich schlafend. So gehörte auch der Schlaf zu den nach dem Gesetz des Minimums berechneten Gaben. Der Schlafplatz auf der hölzernen Pritsche genügte gerade, um sich im Schlafe umzudrehen. Er genügte nicht, um den Schläfer vor dem nahen Atem und den Ausdünstungen seiner Nachbarn zur Rechten und zur Linken zu schützen. Oftmals kam es urplötzlich mitten in der Nacht in der im Schlafe daliegenden Baracke zu einem heftigen Streit, weil zwei Nachbarn sich in ihren Schlafgewohnheiten gegenseitig störten. Die Strapazen des Klimas aber, die glühende Hitze in Kingir und in Karaganda, die kaum bestehbare Kälte und die mörderischen Polarstürme in Workuta sind so, daß der Mensch sie gerade noch und oft nur mit knapper Not und zu seinem eigenen Verwundern auszuhalten vermag. Kein Europäer würde auf den Gedanken kommen, daß man sie Jahre und Jahre hindurch ertragen kann. Tatsächlich hat eine Kommission von Wissenschaftlern, die vom Zaren Nikolaus in das Polargebiet entsandt wurde, um die Abbaufähigkeit der im Polargebiet vorkommenden Kohle zu prüfen, die Abbaufähigkeit verneint, weil die Gebiete für menschlichen Aufenthalt nicht geeignet seien. Heute ist in jenem Gebiet eine große Industrie entstanden, die im wesentlichen durch Gefangene betrieben wird.

Welt des Faustrechts

Der Inferno-Charakter des Lebens im Lager, sagten wir, ist darin begründet, daß es ein Leben ex minimo, ein Leben am äußersten Rande des gerade noch Ertragbaren ist. Jedem Mediziner sind die Krankheitserscheinungen eines Lebens ex minimo bekannt. Doch muß man zu den körperlichen Entbehrungen hinzunehmen, daß das Leben im Lager auch seelisch ein Leben aus den letzten Reserven ist. Man bedenke, was es allein bedeutet, wenn man Jahre und Jahre keinen Baum und keinen Strauch sieht. Der Blick schweift durch den Drahtzaun, der das Lager auf allen Seiten umgibt, in die unabsehbare, grenzenlose Tundra, die sich in leichten Bodenwellen bis an einen hoffnungslos leeren Horizont erstreckt. Der Blick sucht irgendwo einen Halt, einen Gegenstand, einen Baum, einen Strauch, eine Hütte, an die er sich heften kann. Der Gedanke sucht einen Gegenstand, mit dem er sich beschäftigen kann. Aber Auge und Sinne finden einen solchen Gegenstand so wenig wie auf hohem Meer, wo die Rauchfahne am Horizont ein unerhörtes Ereignis wird.

Gelegentlich suchen wir die Grenzzonen des Lebens auf, wenn wir auf einem Ausflug ins Hochgebirge die Kümmerzonen des Lebens in einer Höhe von 3000 oder 4000 Meter erleben. Von dem Gipfel eines Berg-riesen, da aus dem Geröll nur hin und wieder ein mageres Blümchen ans Licht dringt, sehen wir hinab in waldumsäumten und wiesendurchflochtenen Täler, die wir für einige Stunden verlassen haben. Aber wir haben die Ebene und die Täler nur verlassen, um zurückzukehren und aufs neue die Üppigkeit der Vegetation, die uns die unerschöpfliche Kraft des Lebens bezeugt, zu genießen. Wer sich vom Leben in der Tundra eine Vorstellung machen will, der muß sich klar zu machen versuchen, was bedeutet, auf die Dauer in eine Kümmerzone des Lebens verbannt zu sein, in der nicht einmal die Kümmerformen von Kiefern und Fichten den eisigen Winterstürmen zu widerstehen vermögen. Allein das Gras, ein unabsehbares Meer von Gras, vermag sich in diesen nördlichen Zonen der Erde zu bewahren, in der sich nur ganz wenige Tiere, das Schneehuhn, der Schneefuchs, wilde Gänse, die Ratte, die Maus und ein unserer Bachstelze ähnlicher Vogel in den Sommermonaten zu halten vermögen. Der ständige optische Eindruck der Kümmer-und Kampfzone des Lebens läßt auch die Seele des Menschen dahinkümmern. Man bedenke weiter, daß das Leben im Lager die Entbehrung alles dessen, was das Wort „Heimat" umschließt, bedeutet, die Entbehrung alles dessen, was uns bekannt und vertraut und darum unentbehrlich wurde. Auch wenn das Wort Heimat alle landschaftliche Enge für uns längst abgestreift hat, so bleibt doch so etwas wie ein seelisches und geistiges Klima, dessen wir so notwendig bedürfen, wie die Pflanze ein bestimmtes Klima für ihr Wachstum gebraucht. Der Gefangene entbehrt für Jahre die Güte und Freundlichkeit der Frauen, die reinigende Kraft, die von spielenden Kindern ausgeht. Er entbehrt jede Spur von Schönheit, den Segen der Ordnung im Zusammenleben von Menschen. Diese wilde Männerwelt, die an Goldgräberstädte erinnert, entbehrt aller Freundlichkeit, Rücksicht, Teilnahme. Es ist eine Welt, in der allein die stärkere Faust und die bessere Lagerposition regiert. Vor allem aber fehlt diesem Leben auch der geringste Hinweis auf den geistigen Gehalt der Welt. Es herrschen miteinander die massive Gewalt, das Unrecht und die abgefeimte, freche Lüge, diese widergöttliche Trinität, die in jedem Augenblick, in jeder Begegnung, in jeder Situation so allgegenwärtig ist, wie uns die Trinität des wahrhaftigen Gottes allgegenwärtig sein sollte. Alle diese Kennzeichen zusammengenommen machen die Lager der Sowjetunion zu einem modernen, von den meisten klaglos und in männlicher Haltung ertragenen Inferno. Wer ein Lager nördlich des nördlichen Polarkreises an einem schönen Sommertag im Juli für eine Stunde besichtigen würde, wer einem Fußball-oder Basketballspiel, einer Klubvorstellung beiwohnen würde, wer die Schachteure nach ihrer langen Arbeit von mindestens zehn Stunden gewaschen und im sauberen Hemd vor ihrer Baracke Akkordeon spielen sehen würde, der würde den Aufenthalt in einem Lager möglicherweise für einen halbwegs erträglichen Aufenthalt ansehen. Höchstens würde ihn der wehmütige Klang des Akkordeons und der russischen Lieder, die dazu gesungen werden, ein wenig irritieren. Aber es ist nur ein Mangel an Phantasie, wenn man sich nicht vorstellen kann, daß in der Hölle auch Fußball gespielt und auf einer Schmalfilmapparatur ein längst abgespielter, flimmender Film vorgeführt werden könnte. Trotz Fußballspiel und Schmalfilmkino ist dieses moderne Inferno, dessen Wesen das Leben ex minimo ist, nicht weniger schrecklich und unabsehbar als das der Divina Commedia.

Ich hörte, was die Hunde heulen. — In dem Märchen der Gebrüder Grimm sind die Hunde die verachteten Wesen, die in der Tiefe leben.

Der Hund war nicht zu allen Zeiten das Sinnbild der Treue und der Anhänglichkeit an seinen Herrn, zu dem er im Bewußtsein der Menschen seit der Renaissance mehr und mehr geworden ist. Das ganze Mittelalter hindurch war er das herrenlose Tier, das im Schmutz der Gossen lebte, und das sein Fressen im Abfall suchte, der aus den Häusern geschüttet wurde. Das Ansehen des Hundes ist in der Neuzeit immer mehr gestiegen, und nur im Schmähwort: „Du Hund!", „Du Schweinehund.'“, in dem Eigenschaftswort „hündisch" und in dem unter den Russen sehr gebräuchlichen Schimpfwort „Sukin" = „Hündin" lebt die negativ mittelalterliche Wertung weiter.

Für die offizielle Sowjetunion sind die Gefangenen die verachtetsten und verächtlichsten aller Wesen. In der Zeit vor Stalins Tod wurde in Gegenden, in denen sich Lager befanden, die Zivilbevölkerung in „Lektionen“ — das sind belehrende Vorträge — unterrichtet, daß die Gefangenen nicht anders denn als „Hunde“ und reißende „Wölfe“ zu betrachten seien, die keinerlei Mitleid und Anteilnahme verdienen. Der unveränderliche Satz, mit dem ein Wachsoldat dem Vorgesetzten Meldung zu erstatten hatte, lautete dementsprechend: „Idt bewadie Hunde und reifende Wölfe!" Erst nach Stalins Tod wurde die Form dieser Meldung geändert, und der Soldat meldete: „Idi bewache vorübergehend inhaftierte Bürger der Sowjetunion!" Auf den Wortlaut gesehen ist das ein bedeutender Wechsel. Wir werden noch sehen, daß er an der Realität der Lage der Gefangenen nur wenig geändert hat.

Die „ganz Alten" Im Heizen das alte Rußland

Ich will versuchen, von den einzelnen Gruppen dieser armen Hunde zu sprechen. Ich will beginnen mit der Gruppe der „ganz Alten“. Ich muß dazu bemerken, daß diese Gruppe in den Lagern ebenso wie im Lande in Restbeständen noch vorhanden, daß sie gesellschaftlich aber völlig bedeutungslos ist. Unter den „ganz Alten“ verstehe ich diejenigen, die im Zarismus groß geworden sind und die noch eine lebendige Erinnerung an die Zeit vor der Revolution haben, an die sie innerlich fixiert sind.

Dennoch trifft man in den Lagern auffällig wenig Menschen, die in den Wirren der Oktoberrevolution und in den furchtbaren Jahren, die ihr folgten, verhaftet wurden. Die Erklärung dafür liegt darin, daß die Zwangsarbeit in den ersten Jahren der Revolution noch nicht als ein integrierender Bestandteil der sowjetischen Planwirtschaft, zu der sie später wurde, organisiert war. Die Lager hatten noch nicht die Bedeutung, Reservate billigster Arbeitssklaven zu sein, sondern sie waren Vernichtungslager, in denen die ehemals herrschenden Schichten langsam aber sicher und ohne irgenwelche menschlichen Hemmungen liquidiert wurden. Ehe das Wort „liquidieren“ zum Lieblings-Terminus des Nationalsozialismus wurde, war es bereits ein fester terminus technicus der Lehre Lenins. Er ist als solcher in viele Verlautbarungen der Kommunistischen Partei und auch in die „demokratische“ Verfassung der UdSSR vom Jalre 1936 eingegangen. Die neue proletarische Oberschicht hat die alte Oberschicht bis auf die wenigen, die sich aktiv den neuen Machthaber zur Verfügung stellten, vernichtet. Die „ganz Alten“, die wir heute noch finden, setzen sich zusammen aus bürgerlichen Menschen, aus Soldaten und Offizieren der zaristischen Armee und aus Emigranten von 1918, die entweder aus Heimweh oder auf die ausdrückliche Zusage der Freiheit und Nichtbehelligung hin nach 1945 in die Sowjetunion zurückgekehrt sind und spätestens ein halbes oder ein Jahr nach ihrer Rückkehr verhaftet wurden. Diese „ganz Alten“ leben in einer völligen Negierung der Verhältnisse, die durch die Sowjetregierung geschaffen wurden. Sie nehmen freiwillig an keiner 1. Maifeier oder an keiner Feier der Oktoberrevolution teil, die für 98 Prozent der Bevölkerung Volksfeste mit Schnaps und gebratenen Würsten sind.

Für die „ganz Alten“ ist die Oktoberrevolution nur eine Erinnerung an brennende Häuser, erschlagene, erhängte, grausam verstümmelte Menschen und an eine Unzahl scheußlicher Verbrechen. Sie verstehen nicht, wie man einen solchen Anlaß feiern kann. Mit Nachsicht schauen sie auf die jungen Menschen, die ja nicht mehr wissen können, was die Oktoberrevolution wirklich war, und wieviel Leid und Elend sie über das Land gebracht hat. Alle politischen Ereignisse, auch alle Vorgänge der Außenpolitik bewerten sie von einem ausschließlich moralischen Standpunkt aus. Sie verstehen weder Churchill noch Foster Dulles. Die ganze Politik des Westens ist für sie unverständlich, weil sie schon gar nicht begreifen, daß sich westliche Politiker, die doch alle ehrenhafte Menschen seien, mit Verbrechern an einen Tisch setzen und mit ihnen als mit Gleichberechtigten verhandeln können. Ihre Zukunftsprognosen sind düster, weil die Angst wie ein Albdruck auf ihrer Seele liegt, der Westen möchte der Verschlagenheit der gegenwärtigen russischen Machthaber nicht gewachsen sein. Häufig verbindet sich diese politische düstere Sicht mit dem Glauben, daß in der Apokalypse des Johannes ja die Herrschaft des Antichrist über die ganze Erde vorausgesagt sei: Die westlichen Politiker kommen ihnen wie Kinder vor, die die Gefahr nicht erkennen, die ihnen und ihren Völkern droht. Sie meinen, daß alle westlichen Politiker mit europäisch-allzueuropäischen Mitteln der Bedrohung durch die Sowjetunion glauben Herr werden zu können. Mit ihrem ganzen Herzen hängen diese Ganz-Alten am alten Rußland, sie verargen es sehr, wenn man aus Versehen irgendeine sowjetische Erscheinung „russisch“ nennt. Das Wort „russisch“ hat für sie einen leuchtenden Glanz. Das Wort „sowjetisch“ ist für sie die Verderbnis alles dessen, was einmal am alten Rußland liebenswert und verehrungswürdig war. Glühende Patrioten, sind sie zugleich ebenso glühende Hasser der Sowjetunion, und man hat den Eindruck, als sei es nicht so sehr ihr persönliches Schicksal, das in ihnen den Haß entzündet, als die Trauer um das arme „Mütterchen Rußland“. In ihrem Haß und in ihren Verwünschungen scheinen sie viel klarer und konfliktloser zu sein, als die meisten Antifaschisten es im Deutschland Adolf Hitlers waren. Der Trennungsstrich zwischen Rußland und Sowjetunion ist viel eindeutiger, als es bei den meisten Antifaschisten der zwischen Deutschland und Nazideutschland war. Rußland und die Sowjetunion sind für sie zwei Größen, die überhaupt keine Kongruenz miteinander haben. Zweifellos hat sich im Laufe der Jahre die Zeit des Zarismus in ihrer Erinnerung verschönt. Sie ist makellos geworden.

Ich erwähne die Gruppe der „ganz Alten“, weil sie menschlich durch die Tragik ihres Lebensschicksals die ergreifendste ist, betone aber nochmals, daß sie gesellschaftlich bedeutungslos ist. Es sind Menschen, die manchmal von einer wunderbaren, fröhlichen Abgeklärtheit sind. Sie leiden nicht mehr unter ihrem persönlichen Schicksal, da sie sich darein ergeben haben. Sie haben sich an den Gedanken gewöhnt, nichts mehr vom Leben erhoffen zu können. Ihre Sorge aber ist Rußland und, soweit sie über die Grenzen des eigenen Vaterlandes hinauszublicken vermögen, die Welt. Vor allem waren es ältere Offiziere der zaristischen Armee, aber auch die aus dem Ausland zurückgekehrten Emigranten, die die Ausländer der westlichen Staaten wieder mit aller Dringlichkeit mahnten, die Verschlagenheit der sowjetischen Machthaber nicht zu unterschätzen. Vom Leben längst schon losgelassen und nichts mehr für sich persönlich erwartend, leben sie noch heute in der Sorge um ihr verlorenes Vaterland. In ihrem Benehmen sind sie betont höflich und pflegen, im Gegensatz zur völligen Formlosigkeit der heutigen Sowjetrussen, alte Konventionen auch unter den entarteten Verhältnissen des Lagers. Sie sind die wenigen überlebenden Söhne einer schon vor ihnen gestorbenen Zeit.

Die Intellektuellen Von vornherein politisch verdächtig

Ich hörte, was die Hunde heulen. — Eine zweite, sehr umfangreiche und bedeutende Gruppe bilden die Intellektuellen, die sich vornehmlich aus Technikern, Ingenieuren, Agronomen, Offizieren der Roten Armee und aus Beamten des Planapparates zusammensetzen. Das Gefangenen-schicksal hat sie ereilt, weil sie, oft ohne es zu wissen, zu irgendeiner suspekt gewordenen politischen Gruppe oder zu einem politisch suspekt gewordenen Menschen freundschaftliche oder auch nur gesellschaftliche Beziehungen hatten. Die Unsicherheit in der Sowjetzone ist so groß, daß man am besten überhaupt keine Beziehungen hat. Denn wer heute noch ein angesehener Mann ist, kann schon morgen verdächtig sein und verhaftet werden. Die politische Suspektheit ist wie eine heimtückische Seuche, die überall lauert und die man im Inkubationsstadium niemandem ansieht. Man kann sich noch ganz gesund fühlen und doch schon angesteckt sein. Wer weiß, ob man, während man noch ißt und trinkt und fröhlich ist, nicht schon auf der Liste der NKWD steht? Weil man zur Schicht der Intellektuellen gehört, inkliniert man schon zu dieser ansteckenden Krankheit politischer Verdächtigkeit. Die Machthaber der NKWD haben ein natürliches Mißtrauen gegen die Intellektuellen: Es geht ihnen mit den Intellektuellen wie dem Cäsar mit Cassius in Shakespeares Julius Cäsar:

„Der Cassius dort hat einen holden BlicJ^;

Er denkt zuviel: die Leute sind gefährlich! ‘ Ein ebenso häufiger Grund für die Verhaftung von Intellektuellen liegt darin, daß sie in ihrem Beruf eine Manipulation vorgenommen haben. Fast jeder Inhaber einer verantwortlichen Stellung muß in der Sowjetunion manipulieren. Ich spreche hier nicht von Betrug oder Veruntreuung, wie er in jedem Lande bestraft wird, sondern das, was ich „manipulieren“ nenne, ist ein Verbrechen, das es nur in der Sowjet-Union und in den Ländern, die unter ihrem Einfluß stehen, gibt. Manipulieren bedeutet, die Wirklichkeit der Betriebsarbeit mit dem gesetzten Plan irgendwie in Übereinstimmung zu bringen. Der Plan (Fünfjahresplan, Jahresplan, oder Vierteljahresplan) ist das tyrannische Gesetz, das jedem landwirtschaftlichen oder industriellen Betrieb auferlegt ist. Die unvermeidlichen Spannungen zwischen der Konstruktion des Plans, der in einem der vielen Planungsämter Moskaus ausgearbeitet wurde, und der Wirklichkeit der Wirtschaft, bzw.der Wirklichkeit des unberechenbaren Lebens muß der Verantwortliche irgendwie überbrücken. Wird der Plan nicht erfüllt, so kann der Verantwortliche strafbar gemacht werden oder er muß doch lange und unerquickliche Verhandlungen darüber führen, warum der Plan nicht erfüllt oder übererfüllt werden konnte. So muß er, will er sich nicht als unfähig erweisen, oder gar wegen Plan-Sabotage angezeigt werden, entweder Leistungen vortäuschen, die nicht da waren, oder Schwierigkeiten erfinden, die nicht da waren. Wo die Erfüllung des Plans aber manipuliert ist, wo der Bleistift hilft, das Plan-soll zu erfüllen, das die Arbeitsleistung nicht erreichen konnte, da ist der Verantwortliche ebenfalls strafbar. Was soll er machen? Das Risiko des Verantwortlichen hängt ständig zwischen Prämie und Lager. Das Lager ist der negative Gegenpol der Prämie. Aber die russische Justitia ist auf beiden Augen blind. Gar mancher ist schon für den Rest seines Lebens ins Lager gewandert, der eine Prämie verdient hätte, und nicht zu zählen sind die Empfänger hoher Prämien, die das Lager verdient hätten.

AIs die philosophisch gebildeten Russen, denen man auf der Universität beigebracht hatte, der Gegensatz zwischen der Weltanschauung des Westens und der Weltanschauung der östlichen Welt bestehe darin, daß die östliche Welt auf dem klaren Boden des dialektischen Materialismus stehe, während die westliche den Idealismus auf ihre Fahne geschrieben hätte, nach Deutschland kamen, erwarteten sie, zum erstenmal in ihrem Leben überzeugten Anhänger Fichtes, Hegels oder Schellings zu begegnen. Soweit ihr philosophisches Interesse lebendig war, erwarteten sie mit Spannung die Begegnung mit einem Gegner, dessen philosophische Haltung sie bis dahin immer nur referiert bekommen hatten. Aber wie überrascht waren sie, als es ihnen nicht gelang, unter den deutschen Intellektuellen irgendwo einen überzeugten Hegelianer oder Kantianer aufzubringen, mit dem sie die Klingen kreuzen können. Im Lande des „Deutschen Idealismus“ fanden sie nur höchst selten einmal einen geschulten und überzeugten Idealisten.

Genau die gleiche Überraschung erlebten wir bei der Begegnung mit russischen Intellektuellen. Wir waren baß erstaunt, keine überzeugten Kommunisten, Leninisten oder Stalinisten zu finden. Die Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei beträgt bei einer Bevölkerungszahl von 207 Millionen etwa 7 Millionen.

Kommunismus: Jargon der herrschenden Klasse

An dem Gespräch um die Dogmatik und Praxis des Kommunismus hat jedoch nur eine ganz kleine intellektuelle Oberschicht teil. Es sind diejenigen, die durch eine lange, opferreiche, anstrengende, enttäuschungsreiche politische Schulung hindurchgegangen und zu zukünftiger Herrschaft berufen sind, nachdem sie mit tausenden Wasser gewaschen und durch tausend Siebe gesiebt worden sind. Die Masse des Volkes und die Masse der Intellektuellen sind davon so wenig berührt, wie die Wassermassen in der Tiefe des Ozeans von den Wellenbewegungen an der Oberfläche des Meeres. Während der Kommunismus in Frankreich ein freiheitliches Ressentiment darstellt, das auf dem Irrtum beruht, der Pazifismus und Freiheit von Unterdrückung sei mit Kommunimus identisch, während der Kommunismus in Deutschland die Zustimmung zu einer Lehre und eine heilige Überzeugung ist, ist er in der Sowjetunion der Jargon der herrschenden Klasse, den man hinnimmt, wie man es hinnehmen muß, daß es regnet, stürmt oder schneit. Der wissenschaftliche Marxismus ist in der Sowjetunion kein Erkennungsmittel zur Durchleuchtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern er ist längst zur konventionellen Ideologie entartet, die nicht mehr die Aufgabe hat, die Wirklichkeit zu erhellen, sondern sie zu verbrämen. Sie ist längst das Allzweckwerkzeug geworden, mit dem man alles machen kann, das Mittel, mit dem man jeden Zweck heiligen kann. Ich habe in der Zeit, die ich in der Sowjetunion verbracht habe, nur einen einzigen wirklichen Kommunisten kennengelernt und dieser eine war ein menschlich und kameradschaftlich überaus schätzenswerter deutscher Jude, der heute, wenig mehr als ein Jahr nach seiner Entlassung aus der SU, schon wieder in einem Gefängnis der DDR schmachtet. Man muß sich so deutlich wie möglich den Unterschied klar machen zwischen dem Charakter, den der Kommunismus in den europäischen Ländern und den er in der Sowjetunion hat. In allen Ländern der westlichen Welt ist der Kommunismus eine Theorie, die man wahlweise annehmen oder ablehnen kann. In der Sowjetunion ist er nicht eine Lehre, eine Überzeugung, er ist vielmehr „das gesellschaftliche Sein , aus dem man nicht weglaufen kann, das jeden Einzelnen von der Wiege bis zum Grabe umgibt wie die Luft, die man atmet, wie die barometrischen Druckverhältnisse, unter denen man lebt. Eine Über-zeugung ist aber, solange sie nichts als Überzeugung ist, noch gar nicht in die Zeit eingegangen. Sie ist noch gar nicht Geschichte geworden.

In Rußland ist sie geschichtliches Ereignis geworden mit dem Eindruck der Unabänderlichkeit und Unaufhebbarkeit. In der geschichtlichen Unabänderlichkeit, in ihrer raumhaften Faktizität, in ihrerjeden Menschen leiblich und seelisch behafteten Realität liegt der Einfluß dieser Lehre auf die Intellektuellen. Es ist nicht die Überzeugung von der Richtigkeit des dialektischen Materialismus, der marxistischen Mehrwertlehre, der Akkumulation des Kapitals, die sie bestimmt, sondern das handfeste Argument der Macht und des tatsächlichen Einflusses, den der Bolschewismus im eigenen Land und in der Welt ausübt. In den Partei-und Kominternschulen wird größter Nachdruck auf eine theoretische Ausbildung gelegt. Dort werden die Geschichte der KPD, die Geschichte der KPdSLI, Politische Ökonomie, dialektischer und historischer Materialismus, die Geschichte der kommunistischen Internationale, die Geschichte der russischen und der chinesischen Revolution bis zum Erbrechen gepaukt. Aber dieses Wissen bleibt ein gleichsam esoterisches Wissen für die Partei-und Staatsfunktionäre, — und die Führung scheint genau zu wissen, daß das durch den Bolschewismus bestimmte „gesellschaftliche Sein" für alle Intellektuellen ein viel durchschlagenderes Argument ist. Vielleicht spielen auch Erwägungen eine Rolle, daß die marxistische Lehre ein gar nicht ungefährliches Instrument in den Händen intellektueller Menschen ist. Sie könnten ja möglicherweise auf den Gedanken kommen, die Lehren des Marxismus, die doch zweifellos nicht auf einen Freiheitsverlust, sondern auf einen Freiheitsgewinn der Menschen und auf eine Steigerung ihres Glückanspruches zielten, zu einem Maßstab der Beurteilung des Sowjetsystems zu machen. Es könnten die marxistischen Lehren in der Hand der Intellektuellen zu Oppositionsgruppen und zu „Abweichungen von der Parteilinie“ führen, zu denen es immer wieder gekommen ist. Denn tatsächlich sind alle Wandlungen und Gefährdungen des Sowjetsystems in der Vergangenheit aus den Reihen der Intellektuellen gekommen. Was sind eigentlich die Intellektuellen in marxistischer Sicht? Stalin neigte dazu, sie selbst als eine „Klasse zu sehen und er hat alles getan, sie in seiner Umgebung auszurotten. Von den 15 Mitgliedern der ersten Sowjetregierung sind vier gestorben, Trotzki in der Verbannung umgebracht worden, alle anderen wurden von der NKWD verhaftet und gerichtet. Stalin allein ist übriggeblieben. Von den 21 Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom Jahre 1917 sind drei eines natürlichen Todes gestorben, 16 von der NKWD hingerichtet und zwei übrig geblieben: Stalin und Alexandra Kollontai. Lenin dagegen hat gewarnt, die Intellektuellen als eine Klasse anzusehen. Für ihn verkörpern sie eine der wichtigsten Funktionen einer Klasse. Sie verkörpern das Denk-und Urteilsvermögen einer Klasse. Darum war es sein vornehmstes Ziel und seine heißeste Bemühung, die Intelligenz des Bürgertums in die Klasse des Proletariats hinüberzuziehen. Schon in den allerersten schweren Notjahren des Bürgerkrieges zwischen Weiß und Rot, tat der junge kommunistische Staat alles nur Erdenkliche zur Förderung der Wissenschaft. — Stalins Wüten gegen die Intellektuellen in der Parteiführung beweist jedoch, wie sehr er den Marxismus in der Hand der Intellektuellen fürchtete. Es ist darum kein Wunder, daß die Beschäftigung mit den Lehren des Marxismus außerhalb des esotorischen Kreises von ausgesuchten Parteifunktionären nicht gerade forciert wird. Wir trafen unter den sowjetischen Gefangenen des Lagers nur ganz wenige ehemalige Parteifunktionäre, die bei einer der vielen Änderungen des Parteikurses in Ungnade gefallen waren. Man erzählte sich im Lager, die Sowjetunion unterhalte für Parteifunktionäre eigene geschlossene Lager, eine Behauptung, die große Wahrscheinlichkeit für sich hat.

Primitiver Geschichtsdeterminismus bei den Gebildeten

Aber gerade weil die Intellektuellen, denen ich in meiner Lagerzeit begegnete, keine verschworenen Parteigänger waren, war es mir interessant, festzustellen, was sie dachten, welche Lehren und Gedankengänge auf ihr Bewußtsein von starkem, welche nur von geringem Einfluß waren. Gerade, weil ihrem Denken nicht der Stempel des Systems aufgepreßt war, konnte man an ihnen inne werden, welche Lehren des Kommunismus unter dem Eindruck einer ständigen Wiederholung schließlich akzeptiert, und welchen Fragen gegenüber sie sich eine gewisse Selbständigkeit zu erhalten vermochten. Da ist es nun interessant, festzustellen, daß ein primitiver, verkürzter Darwinismus die Intellektuellen und darüber hinaus weite Kreise des Volkes geprägt hat. Bei den meisten Intellektuellen, selbst bei denen, die dem kommunistischen System ausgesprochen ablehnend oder kritisch gegenüberstehen, begegnet man in trauriger Gleichförmigkeit einem massiven Geschichtsdeterminismus, der in der sowjetischen Propaganda eine weit größere Rolle spielt als die Lehren, die wir gemeinhin im Westen unter dem Begriff des „Marxismus“ zusammenfassen. In allen Schulbüchern und in den vielen, vielen gemeinverständlichen Schriften, in denen Rechenschaftsberichte über ein wissenschaftliches Teilgebiet gegeben werden, kehrt die Lehre von dem unabwendbaren Weg der Geschichte von der Sklaverei zum Feudalismus, von diesem zum Kapitalismus, vom Kapitalismus über die Monopolherrschaft zum Imperialismus und schließlich zur kommunistischen Revolution in stereotyper Gleichförmigkeit wieder. Dieser Geschichtskausalismus wird dadurch kräftig unterstrichen, daß die ganze Entwicklung der Natur und der Lebensformen auf der Erde einbezogen wird. Die Entwicklung des Lebens vom einfachsten einzelligen Organismus bis zur differenziertesten Gestalt, die Entwicklung des Menschen aus einem gemeinsamen Wurzelstock des Privatstammes erscheinen in dieser Betrachtung wie ein Vorspiel der soziologischen Umwälzungen und Entwicklungen der Geschichte. Die sowjetische Revolution bzw. die politischen Tendenzen des Kommunismus erhalten durch diese Darstellung so etwas wie die Würde und Erhabenheit eines Naturgesetzes. Der tiefgreifende — von Karl Marx sehr wohl beachtete — Unterschied zwischen Natur und Geschichte wird durch den schillernden und verführerischen, zur Gedankenträgheit geradezu ermunternden Begriff der „Entwicklung“ überdeckt. Indem der Begriff der Entwicklung bei jeder Gelegenheit verwendet wird, wird die Tatsache verschleiert, daß die Entwicklung in der Geschichte ihr Subjekt und ihren Regisseur im Menschen hat, daß aber die „Entwicklung in der Natur" eigentlich kein Subjekt hat, und daß die merkwürdige Planmäßigkeit und Regie in der Natur trotz aller biologischen Erkenntnisse in völliges Dunkel gehüllt ist. Darwins. Erklärungsprinzip der Entwicklung „der Daseinskampf“ und „das Überleben des Tüchtigsten“ als gestaltendes Prinzip wird unterschlagen, da es ja ein typisch bürgerliches Lebensprinzip ist, das hier der Natur unterschoben wird. Karl Marx, der Darwins Lebens-leistung verehrte und ursprünglich einmal die Absicht hatte, ihm „Das Kapital“ zu widmen, hat diese Absicht fallen lassen, weil er die bürgerlich-kapitalistische Herkunft des darwinistischen Entwicklungsprinzips der „Auswahl des Tüchtigsten“ im Konkurrenzkampf des Daseins sehr deutlich empfand. Es genügt der sowjetischen Propaganda im Kampf gegen die im russischen Volk immer noch lebendige christliche Anthropologie, den Menschen als das Erzeugnis einer organischen Entwicklungsreihe zu verstehen, und mir scheint, daß an diesem Punkte die sowjetische Propaganda im Bewußtsein der Intellektuellen, der Anhänger und der Gegner des Systems, ihr Ziel weithin erreicht hat. Der Mensch steht nicht mehr zwischen Gott und der Erde, aus der er auch nach biblischen Glauben gemacht ist, sondern er ist nur noch von der Erde und für die Beherrschung der Erde da. Das Wissen darum, daß der Mensch mit all seinem Planen und Zielen im Gegenüber zu Gott steht, daß er von ihm her und auf ihn hin geschaffen ist, ist auch in der Sowjetunion „den Weisen und Klugen verborgen“ und allein „den Unmündigen offenbar“. In vielen Gesprächen mußte ich erfahren, wie fremd gerade den intellektuellen Russen alle christlichen, ja alle religiösen Gedankengänge geworden sind, und wie naiv sie ihren Atheismus mit Wissenschaft gleichsetzen. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist auch für den Gegner des kommunistischen Systems die Geschichte des Atheismus. Man wird in der Sowjetunion davon überrascht, wie ein wissentlich falsch interpretierter und verkürzter Darwinismus, die Experimente des Pflanzenzüchters Mitschurin und die Lehren des vor allem unter russischen Studenten umstrittenen Pflanzenmagiers Lyssenko für den Marxismus viel wichtigere Bundesgenossen sind als die Schriften von Karl Marx und Engels. Durch naturwissenschaftliche „Beweise“ soll der Intellektuelle zu dem Analogieschluß bewogen werden: wie sich aus dem anorganischen organisches Leben, wie sich aus dem Einzeller hoch-entwickelte Lebewesen, wie sich aus einem Primatenstamm der Mensch entwickelt hat, so entwickelt sich auch in der Gesellschaft notwendig, zwangsläufig, nturnotwendig der Sowjetismus aus dem Kapitalismus.

Kein Wesen wird als Kronzeuge für den Kommunismus augenblicklich so intensiv umworben wie das Virus. Ein Zoologe erzählte mir, daß der Sowjetstaat im Süden Rußlands Dutzende von Laboratorien mit allen nur denkbaren Mitteln ausstattet, um das Virus im Rotz von Kamelstuten zu untersuchen. An das Virus heftet sich die ganze Hoffnung der Polit-Zoologen, den Nachweis erbringen zu können, das Virus bezeichne jenen gesuchten Punkt, an dem anorganischer Stoff in organisches Leben „umschlage“. Nur schade, daß das Virus überall da, wo es auftaucht, als Schmarotzer an einer hochentwickelten Lebensgestalt auftaucht! Es setzt also die höheren Daseinsformen voraus, die es eigentlich begründen sollte. Immerhin sind die Intellektuellen der Sowjetunion für alle diese höchst fragwürdigen Gedankengänge sehr anfällig, ohne daß der Gedanke an die soziologische Entwicklung bei ihnen von der geringsten Begeisterung begleitet wäre. So wie im Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts in ganz Europa die Natur — und zwar eine entgöttlichte und entgeistigte Natur — an die Stelle Gottes getreten war, so ist in der Sowjetunion die Geschichte — zu Gott geworden. Sie ist ein sehr grausamer Gott, ein Gott, der wie Chronos von Zeit zu Zeit alle seine Kinder frißt.

Weil Determinismus und Kausalismus das ganze Denken der Intellektuellen bestimmen, so begegnet im Gespräch mit ihnen sehr häufig die überraschende Tatsache, daß sie vom zwangsläufigen Sieg des Kommunismus überzeugt sind, aber daß diese Überzeugung ohne eine Spur von Freude und Zuversicht ist, ohne den Rausch der Utopie, den man im Westen dem Kommunismus gerne andichtet. Der Rausch der Utopie ist längst in den anderen Aggregatzustand der Enttäuschung und Ernüchterung übergegangen. Die Zukunftserwartung ist längst zum grauen und belastenden Alltag geworden. Viele glauben an den Sieg des Kommunismus, aber sie glauben an ihn wie an ein nicht anwendbares Fatum, wie an ein unausweichliches Verhängnis. Ihr Glaube erinnert an die Bedrückung, mit der in der Zeit des Dritten Reiches manche Juden an den endlichen Sieg des Nationalsozialismus glaubten.

Wir sagten, daß der Geschichtsdeterminismus, der mit Argumenten aus der Naturwissenschaft und der Geschichte begründet wird, auf die Intellektuellen einen nachhaltigen Einfluß habe. Neben dieses weltanschauliche Motiv tritt als zweites ein emotionales: der russische Patriotismus. So wenig wie genuin marxistische Gedankengänge in das allgemeine Bewußtsein Eingang gefunden haben, so breit und mächtig ist der Einfluß der nationalen Argumente und die Ansprechbarkeit des Russen auf seinen Pariotismus. Er liebt Rußland und er liebt es um so mehr, als er fühlt, daß die westliche Welt mit spöttischer Überlegenheit auf russische Lebensformen herabsieht. Stalin hat genau gewußt, was er tat, als er vor und während des Krieges an das Vaterlandsgefühl der Russen appellierte, und als er den Krieg zum „Vaterländischen Krieg“ erklärte, ein Terminismus, unter welchem im russischen Sprachgebrauch und auch im Sprachgebrauch russischer Geschichtswissenschaft bis dahin der Krieg gegen Napoleon bezeichnet wurde.

Die ganze Propaganda der Sowjetunion unter den kolonialen und halbkolonialen Völkern, aber auch in allen Völkern, die wie Deutschland in nationaler Bedrängnis leben, segelt unter dem Großsegel der „nationalen Erweckung“, der „vaterländischen Bewegung , der „nationalen Front“. Ukrainer, Kaukasier, Georgier, Kirgisen, Kalmücken, Kasachen, Armenier, Dadschiken, Turkmenen, Tataren empfinden sich alle als selbständige Völker. Dasselbe gilt aber erst recht von Esten, Karelofinnen, Litauern, Letten, Bessarabiern und Polen, deren Kultur der russischen überlegen ist. Sie alle wollen nicht als Russen, sondern als das, was sie völkisch sind, angesprochen werden. An dem Nationalismus dieser Völker findet der sowjetische Patriotismus seine Grenzen, Grenzen, die er niemals niederbrechen wird. ____ _

Die Juden Später Ausbruch aus dem Ghetto

Einen Teil der Intellektuellen in der Sowjetunion bilden die Juden. Sie stellen einen hohen Prozentsatz der Ingenieure, Techniker, Forscher, Wissenschaftler, Agronomen und vor allem der Kulturfunktionäre. Natürlich stehen sie auch an all den Stellen, wo man rechnen und mit Geld umgehen muß, in der Verwaltung der Magazine und Lebensmittel-basen. Wenn man sich die Lage der Juden in der Sowjetunion klarmachen will, darf man nicht von europäischen Gesichtspunkten ausgehen. Man muß sich vor Augen halten, daß die im Bewußtsein der Allgemeinheit eine völlig andere Stellung einnehmen als in Europa oder in Amerika. In Europa haben sie sich seit 100 bis 200 Jahren alle die Privilegien erworben, die jeder Staatsbürger auch hat. Es gelang ihnen, das mittelalterliche Ghetto zu sprengen und sich den Völkern, in denen sie ursprünglich ausgeschlossen vom Reichtum der Nation, der im Besitz an Grund und Boden bestand, haben sie sich in allen europäischen Staaten alle Privilegien erkämpft, die Gleichheit vor dem Gesetz, die staatsbürgerliche Gleichberechtigung, den Zugang zu allen Berufen. Ja, sie haben in vielen Berufen außerordentliche Spitzenleistungen hervorgebracht. Heinrich Heine wurde nicht ein jiddischer, sondern ein deutscher Dichter. Mendelssohn-Bartholdy musisierte im Geist und mit dem musikalischen Elementen, die die deutsche Musik ihm anbot. Der Philosoph Mendelsohn beeinflußte aufs tiefste die Philosophie der deutschen Aufklärung. Bis auf den heutigen Tag bestimmt er, ohne daß es den meisten bewußt ist, das Verhältnis, in dem die Konfessionen auf deutschem Boden Zusammenleben. Mehr als die meisten Konservativen es ahnten, war ihre Lebensanschauung und ihr politisches Bild durch den Juden Friedrich Julius Stahl bestimmt. Und trotz des Nationalsozialismus haben in der Gegenwart Schriftsteller vom Rang eines Lion Feuchtwanger, Max Brod, Arnold und Stefan Zweig ihr Teil zur Weltgeltung der deutschen Literatur beigetragen.

Und wie die Dinge in Deutschland liefen, so entwickelten sie sich ähnlich in allen Ländern Europas und Amerikas. Mit einem Wort: die Juden gaben in Europa und in Amerika ihren Volkstumscharakter preis.

Sie wurden in Frankreich zu Franzosen, in England zu Engländern, in Deutschland zu Deutschen, und diese Emanzipationsbewegung hat nur in der Zeit des Dritten Reiches in Deutschland eine für die Juden überaus leidvolle und für uns Deutsche überaus beschämende Unterbrechung erfahren.

Ganz anders liegen die Dinge in der Sowjetunion. Der Zarismus gab einer jüdischen Emanzipationsbewegung keinen Raum. Dort sind die Juden bis zum Jahre 1917 das geblieben, was sie in der mittelalterlichen Welt einmal in ganz Europa waren, ein fremdes Volk, das einem fremden glauben huldigte und das im Namen Christi — welch eine Schändung seines Namens! — verfolgt wurde. Der Zarismus war fremden Nationalitäten und fremden Konfessionen gegenüber immer von außerordentlicher Duldsamkeit. Keine Armee der Welt hatte an hervorragenden Stellen so viele Offiziere fremder Nationalität wie die zaristische. Und kein Land der Welt gab Experten fremder Nationalität solche Möglichkeiten wie das russische. Das russische Volk hat mit dem deutschen Volk die Eigenschaft der Philoxenie, d. h. einer urprünglichen Fremdenliebe gemeinsam. Aber von dieser Regel gab es eine Ausnahme. Das war das Verhältnis des Zarismus zum jüdischen Volk. Der Umstand, daß in Galizien und in der Ukraine die Juden zusammengepfercht saßen, hat seine Ursache in der Tatsache, daß unter dem Zarismus ganze Distrikte durch administrative Anordnung von einem Tag auf den andern „judenfrei“ gemacht wurden. So wie die mittelalterlichen Städte das jüdische Element im Ghetto einschlossen, so bildete Galizien gleichsam das Ghetto des zaristischen Rußlands. Kann es da verwundern, daß das russische Judentum danach drängte, Anschluß zu gewinnen an die europäische Emanzipationsbewegung? Und gab es eine andere Möglichkeit, diesen Anschluß zu gewinnen, als das Zusammengehen mit einer revolutionären Bewegung, die den Zarismus hinwegfegen wollte? Es bestand also von vorneherein ein natürliches geschichtliches Gefälle, das die jüdische Emanzipationsbewegung und die revolutionäre Bewegung der Arbeiter und Bauern zusammenfließen ließ. Es kann uns ebensowenig wundern, daß einzelne bedeutende Juden wie Trotzky, Swerdlowsk, Radek usw. in das Führungskorps der Revolution aufstiegen, und daß viele weniger bedeutende, aber begabte Juden bis auf den heutigen Tag in den unteren Stellen der Verwaltung und, was für sie noch gefährlicher ist, in entscheidenden Stellen der Gerichtsbarkeit sitzen.

Für die Juden in der Sowjetunion hat erst die Revolution von 1917 die Möglichkeit gesellschaftlicier Entfaltung und Zugang zu allen Berufen, die sie in Europa seit etwa 100 Jahren haben, geschaffen. — Die Kennzeichen eines Volkstums sind: geschlossener Wohnbezirk, eigene Sprache, eigene Religion, eigene Wirtschaftsform. Alle diese Kennzeichen prägten den Charakter des russischen Judentums vor 1917.

Sie wohnten auf engem Raum in geschlossenen Dörfern in der Ukraine, in Galizien bzw. Polen. — Sie sprachen untereinander Jiddisch, eine seltsame Mischsprache aus deutschen und hebräischen Sprachelementen. — Sie besaßen im Talmudglauben ihre eigene Religion und ihren eigenen Kultus und sie hatten eine eigene, ihr gesellschaftliches Leben bestimmende Wirtschaftsform, nämlich das Kleingewerbe. Ihre Wirtschaftsform war also von der Wirtschaftsform ihrer Umgebung, von der bäuerlichen einerseits, von der für Rußland typischen großagrarischen andererseits, deutlich unterschieden. Die Revolution von 1917 löst alle diese volklichen Gebundenheiten auf. Die Juden gewannen Freizügigkeit durch die ganze Sowjetunion. Sie befleißigten sich, auch untereinander nicht mehr jiddisch zu sprechen. Bis auf kleine bewußt jüdische Kreise, die eine ernst zu nehmende jiddische Literatur hervorgebracht haben, begannen sie, sich der jiddischen Sprache zu schämen.

Ja, weithin waren und sind es heute die Juden, die in Zirkeln und Klubveranstaltungen bzw. als Theaterdirektoren und Regisseure die Pflege der russischen klassischen Literatur und die Pflege des Theaters und des Balletts sich angelegen sein lassen. — Die meisten Juden schämen sich auch des Talmudglaubens und haben sich die materialistische Weltanschauung zü eigen gemacht. Soweit die Juden zur Synagoge gehören, pflegen sie auch heute noch das Jiddische. Es ist ihnen kein belächelter Jargon, der in der Nähe der Gaunersprache steht, sondern es gibt jiddische Lyriker und jiddische Romanciers, die diese Sprache so lieben und sich so zu ihr bekennen, wie Fritz Reuter, Klaus Groth und andere sich zum verachteten Plattdeutschen bekannten.

Wenn auf diese Weise auch die Volkstumsgrundlagen seit dem Jahre 1917 für die Juden geschwunden sind, so ist das Bewußtsein, daß die Juden ein Volk seien, doch nicht im Bewußtsein des russischen Volkes verschwunden. Es pflegt ja stets das gesellschaftliche Bewußtsein den gesellschaftlichen Veränderungen Jahrzehnte, ja oftmals ein Jahrhundert hinterherzuhinken. Wir werden uns also nicht wundern, daß ein Russe oder ein Ukrainer einen Juden nicht als Russen, sondern als Juden betrachtet. Wenn ein deutscher Jude auf die Frage, was er für eine Nationalität habe, antwortete, er sei Deutscher, so bekam er regelmäßig zur Antwort: „Du nix Deutscher, du Jude!“ Und wenn darauf die Deutschen sich zu dem Juden als zu ihrem Landsmann bekannten, so entwickelte sich eine Debatte, in der die Russen erklärten, er könne nicht ein „deutscher Jude“, sondern nur entweder ein Jude oder ein Deutscher sein.

Während der Russe aber mit all den vielfältigen und an Gestalt, Wuchs, Haarfarbe, Sprache, Lebensgewohnheiten so verschiedenen Völkern auf seinem Territorium im großen und ganzen im Frieden lebt, schwelt der Antisemitismus dauernd unter der Oberfläche, züngelt er ständig aus der Asche einer verfassungsmäßig verbrieften Gleichberechtigung ohne Unterschied der Rasse, der Nationalität und der Konfession. Im Gegensatz zu Deutschland, wo der Antisemitismus den Menschen durch den Nationalsozialismus künstlich aufgepfropft wurde, ist in der Sowjetunion der Antisemitismus volkstümlich. Ja, der aus der Zeit des Zarismus überkommene Antisemitismus hat neue Nahrung dadurch erhalten, daß in der Administration und in der gefürchteten GPU viele Untersuchungsführer Juden waren und noch sind.

Die Juden haben es in der Sowjetunion gleichsam mit einem doppelten Antisemitismus zu tun: einem, der von unten, und einem anderen, der von oben droht. Der Antisemitismus von unten bedeutet für sie eine dauernde und betrübende Lebenserschwerung. Für sich allein ist er aber keine Gefahr. Er wird in dem Augenblick zu einer tödlichen Gefahr, wo der Antisemitismus von unten mit dem von oben zusammenschlägt. Der Antisemitismus von oben gewann in der Zeit unmittelbar vor Stalins Tod so bedenkliche Formen, daß die Juden in der ganzen Sowjetunion Pogrome fürchteten. Es scheint mir kein Zweifel zu bestehen, daß man das Judentum für die politische Fehlentwicklung der letzten Jahre verantwortlich gemacht hätte, wenn nicht Berija und seine Helfershelfer gerade noch rechtzeitig entlarvt und gestürzt worden wären. Die erste Amtshandlung der auf Stalin folgenden Regierung Malenkow war ja die Aufhebung der Verurteilung der jüdischen Ärzte, die fälschlich beschuldigt wurden, Morde an hohen Parteifunktionären vorbereitet zu haben. Presse, Propaganda, Film und Karikatur waren bereits auf dem Wege einer sehr peinlichen antisemitischen Hetze. In den Zeitungen, in den Witzblättern und im Film waren bereits Karikaturen zu sehen, die den unseligen „Stürmer“ -Karikaturen des Dritten Reiches nichts nachgaben.

Die Verhaftungswelle gegen die Juden steigerte sich seit dem Jahre 1950. Die meisten‘wurden entweder der Sabotage oder geheimer Beziehungen zum Staate Israel bezichtigt. In manchen Lagern betrug der Anteil der Juden an der Lagerbelegschaft bis zu 10 %.

So befinden sich die Juden dem Bolschewismus gegenüber in einer Zwitterstellung. Sie verdanken der Revolution von 1917 die Aufhebung jahrhundertelanger Unterdrückung und Deklassierung. Sie danken ihr die relative Freizügigkeit, die der Bürger in der Sowjetunion hat, und die Möglichkeit gesellschaftlicher Mitarbeit und Entfaltung. Aber sie empfinden sehr deutlich, daß sie gegen den ehemaligen Zwang, der ihnen als Rasse galt, und der sie unter Ausnahmerecht stellte, einen Zwang eingetauscht haben, unter dem die ganze Gesellschaft leidet, deren Teil sie sind. Ihre Augen schweifen über die Grenzen des sowjetischen Staates, und sie sind zu klug, als daß sie nicht sähen, unter welch glücklicheren Umständen ihre Rassegenossen in den westeuropäischen Ländern oder in Israel leben.

Die herrschenden Mächte aber wittern diese Skepsis, diese halbe Opposition, die zumeist nur im Gedanken besteht. Für die Herrschenden sind alle Oppositionellen „Doppelzüngler“. Durch ihre Spitzel und Provokateure decken sie diese halbe Opposition auf und schicken ihre Träger in die entlegensten Lager.

Zwischen politischer Verdächtigung und Antisemitismus

So leben die Juden in der Sowjetunion in der ständigen Angst zwischen der Verdächtigung von oben und der antisemitischen Stimmung von unten. Sie schweben zwar nicht in ständiger direkter Lebensgefährdung wie im Deutschland Adolf Hitlers, doch leben sie in einer feindlichen und höhnischen Umwelt und ermangeln der menschlichen Wärme.

Wollen sie diese menschliche Wärme finden, so finden sie nur bei ihresgleichen. Sie finden sie, indem sie Rudimente ihres ehemaligen Volkstumscharakters festhalten. So stellen wir die überraschende Tatsache fest, daß die Auflösung des Judentums als eines besonderen Volkes und die Eingliederung in die sowjetische Gesellschaft viel zögernder vor sich gehen, als es die freie Welt auf Grund der pathetischen Propaganda der Sowjetunion — man denke an den Film „Zirkus“ — gegen jede Diskriminierung auf Grund von Rasse oder Konfession oder nationaler Zugehörigkeit glaubt. Obwohl die Revolution von 1917 einer jüdischen Emanzipationsbewegung alle Türen aufgestoßen hat, ist das Tempo der • jüdischen Selbstbefreiung in der Sowjetunion viel schleppender als die entsprechende Bewegung in der bürgerlichen Gesellschaft vor 200 Jahren. Die starken retardierenden Momente sind außerhalb der Grenzen der Sowjetunion nur sehr schwer erkennbar. Sie liegen einmal in dem nicht überwundenen, noch seit der Zeit des Zarismus schwelenden Antisemitismus des Volkes. Sie liegen zweitens in dem engen Anschluß, den viele Juden an das kommunistische Regime vollzogen haben. Diese Tatsache steigert und bestätigt im Bewußtsein des Volkes das, was wir seinen volkstümlichen Antisemitismus genannt haben. Ein drittes retardierendes Moment liegt darin, daß die Machthaber der Sowjetunion sehr wohl wissen, daß die in der Wirtschaft stehenden Juden in jedem Augenbiick die kommunistische Wirtschaftsordnung als eine ihrem Wesen fremde Ordnung zerbrechen würden, wenn sie dazu in der Lage wären.

Ein viertes und sehr wichtiges retardierendes Moment liegt in den außenpolitischen Beziehungen der Sowjetunion zum Staate Israel. Die Juden der Sowjetunion erfahren an ihrem Leibe jede Schwankung dieser Beziehung zum Staate Israel. Solange sich Israel den Schutz der Sowjetunion gegen England gefallen ließ, ging es den Juden in der Sowjetunion erträglich. In dem Maße, wie Israel sich zuerst an England und dann später an Amerika anschloß, verschlechterte sich das Klima für die Juden in der Sowjetunion. Die meisten Juden, die sich im Lager befinden, haben nichts anderes verbrochen, als daß sie andere Juden kannten, mit ihnen eine herzliche oder auch temperierte Freundschaft pflegten und sie besuchten. Möglicherweise haben sie einmal miteinander über die Entwicklung des Staates Israel gesprochen, dessen politischer und wirtschaftlicher Aufbau bei den Juden der Sowjetunion großes Interesse auslöst, weil er ebenfalls planwirtschaftliche und sozialistische Elemente enthält. Das genügte in den meisten Fällen völlig, um die betreffenden Juden wegen geheimer Beziehungen zu einer ausländischen Macht zu verurteilen.

Hält der Jude aber fest zu seiner Synagogengemeinschaft, so erwachsen ihm daraus neue Gefahren, weil die Synagogengemeinschaft in der Sowjetunion genau so suspekt steht mit dem frommen Christen unter dem Verdacht, ein Gegner des Sowjetregimes zu sein. Es kommt hinzu, daß die frommen Juden auch sehr häufig hartnäckig den Volkstums-charakter des russischen Judentums zu erhalten suchen. Sie wollen keine Sowjetrussen sein. Sie wollen nichts anderes sein als das, was sie sind, nämlich Juden. Diese bewußten Juden verfolgt das Sowjetsystem mit besonderem Haß. Ich war im Lager mit einem nicht unbedeutenden jiddischen Romancier zusammen. In der Zeit des „Vaterländischen Krieges“ war er für einen Roman mit dem Stalinpreis ausgezeichnet worden.

Nun war er mit 25 Jahren Zwangsarbeit bestraft. Aber obwohl in einem Regimelager (im Gegensatz zu einem Lager von Katorganen) ein Gefangener auch gewisse Rechte hat, obwohl er zum Beispiel das außerordentlich wichtige Recht hat, arbeitsmäßig nach Maßgabe seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit eingesetzt zu werden, war bei diesem Juden durch das LIrteil jede Vergünstigung ausgeschlossen worden. Er mußte zu der schwersten Arbeit, das heißt als Schaufler unter Tage verwendet werden Kein Arzt und auch keiner der in der Lagerverwaltung tätigen Juden konnten ihm helfen.

Was den Juden in einer solchergestalt feindlichen und oft genug bösartigen Umwelt dennoch hält, sind seine Intelligenz, seine Anpassungsfähigkeit und seine Leistungen auf organisatorischem, technischem und wissenschaftlichem Gebiet, die die Sowjetunion überhaupt nicht entbehren kann.

Das Judentum in der Sowjetunion schaut heute genau so klagend und sehnsüchtig über die Grenzen nach Westeuropa, wie es die Juden zur Zeit des Zarismus taten. Mit großer Geduld tragen sie ein schweres Los.

Auch sie sind arme Hunde, deren leises Stöhnen sich in das Stöhnen aller anderen Leidenden mischt.

Die Frommen Martyrium der Christen

Da wir von den Synagogengemeinschaften gesprochen haben, wollen wir uns nun der Gruppe der Frommen zuwenden. Keine Gruppe hat sich so tapfer den unabsehbaren Leiden, die der Bolschewismus über einen großen Teil der Menschheit brachte, gestellt wie die Frommen. Das All-russische Zentrale Exekutivkomitee hat erklärt, es seien 20 Bischöfe und 1414 Priester im Laufe der Revolution hingerichtet worden. Der 1926 aus Rußland entkommene Bischof Soloveitschik dagegen spricht von 2691 Bischöfen und höheren geistlichen Würdenträgern, 1962 Mönchen, 3474 Priestern, also insgesamt von 8100 Personen geistlichen Standes, die der Revolution zum Opfer gefallen sind. In Warheit gibt es aus den ersten wilden Jahren des Kriegskommunismus überhaupt keine gesicherten Zahlen, da keine zentrale Gewalt Zeit und Möglichkeit hatte, die Toten zu zählen, die die Revolution gekostet hatte. Das Töten war ein notwendiges Geschäft geworden. Nach dem Tode des Pariarchen Tychon und nachdem alle seine Nachfolger in die Gefangenschaft oder in die Verbannung geschickt waren und die Russisch-Orthodoxe Kirche jahrelang ohne Oberhaupt existiert hatte, kam es im März 1927 zu einer Art Friedensschluß zwischen der Orthodoxen Kirche und dem bolchewistisehen Regime, zu dem der Patriarchatsverweser Sergius die Hand reichte.

Sein Programm lautete:

„Wir wüssen nickt nur mit Worten sondern wit der Tat zeigen, daß nickt nur . . . Verräter an der Otkodoxie treue Bürger der Sowjetunion und der Sowjetgewalt gegenüber loyal sein können, sondern auch die allereifrigsten Anhänger der Orthodoxie, denen sie teuer ist als Wahrheit und Leben mit all ihren Dogmen und Überlieferungen, mit allen ihren kanonisdten und gottesdienstlichen Ordnungen.“

Während der Patriarch Tychon ein Märtyrer im altchristlichen Sinne ist, ist der Patriarchatsverwalter und spätere Patriarch Sergius ein moderner Märtyrer, ein Märtyrer qualvoller Gewissensentscheidungen. Durch seine Entscheidung hat er einem ständigen grauenhaften Blutvergießen ein Ende gesetzt und der Orthodoxen Kirche die Existenz in der feindlichen Umwelt des Sowjetregimes ermöglicht. Ich glaube, daß niemand außerhalb der Sowjetunion das Recht hat, ihn einen Verräter zu schelten. Die Orthodoxe Kirche in der Sowjetunion ist eine Kirche in Fesseln, die des ständigen fürbittenden Gebets der ganzen übrigen Christenheit bedürfte, aber eines Gebetes, das sich der eigenen latenten und faktischen Anfäligkeit bewußt bleibt.

Doch die Frage muß gestellt werden: Ist sie nur eine Kirche in Fesseln? Es wäre ihr kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie in Fesseln liegt. Geriet doch auch Christus gefesselt in die Hände des Pilatus, ohne daß er auch nur das Geringste an seiner Würde verlor. Die Frage muß gestellt werden: ist die Russisch-Orthodoxe Kirche noch Kirche Jesu Christi? Ist sie nicht längst zu einer Sowjetkirche geworden? Zwei Rechte erzwang der Staat im Zusammenhang mit dem Kampf um die Loyalitätserklärung des Patriarchatsverwesers Sergius. Er erzwang das Recht der Stellenbesetzung und zweitens gelang ihm ein Einbruch in das Beichtgeheimnis, wobei der sowjetische Staat an eine Regelung, die schon seit Peter I. bestand, anknüpfen konnte. Peter I. legte der. Geistlichen den Zwang auf, gewisse in der Beichte erfahrene Dinge der politischen Polizei zu melden. Der Haß des Kommunismus gegen die Orthodoxe Kirche ist zu einem guten Teil in dieser Praxis der Orthodoxen Kirche in zaristischen Zeit begründet. Die revolutionäre Bewegung hat immer wieder Verluste durch diesen Bruch des Beichtgeheimnisses durch die Kirche selbst zu beklagen gehabt. In der zaristischen Zeit hatte ein Staat, der mit der Kirche in Harmonie lebte, sein Ohr in der Beichte. Heute ist es ein atheistischer Staat, der jedes Beichtgespräch mithören kann. — Das Recht der Stellenbesetzung aber gab dem sowjetischen Staat die Möglichkeit, wichtige Stellen mit ihm ergebenen Personen zu besetzen und alle kirchlichen Hirten, die es mit ihrem Amte ernst nehmen, zu überwachen. Kein Wunder, daß die Frommen in der Sowjetunion weithin vom äußersten Mißtrauen gegen ihre eigene Kirche erfüllt sind, und daß sie in ihr nur ein Appendix der allgemeinen Staats-maschine sehen. Ich kann nicht beurteilen, ob es wahr ist, was einem die Frommen immer wieder ins Ohr flüstern, daß die Sowjetunion ganze Gruppen von Komsomolzen von den Komsomolzenschulen in die Priesterseminare schicke und zu Priestern ausbilden lasse. Ich kann auch nicht beurteilen, ob ihre Behauptung stimmt, daß jeder orthodoxe Priester ein Spitzel sei. Sicher aber ist, daß die Sowjetunion bzw. die NKWD Spitzel in ausreichender Zahl in die Russisch-Orthodoxe Kirche entsendet, um jeden Vorgang in ihr zu beobachten und beeinflussen zu können. Sicher ist ebenso, daß Kommandobrücken der Orthodoxen Kirche mit absolut zuverlässigen Priestern besetzt sind.

Macht und Ohnmacht der Kirche

So wie in Deutschland die Bekennende Kirche gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik ihren Widerspruch anmeldete, so blieb auch in der Sowjetunion der Friedensschluß des Metropoliten Sergius nicht ohne Widerspruch. In Rußland bildete sich im Schoße der Orthodoxen Kirche eine „Katakombenkirche“. Im gleichen Jahr, in dem nach einem längeren Gefängnisaufenthalt der Friedenschluß des Sergius erfolgte, sandten die im Solowki-KIoster inhaftierten Geistlichen ein Sendschreiben an Sergius, in dem sie seine Loyalitätserklärungen gegenüber dem Staat der Lüge ziehen. Sie schrieben unter anderem:

„Wenn aber nun von der Höhe der erhabensten Stelle, vom Hier-ardtenstuhl vor dem Altar, Worte der Heudielei, der Menschenfurdit, der Verleumdung und der Lüge erklingen — feiert die Lüge da nidit ihren endgültigen Sieg? — Entweder ist die Kirche in Wahrheit die reine Braut Christi, das Reidt der Wahrheit, dann ist die Wahrheit die Luft, ohne die wir nidit leben können; oder aber, sie lebt gleich der ganzen im argen liegenden Welt von der Lüge und in der Lüge, dann ist alles Lüge, alles, jedes Wort, jedes Gebet, jedes Sakrament.“ —-Will man die Lage der Orthodoxen Kirche in der Sowjetunion richtig beurteilen, so muß man ihre Macht und ihre Ohnmacht zugleich und mit einem Blick erfassen.

Ihre Ohnmacht besteht in der systematischen und gründlichen Beraubung aller Entfaltungsmöglichkeiten.'Für die Leser, die mit der Lage der Orthodoxen Kirche in der Sowjetunion nicht vertraut sind, zähle ich die wichtigsten Beschränkungen auf, die ihr auferlegt sind. Durch die Revolution von 1917 wurden alle konfessionellen Vorrechte, die zuvor bestanden hatten, abgeschafft und der Religionsunterricht aus den Schulen verbannt. Im Jahre 1918 wurde die Trennung von Staat und Kirche ausgesprochen, und der Staat stellte die Zahlung aller Gelder an die Kirche ein. Wenig später wurden alle Kirchenvermögen beschlagnahmt und den einzelnen Kirchengemeinden mit dem Recht einer juristischen Person auch das Recht, Vermögen zu besitzen, entzogen. Ein Jahr später, im Jahre 1919, wurde der gesamte kirchliche Grundbesitz beschlagnahmt und die Benutzung der Kirchengebäude davon abhängig gemacht, daß sich in einer Gemeinde eine Gruppe von mindestens zwanzig Personen fand, die den Antrag stellte, das Kirchengebäude für kirchlichen Gebrauch zur Verfügung zu stellen, wobei es dem örtlichen Sowjet freistand, das gleiche Gebäude gleichzeitig als Kino oder als weltlichen Versammlungsraum freizugeben. Die Geistlichen wurden als Nichtarbeiter angesehen und als solche behandelt. Das heißt, sie bekamen keine Lebensmittelkarten, sie hatten keine Verdienstmöglichkeiten, ihre Kinder durften keine höhere Schule besuchen. Im Jahre 1922 wurde durch den Artikel 121 des Strafgesetzbuches jeglicher Religionsunterricht an Personen unter achtzehn Jahren bei Strafe verboten. Bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1936 hatten Geistliche weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Sie wurden also nicht anders als Verbrecher oder Idioten behandelt.

Andererseits erklärt aber die große Einflußbreite eines atheistischen Staates, daß die Luft, die man in der Sowjetunion atmet, die der Gottlosigkeit ist. LInzählig viele Menschen können mit den christlichen Aussagen, Bildern, Symbolen nichts mehr anfangen. Ein auf einem Altarbild oder auf einer Ikone gemalter Engel wirkt auf sie wie ein komisches Fabeltier. Die Darstellung des in Himmelshöhen thronenden Gottes empfinden sie als eine lächerliche Vorstellung. Es wirkt auf sie wie ein Bild aus einem Kinderbilderbuch. Kein Flieger, so hoch er auch hinaufgestiegen sei, so erklären sie, habe da auch nur eine Spur von Gott entdeckt. Kirchliches Brauchtum wirkt auf sie wie Schnickschnack, den man mit Kindern treibt, über den aber Erwachsene erhaben sein müßten. Was der Begriff „Glauben“ meint, geht ihnen überhaupt nicht in den Kopf. Ein russischer Zensor, mit dem ich stundenlang über die Herausgabe eines religiösen Buches verhandelte und demgegenüber ich mich auf den Erlaß Chruschtschows über die Freiheit des Glaubens berief, antworte mir: „]a, draußen in der Freiheit ist glauben erlaubt. Aber hier im Lager ist glauben nadidrüddich verboten! Wenn Sie wieder frei sein werden, dann dürfen Sie auch wieder glauben!“ Die Bibel und das Neue Testament sind für sie eine Sammlung von gänzlich unwissenschaftlichen närrischen Erzählungen. In Moskau erlebte ich die Führung einer Komsomolzin durch eine der ehrwürdigen Kirchen des Kreml. Während die Kolchosniki, die zu Besuch nach Moskau gekommen waren, staunend und ehrfürchtig in die großen dunklen Augen des Christus Pantokrator schauten, der aus der Kuppel des feierlichen Raums herab-blickt, sprach eine Komsomolzin auf den Stufen des Altars vor der gro-ßen goldenen Bilderwand stehend, mit einer blechernen Stimme über die Kostbarkeiten dieser Kirche wie über ein seltsames Raritätenkabinett. Ungeachtet aller Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit schauen die meisten Menschen der Generation, die in der Zeit des Bolschewismus ihre geistige Prägung erhalten hat, auf die Dinge des Glaubens wie eine Kuh auf Goethes Faust schauen würde, den man ihr in den Stall reicht. Auch die Kuh sieht ein Buch und darin weiße Blätter, und auf den Blättern schwarze Zeichen, aber es fehlt ihr die Kategorie der Bedeutung. So fehlt diesen glaubenslos gewordenen Russen die Kategorie der Bedeutung von Worten, Bildern, Brauchtum, in denen vergangene Jahrhunderte gelebt haben. Der Lebenswirklichkeit gegenüber fehlt ihnen das, was Paul Tillich die „Tiefendimension“ nennt. „Religion ist der Aspekt der Tiefe im Ganzen des menschlichen Geistes.“ Dieser „Aspekt der Tiefe“ ist ihnen über einem vordergründigen Tatsachendenken verloren gegangen. Europa trägt eine gewaltige Mitschuld an dieser Entwicklung.

Um aber auch einige kritische Bemerkungen über die Gruppe der Frommen zu machen, soweit ich ihr begegnet bin, möchte ich sagen, daß sich die russische Frömmigkeit in zwei Punkten von der unseren so stark unterscheidet, daß es meist nicht zu einem herzlichen brüderlichen Zusammenfinden, wie es unter Christen verschiedener Zonen sich eigentlich ereignen sollte, kommt.

Eifernde Frömmigkeit

Der erste Grund ist der folgende: die russische Frömmigkeit geht fast immer und überall einher mit einer starken Gesetzlichkeit. Als die russischen Christen hörten, daß ich ein deutscher lutherischer Pfarrer sei, und als sie darüber hinaus bemerkten, daß ich nicht rauchte und daß ich auch den im Lager gelegentlich angebotenen Brennspiritus ablehnte, schlossen sie daraus, daß ich ein „guter Priester“ sei. Als sie aber bemerkten, daß ich meine freie Zeit gelegentlich schachspielenderweise verbrachte, legten sie mir mehrere Male freundlich und brüderlich nahe, ich möchte doch auch noch das Schachspielen lassen, damit ich durch diese Beschäftigung nicht abgehalten sei, mich ganz auf das Himmelreich zu richten.

Als ich mir an einem freien Sonntag einen Knopf annähte, kamen gleich mehrere und baten mich, ich möchte das Annähen des Knopfes um des heiligen Sonntags willen um einen Tag verschieben.

Meist gelang es ihnen, am Sonntag nicht zur Arbeit zu gehen. Bei der sowjetischen Arbeitsregelung ist es ein großer Zufall, wenn der „Wichadnoi", d. h.der arbeitsfreie Tag, gerade auf einen Sonntag fällt. Wie erreichten sie die Sonntagsheiligung? Sie bestachen den Arzt. — Welcher russische Arzt wäre nicht bestechlich? Sie gingen am Sonnabend geschlossen zum Ambulatorium und ließen sich für den Sonntag krank schreiben. Da der einzelne zu einer Dauerbestechung zu arm ist, kommt die ganze Gruppe für die vereinbarte Bestechungsprämie auf. — Ein anderes Beispiel: Da Christus in der Bergpredigt gesagt hat, „Wer da betet, der gehe in sein Kämmerlein!“, und da der kleinste Raum in einem russischen Haus die Suschilka, d. h.der überheizte, mit schlechten Gerüchen erfüllte Trockenraum für nasse und vereiste Kleider und Pelze ist, so verstehen die frommen Russen dieses Wort der Bergpredigt:

„Wenn du betest, so gehe in die Suschilka.“ So suchen sie denn zum Gebet vornehmlich diesen schmutzigsten Raum auf, der meist nicht einmal zu lüften ist. Ja, sie nehmen es in Kauf, daß sie durch das ständige Herein-und Herausgehen der Kameraden gestört werden, die ihre Kleider bringen oder abholen, damit nur der gesetzliche Sinn des Wortes erfüllt werde, daß das Gebet auf jeden Fall im kleinsten Raum des Hauses gesprochen wird. — Ihre Gebete vollziehen sie nach einem strengen Ritual, bei dem bestimmte Anreden und Bitten immer wieder durch nach Osten gerichtete feierliche Verbeugungen und durch Kreuzschlagen begleitet werden. Diese gesetzliche Haltung bringt so etwas wie einen Konkurrenzkampf unter den Frommen hervor. Ein Frommer sucht den anderen an Frömmigkeit zu übertrumpfen. Einer sucht länger zu beten, sich tiefer zu verbeugen, sich öfter zu bekreuzigen als der andere. Es gab einzelne von den Frommen rückhaltlos bewunderte Rekordisten der Frömmigkeit, bei denen das Bekreuzigen zu einer Art Zwangshandlung geworden war. Sie bekreuzten sich selbst, das Bett, in dem sie schliefen, das Kopfkissen, ehe sich sich darauf niederlegten, das Wasser, mit dem sie sich wuschen, das Brot und den Kascha, den sie aßen, ein Buch, ehe sie es aufschlugen, die Tür, ehe sie morgens das Haus verließen und ehe sie abends wieder zurückkehrten.

So scheint mir eine penetrante Gesetzlichkeit einer der Züge zu sein, die den Typus dieser Gruppe kennzeichnen. Der zweite zeigt uns eine ähnliche Unfreiheit. Es ist die Unfreiheit gegenüber der modernen Wissenschaft. Den russischen Gläubigen ist die Freiheit, mit der die Christen Europas naturwissenschaftlichen Forschungen gegenüberstehen, völlig unverständlich. Ebenso unverständlich ist diese Freiheit aber auch den atheistischen Vertretern des dialektischen Materialismus. Weithin ist die Konkurrenz, in der das russische orthodoxe Christentum mit der Weltanschauung seiner Gegner steht, eine Konkurrenz zweier Weltbilder, von denen das eine sich ebenso leidenschaftlich auf wissenschaftliche Empirie, wie das andere sich auf ein „Es steht geschrieben" beruft. Der Europäer, der in einem solchen Streit zweier Schrumpfweltbilder zum Makler angerufen wird, kommt in eine peinliche Situation, weil er die Kümmerlichkeit beider dogmatisch behaupteten Weltbilder durchschaut. Es ist die Tragik des Kampfes zwischen der russischen Orthodoxie und dem im Sowjetsystem Gestalt gewordenen dialektischen Materialismus, aaß es immer ein Kampf unter falschen Alternativen war. In der ersten Phase dieses Kampfes schien es den orthodoxen Priestern, Beschöfen und Gläubigen, daß Orthodoxie unter allen LImständen mit der Idee des Zarentums verbunden sein müsse. Diese Hemmung war verständlich, weil das Zarentum länger als ein Jahrtausend mit der Orthodoxie aufs engste verbunden war. In den Verfolgungen von 1921 ging es um die Frage, ob die Orthodoxe Kirche einen namhaften Teil ihrer Schätze an Gold und Silber, an Perlen und Diamanten opfern könnte, um der grauenhaften Hungerkatastrophe im Wolgagebiet zu steuern. Für die Bolschewiken waren all die kostbaren Dinge, die die Kirche besaß, nur Gold und Silber und weiter nichts. Für die Priesterschaft aber waren sie heilige Zeichen, wundertätige Reliquien, Manifestationen des Heiligen. Der Patriarch Tychon verweigerte die Herausgabe. Wiederum ist die Hemmung verständlich, weil die Verehrung heiliger Gegenstände und Vergegenwärtigungen ja geradezu das Herzstück des orthodoxen Glaubens bildet. — Heute geht es für die Gläubigen in der Sowjetunion um die Frage, ob sie das Weltbild des Alten und des Neuen Testaments fahren lassen und dennoch den Glauben an Gott den Vater, den Allmächtigen und Herrn und Schöpfer des Himmels und der Erde und die Versöhnung der Menschen mit Gott durch den Herrn Jesus Christus zu bekennen vermögen.

Alle Leiden, die die Brüder in der Sowjetunion erdulden, tragen stellvertretenden Charakter. Sie erdulden und ertragen sie auch für uns. Denn die mechanistische Naturbetrachtung, der sie gegenüberstehen, ist ja in Europa geschaffen und bis zur äußersten Verfeinerung einer Tatsachenforschung vorgetrieben worden, aus der man zuvor alles Geistige, alles Gestalt-und Lebenschaffende sorgfältig ausgeschlossen hat. Lingeschützt und unbereitet stehen die Frommen der Sowjetunion dieser mechanistischen Naturbetrachtung gegenüber. Wir sagten schon bei der Betrachtung der Intellektuellen, daß die marxistische Wirtschafts-und Gesellschaftslehre und die Politökonomie, der Ausweis der Beziehungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Ereignissen des gleichen Zeitraums, einem geförderten und internen Personenkreis vorbehalten bleiben, die auf besonderen Parteischulen herangezogen werden, daß den Massen aber eine massive Natur-und Geschichtsphilosophie angeboten wird, die sich selbst für reine Wissenschaft hält. Ein materialistisches Weltbild, das schon an die Schulkinder herangetragen wird, soll den Acker vorbereiten, auf welchem der historische Materialismus später gedeihen soll. Das bedeutet aber, daß es für die Kirche in aller Welt eine vordringliche Aufgabe ist, den Menschen wieder eine Theologie der Natur und eine Theologie der Geschichte zu geben, die auch Europa unter dem Einfluß einer mechanistischen Naturwissenschaft und einer rein kausalen Geschichtsbetrachtung verloren hat. Denn im Grunde das kann gerade ein Blick auf die russischen Frommen zeigen — ist ein Weltbild, das auf dem „Es steht geschrieben" beruht, genau so un-fromm wie das, welches der Leninismus anbietet. Beiden Weltbildern fehlt der Aspekt der Unverfügbarkeit. In Europa liegen ja die Dinge so, daß das naturwissenschaftliche Weltbild moderner Wissenschaftler, wie Max Planck, Pascual Jordan, Heisenberg, Viktor von Weizsäcker, diesen Aspekt der Abgründigkeit und Unverfügbarkeit, die „Tiefendimension“ Tillichs, weit stärker respektieren als ein Weltbild, das sich auf ein für allemal feststehende, autoritativ bezeugte Behauptungen der Bibel gründet.

Diese doppelte Unfreiheit, die Unfreiheit gegenüber einem vermeintlich auferlegten Gesetz und die andere gegenüber dem Buchstaben der Bibel, steht zwischen einem europäischen Christen und den russischen Frommen, ein Umstand, den man natürlich nachsichtig zu tragen genötigt ist, da die russischen Frommen seit Jahrzehnten ohne theologische (nicht geistliche!) Führung sind.

Demgegenüber stehen andere Punkte, an denen sie den europäischen Christen weit überlegen sind. Sie sind fleißig und anhaltend im Gebet.

Sie schlagen sich redlich und unter weit ungünstigeren Bedingungen als wir mit den „Ungläubigen“ herum. Sie wissen, daß der Christ verpflichtet ist, von seinem Glauben Zeugnis abzulegen. Sie sammeln sich, wo immer sie sich befinden, um das Wort der Schrift. Sie suchen es sich mit allen Mitteln zu beschaffen, wo sie es entbehren müssen. Bibel und Neues Testament sind in der Sowjetunion nicht nur im Lager, sondern auch in der Freiheit „Mangelware“. Das hat sehr eigentümliche Folgen.

Nicht alle Russen vermögen mit der Feder umzugehen. Aber diejenigen unter den Frommen, die es können, schreiben Stücke der Bibel auf, und zwar nicht nur für sich, sondern auch für andere. Man fühlt sich in die Zeit der ersten Christengemeinden zurückversetzt, wo auch nicht jede Gemeinde den ganzen Kanon besaß. Wie damals die Evangelien oder die Briefe der Apostel ausgeschrieben, abgeschrieben, bewahrt, getauscht und gesammelt wurden, so ist es unter den Frommen der Sowjetunion.

Der eine besitzt das Buch Daniel, der andere die Offenbarung Johannes, ein dritter die Weihnachtsgeschichte, ein vierter die Passionsgeschichte und ein fünfter schreibt alle erreichbaren biblischen Stücke zusammen.

Oft gibt es erhebliche Diskussionen über Schreibfehler, die durch das wiederholte Abschreiben entstanden sind. Als ich kurz vor meinem Abschied aus dem Lager einen Mennoniten — die Mennoniten und die Baptisten sind unter den russischen Frommen diejenigen, die uns am meisten verwandt sind, — fragte, womit Europa ihnen helfen könnte, antwortete er mir: „Betet für uns/Und wenn ihr könnt, so verschafft uns Bibeln und Erbauungssdtriften. Die Erbauungssdiriften, die wir besitzen, sind viel zu alt.“ Alle Erbauungsbücher stammen aus der Zeit vor 1917 und sie werden wie Schätze verwahrt, da es neue Erbauungsbücher nicht gibt.

Gehören auch die Frommen zu den „armen Hunden“? Haben sie nicht im Evangelium eine Botschaft, die sie auch in der Verfolgung fröhlich sein läßt? Ja, auch sie gehören zu den heulenden Hunden. Denn es ist eine fromme Lüge, daß der Gläubige gegen die Traurigkeit der Welt gefeit sei. Weinte nicht Christus blutige Tränen, da er im Garten Gethsemane auf den Knien lag und den himmlischen Vater bat, er möge den Kelch des Leides an ihm vorübergehen lassen? Auch der Gläubige trägt das Leid der Welt. Der Glaube hat die Eigenschaft, das Glück und die Daseinsfreude zu vertiefen. Denn es ist ja die Welt Gottes eigenWelt. Aber wie der Glaube das Glück vertieft, so vertieft er auch das Leid. Denn es ist ja Gottes Welt, die von der Sünde, von der Ungerechtigkeit und vom Leid so furchtbar entstellt wird. Auch die Christen in der Sowjetunion, die Bischöfe, soweit sie noch am Leben sind, die Priester in den Lagern und die anderen, die in einer Fabrik oder auf einer Kolchose eine Arbeit angenommen haben und heimlich Kinder taufen oder heimlichen Religionsunterricht geben, die zahllosen Glieder der Orthodoxen Katakombenkirche, die Baptisten, Mennoniten, Apostolischen und — auch die Ernsten Bibelforscher, die mit einer Unerschrockenheit ohnegleichen den Machthabern, Soldaten, Offizieren, Natschalniks das Zorngericht Jehovas verkündigen, sie alle sind „arme Hunde“. Allerdings sind mir auch einige wenige begegnet, die in einem fröhlichen Fatalismus die Trennung von Frau und Kindern, Verwandten und Freunden ertrugen und täglich in den Schacht hinunterstiegen in dem festen Glauben, daß Gott wohl gemeint habe, daß sie hier im Lager und in ihrer Schachteurbrigade nötiger seien als daheim auf ihrem Dorf.

Die Arbeiter Um den Lohn der Revolution betrogen

Die Sowjetunion nennt sich einen „Staat der Arbeiter und Bauern“. Gehören auch sie, die Arbeiter und Bauern, zu den „heulenden Hunden"? Sind sie nicht die Säulen des Staates, dessen Symbole, Hammer und Sichel, der Welt verkünden sollen, daß hier die Arbeitermacht und das Bauerntum gemeinsam die klassenlose Gesellschaft geschaffen haben? Ist es nicht der Arbeiter, der diesem Staat in allen seinen Ausformungen sein Gesicht gibt? Ist er nicht für den Sowjetstaat das geworden, was der Priester und der Mönch für das frühe, was der Ritter für das späte Mittelalter, der Bürger für die Neuzeit, nämlich die eigentliche, ordnende und schöpferische Kraft der Gesellschaft? Genießt er nicht infolgedessen auch das ehrende Ansehen, das der Mönch, der Ritter, der Adelige, der Bürger einmal besessen haben? Man kann auf alle diese Fragen nur mit einem bündigen „Nein!“ antworten. Sicherlich haben im Jahre 1917 und 1918 dem Ruf der Revolution große Massen von Bauern und Arbeitern geantwortet. Sicherlich haben die Soldaten der Roten Armee, die über die Weiße Armee den Sieg davontrugen, das Gefühl gehabt, für ihre eigene Sache zu streiten. Noch heute können sich in Rußland weder die Arbeiter noch die Intellektuellen dem Zauber jener Romane entziehen, die die Anfangszeiten der Revolution schildern. Aber das alles hat mit ihrer heutigen Lage nicht mehr das geringste zu tun. Wie eine Liebe in Haß umschlagen kann, so ist ihre Liebe zur Revolution weithin umgeschlagen in den Haß gegen die Sowjetmachthaber. Denn wenn man die Lage des russischen Arbeiters vergleicht mit der Lage des europäischen oder gar des amerikanischen Arbeiters, so muß dieser Vergleich zuungunsten des russischen Arbeiters ausfallen. All die Freiheiten und alle die Vorteile, deren sich ein europäischer Arbeiter erfreut, muß er entbehren. Nun, es hat lange gedauert, bis er zu solchen Vergleichen imstande war. Denn erst der Sieg der Roten Armee hat Hunderttausenden sowjetischer Arbeiter den für sie unvorstellbaren Lebensstandard Europas gezeigt. Sie suchten in den Städten und in den schmucken Dörfern, in die sie als Soldaten und Sieger einrückten, die Arbeiterwohnungen und fanden sie nicht. Sie begriffen erst langsam, daß die geräumigen Wohnungen und sauberen Stuben, in die sie mit ihren schmutzigen Stiefeln eintraten, Arbeiter-wohnungen waren. Jahrzehntelang waren sie auf die Schilderungen angewiesen, die ihnen die sowjetischen Zeitungen über die Zustände in kapitalistischen Staaten gaben. Immer wieder fragten sie noch uns Gefangene in den Lagern, ob es denn nicht stimme, daß ein kapitalistischer Arbeitgeber die Arbeiterinnen seines Betriebes mißbrauche, ob es nicht wahr sei, daß die Fabrikherren mit Hundepeitschen bewaffnet durch die Fabrikräume gingen, tun die Arbeiter zu höherer Arbeitsleistung anzutreiben. Soziale Romane berühmter französischer und englischer Schriftsteller, wie Emile Zola, Charles Dickens, George Elliot, Charlotte Bronte usw., werden geschickt benutzt, um den Eindruck zu erwecken, daß die Zustände, die sie schildern, heutige Zustände seien.

Aber auch als der russische Arbeiter die heimischen Verhältnisse noch nicht mit denen Europas vergleichen konnte, konnte er sie vergleichen mit dem, was die Revolution ihm versprach, und mit dem, was er in der Zeit der ersten Liebe von ihr erwartete.

Was durfte er erwarten? Was mußte er auf Grund der marxistischen Lehre erwarten? Er mußte größere Freiheit, nämlich persönliche Freiheit erwarten. Denn der Inhalt der Lehre von Karl Marx gipfelt doch in dem Nachweis, daß der moderne Arbeiter, dadurch, daß er nicht mehr wie der mittelalterliche Handwerker selbst über das Werkzeug der Arbeit verfügt, sondern der Unternehmer in Gestalt der Maschinenausstattung seines Betriebes dieses Werkzeug besitzt, in eine verhängnisvolle Unfreiheit und Abhängigkeit vom „Besitzer“ dieser Werkzeuge geraten ist. Er muß nun seine Arbeitskraft zu den Bedingungen verkaufen, die dieser ihm vorschreibt. Die bürgerliche Revolution hat die mittelalterlichen Privilegien des Standes und der Geburt beseitigt, aber sie hat in der Gestalt des Besitzes an den Produktionsmitteln ein neues Privileg, nämlich die wirtschaftliche Vormachtstellung des wirt-schaftlich Stärkeren aufgerichtet. Nun hat die Revolution von 1917, wie die Verfassung der UdSSR stolz verkündet, den Besitz an den Produktionsmitteln der Klasse der Besitzenden entrissen und die Klasse der Besitzenden selbst vernichtet. Aber Karl Marx hat die Herrschaft der herrschenden Klasse in zwei Dingen begründet gesehen im „Besitz“ und in der mit dem Besitz verbundenen „Verfügungsgewalt“. Der Besitz an den Produktionsmitteln ist dem marxistischen Programm entsprechend aufgehoben worden. Kein einzelner und keine Gruppe besitzt mehr in der Sowjetunion Grund und Boden, Bodenschätze oder irgendwelche technische Anlagen. Aber ist mit dem Besitz auch die Verfiiguiigs^ewalt auf die Arbeiterschaft oder auf das Bauerntum übergegangen? Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Die Revolution war eine Revolution des Volkes. Aber die bolschewistische Diktatur ist eine „philosophische Diktatur“. Die Herrschaft, die sie ausübt, ist eine „streng wissenschaftliche“ Herrschaft. An dieser Diktatur und an dieser Herrschaft können nur diejenigen teilnehmen, die die Philosophie des Marxismus beherrschen, und zwar eines Marxismus, der sich in der Sowjetunion als „Weltanschauung“ versteht, was Karl Marx sich nie hat einfallen lassen. — Die sowjetischen Diktatoren Lenin, Stalin, Chruschtschow sind alle in Personalunion wissenschaftliche Theoretiker und Taktiker der Revolution bzw.des sozialistischen Aufbaus. Weil aber diese Diktatur einen philosophischen Charakter trägt, kann sie nicht durch das Volk, durch die Mehrheit, durch das Proletariat, durch die werktätigen Schichten ausgeübt werden. Einer irgendwie geartenen Mehrheit des Volkes fehlt die philosophische Qualifikation dieser besonderen Herrschaft. Nur eine qualifizierte Gruppe, eine bestimmte wissenschaftliche und philosophische Elite, die Elite des Zentralkomitees der kommunistischen Partei nämlich, kann diese Diktatur wahrnehmen. Diese Gruppe hat zwar keinen Besitz an den Produktionsmitteln, aber sie hat die alleinige unumschränkte Verfügungsgewalt. Ihre Verfügungsgewalt geht über die Verfügungsgewalt der Arbeitgeber in den kapitalistischen Staaten weit hinaus. Die Verfügungsgewalt der Kapitalisten in den kapitalistischen Staaten ist immer nur Verfügungsgewalt über einen kleinen oder größeren Teil der Produktionsmittel. In der Sowjetunion unterstehen alle Funktionen der gesamten Volkswirtschaft, Währung und Kreditgebung, Landwirtschaft und Industrie, Löhne und Preise, Außenhandel und Innenhandel, dieser Gruppe qualifizierter Diktatoren. Es gibt keine Kräfte, die, miteinander konkurrierend, einander die Waage halten, sondern alle Macht und alle Entscheidung ist in der zentralistischen Gewalt dieser Gruppe von Philosophen bzw. Pseudophilosophen vereinigt. — Es gibt aber auch keine ernstzunehmende Vertretung der Interessen derjenigen, die von dieser zentralen Macht und von dieser zentralen Wirtschaft abhängig sind. Sind doch die sogenannten Gewerkschaften und alle Berufsverbände wiederum Einrichtungen des Staates, die nicht etwa die Interessen der Arbeitnehmer, sondern die Interessen der staatlich gelenkten Wirtschaft wahnehmen, die Löhne und Lohngruppen festlegen, die Förderung der Fünfjahrespläne propagieren, die Normen festsetzen usw. Es gibt im sowjetischen Staat aber auch nicht wie in allen europäischen Staaten das Prinzip der Gewaltenteilung, so daß jemand, dem von einer Gewalt des Staates Unrecht geschieht, die Möglichkeit hätte, sich an die andere Gewalt desselben Staates zu wenden. Was die kleine Gruppe der Verfügenden verfügt, geschieht, ohne daß irgendeine Widerrede, ein Protest, eine abweichende Meinung möglich wäre. Wir sehen also, daß diese Gruppe der Verfügenden in der Sowjetunion eine viel größere Macht hat, als sie jemals in irgendeinem Staat auch die mächtigste Gruppe von Kapitalisten gehabt hätte. Es ist eine Macht über Wohlstand und Armut, über Glück und Unglück eines ganzen Landes, über Freiheit und LInfreiheit von Millionen, über Leben und Tod jedes Bürgers, über Bestand und Nicht-bestand ganzer Völkergruppen und Klassen. Alle diese Feststellungen gelten, ob nun in der Sowjetunion das Prinzip der Einmanndiktatur oder das Prinzip einer kollektiven Diktatur herrscht. Sie sind gültig, unabhängig von Chruschtschows Erklärungen über den Despotismus Stalins und über den Persönlichkeitskult, der unter Stalin geherrscht habe. Da Stalin erstens tot ist, da er zweitens nachträglich auch als Wissenschaftler der Revolution und des sozialistischen Aufbaus, und da er drittens durch Chruschtschow moralisch getötet worden ist, wollen wir diesem dreifach toten Leichnam keinen Tritt mehr versetzen. Worunter der arbeitende russische Mensch leidet, ist die Bestimmung des Artikels 36 der Parteiverfassung, welcher bestimmt: „Das Zentralkomitee lenkt die Arbeit der zentralen Sowjet-und gesellschaftlichen Organisationen durch die in ihnen bestehenden Parteigruppen.“ Die Verfügungsgewalt, die also Marx in die Hand der arbeitenden Schichten des Volkes legen wollte, ist in der Sowjetunion in die Hand einer Gruppe theoretischer Schulmeister geraten. Das wirft ein völlig neues Problem auf, das für Karl Marx noch gar nicht bestand. Für ihn hing die Verfügungsgewalt am Besitz. Sie war mit ihm eins. In der Sowjetunion besteht eine Verfügungsgewalt ohne Besitz, eine Verfügungsgewalt, die auf der einmal errungenen Macht beruht. Hieß damals also das Problem Verfügungsgewalt und Besitz, so heißt es heute Verfügungsgewalt und Machtbesitz. So wie in der Sowjetunion eine Verfügungsgewalt ohne Besitz vorliegt, so ließe sich ein Besitz denken, dem doch die Verfügungsgewalt weithin entzogen ist, Jedenfalls beweist das schaurige bolschewistische Experiment, daß für die Frage der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel die Entscheidung, wer im Staate und wer über die Gesamtheit der Wirtschaft herrscht, viel entscheidender ist als die Frage des Besitzes an den Produktionsmitteln.

Keine Möglichkeit der Einflußnahme

Aber hat nicht Stalin im Jahre 1936 dem russischen Volke eine demokratische Verfassung gegeben? Hören wir nicht von Zeit zu Zeit von demokratischen Wahlen zu dem aus 1300 Abgeordneten bestehenden Obersten Sowjet? Sind nicht diese 1300 gewählten Abgeordneten die Vertreter des russischen Volkes? Der Stalinschen Verfassung von 1936 nach soll dieser Oberste Sowjet die gesetzgebende Körperschaft der Sowjetunion sein. Aber der Oberste Sowjet hat sowenig mit einem westeuropäischen Parlament zu tun wie der Hitlers „Reichstag". Auch er ist nur eine selten zusammengerufene, bei Verunglimpfungen westlicher Staaten sich pflichtschuldigst empörende, bei Witzen pflichtmäßig lachende, applaudierende Zustimmungsmaschine. Da dieses LIrteil ein wenig hart klingt, seien einige Beispiele für die Bedeutungslosigkeit dieser Körperschaft gegeben. Die verfassungsändernde Bestimmung, durch die der Arbeitstag in der Sowjetunion von sieben auf acht Stunden heraufgesetzt wurde, und die andere verfassungsändernde Aufhebung der Unentgeltlichkeit der Bildung, durch die die freie Hochschulbildung abgeschafft wurde, wurden dem Obersten Sowjet sieben (!) Jahre nach der Verkündigung der entsprechenden Verordnungen vorgelegt. Alle Änderungen, die durch die Regierung nach Stalins Tod vorgenommen wurden, die einschneidenden Veränderungen des Verwaltungsapparates, die Änderung der Zuständigkeiten der Ministerien, durch die vor allem die Macht des Innenministeriums gebrochen wurde, die Ernennung zahlreicher neuer Minister wurden einige Wochen später durch den Obersten Sowjet bereitwillig bestätigt. An dem, was die regierenden Philosophen des Zentralkomitees für richtig erkannt haben, gibt es nichts mehr zu ändern. Außer dem jährlichen Haushaltsgesetz hat der Oberste Sowjet in den letzten drei Jahren nicht ein einziges Gesetz erlassen. Die meisten Regierungsmaßnahmen, auch solche von einschneidender Bedeutung, werden als Verwaltungsanordnungen oder als Direktiven des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei verkündet. Wo liegt also die Einflußnahme oder auch nur die Möglichkeit einer Einflußnahme durch das Volk, wenn die Verfügungsgewalt nicht nur auf den gesamten Staatsapparat, sondern auch auf die Produktionsmittel des ganzen Staates und auf alle Funktionen und Bereiche der Wirtschaft ausgedehnt ist? Sind nicht alle Menschen in einer viel tieferen Schicht ihrer Existenz unfrei geworden, seit es für keine Negation dieser Zustände und für keine Änderung der Verhältnisse auch nur den geringsten Ausweichraum gibt? Es gibt keine vom Staate unabhängigen Personen und Einrichtungen mehr. Nirgendwo kann jemand eine Anstellung finden, es sei denn mit Wissen des Staates. Niemand kann wirtschaftlich existieren, ohne zur völligen Bejahung der Handlungen und der Prinzipien dieses Staates bereit zu sein. Kein Künstler kann ein Bild malen und verkaufen, kein Schriftsteller ein Buch schreiben und verlegen, das nicht das „placet“ des Staates hätte. Es gibt wissenschaftliche Arbeiten genug in der Sowjetunion, die so lange in Prüfungsund Zensurinstanzen herumliegen, bis sie völlig überholt sind. Gibt es eine fühlbarere Abhängigkeit als diese, gegen die es keine auch nur denkbare Abwehr gibt? Die Berufsverbände und Gewerkschaften können nicht helfen, da sie nur verlängerte Arnie des Staates sind. Die Gewerkschaften stehen nicht in einer dialektischen Auseinandersetzung mit dein allmächtigen Arbeitgeber Staat, sondern sie sind Einrichtungen zum Vollzug seiner Wünsche und Befehle. Die Philosophen, die an der Spitze des Staates stehen, wissen besser, was dem Arbeiter frommt, als er selbst. Der kommunistische Staat, der in einer Theorie der Dialektik der Geschichte zu dienen vorgibt, zerstört in Wahrheit die Dialektik der Geschichte aufs gründlichste. In ihrer Praxis sind die demokratischen Staaten des Westens mit ihren realen Spannungen und Gegensätzen, von Industrie und Landwirtschaft, von Schwerindustrie und Mittelindustrie, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Unternehmerorganisationen und Gewerkschaften, Produzenten und Verbrauchern, Volk und Regierung, Regierungspartei und Opposition usw. viel dialektischer, als der auf einer dialektischen Weltansdiauung beruhende Sowjetstaat. Da aber die Dialektik der Geschichte sich auch gegen Diktatoren, ja sogar gegen pseudophilosophische Diktatoren durchsetzt, so besteht die Geschichtsdialektik der Sowjetunion in herrschaftlicher Willkür und daraus folgender Katastrophe, gewaltsamer Planung und Hunger, gewaltsamer Unterdrückung und Argwohn der Bevölkerung, Persönlichkeitskult und Entstalinisierung, Despotie und Selbstkritik, in der man öffentlich eingestehen muß, welche unverzeihlichen Fehler man begangen, welche unersetzlichen Kräfte man vernichtet, welche kommunistischen Führer man gemordet hat und nun rehabilitieren muß. Aber man hat es kraft seiner philosophischen Einsicht leicht, Fehler zu gestehen, weil die bessere philosophische Einsicht einem erlaubt, sich selbst diese Fehler auch zu vergeben, selbst dann, wenn sie Tausenden und aber Tausenden das Leben gekostet haben.

Was würde Karl Marx sagen?

Würde Karl Marx heute auf einer durch die Sowjetunion, auf eine Einladung der sowjetischen Regierung, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Sowjetunion studieren, so würde er feststellen, daß zwar das Eigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben ist, daß aber eine mächtige Klasse von Nutznießern der Verfügungsgewalt entstanden ist, die Marx ja nicht in die Hände von Parteiphilosophen und Apparatschiks, sondern in die Hände der „ungeheuren Mehrheit“ des Volkes legen wollte. Er würde erkennen, was wir Gefangenen alle täglich gesehen haben, daß diese Klasse der „Nutznießer der Verfügungsgewalt“ an ihrer Kleidung, an ihren körperlichen Merkmalen, an ihrer wohlgenährten Breitbrüstigkeit und Stiernackigkeit, an der Schwammigkeit ihrer Bewegungen, an ihrer lautstarken Redensartlichkeit, an ihrem cholerischen Temperament und an ihrem Dienstwagen von weitem zu erkennen sind.

Auch wenn man ihren Rang oder Namen oder ihre Parteifunktion nicht kennt, so erkennt man sie an ihrer Statur und an ihrem Gehabe. Karl Marx würde erschüttert feststellen, welche hoffnungslose Unfreiheit die Folge dieser neuen Klassenherrschaft ist. Er würde möglicherweise den Jungen und Mädchen begegnen, die auf Grund des Dekrets vom 2. Oktober 1940 und vom 20. Juni 1947 von der Regierung zwangsweise für vier Jahre in Fabriken, Werke und Bergwerke geschickt werden können in einer Zahl von 800 000 bis 1 000 000 jährlich. — Er würde Ingenieuren und Technikern begegnen, die zwangsweise versetzt und von ihrer Familie getrennt sind, weil „das öffentliche Interesse es erfordert“. Er würde feststellen, daß Arbeiter bei 2 5 Prozent Lohnkürzung zu unfreiwilliger zusätzlicher Arbeit verurteilt werden können, wobei sie diese zusätzliche Arbeit entweder an ihrem normalen Arbeitsplatz oder an einem anderen, zudiktierten abgelten müssen. Er würde feststellen, daß Arbeiter und Bauern an abgelegene Orte verbannt werden können, wo sich die Arbeitsmöglichkeit auf eine einzige Fabrik oder eine einzige Förderung, für die Arbeitskräfte schwer zu finden sind, beschränkt. Er würde erfahren, daß jemandem in seiner Gemeinde das Wohnrecht entzogen werden kann, so daß er dadurch gezwungen wird, sich woanders nach Arbeit umzutun. lind er würde, wenn ihm die Einreise in diese Gebiete der Sowjetunion gestattet werden sollte, in den Strafgebieten der Kumi-Republik, der Mordowskaja, in den Steppen-gebieten von Kasachstan, am nördlichen Eismeer, im Ural, am Ochotskischen Meer, ja noch auf Nowaja Semlja und Kaiser-Franz-Josefs-Land Lager über Lager, Strafzonen über Strafzonen erblicken, in denen Arbeiter und Bauern, zwischen kilometerweit sich hinziehenden Palisaden-zäunen und von Soldaten auf hohen Türmen bewacht, arbeiten, ohne die Hoffnung, ihre Heimat und ihre Angehörigen jemals wiederzusehen.

Würde er die Arbeiter und Bauern fragen dürfen, warum sie dort sitzen, so würden sie ihm antworten können, daß sie sich nur einen winzigen Bruchteil der Freiheit herausgenommen haben, die zu Lebzeiten von Karl Marx jedes Bäuerlein und jeder Arbeiter hatte. Würde Karl Marx darauf entrüstet Herrn Molotow um seine Erklärung bitten, so würde dieser ihm statt einer Erklärung mit jenem Worte antworten, das er am 8. März 1931 auf dem Gesamtrussischen Kongreß gebraucht hat. Er würde sagen: „Wir haben niemals einen Helt] daraus gemacht, daft wir uns bei gewissen Projekten der Arbeitskraft von gesunden und arbeitsfähigen Häftlingen bedienen. Wir haben das früher getan, wir tun es heute, und wir werden es auch künftighin tun.“

Karl Marx würde auf seiner Reise durch die Sowjetunion erkennen, daß die Sowjetgesellschaft eine Klassengesellschaft derjenigen darstellt, die Nutznießer der nicht auf Besitz, sondern auf unumschränkter politischer Macht gegründeten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel sind. Er würde weiter die hoffnungslose Abhängigkeit entdecken, die darauf beruht, daß man dem Volk nicht durch eine gewählte Volksvertretung das Bestimmungsrecht über die enteignete Wirtschaft gegeben hat. Er würde sich auch noch in einer weiteren Erwartung getäuscht sehen. Karl Marx erwartete, daß sich „das Kontaktverhältnis“ des Arbeiters zu seiner Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft entscheidend verändern würde. In der kapitalistischen Wirtschaft arbeitet der einzelne, um Geld zu verdienen, um soviel an Lohn oder Gehalt nach Hause zu tragen, daß er sich, seine Frau und seine Kinder ernähren kann. Die Arbeit ist für ihn in den allermeisten Fällen also nur Mittel zum Zweck geworden. Sie hat für die meisten Menschen keinen Zweck und keine Befriedigung in sich selbst. Weil es sowohl für den Unternehmer wie für ihn selbst in erster Linie um Gewinn geht, bleibt der Mensch ganz im Gegensatz zur Periode der handwerklichen Arbeitsweise mit seinem Selbst außerhalb seiner Arbeit. Ist dieses Kontaktverhältnis zur Arbeit und infolgedessen auch zu den Produktionsmitteln und Produktionszielen in der sowjetischen Wirtschaft gewachsen?

Es gibt ein altes russisches Sprichwort über die Arbeit. Es lautet:

„Die Arbeit sucht die Dummen.“

Im menschlichen Umgang wird jeder Mensch, der eine Arbeit oder gar eine schwere Arbeit verrichtet, geachtet. Man lobt ihn. Man erkennt seine Arbeit an. Wenn sie erfolgreich war, so prämiert man sie. Man nennt ihn wohlwollend scherzend nach dem Begründer des Stachanow-Systems einen Stachanowski. Man ist der Meinung, daß ein arbeitender Mensch es wohl verdient hat, auszuruhen und kräftig zu essen, aber — im geheimen ist man doch überzeugt, daß er ein Dummer ist. — Nicht zu arbeiten, wenig zu arbeiten, nur eine Scheinarbeit zu verrichten, ist zwar viel weniger ehrenvoll, aber wer nicht arbeitet und doch gut lebt, ist unstreitig der Klügere, der Gescheitere. Und so strebt jeder danach, zu den Klugen und Gescheiten zu gehören, die gut leben und wenig arbeiten. Wahrhaftig, eine große Zahl von Menschen versteht sich auf dieses Geschäft ganz ausgezeichnet! Sie sehen auf die Arbeitenden wohlwollend herab wie ein General auf seine tapfere Truppe, aber besser ist es, ein General der Arbeit zu sein als ein Arbeiter. Einer sucht dem anderen die schwere Arbeit zuzuschieben. Überall wird der Kampf um den guten Posten gekämpft, um den Posten eines Aufsehers, eines Werkzeug-oder Magazinverwalters, eines Kontrolleurs, eines Buchhalters, eines Arbeitsorganisators, eines Kücheninspizienten, eines Brigadiers, eines Hilfsbrigadiers oder um eine Stellung eines Helfers des Hilfsbrigadiers. Am begehrtesten ist der Posten eines der vielen beneidenswerten Natschalniks, die gar nichts mehr zu tun haben als auf einem Büro, in dem sie nie zur angesetzten Stunde anwesend sind, täglich ein paar Unterschriften zu geben. Auch dem größten Idealisten vergeht bei dieser Sachlage der Idealismus sehr bald. Denn jeder Arbeitende sieht, daß im Gegensatz zur sowjetischen Verfassung, in der die Arbeit als der entscheidenste gesellschaftliche Wert proklamiert wird, „Die Arbeit sucht die Dummen.“ Er erkennt, daß er selbst einer der Dummen ist, und daß andere die Früchte seiner Arbeit genießen. Der Arbeiter hat den Plan zu erfüllen. Er soll ihn möglichst übererfüllen, und wenn er ihn unter dem ständigen Druck der zuständigen Natschalniki übererfüllt, ja vielleicht um ein Beträchtliches übererfüllt, so erhält der Natschalnik des Betriebes die Prämie, die bis zu 60 000 Rubeln betragen kann. Nirgendwo in der Welt kann es ein so geringes Kontakt-verhältnis zur Arbeit, eine so geringe Hingabe an eine wirtschaftliche Zielsetzung geben wie in der Sowjetunion. Arbeiten, die einmal begonnen wurden, bleiben liegen und verkommen. Was liegt daran, wenn man für die nutzlos vertane Arbeit seine Prozente gutgeschrieben bekommen hat? Maschinen, die gebraucht werden, bleiben in Schnee und Eis stehen und verrotten oder müssen zu einem späteren Zeitpunkt mühsam mit der Hacke aus dem Eis herausgehackt werden. Material wird verschleudert, Werkzeuge aus Unachtsamkeit oder auch mutwillig zerbrochen, Reparaturen werden nur zum Schein angefertigt, Dinge werden produziert, bei denen der Hersteller schon weiß, daß sie unbrauchbar sind. Bei der Vorplanung werden Materialien angefordert, nicht weil man sie gebraucht, sondern weil man sie vielleicht gebrauchen könnte, und weil es unmöglich ist, sie nach Anlauf des Planungsjahres zu bekommen. Geht dann das Planungsjahr zu Ende, so werden sie in die Erde vergraben, weil die Vorschrift befiehlt, daß man nur dann neue Materialien anfordern kann, wenn die alten verbraucht sind. Manche bestellten Güter, Motorenköpfe, Ersatzteile, die noch eine Nachbearbeitung erheischen, werden in fünffacher Zahl geliefert, weil man aus Erfahrung weiß, daß unter fünf Stücken nur eines ist, das den Anforderungen genügt.

Ich habe folgenden Fall erlebt: In einer Kistenwerkstatt bestand die Norm, täglich eine bestimmte Anzahl von Kisten fertigzustellen. Die Arbeiter lieferten ihre Norm an Kisten, und die Kisten wurden irgendwo gestapelt. Eine benachbarte Schreinerei aber brauchte Nägel, um ihr gesetztes Soll an Fersterrahmen und Türen zu liefern. Alle paar Nächte besorgte ein Arbeiter der Schreinerei die Nägel, indem er sie aus den fertigen Kisten herauszog. Beiden, den Kistenmachern und den Schreinern, war geholfen. Beide konnten ihre Norm erfüllen. Alles Weitere ging sie nichts an. Der Leser wird fragen: Und was geschah dann? Das aber ist eine ganz und gar unrussische Frage. Für den russischen Arbeiter ist die Sache erledigt, wenn für die Arbeit, die er geleistet hat, die Pozente auf der Buchhalterei angemeldet sind. Handwerkliche Gesinnung, Arbeitsehre, Verantwortung für das einzelne Werkstück, Verantwortung für das Ganze und Teamgesinnung sind in allen europäischen Ländern unvergleichlich viel größer als in der Sowjetunion. Bei uns haben sich die Menschen oft gewundert, in welch unglaublicher Weise in der sowjetischen Besatzungszone russische Soldaten deutsche Häuser verwohnten. Wenn sie zum Schluß nur noch Stätten des Grauens waren und von den Stadtverwaltungen von Grund auf wiederhergestellt werden mußten, sprach man von „Vandalismus“. Aber man tut den russischen Soldaten damit unrecht. Abgesehen davon, daß die Vandalen besser waren als ihr Ruf, vernichteten sie das fremde Gut. Ihre Zerstörung entsprang einer feindseligen Gesinnung. Nicht so bei den russischen Soldaten. Wer in der Sowjetunion war, weiß, daß sie nur einer Gewohnheit gehorchen. Alle Häuser, die dem Staate gehören, werden spätesten in jedem zweiten Jahre „remontiert". Das heißt, sie werden von Grund auf wiederhergestellt. Sie sind aber auch so verwohnt und ausgeschlachtet, daß sie die völlige Wiederherstellung unbedingt nötig haben. AIs wir einmal an solch einer Remontage arbeiteten, gab mir der Brigadier wegen einer Fußverletzung, die ich mir zugezogen hatte, eine leicht Arbeit. Ich hatte anders nichts zu tun, als in allen Zimmern die Öfen zu heizen. Doch das war leichter gesagt als getan. In einer Umgebung in der kein Baum und kein Strauch wächst, in der draußen alles tiefverschneit liegt und ein eisiger Schneesturm über die vereisten Ebenen dahinfegt, Holz für fünf oder sechs Öfen heranzuschaffen, ist keine leichte Aufgabe. Für die Russen war das überhaupt kein Problem.

„Verbrenne die Türen!“ „Reiß die Dielen heraus!" „Verfeuere die hölzernen Fensterläden! Es ist doch Holz genug da!“, riefen sie mir zu. Für den inneren Widerstand, den ein Deutscher überwinden muß, ehe er einen heilen Fußboden aufreißt, Fensterläden und Türen mit der Axt zerkleinert, haben sie gar kein Verständnis mehr. Es gehört keinem Einzelnen. Es gehört dem Staat und darum gehört es niemand. Auch wenn ein Russe vollständig apolitisch wäre, wenn er den Staat nicht haßte, wenn er von ihm keinerlei Unrecht je erfahren hätte, so würde er ihn doch wie eine fremde, feindliche Macht betrachten. Er betrachtet ihn wie ein deutscher Bauer oder wie ein deutscher Gewerbetreibender das Finanzamt. Diese hassen das Finanzamt nicht gerade, sie wollen es nicht anzünden, aber ein „Kontaktverhältnis“ zu ihm zu haben, nein, das wäre zuviel verlangt! Es ist in der Sowjetunion das selbstverständlichste, natürlichste Recht eines jeden Menschen, den Staat zu schädigen, zu betrügen, zu bestehlen und sich seinen tausend lästigen Forderungen zu entziehen. Karl Marx würde auf seiner von uns angenommenen Reise durch die Sowjetunion feststellen, daß das „Kontaktverhältnis“ zur Arbeit, zu den Produktionsmitteln, zum sozialistischen Aufbau, zum Staat, der ihn durchführt, zur Gesellschaft, deren Teil man ist, im Vergleich zur kapitalistischen Gesellschaft nicht gewachsen, sondern tief unter den Nullpunkt gesunken ist. Auch er würde sich wie Hellmuth Gollwitzer Gedanken darüber machen, wie es kommt, daß „kein System den Gemeinsinn mehr abtötet und ein eigensüchtiges Denken mehr züchtet“ als dieses System des Kommunismus.

Doch ist dieses Fehlen des Kontaktverhältnisses ja nur die andere Seite, die subjektive Seite der objektiven Klassenherrschaft, die die russische Arbeiterschaft mit Diktatur und Terror regiert. — Die Sowjetunion ein „Staat der Arbeiter und Bauern“, das kann doch nichts anderes heißen als, es sei hier ein Staat, in welchem Arbeiter und Bauern Subjekt des staatlichen Handels sind. Aber je gründlicher eine Analyse der Sowjetwirklichkeit die Stellung des Arbeiters in ihr erforscht, desto mehr wird sie zu der Erkenntnis gedrängt, daß der Arbeiter und der Bauer in der ganzen Tiefe und Breite ihres Daseins hilflose Objekte des Staates und der staatlich gelenkten Wirtschaft sind, und daß beide nicht die geringste Chance haben, politisch und wirtschaftlich handelnde Subjekte zu werden.

Es liegt das unstreitige Verdienst von Marx darin, das europäische Proletariat zu einem handelnden Subjekt gemacht zuhaben In der Sowjetunion ist es von allen Quellen seiner Kraft abgeschnitten. Koalitionsrecht und Streikrecht, das Recht freier politischer Meinungsbildung, das Recht durch seine Vertretungen öffentlich-rechtliche Tarifverträge abzuschließen, sind ihm genommen. Die Gewerkschaft ist ein Büttel des Staates, der hilft, den Arbeiter in seiner Ohnmachtsstellung festzuhalten. Der Arbeiter, von dem die sowjetische Propaganda behauptet, er sei die allseitig anerkannte, schöpferische Potenz des Staates, gehört zu den „armen Hunden“, die in der modrigen Tiefe eines dunklen und unzugänglichen Verließes heulen, und deren Geheul, könnten wir es überall hören, wie die Anwohner des Schlosses im Märchen der Gebrüder Grimm, Europa den Schlaf rauben würde.

Die Bauern Jahrhundertelanges Leiden

Wenn wir von den Leiden des russischen Volkes sprechen, so wäre es ein Vergehen gegen die Wahrheit, den Eindruck zu erwecken, als hätten alle diese Leiden des Volkes erst mit der Oktoberrevolution von 1917 begonnen. Nur einer Propaganda, die nicht Einsicht vermitteln, sondern Haß erzeugen will, kann an einer solchen Darstellung gelegen sein. Nein, wie ein Klang der Klage, des Weltleids und der Traurigkeit sich durch die russische Musik der vorrevolutionären und der bolschewistischen Periode hindurchzieht, so zieht sich das Leiden wie ein breiter und nie abreißender Strom durch die russische Geschichte.

Das trifft insbesondere zu für die Gruppe, die wir nun zu besprechen uns anschicken, für die Gruppe der Bauern. Dies ist auch heute, nach der Industrialisierung und Elektrifizierung der Sowjetunion, noch die zahlenmäßig bedeutendste. In der Seele dieser Menschen ist das durch Jahrhunderte genährte Leiden ihrer Klasse mit dem individuellen Leiden ununterscheidbar zusammengeflossen. Ein besonderer Glückstag, ein Volksfest, ein Gelage, die Ausgelassenheit eines Tanzes, der alles vergoldende oder alles vergessen machende Rausch ist eine Freude, die dem Leiden, das das Grundelement des. Lebens bildet, abgetrotzt und abge-rungen wurde, bis auf der Spitze des Rausches, auf dem Höhepunkt der Ausgelassenheit die Freude plötzlich abbricht und den Menschen der Unendlichkeit des Leides ohnmächtig und hilflos überläßt Das Leid ist mächtiger als die Freude. Es läßt den Menschen nur für eine kurze Zeit des Glücks, wilder Tanzekstase oder eines massiven Alkoholrausches los. Aber — es läßt ihn nur los, wie die Katze die Maus losläßt, um sie ein bißchen springen zu lassen. Gleich wird ihre Tatze wieder zuschlagen, wird der Griff ihrer Zähne sie wieder packen.

Die Lage des Bauern vor der Revolution von 1917 ist mit der Lage des deutschen Bauern überhaupt nicht vergleichbar. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz von Bauern hatte eigenes Land. 7 5 Prozent des Landes gehörte entweder dem Staat oder dem Zaren oder der Kirche oder einem Kloster oder einer Dorfgemeinde. Je nachdem in wessen Dienst ein Bauer stand, gab es „Staatsbauern“, „Apanagebauern“, das sind ehemalige Leibeigene des Zaren, „Kirchenbauern“ und Gutsbauern“, die alle unter ganz verschiedenen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen lebten. Alle aber lebten in Abhängigkeit und unter den dürftigsten Bedingungen. Die Abhängigkeit des Gutsbauern war die drückendste. Den Apanagebauern ging es relativ am besten. Die Entlohnung der Bauern bestand in einem dürftigen Lohn, Deputat und einem Stück Land, das sie selbst bewirtschafteten.

Die Lage der Bauern war so drückend, daß es seit dem 17. Jahrhundert immer wieder zu Bauernrevolten kam. Die letzte große Welle von Bauernrevolutionen beunruhigte das Land in den Jahren 1902 bis 1905.

Die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 bringt ihnen keine fühlbare Erleichterung. Sie werden zwar aus der leiblichen Haftung gegenüber einem Grundherren entlassen, aber ihre rechtlichen und wirtschaftlichen Lasten bleiben bestehen. Diese Lasten werden vom Grundherren auf den „Mir", das heißt die Gesamtheit aller Mitglieder der Dorfgemeinde, übertragen. Der Mir ist aber Kein unbequemerer und gütigerer Herr als der Grundherr. Denn der Mir hatte das Recht, auf das Vermögen derer, die mit irgendwelchen Abgaben in Verzug gerieten, zurückzugreifen. Ja, er konnte ihnen das Land wegnehmen und einem anderen übergeben. Er konnte sie aus Bauern zu Lohnarbeitern degradieren, er konnte die Hand auf ihren Lohn legen, bis die Abgaben entrichtet waren, er konnte sie schließlich nach Sibirien verbannen. Diese drückenden Lasten, die ungleiche Verteilung des Besitzes, die allgemeine Landannut unter den Bauern erklärt es, daß der russische Bauer im Jahre 1917 von Lenin und von der kommunistischen Partei eine Erlösung aus seiner drückenden Armut erhoffte. Man bedenke, daß 1914 80 °/o des Landes in der Hand des Adels, 10, 7 °/o des Landes in der Hand von Kaufleuten und nur 5, 5 % des Landes in der Hand von Bauern sind.

Es ist also nicht zu verwundern, daß die Bauern von der Revolution von 1917 das erwarteten, was alle Bauernaufstände der vergangenen Jahrhunderte und was die blutige Bauernrevolution von 1902 bis 1905 nicht hatten erreichen können.

In den Kämpfen zwischen Rot und Weiß stellten die Bauern der Roten Armee die Soldaten, und sie ernährten und erhielten die Rote Armee in den blutigen Wirren jener Tage. Endlich, so hofften sie, würde die Landarmut beseitigt, der Flurzwang aufgehoben, die Abgaben und Leistungspflichten für null und nichtig erklärt werden. Endlich, so glaubten sie, würden sie zu freien Bauern auf freier Erde werden. Aber schon durch das Dekret vom Februar 1918 wird „jedes Eigentum an Land, Bodenschätzen, Gewässern und lebendigen Naturkräften im Bereich der russisch-föderativen Sowjetrepublik für immer aufgehoben.“

Doch der eigentliche Leidensweg des russischen Bauerntums beginnt erst im Jahre 1928 mit der Kolchosiwierung aller Gehöfte. Die Kommunistische Partei hatte zwar im Staat die politische Macht errungen, aber — die politische Macht blieb abhängig von den landwirtschaftlichen Erzeugnissen des Dorfes. Wenn das kommunistische Regime diese Abhängigkeit aufheben wollte, so mußte sie die Verfügungsgewalt der Bauern über den von ihnen verwalteten Boden, über Anbau und Verkauf der Ernten aufheben. So kommt es im Jahre 1928 zu einer zweiten Revolution, die einen völlig anderen Charakter trägt als die Revolution von 1917.

Revolution gegen das Volk

Die heutige Sowjetunion empfängt ihr Gesicht nicht aus der Volks-erhebung von 1917, die in Literatur, Film und Propaganda als die hohe Zeit der Sowjetunion und gleichsam als ihr Ursprungsakt gepriesen wird, sondern ihren eindeutigen Zwangscharakter, ihre Herrschaftsstruktur, die durchgängige Volksentfremdung, alle ihre Konflikte, mit denen sie bis zur Stunde belastet ist, gründen in dieser zweiten Revolution von 1928. Ja, die Kolchosiwierung ist eine Revolution, und sie wird von der sowjetischen Geschichtsschreibung selbst als eine solche bezeichnet. Aber — es ist nicht eine Revolution, die durch Arbeiter und Bauern durchgeführt wird, sondern durch Gesetz und behördliche Anordnung, durch polizeilichen Zwang und militärische Dragonade. Es ist die erste bürokratische Revolution, der später noch viele andere folgen sollten. Sie ist nicht eine Revolution des Volkes, sondern eine Revolution gegen das Volk. Hier wird zum erstenmal der Wechselbalg der künstlich gemachten, der befohlenen und aufoktroyierten Spontaneität geboren, den wir unter dem Nationalsozialismus erleben konnten.

Agitations-und Polizeitrupps erschienen auf den Dörfern, trieben die Grundbesitzer, die Kulaken zusammen, und vertrieben sie mit ihren Angehörigen und Kindern aus ihren Häusern und Dörfern. Sie verluden sie in Eisenbahnzüge und transportierten sie über tausende von Kilometern nach Sibirien oder nach Kasachstan. Zum Teil wurden sie auf offener Strecke in den sibirischen Eiswüsten ausgesetzt mit der Absicht, daß die Eisstürme sie umbringen sollten, zum Teil trennte man sie von ihren Frauen und Kindern und schleppte sie in Lager in der Taiga, wo man sie Bäume fällen ließ.

Wer ist ein Kulak? Das Wort Kulak heißt eigentlich „die Faust“. In übertragener Bedeutung ist es ein Mensch, der einen anderen mit der Faust traktiert. Die Sowjets geben diesem Wort den Sinn von „Großbauer“. Aber der Klein-und Mittelbauer hat wohl den in der Revolution von 1917 enteigneten Großgrundbesitzer als den Vertreter einer anderen Klasse empfunden. Es gelang den Sowjets jedoch nicht, den Klein-und Mittelbauern gegen den Großbauern aufzubringen. Im Jahre 192 8 fühlte jeder Bauer, daß das, was heute den Großbauern geschieht, morgen ihm selbst geschehen wird. So kam es zu massenhaften Weigerungen, in die propagierten Kolchoswirtschaften einzutreten. Das Wort Kulak bekommt darum als Schimpfwort eine immer weitere Bedeutung.

Es bezeichnet nicht nur den Großbauern, sondern ebenso alle, die sich mit ihm solidarisch empfinden, also alle diejenigen bäuerlichen Elemente, die sich weigern, in den Kolchos einzutreten, ihr Schwein, ihre Kuh, ihr Pferd einem gemeinsamen Stall einzuverleiben. Jeder, der der vollen Vernichtung seiner Selbständigkeit widerstrebt, ist ein Kulak und wird als ein solcher behandelt.

Durch die Kolchosiwierung ist der gegenwärtige soziale Zustand des heutigen Kolchosnik geschaffen worden. Er ist der eigentliche Lastträger der Sowjetunion. Die Landwirtschaft ist trotz der gefährlichen Risse und Sprünge, die sie aufweist, noch heute die Säule, die das ganze Gebäude des sowjetischen Experiments trägt. Wir sagten, als wir über den russischen Arbeiter sprachen, daß die Ausbeutung in der Sowjetunion nicht abgeschafft, sondern durch ein „System des Zwanges zur Selbstausbeutung“ verschärft sei. Hier müssen wir nun hinzufügen: Der Kolchosnik ist der eigentliche ausgebeutete Arbeiter der Sowjetunion. Er bringt die ungeheuren Lasten auf, die die Industrialisierung und Elektrifizierung der Sowjetunion gekostet haben. Er ernährt die Rote Armee. Er finanziert durch seine Arbeit die gewaltige Aufrüstung der Sowjetunion. Er bezahlt auch die Kosten für alle guten und vorbildlichen Dinge, die es in der Sowjetunion gibt. Er trägt die Förderung der Schulen, die Stipendien der Studenten, den Ausbau der Universitäten und der wissenschaftlichen Laboratorien. Er finanziert die großen Theater und das Ballett von Moskau, Leningrad, Kiew und Erivan. Er bestreitet die Kosten für die kommunistische Propaganda in der ganzen Welt, er trägt ebenso die Kosten aller Spionage-und Bestechungsgelder, die in fremde Länder fließen. Die Sowjetunion hat eine beachtliche Schwerindustrie entwikkelt. Sie hat Straßen, Eisenbahnen und gigantische Kanalbauten durchgeführt. Sie hat Schulen gebaut und wissenschaftliche Laboratorien erstellt. Aber die Frage, die Karl Marx in bezug auf das Kapital der bürgerlichen Gesellschaft stellte, die Frage: „Auf welchem Wege kommt eine Erweiterung des Vermögens und der Anlagewerte zustande?“ — müßte so konkret und gründlich wie möglich auch für die Sowjetunion gestellt und beantwortet werden. Es geht über den Bereich dieser Arbeit hinaus, diese Frage in der volkswirtschaftlichen Gründlichkeit, die sie erfordert, zu beantworten. Aber der lebendige indruck, den jeder mitbringt, der die Sowjetunion mit offenen Augen gesehen hat, ist der: es ist die Arbeitskraft des Kolchosnik, der dieses System siebenunddreißig Jahre lang erhalten hat, und der all die Investierungen auf dem Gebiet der Leicht-, Mittel-und Schwerindustrie ermöglicht hat. Aus seiner Arbeitsqual und aus seiner Armut werden alle Ausgaben dieses nicht gerade nach den Gesichtspunkten der Rentabilität geleiteten Mammut-unternehmens, Bolschewismus genannt, geleistet. Die Quelle des Reichtums ist trotz aller Mißwirtschaft und aller in der Landwirtschaft eingestandenen Fehler bis auf den heutigen Tag in der Sowjetunion nicht die industrielle Produktion, sondern die Landwirtschaft. Der Kolchosnik oder der auf einer Sowchose arbeitende Landarbeiter erhält nicht im entferntesten ein Äquivalent für die von ihm geleistete Arbeit. Alle Beobachtungen, die Karl Marx an dem Arbeiter der frühkapitalistischen Periode machte, daß sein Entgelt gerade ausreicht, um sein Leben und damit seine Arbeitskraft zu reproduzieren, würde er heute am russischen Kolchosnik wiederholen können.

Das Einkommen eines Kolchosniki besteht aus drei Stücken. Es besteht aus einem Stückchen Land, das aber so klein ist (etwa ein Morgen), daß es als Lohn genauso wenig angerechnet werden dürfte, wie in den westlichen Ländern der Garten oder das Stückchen Feld, das ein Arbeiter besitzt, auf seinen Lohn angerechnet wird. Ständig streben die Kolchosniki danach, dieses Stück Land auf legale oder illegale Weise zu vergrößern. Ständig strebt der Staat danach, es verschwinden zu machen. Denn der Staat wünscht, daß der Kolchosnik möglichst seine ganze Arbeitskraft dem Kolchos widmet. In einem Erlaß vom 10. März 1956 wird allen Kolchosniki, die ihre Norm nicht erfüllen, angedroht, daß ihnen der Privatgarten beschnitten oder ganz fortgenommen wird. Der Kampf um dieses Stückchen Land, der mit wechselndem Erfolg einmal vom Staat, einmal von den Kolchosniki vorwärtsgetrieben wird, ist eine Art spätes Nachhutgefecht zu den heftigen Kämpfen und Aufständen, mit denen einst während der Kolchosiwierungskampagne die Bauern ihre Selbständigkeit verteidigten.

Das zweite Stück des Lohnes eines Kolchosbauern ist das Deputat, das er in Naturalien monatlich erhält und das etwa 46 Kilo Weizen und Gemüse sowie 73 Kilo Kartoffeln monatlich beträgt. Damit ernährt er seine Familie, die aus vielen Mündern besteht, und damit füttert er zugleich seine Kuh, seine Hühner und sein Schwein.

Das dritte Stück des Lohns besteht in Geld, das nur einmal im Jahr, nämlich am Ende des Erntejahres, ausgezahlt wird. Rechnet man alles, was er erhält, auf den Monat um, so kommen je nachdem 150— 2 50 Rubel monatlich heraus, die etwa einen realen Kaufwert von 20 bis 3 5 Deutsche Mark haben.

Zwang zur Selbstausbeutung

Als wir über den Lohn des Arbeiters sprachen, sagten wir, die Sowjetunion habe ein System des Zwanges zur Selbstausbeutung entwickelt, d. h. ein System, durch welches der Arbeiter durch die Art der Lohnberedmung gezwungen ist, sich selbst auszubeuten, wenn er nicht hungern will. Ich nannte als Beispiel solcher Selbstausbeutung das Dreizehn-Kessel-System in den Gefangenenlagern, das Abarbeiten der Haftzeit in einem verkürzten Zeitraum, und beim Arbeiter das ausgeklügelte Verhältnis von Grund-und Leistungslohn. Auch die Kolchosentlohnung bietet eine ganze Reihe solcher Beispiele. Das Stückchen Eigenland, das der Kolchosarbeiter bewirtschaften darf, muß klein, möglichst klein gehalten werden, damit der Arbeiter durch Mangel gezwungen ist, den größten Teil seiner Arbeitszeit und seiner Arbeitskraft dem Kolchos zu widmen. — Die Entlohnung auf einem Kolchos ist nicht gleichbleibend. Sie ändert sich je nach dem Ertrag des Kolchos. Sie sinkt bei schlechter und sie steigt bei guter Ernte. Sie ist gering auf einem schlecht bewirtschafteten und besser auf einem gut bewirtschafteten Kolchos. Berechnet aber wird der Lohn in „Tagwerken“. Doch der Begriff des „Tagwerks“ ist nicht ein Zeit-, sondern ein Normbegriff. Das Jahr hat 365 Tage und vielleicht 300 Arbeitstage. In der Sowjetunion aber ist es möglich, daß jemand an 300 Arbeitstagen 700 „Tagwerke“ macht und entsprechend entlohnt wird. Aber es ist — und das ist vielleicht die größte Not der Kolchosniki — viel häufiger der Fall, daß jemand in 300 Tagen nur auf 180 oder 200 „Tagwerke“ kommt. Ein Traktorist, der einen guten und gesunden Traktor fährt, kann mit Leichtigkeit im Jahr auf eine Vielzahl von 300 Tagwerken kommen. Ein Arbeiter oder eine Arbeiterin, die eine körperlich viel schwerere Arbeit verrichten, die beispielsweise mit einem Pferd oder einem Ochsen einen harten und steinigen Acker pflügen, bekommen für die Arbeit eines Tages nur ein halbes Tagwerk angerechnet. Man kann sich leicht vorstellen, welche Rolle bei dieser Errechnung der „Tragwerke“ der Bleistift in der Hand des Brigadiers spielt.

Dasselbe System des „Zwanges zur Selbstausbeutung“ begegnet uns aber noch einmal auf der Ebene der Kollektivität. Auch der Kolchos in seiner Gesamtheit vermag nicht zu existieren, wenn er nur den vom Staate auferlegten Anbauplan durchführt. Auch er muß über dieses ihm auferlegte Gesamtsoll hinaus ein Übersoll erfüllen, indem er Neuland unter den Pflug nimmt und Erträge erzielt, die er zusätzlich auf den Markt werfen und für die er höhere Beträge erzielen kann. Der Kolchos wählt selstverständlich diejenige Feldfrucht, die ihm am meisten einbringt. Das ist der Grund dafür, daß die Landwirtschaft alle paar Jahre in einer überraschenden Selbstkritik sich selbst bezichtigen muß, daß sie die Kultur eines bestimmten Zweiges der Landwirtschaft zu stark forciert, dagegen andere vernachlässigt habe. Vor zwei Jahren offenbarten zwei umfängliche Gesetze, die meines Wissens in Europa nicht veröffentlicht wurden, den Zusammenbruch der sowjetischen Landwirtschaft, das sogenannte „Kartoffelgesetz“ und das sogenannte „Kuhhaltungsgesetz“. In dem „Kartoffelgesetz“ bezichtigt sich die Regierung, zugunsten der Getreideerzeugung den Kartoffelanbau völlig vernachlässigt zu haben.

Auf Hunderttausenden von Hektar seien die Kartoffeln in den verschiedenen Kreisen der Sowjetunion nicht ausgemacht worden, weil der hereinbrechende Winter keine Zeit dazu ließ. Die Kartoffeln seien entartet, weil die Staatszucht im argen liege. Hundertausende Zentner seien verdorben oder erfroren aus Gründen ungeeigneter Unterbringung und Ein-mietung der Kartoffeln. Die Regierung bezichtigt sich selbst, für Kartoffeln keinen ausreichenden Preis gezahlt und dadurch keinen Anreiz für den Anbau von Kartoffeln geschaffen zu haben. Jeder deutsche Landwirt würde beim Studium dieses „Kartoffelgesetzes“ betroffen sein über die geringen Erträge, die die Sowjetunion bei fruchtbaren Böden einem Hektar Land abgewinnt.

In dem „Kuhhaltungsgesetz" bezichtigt sich die Regierung, den Anbau von Kraftfutter vernachlässigt zu haben. Die Kultur der Wiesen und Weiden sei unterblieben. In vielen Gegenden der Sowejtunion sei das Gras entweder überhaupt oder nur einmal im Jahre geschnitten worden. Da die Kolchosen und Sowjosen nicht genug Winterfutter hatten, seien die Kühe zu Hunderttausenden geschlachtet worden. Das Gesetz verbietet solche Notschlachtungen von Kühen, und der Staat bietet an, jede Kuh, die eine Kolchose nicht glaubt durchhalten zu können, zu übernehmen. Die Stallungen seien nur zu einem kleinen Teil winterfest.

In vielen Gegenden seien die Kühe in den Stallungen erfroren. Der Staat kündigt eine Mobilmachung von Maurern und Bauarbeitern an, um so schnell wie möglich winterfeste Ställe zu erstellen. Über den geringen durchschnittlichen Milchertrag, von dem in diesem „Kuhhaltungsgesetz“ die Rede ist, wird jeder europäische Bauer den Kopf schütteln.

Liegt er doch tiefer, als bei uns der Milchertrag einer durchschnittlichen Ziege. Die Kolchosen werden beschuldigt, den Nachwuchs an Jungvieh nicht genügend gefördert zu haben, während die Regierung sich selbst beschuldigt, den Milchpreis zu niedrig angesetzt zu haben, so daß für die Aufzucht von Vieh und für die Kultivierung des Milchertrages kein genügender Anreiz vorhanden war. Das Buttern und die Käsebereitung wird den Kolchosen streng verboten. Die Weiterverarbeitung der Milch wird zu einem Monopol des Staates. Ein gründliches Studium des Kuhhaltungsgesetzes gibt dem europäischen Betrachter, wenn er es mit ein wenig anschauender und nachvollziehender Phantasie zu lesen versteht, einen viel tieferen Einblick in die Zustände einer sowjetischen Kolchose und in die Schwierigkeiten des gesamten Kolchossystems als irgendeine Schilderung. Denn er wird gegen den Willen des selbstkritischen sowjetischen Landwirtschaftsministeriums spüren, daß das. Verhältnis zwischen Staat und Kolchose von Spannungen erfüllt ist, die nicht dialektischen, sondern feindseligen Charakter zeigen. — Vielleicht neigt jeder Bürger in der ganzen Welt dazu, den Staat gelegentlich als seinen Feind zu betrachten, vornehmlich dann, wenn er Steuern bezahlen muß. In das Leben eines Kolchosnik aber greift der Staat täglich und stündlich ein. Der Bleistift des Brigadiers ist der Bleistift des Staates. Das Rechnungsbuch des Buchhalters ist das Buch des Leben in der Hand des Staates. Das Soll von 800 Quadratmeter Rüben, das je Tagwerk zu hacken, das Soll von 660 Kilo Kartoffeln, das am Tage auszumachen ist, die Tafel, an der täglich die Rekordisten namentlich gelobt, die Säumigen namentlich angeprangert werden, der Natschalnik, der an der Dezimalwaage auf dem Felde steht, wenn der Arbeiter seinen Sack von der Schulter hebt, ist der Staat. Das Deputat, das ihm zugeteilt oder vorenthalten wird, gibt oder versagt der Staat. Weil aber der Staat hemmend, hindernd, heischend, spornend, treibend, strafend täglich und stündlich in sein Leben eingreift, wird er von Kolchosnik als „der Feind" betrachtet. Diese allgegenwärtige Macht darf man schädigen, belügen, betrügen, wo man kann. Warum soll man nicht in den Sack Kartoffeln einige Schaufeln russischer Erde mit einfüllen, um ein höheres Gewicht zu erreichen? Warum soll man es beim Auslesen der Kartoffeln so genau nehmen? Warum soll man nicht die Hälfte in der Erde lasssen, wenn dadurch die Norm der abzuerntenden Fläche schneller erreicht wird? Warum soll man das Fundament eines Gebäudes unbedingt 2 Meter tief in die Erde legen, wenn 1, 50 Meter auch genügen? Warum soll man ein neu zu errichtendes Gebäude, für welches normale Bretter angeliefert wurden, nicht mit minderwertigen „Schalen"

verkleiden und die guten Bretter verkaufen? Wenn das Gebäude verputzt ist, sieht keiner mehr, ob Schalen oder Bretter unter dem Putz liegen. Warum soll man ein Feld in der Mitte genauso sauber bepflanzen wie an den Rändern und Wegen? Die Kommission beurteilt das Feld ja doch nur an den Wegrändern. In keinem Land der Welt wird soviel gewogen, geprüft, kontrolliert wie in der Sowjetunion. Aber in keinem Land der Welt wird so viel und so raffiniert gestohlen und betrogen wie in der Sowjetunion. Es gibt so etwas wie eine nachsichtige Solidarität aller den Staat Betrügenden. Immer wieder kann man den Stoßseufzer hören: „Wie kann man leben, ohne zu stehlen oder zu betrügen?" Wenn auch der Staat den Diebstahl am Gemeineigentum mit hohen Strafen (nicht unter sieben Jahren) bestraft, gelingt es ihm doch so wenig, den Diebstahl zu ächten, wie es im Deutschland gelingt, die Holzentnahme aus dem Walde in gewissen Landschaften Deutschlands als Diebstahl zu ächten. Wer sich aus dieser Solidarität der Stehlenden und Betrügenden selbst ausschließt, wer sich zum Spitzel und zum Denunzianten hergibt, wird wie ein Verräter angesehen, der es mit dem Feind hält, dem einzigen übermächtigen, unpersönlichen Feind. — Der Kolchosnik weiß nichts mehr von der „Mehrwert-Theorie“ eines Karl Marx. Er ist niemals auf den Gedanken gekommen, seinen Arbeitsertrag einmal daraufhin zu untersuchen, welchen ungeheuren Mehrwert der Staat aus dem Ertrag seiner Arbeit herausschlägt, aber er fühlt, daß er der Lastträger der Nation ist. Er weiß, daß der Kolchos 20 Kopeken erhält für das Kilo Getreide, daß aber der Kolchosnik, wenn er ein schlechtes und nasses Brot in der Stadt kauft, 1, 48 Rubel bezahlen muß für ein Kilo Brot. Von jedem Bissen Brot, den in der ganzen Sowjetunion ein Kind oder ein Erwachsener ißt, nährt sich der Staat. Es würde sich lohnen, einmal die Herstellungskosten der wichtigsten Lebensgüter, die in der Sowjetunion produziert werden, den Preisen gegenüberzustellen, die der Konsument bezahlen muß. Dann würde man erkennen, daß niemals, im Mittelalter oder in der Neuzeit, ein Wucherer solche Gewinne gemacht hat, wie der sowjetische Staat sie auf Kosten seiner Bürger macht.

Die Jugendlichen Im Märchenland der Ideologie

Als wir von der Gruppe der „ganz Alten“ sprachen, berichteten wir, daß sie den Bolschewismus, seine Repräsentanten und seine Einrichtungen unter rein moralischen Gesichtspunkten betrachten. Seine Einrichtungen sind böse von Grund auf. Alles, was in Rußland einmal gut war, haben sie zerstört. Seine Repräsentanten sind Schuliki = Gauner und Lodri = Verkommene. Sie begreifen nicht,'daß ehrenwerte westliche Politiker sich mit solchen Schuliki und Lodri an einen Tisch setzen können. Wenn wir uns nun den Jugendlichen zuwenden, sind die moralischen Prädikate genau umgekehrt verteilt. Denn die Kinder lesen in ihren Schulbüchern, von welchen grauenhaften Verbrechen und Übelständen Lenin und Stalin das Land befreit haben. Sie lesen von den Untaten der Faschisten, wobei die Vorstellung erzeugt wird, als gehörten LIntaten, Folterungen und Vernichtungslager zum Wesen der westlichen Welt. Sie lesen, daß früher in Polen die Bauern wie Vieh vor den Pflug gespannt wurden und die Äcker umpflügen mußten. Sie lesen, daß in Deutschland in den Fabriken die Arbeitgeber ihre Arbeiter mit Hundepeitschen traktieren, daß in England Kinder von ihren Eltern an reiche Leute verkauft werden, weil sie selbst sie nicht ernähren können, daß die Kinder in Frankreich in dumpfen und schmutzigen Hinterhöfen leben müssen, in die selten oder nie ein Strahl der Sonne dringt, wie in allen westlichen Ländern die Lehrer in der Schule die Kinder mit Prügeln traktieren, während in der Sowjetunion der Lehrer der beste Freund der Kinder sei, so daß den Kindern die Ferien langweilig erscheinen, und sie sich alle fragen, wann die langweiligen Ferien zu Ende gehen und sie wieder zur Schule gehen dürfen. Die Lobpreisungen Stalins waren in allen Schulbüchern von einer nicht mehr zu überbietenden Geschmacklosigkeit. Da lasen die Kinder z. B.: „Stalin denkt stets an uns. Er wünscht uns Erfolg und Gesundheit. Er freut sich über die guten Zensuren der Schulkinder.“ Oder „Josef Wissarionowitsch Stalin, der Führer und Lehrer aller Werktätigen, der göße Heerführer, der Generalissimus der Sowjetunion. Den Genossen Stalin kennen alle Arbeiter und Arbeiterinnen, alle Kolchosbäuerinnen, alle Jungen und alle Alten. Linseren Stalin kennt die ganze Welt und alle lieben heiß den Genossen Stalin. Stalin ist der beste Freund aller Kinder.“

Dem russischen Kinde wird also die Welt ganz wie ein Märchen vorgestellt. Die Welt vor der bolschewistischen Oktoberrevolution war eine Welt, in der lauter häßliche und grausame Zauberer regierten. Dann aber kamen Lenin und sein bester Freund Stalin wie die strahlenden Märchenprinzen und befreiten die Welt von allem Häßlichen, Schmutzigen und Bösen. Das Gute errang seinen verdienten Sieg über das Böse.

Es sind ja viele alte Märchen (Karin Holzrock, Aschenbrödel usw.)

soziale Märchen. Für die Kinder der Sowjetunion ist nun die ganze Weltgeschichte zu einem Märchen gemacht. Und da die Kinder noch in dem Glauben leben, daß ein Wort nicht lügen und täuschen kann, so glauben sie zunächst an die Märchenprinzen Lenin und Stalin. Hinzu kommt, daß auch die Lehrer meist ungebrochene Kommunisten, daß sie jedenfalls die besten und wirksamsten Propagandisten des Kommunismus in der Sowjetunion sind.

In der Gefangenschaft waren es die Lehrer, die mit ihrem Los am schwersten fertig wurden. Die meisten Gefangenen hatten einen in der Sowjetunion nicht seltenen schweren Schicksalsschlag erfahren, sie hatten Leid und Trennung und körperliche Schmerzen erfahren, aber den Lehrern war ihre geistige Welt zusammengebrochen. Der russische Lehrer hat nicht nur die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern die ganze politische und moralische Erziehung der jungen Sowjet-bürger ist in seine Hand gelegt. Er sammelt die 8 bis 11jährigen in der Organisation der Oktobriata, deren Zahl sich auf etwa 5 Millionen beläuft. Er sammelt die 11-bis 15jährigen zu den Pionieren, die er oftmals selbst leitet. Ihre Zahl liegt bei etwa 10 Millionen, und er wirbt dafür, daß die Pioniere dann mit 16 oder 17 Jahren in die Komsomolzenorganisation eintreten (17 500 000 Mitglieder im Jahre 1943). Die Komsomolzen stellen, von den Gewerkschaften abgesehen, die größte politische Organisation der Sowjetunion dar. Die Komsomolzen sind keine Jugendorganisation im europäischen Sinn mehr. Während die Pioniere alle Dinge pflegen, die junge Menschen fesseln können (Wan-dem, Kartenlesen, Sport, Segeln, Theaterspielen, Musizieren, Entdeckungsreisen in entfernte russische Gebiete, Exkursionen, die mit ethnologischem, biologischem, geologischem Unterricht verbunden sind, und von denen sie Steine, Schmetterlinge, Pflanzensamen mit nach Hause bringen), ist die Organisation der Komsomolzen von Haus aus eine „Kampforganisation''. Sie führte ursprünglich einmal Kampagnen durch, Kampagnen für das Genossenschaftwesen, für das Aufgehen der einzelnen Bauernwirtschaften in die Kolchosen, Kampagnen gegen die Kirche und gegen die Religion, Werbung für die Gottlosenbewegung, gegen die Trunksucht und für den neuesten Fünfjahresplan. Heute ist es stiller geworden um sie. Die Komsomolzen waren in der Sowjetunion einmal „das Mädchen für alles". Sie stellten ganze Gruppen für die Aussaatkampagne oder für die Erntehilfe. Sie stellen bis zum heutigen Tage auf unzähligen Dörfern unzählige dörfliche Beamte. Sie sprangen mit jugendlichem Elan überall da ein, wo es mangelte, und wo ihr Einsatz dem Kreml im Augenblick gerade am notwendigsten erschien. Daneben gab es Ausflüge, Klubveranstaltungen, Tanz-und Unterhaltungsabende. Heute hat die Organisation weithin ihren kämpferisch-politischen Charakter verloren. Dadurch, daß nur die Zugehörigkeit zur Komsomolzenorganisation die Möglichkeit gab, zu studieren oder beruflich weiterzukommen, schnellten seit etwa 1925 die Zahlen in die Höhe, und zugleich wandelte sich der Charakter der Organisation. Seit 1930 ist s'e keine Klassenorganisation der Arbeiterschaft mehr. Den größten Anteil stellen Beamte und Studenten (etwa 54 Prozent), Arbeiter (etwa 36 Prozent), Höhere Schüler (6 Prozent), Kolchosen (4 Prozent!). Seit 1934 veröffentlicht das Zentralorgan der Komsomolzen keine Statistiken mehr über die soziale Zusammensetzung der Organisation. Heute ist beinahe jeder Jugendliche, zumal wenn er aus der Stadt stammt, Komsomolze. Mit der großen Zahl hat die Komsomolzenorganisation die ganze Problematik der sowjetischen Jugend aufg^sogen. Während früher einmal die Komsomolzen für die Gottlosenbewegung warben, müssen die Komsomolzen heute ermahnt und gewarnt werden, es sei „eines Komsomolzen unwürdig, am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen und religiöse Bräuche zu pflegen“.

Zusammenprall mit der sowjetischen Wirklichkeit

Worin liegt die Problematik des russischen Jugendlichen? Sie liegt in dem Zusammenprall der sowjetischen Wirklichkeit mit dem sowjetischen Mythos. Das Schulkind glaubt zunächst seinem Lehrer die erbauliche Geschichte von den Märchenprinzen Lenin und Stalin, die das russische Volk von allen seinen Leiden erlösten und auf die die Arbeiter in der ganzen Welt schauen. Der kleine Pionier singt in seinem Pionierlied — ob er es heute noch singt? — „Stalin schenkte uns unser Vaterland — Mit Stalin geht es unaufhaltsam vorwärts! — Stalin werden wir ewig lieben!“ — Aber dann kommt der Zusammenprall mit der sowjetischen Wirklichkeit. Fast jede russische Familie hat in ihrer näheren oder weiteren Verwandtschaft einen oder mehrere Gefangene, die sie seit Jahren entbehrt. Werden die Kinder auf die Dauer glauben, daß diese Gefangenen Lodri, das ist Verkommene, oder Ubiza, d. h. Mörder seien? Sie leben überall unter den engsten Wohnungsverhältnissen, hören und sehen viel mehr Böses und Schmutziges als deutsche Kinder. Sie bekommen viel früher einen tiefen Einblick in das Leben der Erwachsenen, in ihre Nöte, Sorgen, Streitigkeiten, Leidenschaften als die Kinder der westlichen Welt. Denn es gibt keinen von der Welt der Erwachsenen auch nur halbwegs abgeschirmten Raum. Sie hören von früh bis spät die Flüche und die schmutzigen Redensarten, die den Erwachsenen zur zweiten Gewohnheit geworden sind. Die Beziehungen der Geschlechter spielen sich vor ihren Augen ab. Sie sind frühreif und frühverdorben. Denn es gibt nirgendwo eine Kraft, die imstande wäre, den zwischenmenschlichen und geschlechtlichen Beziehungen eine Würde zu geben, wie sie der christliche Glaube schenkt. Sie lernen sehr früh, daß man nicht zu denken braucht, was man sagt, und daß es nicht gut ist, zu sagen, was man denkt. Sobald sie aber anfangen, politisch zu-denken, merken sie auch, daß heute wahr ist, was gestern falsch war, und daß heute als falsch ausgegeben wird, was gestern als neueste Wahrheit dekretiert wurde. Der russische Jugendliche ist aber viel weniger in der Lage, sich ein Urteil zu bilden, weil die sowjetische Erziehung darauf beruht, Resultate mitzuteilen. Niemals erfährt er, daß irgend etwas unklar ist und daß die Wissenschaft um ein Problem ringt. Niemals wird er auch nur mit einer Andeutung an die Grenze des Erkennbaren geführt oder von der Religion auf die unnennbare Tiefe des Wirklichen hingewiesen.

Niemals wird er auch nur dazu angeleitet, sich im dialektischen Gespräch der Wahrheit anzunähern. Denn alles ist durch Marx, Engels und Lenin vollständig geklärt. Im dialektischen Materialismus besitzt jeder junge Mensch den Stein der Weisen, der alle Fragen beantwortet, ehe sie noch gestellt wurden. Nichts wird gelehrt, sondern alles wird gepaukt. Die russischen Lehrer mögen sich noch so fortschrittlich vorkommen, im Grunde sind sie Pauker, keine Lehrer. Der sowjetische Gebildete mag sich noch so gescheit dünken, seine Bildung ist Halbbildung.

Dabei gibt es einige durchgängig gute Eigenschaften, die am russischen jungen Menschen auffallen. Da ist z. B.seine außerordentliche Lernbegierigkeit. Ein offenes Buch, ein Bild wirkt auf ihn wie ein Magnet auf das Eisen. Niemand kann in Anwesenheit von einfachen Russen ungestört in einem Buche lesen. Sie kommen sofort und fragen: „Was liest du?" „Warum liest du das?" „Ist es interessant, was du liest?" Wie Kinder verlangen sie, daß man ihnen ein Bild oder ein Ideogramm erklärt. Ja, wenn ihnen das Buch interessant erscheint, so kann es vorkommen, daß man es schon wieder los geworden ist, ehe man noch zum Lesen gekommen ist. Sie lesen viel, und wo sie selbst nicht besonders gut lesen können, lassen sie sich von einem anderen, der es besser versteht als sie, stundenlang vorlesen, ohne die Geduld zu verlieren. — Sie haben wenig Sinn für äußere Formen. Die französische Höflichkeit ist auf ihrem Siegeszug durch Europa nur bis nach Polen vorgedrungen. Im zaristischen Rußland nahm nur eine schmale Schicht des gehobenen Bürgertums an ihr teil.

Wenn sie aber ein älterer Mensch ohne Eifer und ohne ein Zeichen von Verachtung auf bestimmte Formen hinweist, so nehmen sie sie bereitwillig und ohne Widerspenstigkeit an. Von Haus aus bringt der russische Jugendliche eine natürliche Achtung vor dem Alter, d. h. vor der Erfahrung und vor dem Wort eines Alten mit. Das Wort Stari -Alter ist bis zum heutigen Tage ein Ehrenname. Wo sich gelegentlich eine Mißdeutung des Alters breitmacht, hängt sie mit der offiziellen sowjetischen Schätzung der Arbeit zusammen. Jemand, der in der Arbeit nicht mehr taugt, ist auch selbst nicht mehr viel wert. So wird bei einer allgemeinen Achtung des Alters gelegentlich ein Alter herumgestoßen und als ein unnützer Fresser behandelt.

Mit der Jugend aller Länder teilt der sowjetische Jugendliche ein großes Interesse am Sport und an der Technik. Der Volkssport steht in der Sowjetunion auf einer Höhe wie wohl in keinem anderen Lande der Welt.

Zur Technik werden die Kinder systematisch hingeführt. Sie spielen mit Autos und Traktoren, die sie zuvor selbst zusammengesetzt haben, und fast in allen russischen Häusern hängt eine kleine Holzuhr an der Wand, die eigentlich ein Kinderspielzeug ist. Der kleine Iwan oder Pawel setzt diese in Teilen verschickte und mit einer Gebrauchsanweisung versehene Uhr zusammen. Darauf wird sie in der einzigen Stube aufgehängt, und der kleine Iwan oder Pawel kann stolz darauf sein, daß er seinen Eltern ein so wichtiges Instrument wie eine richtig gehende Uhr gebaut hat. In der Schule aber gibt es — alle russischen Lehrer sind darauf mächtig stolz — den sogenannten polytechnischen LInterricht an vier Stunden in der Woche. An Hobelbänken und am Schraubstock lernen da die Jungen und Mädchen mit technischen Werkzeugen umzugehen. Dieser LInterricht ist keine Spielerei mehr, sondern ganz ernsthaft wird da etwa gesagt, wie ein Automotor herauszunehmen, zu reparieren und wieder zusammenzubauen ist. Die Schwierigkeiten des sowjetischen Jugendproblems liegen nicht so sehr darin, daß die jungen Menschen in ein bestimmtes Interessengebiet oder in einen bestimmten Beruf hineinwachsen — alle Berufe stehen ihnen offen und hungern nach Nachwuchs —, sondern daß sie sich in eine festumrissene Verantwortung einfügen. Das aber ist bei einem erstaunlichen hohen Prozentsatz der russischen Jugend nicht der Fall.

Die Asozialen Keine Ausnahmen -eine Klasse

Ich komme zu der letzten Gruppe der Leidenden, zu der großen Gruppe der Asozialen. Obwohl sie selbst andere leidend machen, gehören auch sie zu den Leidenden. Würden die Menschen einander leiden machen, wo sie selbst nicht leiden, auch da noch leiden, wo sie sich gegen das Leiden so völlig abgehärtet haben, daß es ihre zweite Natur geworden ist? Ist nicht im Grunde jedes Leidenmachen ein Hinweis auf ein Leiden, das jemand abreagieren oder für das er sich an anderen rächen will?

Die Asozialen, das sind in der Sowjetunion nicht einige Ausnahmen von der Regel. Es ist nicht eine Gruppe von Aus-der-Bahn-Geworfenen und Gescheiterten oder von solchen, die unter bestimmten Ausnahme-bedingungen, sagen wir, den Bedingungen einer Welt-oder Hafenstadt, in einem ganz bestimmten Milieu gedeihen. Sie sind vielmehr ein Stand, eine Klasse, die unter bestimmten sozialen Bedingungen überall in der Sowjetunion lebt. Die Angehörigen dieses Standes sind miteinander verbunden durch bestimmte Sitten und Gewohnheiten und durch ein gleiches Lebensgefühl, wodurch nicht ausgeschlossen ist, daß unter ihnen tiefgreifende LInterschiede und sogar heftige Feindschaften bestehen, von deren Glut wir uns kaum eine zureichende Vorstellung machen können. Ihr Ethos weist tiefgreifende LInterschiede auf. Geeint aber sind sie dadurch, daß sie zu dem Ethos der offiziellen sowjetischen Gesellschaft in heftigem und aktivem Widerspruch stehen.

Ich beginne mit jener bemitleidenswerten Gruppe, die alles menschliche Gefühl abgestreift zu haben scheint, den sogenannten Besprisornij oder Verwahrlosten. Sie rekrutieren sich aus Vollwaisen und aus Jugendlichen, die daheim fortgelaufen sind, um, in Banden geordnet, ein wildes Leben zu führen. Ein ausschweifendes Leben in Verbindung mit körperlichen Entbehrungen hat bewirkt, daß sie körperlich von den normalen kräftigen und breitbrüstigen Russen wie eine bis in die körper-liehen Merkmale hinein andere Rasse abstechen. Sie sind meist klein und zurückgeblieben, blaß von Entbehrungen und von einem allen Unordnungen frönenden Leben. Auf kleinen Körpern sitzen Köpfe von hämischen, altklugen Männern. In ihren Bewegungen haben sie etwas von der Raschheit, Unsauberkeit und Gefährlichkeit der Ratten, und wie Ratten treten sie immer in ganzen Rudeln auf. Ihre Kleider sind bis zur Unbeschreiblichkeit schmutzig und zerlumpt. Als sie im Lager neue Wäsche und saubere Kleider empfingen, verkauften sie sie noch am gleichen Tage. Auch ihre Matratzen und Decken verkauften sie, um geschmuggelten Schnaps dafür zu kaufen. Es machte ihnen nichts aus, auch weiter, wie sie es gewohnt waren, auf einem harten Brett zu schlafen und sich mit einem zerrissenen, schmutzigen Buschlat zuzudecken. Sind sie in Freiheit, so schlafen sie in Straßengräben, Ställen, Strohschütten oder in einem Haus auf der blanken Erde. Alle seelischen Hemmungen und moralischen Bindungen sind ihnen verlorengegangen.

Sie ernähren sich von Raub, Diebstahl und Mord. Sie leben unter der Oberfläche der staatlichen und bürgerlichen Ordnung wie Ratten unter den Bohlen eines verkommenen Hauses. Zwischen ihrer Rattenwelt und der Welt der Bürger besteht unversöhnliche Feindschaft. Die Männer fürchten sie, und die Frauen zittern vor ihnen. Denn der Mord an einem anderen gilt ihnen so wenig wie der Tod eines der ihren. Hunger und Kälte, Schmutz und Elend und, sobald sie gefangen und festgesetzt werden, die Schläge der Wachmannschaften bilden das Klima, in dem sie ausgewachsen sind. Geraten sie in einen Kampf mit einem Erwachsenen, so haben sie eine eigene Kampfmethode, die man mit dem „Spinnen“

berittener Indianer vergleichen kann. Das heißt, sie umkreisen und um-wirbeln ihr Opfer von allen Seiten, sie kommen von rechts und links, von vorn und von hinten zugleich auf sie zu, sie springen so schnell heran, wie sie sich seinem Zugriff entziehen. Nirgends greifbar, sind sie doch überall zugleich und benutzen alles, was als Waffe geeignet erscheint, von den zubeißenden Zähnen, Knüppeln und Steinen bis zum selbstgeschliffenen Dolch. Auch die tapfersten Offiziere lassen sich nur sehr ungern mit ihnen ein.

Diese Gruppe der „Verwahrlosten“ hat es in Rußland seit der Revolution von 1917 gegeben. Auch in Europa ist man relativ früh auf die Existenz dieser Gruppen von jugendlichen Kriminellen aufmerksam geworden, weil ein sehr mutiger und phantasievoller sowjetischer Pädagoge, Makarenko, sein pädagogisches Können an diesen jugendlichen Kriminellen gemessen und in seinem „Pädagogischen Poem" „Der Weg ins Leben" darüber ausführlich berichtet hat. In drei verschiedenen Kollektiven, in der Gorki-, der Kurjash-und in der Dserhinski-Kommune, die er beschreibt, ist ihm die Resozialisierung dieser Jugendlichen offenbar gelungen. Diese Darstellung Makarenkos hat in Europa den Eindruck erweckt, als habe die Sowjetunion das pädagogische Rezept gefunden, um diese gefährliche Gruppe jugendlicher Landstreicher und Krimineller durch eine eigenartige Mischung von Idealismus, militärischen Drills, jugendlichen Gemeinschaftsformen und strenger Arbeitsdisziplin zu zähmen. Doch ist das Problem der „Verwahrlosten“ heute genau so brennend wie nach dem ersten Weltkrieg. Teils hat der Krieg diese Jugendlichen der Väter beraubt, teils sind sie aus familiären Konflikten aus der Arbeit im Kolchos oder in der Fabrik weggelaufen. Während des Vormarsches der Roten Armee sind sie in großen Scharen hinter der vorrückenden Front hergezogen, haben Freund und Feind gebrandschatzt, die Häuser geplündert, die Frauen vergewaltigt und aus den Feldküchen der Soldaten gelebt. So sind sie den Sowjettruppen bis nach Mecklenburg und Brandenburg gefolgt und haben in Schwärmen auch die deutschen Dörfer geplündert, bis die Militär-verwaltung der Roten Armee sie wieder in das Innere der Sowjetunion abschob, weil sie sich schämte, den besiegten Feinden diesen Teil der sowjetischen Jugend zu zeigen. Gar mancher deutsche Bürgermeister wird sich noch der Plage erinnern, die diese stehlenden, raubenden, plündernden, bis in den Grund verdorbenen Rudel von Jugendlichen im Jahre 1945 für die Dörfer und Städte der Sowjetzone bedeu. teten. Die Sowjetunion konnte dieser Plage nicht Herr werden, indem sie nach dem Vorbild, das Makarenko in der Dserhinski-Kommune gegeben hatte, große Kolchosen mit kriminellen Jugendlichen betrieb, sondern sie sperrte sie in die Gefängnisse. Als wir in der Richtung von West nach Ost in der Sowjetunion von Gefängnis zu Gefängnis geschleust wurden, erhob sich zu bestimmten Stunden des Tages, vornehmlich zu den Essenszeiten, in allen Gefängnissen ein furchtbares Geschrei von Kindern und Jugendlichen. Jedes Gefängnis besaß drei oder vier Zellen, die wir „Kinderstuben" nannten, in denen die Besprisornij zusammengepfercht waren. Die Begegnung zwischen Wachmannschaften und Jugendlichen endete jedesmal mit wilden Flüchen und furchtbaren Schlägen der Soldaten und einem entsprechenden Gebrüll und unflätigen Beschimpfungen auf Seiten der Jugendlichen. Anfangs hatten wir großes Mitleid mit den „Kindern“, die so grausam geschlagen wurden. Je mehr wir aber diese „Kinder“ und Jugendlichen kennenlernten, desto mehr verstanden wir die ausweglose Lage, in welcher sich die sowjetischen Wachsoldaten befinden, die durch die Verhältnisse gezwungen sind, an solchen „Kindern“ „Vaterstelle zu vertreten“. Die Bezeichnung „Kinder“ ist für diese Jugendlichen genau so paradox wie die „Vaterrolle" der Soldaten. Wenn Makarenko über diese Besprisornij berichtet, daß landauf, landab die Pädagogen an der Erziehungsaufgabe an diesen Jugendlich-Asozialen scheiterten und „sich darauf beschränkten, ihre Zimmer zu bewachen“, so wird man den Soldaten ihre drakonischen Strafmaßnahmen nicht übelnehmen können. So wie die Besprisornij in den Gefängnissen der Schrecken der Wachtmannschaften sind, so sind, sie in den Lagern der Alptraum der Lagerverwaltungen.

In dem Lager, in dem ich mich befand, war es seit Jahr und Tag niemandem gelungen, durch die Todeszone unbemerkt hindurchzukommen. Die Posten auf den Türmen schossen nach jedem, der sich dem Lager-zaun auch nur näherte. Ja, sie schossen auf jede Katze und auf jeden Hund, der die Todeszone überquerte. Es ist kennzeichnend für die aus Lebensverachtung entspringende Todesverachtung der Verwahrlosten, daß in der ersten Woche, nachdem sie in großen Scharen ins Lager eingeliefert waren, eine ansehnliche Gruppe durch die Todeszone kroch, um in ein Haus einzubrechen, von dem ihnen ein grimmiger Witzbold erzählt hatte, es wohnten Frauen darin. In Wirklichkeit war dieses Haus keine Frauenunterkunft, sondern eine Soldatenkaserne. Die aus dem Schlaf fahrenden Soldaten waren nicht weniger erschrocken als die Einbrecher, als sie mit Pistolenschüssen empfangen wurden. Eine ganze Kompanie Soldaten mußte aufgeboten werden, um die ausgebrochenen jungen wieder einzufangen und ins Lager zurückzubringen. — Schon zwei Tage später machte eine andere Gruppe einen zweiten Ausbruch. Sie schleppten bei Nacht durch die mit Scheinwerfern erleuchtete Zone ein Schwein ins Lager, schlachteten es in der Baracke, brieten das Fleisch und fraßen es voller Gier auf. Die Knochen schickten sie dem Lager-kommandanten. — Offiziere, die auf sie einwirken wollten, vertrieben sie mit wohlgezielten Würfen von Schemeln und Stühlen. Eine Anzahl von ihnen floh auch aus dem schwerbewachten Lager. Von Kameraden mit Steinen in einer Kipplore zugeschüttet, ließen sie sich mit dieser an einem Drahtseil laufenden Kipplore eine Steinhalde hinaufziehen und rutschten mit den ausgekippten Steinen die Halde hinab, die schon außerhalb des Lagers lag. Es dauerte geraume Zeit, bis die Wachen bemerkten, auf welchem Wege die Ausreißer das Lager verließen.

Die Macht dieser jugendlichen Bestien liegt darin, daß sie immer in Rudeln auftreten und daß sie vor keinem Mord und vor keiner Hinterlist zurückschrecken. Hat aber einer von ihnen einem Gegner den selbst-geschliffenen Dolch in den Rücken gestoßen, so bekommt keine Untersuchungsbehörde der Welt heraus, wer der Mörder war.

Ich sagte, die Kriminalität und Asozialität der sowjetrussischen Jugendlichen sei mit der Jugendkriminalität der Jugendlichen anderer europäischer Länder unvergleichbar. Es gibt auch in der Sowjetunion das „Halbstarkenproblem“, das seit dem Kriege alle europäischen Länder beunruhigt und das in der Sowjetunion auch ganz ähnlich gelagert ist wie in anderen europäischen Ländern. Es gibt jugendliche Prostituierte und jugendliche Gangsterbanden, deren Eltern Ministerialbeamte, Offiziere und Fabrikdirektoren sind. Die „Prawda“ und die „Iswestija“

haben eine ganze Reihe von Skandalaffären berichtet, wie sie bei Jugendlichen in aller Welt vorkommen. Auch in dem Lager, in dem ich mich befand, gab es eine Reihe von Studenten, die wegen Autodiebstahls, unbefugter Benutzung von Kraftwagen, Randalierens, Sachzerstörung und Körperverletzung im Zustand der Volltrunkenheit verurteilt waren. Das alles sind Dinge, die sich kaum unterscheiden von Vorkommnissen in Stockholm, Berlin, Paris, London und Amsterdam. Der wesentliche Unterschied zwischen der europäischen Jugendkriminalität und zwischen dem Landstreichertum und dem Verbrechenshang, wie er die Gruppen der Besprisornij, der Wory, der Blatnois und der Sukis kennzeichnet, liegt darin, daß die sowjetischen kriminellen Gruppen keine Gelegenheitsverbrecher sind und daß ihre Asozialität nicht auf emotionalen Erregungen und Zuständen beruht wie die Krawalle der Halbstarken in fast allen europäischen Hauptstädten. Die sowjetrussischen Asozialen sind nicht bei Tage brave Lehrjungen und Schüler, um nach dem Genuß von Alkohol oder nach einem Rock-and-Roll-Film plötzlich „außer Rand und Band“ zu geraten, sondern sie sind reguläre „Stände“ mit einer asozialen Lebensform. Wie Asseln sich an die Lebensbedingungen feuchter und schmutziger Keller angepaßt haben und sich in ihnen wohlfühlen, so haben sich die Besprisornij an die Bedingungen eines Landstreicherlebens so gewöhnt, daß sie es gar nicht mehr als anomal empfinden. Das Landstreicherleben, das Streunen von Ort zu Ort, das Aufgegriffenwerden durch die Polizei, das Geprügelt-werden und Sich-zur-Wehr-setzen, das Leben im Gefängnis, dazu alle möglichen Formen sexueller Ausschweifung, sind ihnen zum täglichen Brot, das Verbrechen und jede Form der Unzucht mit ihnen zum Handwerk geworden. Es ist das Element der Gewöhnung an das Verbrechen, der Entwöhnung von jeglicher sozialer Bindung, ja von jedem sozialen Gefühl, was das Problem des Besprisornij als pädagogisches Problem für die Sowjetunion so unlösbar macht. Gerade die Ausnahmen, die der mit einem ungewöhnlichen Maß von pädagogischem Optimismus begabte Makarenko schildert, bestätigen die Regel.

Die Gruppe der „Muschiki"

Eine zweite in der Sowjetunion weit verbreitete Gruppe der Asozialen ist die Gruppe der „Muschiki“. Muschiki ist eine freundlich-abschätzige Bezeichnung und bedeutet „die Männlein“, die „Jüngelchen“. Das Wort ist wie viele andere eine Sprachschöpfung der Kriminellen. Es ist der Ausdruck der belustigten Verachtung, mit der die großen und wirklichen Verbrecher auf diese Gruppe herabsehen. Die Muschiki sind die „kleinen Diebe“, also Taschendiebe, Gelegenheitsdiebe, Warenhausdiebe usw. Sie leben nicht wie die Besprisornij in Rudeln, sondern sie arbeiten in kleinen Gruppen von drei oder vier Leuten zusammen.

Entweder nützen sie ein vorhandenes Gedränge, oder sie schaffen in einer Gruppe von Menschen, die vor einem Kino, in einem Magazin steht, ein künstliches, um in diesem Gedränge mit bewundernswerter Geschicklichkeit in den Taschen der Menschen zu fischen oder ihnen die Taschen mit einem scharfen Rasiermesser von unten aufzuschneiden, so daß die Geldbörse von selbst herausfällt. Sie haben eine raffinierte Technik entwickelt, jemanden in einer Tür zu stellen. In dem Augenblick, wo ihr Opfer durch eine Tür gehen will, tritt einer von ihnen zu gleicher Zeit in den Türrahmen. Ein zweiter tritt wie zufällig von draußen in die Tür. Diesen Augenblick, wo die Aufmerksamkeit des Opfers durch die Doppelbegegnung in der Tür abgelenkt und verwirrt ist, nutzt ein Dritter, um ihm Geldbörse, Brille oder Uhr zu entwenden.

Diese Taschen-, Warenhaus-und Gelegenheitsdiebe rekrutieren sich naturgemäß im wesentlichen aus den Städten. Dort aber sind sie eine wahre Pest. In Moskau steht an der Tür eines jeden Warenhauses bzw. an den Türen der Wartesäle in einem Bahnhof eine Beamtin, die keine andere Aufgabe hat, als diesen Taschendieben den Zutritt zu verwehren. Der Blick dieser Beamtinnen ist so geschult, daß sie die Asozialen an Gesicht, Haltung und Kleidung sofort erkennen. Ihre einzige Waffe ist eine Trillerpfeife. Sobald einer dieser Burschen ihren Anordnungen nicht folgt, setzen sie ihre Trillerpfeife in Bewegung, und es erscheint die Polizei bzw. die Bahnhofspolizei, die sich den Burschen näher anschaut.

Zu den Dieben zählen natürlich auch die unzähligen Diebe, die aus Not stehlen und die teilweise von ihren Eltern dazu angehalten werden. Ich habe im Lager manchen anständigen Jungen getroffen, der auf der Kolchose Korn, Kartoffeln oder Mohrrüben gestohlen hatte, weil seine Mutter nicht mehr arbeiten konnte und er durch seine Diebstähle einen Beitrag zum Familienhaushalt beisteuern wollte. Solche Jungen, die bei uns mit einer strengen Verwarnung bestraft werden würden, werden in der Sowjetunion mit zehn Jahren Zwangsarbeit in Karaganda oder in Asbest bestraft.

Ich deutete schon an, daß es in der Sowjetunion sicherlich keinen Betrieb gibt, in dem nicht geschoben würde. Hat man nun in einem Betrieb oder auf einer Kolchose einen Dieb erwischt, so sind alle Schieber und Betrüger glücklich. Denn nun besteht ja die Möglichkeit, alle Unstimmigkeiten diesem erwischten Dieb in die Schuhe zu schieben. Er trägt dann die Strafe stellvertretend für alle. Das Gericht verurteilt ihn häufig für viel mehr Straftaten, als er je begangen hat.

Die Gruppe der „Blatnoi” Einen völlig anderen Charakter trägt die Gruppe der Blatnoi, die sich als eine breite Untergrundschicht durch die ganze Sowjetunion zieht. Jedes Land bringt seinen besonderen Typus von Asozialen hervor. In Deutschland tritt der Asoziale in der Gestalt des „Penners“ auf. Der Penner arbeitet nicht. Er hat keine Wohnung und keinen Beruf. Er verachtet die bürgerliche Sicherheit und alle bürgerlichen Ehren. Wandernd und bettelnd zieht er durchs Land. Er läßt sich genügen an einem Schlaf-platz in der Scheune oder im Schuppen, den der Bauer ihm anweist, und er ist zufrieden mit dem Stück Brot oder mit der Suppe, die die Hausfrau ihm auf den Tisch schiebt. Die Freiheit der Landstraße zieht er der doppelten Bindung, wie sie durch Familie und Beruf gegeben ist, vor. Aber im Grunde ist er harmlos, gutmütig und ungefährlich.

Völlig anders ist der Typus der Asozialität, wie ihn das sowjetische Rußland hervorgebracht hat. Er bestimmt eine breite Schicht, die sich bewußt außerhalb aller staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen stellt. Ihre Angehörigen leben von der Furcht, die sie denen einf 1° cn, die sich nicht gegen sie zu wehren wagen. Sie bitten n. cht wie er „Penner“, sondern sie fordern mit 1er Sicherheit, die weiß, daß man ihnen nichts abzuschlagen wagt. Denn sie sind bereit, eine Weigerung mit dem Dolch zu bestrafen. Jedes Kleidermagazin rückt ihnen den besten Schuba (Pelzmantel mit nach innen gekehrtem Pelz) heraus. Jeder Koch oder Essenausgeber beeilt sich, sie zufriedenzustellen. Das Tabakmagazin rückt ihnen ganze Kisten von Rauchwaren heraus, und die Mädchen wissen, daß man einem Blatnoi nichts abschlagen kann.

Sie sind gewohnt zu herrschen und zu befehlen, und selbst die Organe des Staates hüten sich im allgemeinen, ihnen etwas zuleide zu tun. Denn was sie dem einen antun, das wird bald durch einen anderen gerächt.

Die Blatnois haben einen engen Zusammenhalt durch die ganze Sowjetunion, und wen sie liquidieren wollen, der entgeht auch durch die weiteste Reise seinem Schicksal nicht. Irgendwo und irgendwann ereilt ihn der rächende Dolch. Die Rache ist keine Privatangelegenheit, sondern eine Sache der ganzen Organisation. Ein Schädling, ein Feind ihrer Untergrundaktion, ein Spitzel, ein Provokateur, ein staatlicher Verfolger wird durch eine Art Femegericht verurteilt. Oft wird ihm das Urteil vorher mitgeteilt oder als ein mit ungelenker Hand geschriebener Anschlag an volksbelebten Orten, in dem Speisesaal, in dem er zu essen pflegt, in einem Klubhaus, in dem er verkehrt, verkündet. Der Rächer wird ausgelost, wobei als Losentscheidung meist der Gewinn oder Verlust in einem Kartenspiel dient. Wer — je nach vorheriger Abmachung — gewonnen oder verloren hat, muß den Mord ausführen. Eine Weigerung gibt es nicht. Wer sich weigern wollte, würde selbst der Feme verfallen. Es gibt unter den Blatnois viele verschiedene Banden. Manche haben eine mehr monarchische, andere eine obligatorische Verfassung. Das heißt, es steht entweder ein einzelner unumschränkt herrschender Führer oder eine Gruppe von Häuptlingen an der Spitze. Die Form der Verfassung scheint keine Grundsatz-, sondern eine Geschmacksfrage zu sein. Monarchische und oligarchische Gruppen tolerieren sich gegenseitig. Auf jeden Fall aber genießen die Befehlenden die unbedingte Verehrung und den unbedingten Gehorsam der anderen. Es sind keineswegs immer die körperlich Stärksten und Bulligsten, die die höchste Autorität genießen. Auf jeden Fall sind es die Kältesten und die gegen sich selbst und andere Rücksichtslosesten. Einen Kampfgenossen werten die Blatnois nicht nach seiner Überlegenheit im Kampf, sondern nach der Unbedingtheit und Unerschrockenheit, mit der er sich auch einem stärkeren Gegner stellt. Viele Freundschaften, die in der Sowjetunion geschlossen werden, haben ihren Ursprung in einer solennen Schlägerei.

„Wory" und „Suki”

Unter den Blatnois sind es vornehmlich zwei Gruppen, die in einer unheilbaren Urfehde miteinander stehen, obowohl sie beide die gleiche Lebensart haben.

Die eine von beiden ist die Gruppe der Wor. Wor bedeutet so viel wie Verbrecher und Dieb. In ihrem eigenen Munde ist der Name Wor aber kein Schimpfwort, sondern ein Ehrentitel. Es bedeutet für einen Verbrecher eine Ehre, in die Vereinigung der Wor ausgenommen zu werden. Im Unterschied von den „kleinen Dieben“, den Gelegenheitsdieben und Taschendieben, auf die sie verächtlich herabsehen, nennen sie sich mit Stolz tschisti wory, das heißt „saubere Diebe“. Diese „sauberen Diebe“ lehnen jede Art privaten Diebstahls ab, ja, sie verfolgen ihn, sie bestrafen ihn, wo er ihnen begegnet, mit harten Strafen. Sie wollen auf gar keinen Fall mit einem gewöhnlichen „schmutzigen Dieb“ verwechselt werden. Lind zwar ziehen sie einem solchen Dieb, wenn er in ihrer Nähe einen Diebstahl begangen hat, mit einem Messer einen Hieb quer über die Augen. Treffen sie dabei die Augen, so ist der Dieb für sein ganzes Leben lang blind. Geht der Hieb über die Augenbrauen oder unterhalb der Augen weg, so darf der Hieb ein zweites Mal nicht wiederholt werden. Es ist also eine Art Gottesgericht, ob das Schicksal es will, daß die Augen getroffen werden oder daß der schmutzige Dieb nur für eine gewisse Zeit mit der kennzeichnenden Wunde herumläuft. Für erlaubt halten die „Wor“ dagegen jeden Diebstahl an staatlichem Eigentum. Das bedeutet, daß sie mit großer Kühnheit Einbrüche in Banken, in Magazinen, Lagerräumen usw.organisieren, daß sie Kassen entwenden, Eisenbahnwaggons ausplündern usw. Sie führen also auf eigene Faust Jahre und Jahrzehnte hindurch einen Piratenfeldzug gegen den mächtigsten Staatskoloß, den man sich denken kann. Sie setzen dem staatlichen Terror den Terror der Unterwelt entgegen. Die Quelle ihrer Kraft liegt in einer absoluten Lebensverachtung, in der Entschlossenheit zu Mord und Gewalttat, wenn jemandem mit bloßer Zurede nicht beizukommen ist, und drittens in dem unbedingten Zusammenhalt aller. In den Städten erheben sie Steuern und Abgaben von Lager-und Magazinverwaltern. Am Lohntag erpressen sie die Arbeiter, ihnen einen Teil des verdienten Geldes für die Kasse der Wor zu geben.

Frauen sind in ihren Augen Wesen ohne eigenen Willen. Wenn ein Blatnoi eine Frau begehrt, so fragt er sie nicht lange, ob er sie besitzen darf. Begehren aber drei oder vier Männer dieselbe Frau, so wird in einem Kartenspiel ausgemacht, wer sie besitzen darf. Derjenige, der das Spiel gewinnt, ist dann aber auch verpflichtet, die Frau zu nehmen. Niemals darf eine Freundschaft unter Männern und der Zusammenhalt der Wor zerbrechen an der Liebe zu einer Frau. Die Wor sind mutig und sagen den staatlichen Beamten rückhaltlos, was sie über sie denken.

Soldaten und Offiziere belegen sie mit den ärgsten Schimpfworten. Soldaten der Roten Armee und alle staatlichen Beamten und Funktionäre des Parteiapparats sind in ihren Augen „Mussert“, d. i. Kehrricht, wie man ihn auf einer Schaufel zusammenfegt. Die Machtmittel des Staates imponieren ihnen nicht. Gefängnis, Lager, Verbannung sind in ihre Lebensrechnung von vornherein mit einkalkuliert. In jeder Lage aber führen sie ihr Leben fort, das heißt, sie arbeiten nicht, und sie leben von Drohung und Erpressung. Ihren Bewachern machen sie das Leben nicht leicht, weil sie keine Ordnung als für sie verbindlich anerkennen.

In den russischen Lagern werden die Gefangenen morgens und abends gezählt. Solange die politischen Gefangenen unter sich waren, haben sie sich mit einer gewissen soldatischen Pünktlichkeit diesen Zählungen gefügt. Wenn der Gefangene auch seinen Sklavenhalter nicht anerkennt, so anerkennt er doch die Lebensordnung, die dieser ihm auferlegt. Er hat das Gefühl: Ordnung muß sein! Ohne Ordnung geht es nun einmal nicht! Die Blatnois versagen sich auch allen von ihrem Machthaber auferlegten Ordnungen. Als die Läger geteilt wurden und die Hälfte als Banditenlager eingerichtet wurden, war es den Soldaten Monate hindurch nicht möglich, auch nur eine einzige Zählung durchzuführen. Niemals konnten sie feststellen, ob nicht doch einige entflohen waren. Wenn sie von Zeit zu Zeit eine Zählung der Banditen durchführen wollten, so mußten sie mit einem Massenaufgebot an Soldaten und Offizieren Baracke für Baracke räumen, im ganzen Lager alle Winkel und Böden durchkämmen, alle Banditen in Kolonnen auf dem Sportplatz aufstellen und zählen. Es genügte aber der geringste Zwischenfall oder die geringste Unaufmerksamkeit auf Seiten der Organisatoren, so wimmelte alles wieder durcheinander und machte eine Zählung so unmöglich wie die Zählung jenes berühmten Sackes mit Flöhen. Nichts braucht seitens der Banditen ausgemacht, beschlossen oder organisiert zu werden, sie haben vielmehr einen besonderen Sinn für alles, was Desorganisation schafft, und oftmals gelingt es ihnen, einen von der Lagerverwaltung bis ins kleinste ausgearbeiteten und wohldurchdachten Plan in einem Augenblick völlig zu zerstören. Leute, die in ein anderes Lager abtransportiert werden sollten, waren plötzlich nirgendwo mehr aufzufinden.

Gefangene, die bestraft werden sollten, waren wie vom Erdboden verschwunden. Wenn die Lagerleitung Arbeitsbrigaden aufstellen wollte, und wenn sie eine Trennung derjenigen, die zu arbeiten bereit waren, von denen, die die Arbeit ablehnten, vornehmen wollten, so erklärten am Tage der persönlichen Befragung alle: Ja, sie seien bereit zu arbeiten. Sie fuhren auch zu einer Schicht ein, ohne aber eine Schaufel anzurühren. Waren die Arbeitsbrigaden auf dem Papier ordentlich zusammengestellt, so fehlten sie am nächsten Tage wieder zur Arbeit und machten dadurch die Brigaden, zu denen sie eingeteilt waren, arbeitsunfähig. Obwohl die Blatnois keinerlei politische Zielsetzung haben, sind sie doch eine politische Erscheinung. Denn sie befehden den Staat in allen seinen Organen, sie lehnen jede wichtige Arbeit ab und gestatten sich untereinander nur die Arbeit, die dem reinen Broterwerb dient.

So wie die „sauberen Diebe“ einerseits auf die „kleinen Diebe“, auf die „Muschiki“, verächtlich herabblicken, so schauen sie andererseits mit Haß und Ekel auf die „Suki“ herab. Die Suki haben den geheimen Orden, in dem alle Blatois hintereinander leben, zerbrochen. Sie sind zu Abtrünnigen und Verrätern geworden. Sie Suki können sich gegen die Nachstellungen der Wory nur durch einen gleich engen Zusammenhalt wehren, wie die Wory ihn besitzen. Die Wory leben wie Tiere in freier Wildbahn. Die Suki sind wie ehemals wilde Tiere, de zu Hausteren dies sowjetschen Regimes geworden sind. Einen gewöhnlichen Arbeiter hassen die Worys nicht. Sie schätzen ihn vielmehr als einen „ruhigen Bürger“. Sie erlauben ja selbst ihren Mitgliedern zu arbeiten. Aber diese Arbeit muß der täglichen Notdurft dienen. Die Suki arbeiten ja nicht im ehrlichem Sinne. Sie spielen Aufseher, Kontrolleur, Arbeitsorganisator, Brigadier, Küchenverwalter, Lagerverwalter. Sie bekleiden einen der vielen hundert Druckposten, an denen das Sowjetsystem so reich ist.

Der Staat aber benutzt die tief eingeborene Arbeitsscheu des Russen, um den Zusammenhalt der Blatnois zu zerstören.

Indem er die Sukis zu den Bedingungen eines faulen und bequemen und nach russischen Verhältnissen privilegierten Lebens anstellt, erreicht er zweierlei. Erstens, er korrumpiert ständig einzelne Blatnois oder solche Menschen, die die Tendenz haben, Blatnois zu werden. Zweitens, er schafft eine unauslöschliche Feindschaft zwischen Suki und Wory, einen Krieg, in dem es nie einen Waffenstillstand, nie einen Friedensschluß gibt. Sie mögen sich doch gegenseitig die Messer in den Leib rennen! Sie mögen sich nur gegenseitig verklagen und in die sowjetischen Gefängnisse bringen! Drittens, der Staat erhält in den Sukis hörige Antreiber. Denn die Gegenleistung, die die Sukis für ihre Drohnenexistenz zu leisten haben, ist Unnachgrebigkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber denen, über die sie zu befehlen haben. Kein Suka, der es einmal geworden ist, kann wieder zurück. Er steht unter dem Schutz der staatlichen Mächte, aber er muß ihnen dienen, und er muß bereit sein, jeden noch so schmutzigen Auftrag aus der Hand seiner Auftraggeber anzunehmen. Wenn man dieses Interesse des Staates an dem Gegensatz zwischen Suki und Wory bedenkt, so versteht man den Sinn der „Selbstverwaltung“ der Gefangenen in den Lägern. Dieser Selbstverwaltung liegt nicht, wie man beim Klang des Wortes meinen könnte, ein demokratisches oder pädagogisches Prinzip zugrunde, sondern die Lagerverwaltung lenkt mit Hilfe der ihr hörigen Sukis die Läger. Diese nehmen ihr alle unangenehmen und peinlichen Aufgaben ab Kommt es aber zu Konflikten zwischen der aus Sukis bestehenden „Lagerselbstverwaltung und den Gefangenen, so hat die militärische Lagerverwaltung die Möglichkeit, als ein scheinbar „gerechter Makler", ja, als Friedensengel zu fungieren.

Die militärische Lagerverwaltung beherrscht die gleiche Kunst wie die sowjetische Außenpolitik. Sie schürt Konflikte, sie schafft ausweglose Situationen. Kommt es aber dabei zu Schwierigkeiten, so müht sie sich mit großem Propagandaaufwand um den bedrohten Frieden. Die Kämpfe, die Siege und Niederlagen der Sukis und der Blatnois sind für das Bewußtsein des Volkes die bemerkenswerten innerrussischen Ereignisse. Die Kühnheiten und die Abenteuer der Wory, die Schandtaten der Suki, die frechen Diebstähle der Muschiki, die Raubzüge der gefürchteten Besprisornij, die erbitterten Kämpfe alle dieser Gruppen, die rattengleich unter den Bohlen der sowjetischen Gesellschaft leben, das sind die heutigen Sagas der Sowjetunion, das sind die spannenden Geschichten, die man sich an grauen Wintertagen im überheizten Trocken-raum des russischen Hauses, der Suschilka, erzählt. An den Kämpfen dieser Gruppen untereinander und mit der sowjetischen Administration und Polizei nimmt der nichtintellektuelle Russe weit stärkeren Anteil als der durchschnittliche Europäer an der Innenpolitik seines Landes.

(Wird in der nächsten Ausgabe der Beilage fortgesetzt)

Aus dem Inhalt unserer nächsten Beilagen:

Leonhard Froese: „Sowjetische Menschenformung aus deutscher Sicht"

Reinhold Niebuhr:

„Die Ironie der amerikanischen Geschichte"

Percy Ernst Schramm:

„Polen in der Geschichte Europas"

Henry Wei: „China und Sowjetrußland"

Fussnoten

Weitere Inhalte