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Die europäischen Demokratien zwischen den Weltkriegen | APuZ 6/1958 | bpb.de

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APuZ 6/1958 Die europäischen Demokratien zwischen den Weltkriegen

Die europäischen Demokratien zwischen den Weltkriegen

Theodor Eschenburg

Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Zeitgeschichte, München, veröffentlichen wir aus „DAS DRITTE REICH UND EUROPA", Bericht über die Tagung des Instituts für Zeitgeschichte in Tutzing /Mai 1956, erschienen im Selbstverlag, München 1957, den anläßlich der Tagung gehaltenen Eröffnungsvortrag (22. 5. 1956) von Professor Theodor Eschenburg:

Bewährung und Versagen der Demokratien in Europa im einzelnen darzustellen, kann nicht Aufgabe dieses Referats sein. Ich will mich vielmehr damit begnügen, einige typische Erscheinungen und wichtige Weichenstellungen aufzuzeigen. Hierzu muß ich midi eines Schemas bedienen, wobei ich mir aber bewußt bin, daß es nicht mehr als nur ein Hilfsmittel der Betrachtung und Urteilsbildung ist.

Wenn man von der innerstaatlichen Ordnung als Einteilungsprinzip ausgeht, dann kann man in Europa vor dem ersten Weltkrieg drei Zonen unterscheiden. In der ersten Zone liegen die demokratischen Staaten Westeuropas, das sind die britischen Inseln und, auf dem Kontinent, Frankreich, die skandinavischen Länder, Belgien, Holland und die Schweiz. In diesen Staaten bestand vor 1914 eine demokratische Staatsordnung. Die Regierungsbildung lag in Händen der Parlamente. In den Monarchien traten die Staatsoberhäupter als Herrscher politisch nicht mehr in Erscheinung. Die ersten Kammern waren entfeudalisiert oder hatten erheblich gegenüber der Volksvertretung an Gewicht verloren, das allgemeine gleiche Wahlrecht war eingeführt oder stand vor der Einführung. Die entscheidenden Weichen zur Demokratisierung waren in einem Zeitabschnitt großen wirtschaftlichen Aufschwungs gestellt worden. Weder Wirtschaftskrisen noch militärische Niederlagen hatten die neue Staatsordnung in Frage gestellt. Die Daseinsvorsorge lag noch ganz am Rande des staatlichen Aufgabenbereichs und fing erst langsam an einzusetzen. Sie stand daher noch nicht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Der Staat brauchte an seine Bürger noch keine materiellen Anforderungen zu stellen, man erinnere sich nur an die Einkommensteuerprozentzahlen dieser Jahre, die uns heute als unvorstellbar niedrig erscheinen. Frankreich hatte sich bis zu Beginn des Krieges zur Einführung der Einkommensteuer überhaupt nicht entschließen können. Wesentlich ist, daß in diesen Ländern die Geistlichkeit der protestantischen Kirchen den Demokratisierungsprozeß förderte, zumindest nicht hemmte, und daß dementsprechend in den gemischt konfessionellen Staaten, Belgien, Holland, der Schweiz, aber bis zu einem gewissen Grad auch in Frankreich, der katholische Klerus diese Entwicklung respektierte und lediglich besorgt war um die Behauptung der Kirche in der Auseinandersetzung mit Liberalismus und Laizismus. Es sind die Staaten der bürgerlichen Demokratie, zu denen außerhalb Europas als einziger Staat Nordamerika gehörte. In diesem Demokratisierungsprozeß hatten jene Länder mit Ausnahme Frankreichs keine ernste Staatskrise erlebt, und auch Frankreich hatte sie sehr schnell überwunden. Die Demokratie hatte hier Wurzel gefaßt. Sie war im Prinzip nicht mehr umstritten. Die kleinen Staaten hatten kein Hegemonie-Interesseund trieben daher keine aktive Außenpolitik, so daß auch diese Frage nicht innerpolitischer Streitgegenstand war. Alle die oben-genannten Staaten kann man daher als stabile Demokratien bezeichnen.

Auch die Verfassungskonstruktionen in Spanien, Portugal, Italien und Griechenland waren zu jener Zeit in formalem Sinn mehr oder minder demokratisch. Aber in diesen Ländern fehlten die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Verwurzelung der Demokratie. Sie hatten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, ihren feudalen Charakter bewahrt. Der hohe Anteil von Analphabeten, die großen Einkommensunterschiede und das Fehlen eines Mittelstandes erschwerten den Demokratisierungsprozeß, der durch revolutionäre Erscheinungen unterbrochen und sogar in Frage gestellt wurde. Eine Ausnahme bildet Italien, obwohl hier die gesellschaftlichen Verhältnisse ähnlich wie in den eben genannten Ländern lagen. Aber die für diese Staaten charakteristische Labilität wurde in Italien durch die virtuose parlamentarische Führungsüberlegenheit des Liberalen Giolitti, der zwischen 1895 und 1914 mehrmals Ministerpräsident war, gemindert. In diesen Staaten bemühte sich der katholische Klerus, gestützt von der feudalen Oberschicht und diese wiederum stützend, in Abwehr gegen liberale und mehr noch gegen sozialistisch-revolutionäre Strömungen den Demokratisierungsprozeß zu hemmen, wenn nicht sogar rückgängig zu machen. Andererseits war die Anwendung demokratischer Verfahren auch in diesen Ländern nur möglich dank des großen wirtschaftlichen Aufstiegs, den die Welt in einem mehr als fünfzigjährigen Friedenszustand durchlebte. So stehen in der ersten Zone die stabilen Demokratien den labilen gegenüber.

Die zweite Zone bilden „die alt-legitimen Staaten“, wie sie Alfred Weber nennt, die konstitutionellen Monarchien Deutschland und Österreich-Ungarn — die Türkei und Rußland als Ganzes lasse ich hier außer Betracht. Das Erbe des Absolutismus — wenn auch durch die Verfassung eingeschränkt — hat sich in diesen Staaten erhalten. Die erste Kammer behielt noch vorwiegend feudalen Charakter. Der Monarch regierte, war militärischer Oberbefehlshaber und Herr der Verwaltung zugleich. Auf dem Gebiet der Gesetzgebung war das Parlament nur ein Partner unter dreien. Werner Naef hat das Bismarcksche Kaiserreich „eine Monarchie mit demokratischem Zusatz“ genannt. In beiden Staaten bestand dank eines hochqualifizierten Richtertums und einer homogenen, ebenso qualifizierten Bürokratie eine strenge Rechtsstaatlichkeit. Es ist der Höhepunkt des Rechtspositivismus. Trennten die West-und Nordgrenze des Reiches sowie die Westgrenze Österreich-Ungarns den demokratischen und den konstitutionell autoritären Bereich, so dehnte sich die Zone der europäischen Rechtsstaatlichkeit, deren Voraussetzung die Gewaltenteilung war, bis an die Ostgrenze Deutschlands und an die östliche sowie südliche Grenze des Habsburgischen Reiches aus. Die Staatsorganisation war dank der Existenz eines regierenden Monarchen und einer gut funktionierenden einheitlichen Bürokratie stabil. Hingegen war der Staatszustand in Österreich-Ungarn wegen des Auseinanderstrebens der Nationalitäten, im Reich wegen des ständigen Anwachsens der damals antimonarchistischen und antibürgerlichen Sozialdemokratie im Parlament, unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Krise labil.

Die dritte Zone ist sehr viel schwerer zu bestimmen. Salis legt die Grenzen in seiner „Weltgescliichte der neuesten Zeit“ an die Elbe und Donau. Das scheint mir zu weit westlich zu sein. Vielleicht ist eine geographische Demarkationslinie hier überhaupt schwer zu finden. Es handelt sich um jenes Gebiet Ost-, Mittel-und Südosteuropas, mit ausgesprochen oder überwiegend agrarischem Charakter, in dem ständische Vorstellungen und feudale Gesellschaftsordnung noch stark vorherrschen Die Rechtsstaatlichkeit stößt auf sie und stößt sich an ihr, ohne sich gegenüber der feudalen Gesellschaftsordnung, wie es in West-und Mitteleuropa der Fall ist, durchzusetzen. Der wirtschaftliche Wohlstand des Westens dringt kaum oder nur in ganz geringem Umfang in dieses Gebiet ein. Auch wo der Industrialisierungsprozeß einsetzt, bleibt die feudale Ordnung bestehen oder versucht die bürgerliche Unternehmer-wirtschaft, sie auf ihre Art zu übernehmen. Ich brauche nur auf die Darstellung Werner Conzes in seinem Aufsatz „Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas vor und nach 1919“ hinzuweisen. Die Kirchen sind autoritär oder feudal orientiert, zumindest antidemokratisch, der Anteil des Analphabetentums ist sehr groß.

Zu dieser Zone gehören die Teile des russischen Staates mit russischer Bevölkerung, die dank ihrer Vergangenheit in westlichen VorStellungen leben, also die baltischen Provinzen und Polen, aber auch Finnland, das insofern eine Sonderstellung einnimmt, als es über eine gewisse, wenn auch von den Russen mit der Zeit eingeschränkte Autonomie verfügt und dank der schwedischen Oberschicht, die trotz eines wachsenden Selbstbewußtseins der finnischen Bevölkerung politisch noch maßgebend ist, sowie infolge seiner geographischen Lage in nahen Beziehungen zu den skandinavischen Verhältnissen steht. Zu dieser Zone gehören weiterhin die Balkanstaaten, die mit ihrer vorwiegend griechisch-katholischen Bevölkerung im Laufe des 19. Jahrhunderts im europäischen Gebiet des Osmanischen Reiches entstanden, junge Staaten, die zum Teil von fremden Dynastien autoritär regiert wurden und die sich infolge ihrer nationalen Gegensätze und mangels einer Konsolidierung in einem sehr labilen Zustand befanden. Charakterisch für diese Zone ist die Nationalitätenmischung, aus der sich die Vielfalt der „kleinen Nationalismen“ bildete. Als „Vielvölkerstaat“ als „übernationale Ordnungsmacht“ ragt Österreich in diese Zone hinein.

Man muß also zwischen einer demokratischen, einer konscitutonellmonarchischen und einer überwiegend autoritären Zone unterscheiden. Der Frieden von Brest-Litowsk führte zur Abtrennung der Gebiete europäischer Vorstellungswelt von Rußland: Polens, der baltischen Provinzen und Finnlands. Diese Länder wurden dadurch vor der Bolschewisierung bewahrt. Nach der deutschen Konzeption sollten in diesem Bereich konstitutionelle, souveräne Monarchien in einer mehr oder weniger starken Abhängigkeit von Wien und Berlin entstehen Eine Vorstellung, die wohl auch stark von der Angst vor der sozialen Argrarrevolution, die vom Osten her drohte, beeinflußt wurde. Nach rein staats-organisatorischen Gesichtspunkten, wenn man alle nationalen Überlegungen einen Moment außer Betracht läßt, hätte sich der Übergang vom autoritär feudalen zu einem konstitutionell-monarchischen, rec. tsstaatlichen Ordnungssystem wahrscheinlich reibungsloser und damit weniger krisenanfällig vollzogen, weil auf diese Weise an die Bevölkerung wesentlich geringere Ansprüche gestellt worden wären als durch die Demokratie. In den maßgeblichen Kreisen Deutschlands dachte man damals aber weniger an verfassungspolitische Angleichung bei gleichzeitig weitgehender Autonomie, sondern war in erster Linie an militärischer Beherrschung und wirtschaftlicher Ausnutzung interessiert. Max Weber hatte schon 1915/16 in Aufsätzen der Frankfurter Zeitung, die also noch vor der bolschewistischen Revolution erschienen waren, zu einer pfleglichen Behandlung der westslawischen Staaten durch Deutschland geraten, um sie nicht an die Seite Rußlands zu drängen.

Zauberformel Demokratie

Durch die militärische Niederlage im Sommer und Herbst 1918 wurde Deutschland gezwungen, auf diese Konzeption zu verzichten. An deren Stelle trat der Plan des Präsidenten der siegreichen Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, wie er in dessen 14 Punkten zum Ausdruck kam: Selbstbestimmungsrecht und Demokratisierung der Völker, die unter fremder Herrschaft standen. Erst 1917 erfuhr der erste Weltkrieg seine ideologische Akzentuierung. Das Bedürfnis nach Ideologisierung des Weltkrieges als eines Ringens zwischen Demokratie und Despotie war von Amerika, das 1917 in den Krieg eingetreten war, ausgegangen. Der Sieg der Alliierten wirkte daher auch als Sieg der Demokratie Das militärisch besiegte Deutschland erwartete durch Anerkennung der verfassungspolitischen Konzeption Wilsons günstigere Friedensbedingungen im Sinne der Erhaltung des Status quo. Andererseits waren die Anwärter auf stattliche Selbständigkeit um ihrer Chancen willen auf die Anerkennung dieser Konzeption angewiesen.

Wilson hat durch seine verfassungspolitisch aggressiven Waffenstillstandsnoten im Oktober und November 1918 der Monarchie in Deutschland einen schweren Stoß versetzt. Daß sie eine entscheidende Wirkung haben sollten, war die Schuld Wilhelms II., der zur Behauptung ebenso wie zur rechtzeitigen Entsagung zu schwach war. Die Sozialdemokratie, vor allem ihr rechter Flügel unter Ebert, hat damals aus Staatsraison entgegen ihrer republikanischen Überzeugung den Sturz der Monarchie nicht gewollt, sondern um deren Bewahrung willen nur die Abdankung von Kaiser und Kronprinz. Eine Rebellion aus Kriegs-erschöpfung, die durch Wilsons verfassungspolitische Forderung Auftrieb erhalten hatte, wenn nicht geradezu ausgelöst wurde, und die Uneinsichtigkeit Wilhelms II. brachten die Sozialdemokratie in eine von ihr nicht gewünschte Zwangslage, in der sie handeln mußte, um es nicht zu einer radikalsozialistischen Usurpation nach russischem Vorbild kommen zu lassen. Infolge dieser für den Mann auf der Straße schwer erkennbaren Verkettung konnte durch die Initiative der Rechten später die Dolchstoßlegende mit ihren schicksalsschweren Folgen entstehen und leicht Verbreitung finden.

Der Zweck dieser Legende war, dem Volk glaubhaft zu machen, daß die dem Deutschen wesensfremde demokratische Verfassung vom Feinde wie ein trojanisches Pferd mit Hilfe der landesverräterischen Mittel-und Linksparteien — Zentrum, Linksliberale und Sozialisten — hereingeführt worden sei, um die Schwächen des deutschen Staates zu konservieren. Die Alliierten wollten ein demokratisches Deutschland, damit es ohnmächtig bliebe. Zentrum, Linksliberale und Sozialisten nahmen ein ohnmächtiges Deutschland in Kauf, wenn es nur demokratisch wäre. Dabei wäre seit der Bildung der ersten parlamentarischen Regierung unter Prinz Max von Baden, die übrigens auf Veranlassung Ludendorffs erfolgte, der Demokratisierungsprozeß auch ohne die Aktion Wilsons nicht mehr aufzuhalten gewesen.

Aber auch in den Ländern der autoritär-feudalen Zone, die dank der Schwäche ihrer bisherigen Herrscherstaaten — Deutschland, ÖsterreichUngarn und Rußland — entstanden waren, hätte ohne die Wilsonsche Verfassungskonzeption schwerlich eine andere Möglichkeit bestanden als die der Errichtung einer demokratischen Ordnung. Thronprätendenten, die als legitim galten, gab es nicht. Die feudale Oberschicht war wegen der „Kollaboration“ mit den bisherigen Herrschaftsstaaten in Mißkredit geraten. Die Bolschewisten hatten keine Ansatzmöglichkeiten, weil die Gegnerschaft gegen den russischen Kommunismus nicht minder stark war als es die gegen das russische Zarentum gewesen war. Zu einer Diktatur bestand kein Anlaß, weil es infolge der Schwäche der Herr-schaftsstaaten durch Niederlage und Revolution an Gegnern fehlte. Andererseits wäre auch ohne Wilsons Anstoß Österreich-Ungarn, dessen Völkern er vorsichtig nur Autonomie in Aussicht gestellt hatte, zerfallen. Dieser Staat wäre seit dem Tode Kaiser Franz Josefs im Falle einer Niederlage nicht mehr zu halten gewesen. Und ebenso hätten sich auch ohne große Anstrengung, vielleicht in etwas anderer Form, die ehemals russischen Länder, die im Frieden von Brest-Litowsk abgetrennt waren, selbständig gemacht. Deutschland hatte zu ihrer Staatswerdung den Anstoß gegeben, war aber zu ihrer Stützung nicht mehr in der Lage. Nadi dem Ersten Weltkrieg war Europa zunächst ein Kontinent demokratischer Staaten mit Ausnahme von Sowjetrußland, der Türkei, dessen Diktator Kemal Atatürk im Rahmen seiner Europäisierungsziele auf lange Sicht eine demokratische Ordnung anstrebte, und Lingams, auf das ich noch zu sprechen komme. Die Demokratie war am Kriegsende und zu Friedensbeginn zur Zauberformel der Welt geworden, auch für die Deutschen, zunächst bis weit in die Kreise der Rechten hinein. Denn auch diese waren mit mehr oder minder großen Schmerzen geneigt, für einen erträglichen status-quo-Frieden die konstitutionelle Monarchie preiszugeben. So waren Ende 1918 die Deutschen zu einer demokratischen Ordnung bereit, aber sie waren geistig nicht vorbereitet. Gewiß, die Parteien der Mitte — diese übrigens nur sehr bedingt und eingeschränkt, die Linksliberalen zum größten Teil und die Sozialdemokraten insgesamt — wollten die feudalen Gewalten, das Preußische Dreiklassenwahlrecht und die Vormachtsstellung des Preußischen Herrenhauses mit seiner mächtigen Stellung in der Reichspolitik abbauen, ja beseitigen. Aber es bestand mit Ausnahme der Sozialdemokratie aus mannigfachen Gründen ein tiefes Mißtrauen gegen den Parlamentarismus. Da waren süddeutsche föderale Überlegungen, da waren liberale, zum Teil in der Praxis sogar auch sozialistische Sorgen wegen der Schlüsselposition des katholischen Zentrums und wiederum dessen Mißtrauen gegen die protestantischen liberalen Parteien und den antikirchlichen Sozialismus. Die Parteien, wenn man einmal vom Verhältnis Konservative-Sozialisten absieht, waren nur auf Teilgebieten entgegengesetzt und ergänzten sich auf anderen. Sie hatten bisher nur Bündnisse von Fall zu Fall geschlossen und konnten sich nur schwer vorstellen, daß sie auf die Dauer miteinander Koalitionen bilden würden. Selbst die Friedensresolution von 1917 entstand im Grunde durch eine Gelegenheitskoalition, die sehr schnell wieder brüchig wurde. Aber auch die Sozialdemokratie besaß über die programmatische, prinzipielle Erklärung für den Parlamentarismus hinaus keine eigentliche Konzeption, wie nun diese parlamentarische Organisation in Deutschland aussehen solle. Audi hier ließ man es auf Gelegenheiten ankommen.

Die Weimarer Verfassung

Deutschland improvisierte die Demokratie 1919, nachdem die Monarchie überraschend zusammengebrochen war. Die Weimarer Verfassung war in erster Linie ein Produkt konservativ-liberaler Zusammenarbeit. Die Sozialdemokratie hielt sich bei der Beratung über die Konstruktion einer neuen Staatsorganisation zurück und ebenso das Zentrum. Es gelang in erstaunlich kurzer Zeit bei relativ gründlicher Überlegung, den neuen Verfassungsbau herzustellen. Heute wird ihm die Schuld an dem Zusammenbruch — zum Teil nicht mit Unrecht — zugeschoben. Man muß sich aber die Umstände vergegenwärtigen, unter denen die Weimarer Verfassung entstanden ist. Auf der einen Seite hatten die, wenn auch gemäßigten, Monarchisten in der Beratung den Vorrang. Sie waren aus situationsbedingter Einsicht zu demokratischen Republikanern geworden, aber gingen bei der Konstruktion von der Vorstellung der konstitutionellen Monarchie aus. Zum anderen bestand die Sorge: Wird diese neue Demokratie den ungeheuren Belastungen standhalten, die sich zunächst in Form von Aufständen in verschiedenen Gebieten des Reichs zeigten. Im Grunde war die Verfassung nichts anderes als eine weitgehend institutionell entfeudalisierte Ersatzmonarchie.

Man orientierte sich am Ausnahmezustand, und ließ sich dabei leiten von der Stellung des Monarchen in der alten Bismarckschen Verfassung. Eigentlich wurden zwei Regierungen vorgesehen: die ordentliche Regierung, die parlamentarisch-demokratische für normale Zeiten, und die außerordentliche, der deus ex machina in Gestalt des Reichspräsidenten mit der Verfügungsberechtigung über den Art. 48. Aus diesem Dualismus ergab sich die prekäre Stellung des Reichskanzlers zwischen Staatsoberhaupt und Volksvertretung. Der Reichspräsident Friedrich Ebert hat mit Hilfe des damaligen Reichskanzlers Stresemann das Reich auf Grund der gleichen Machtbefugnisse vor Bürgerkrieg und Zerfall bewahrt, auf Grund welcher Hindenburg 19 32/3 3 nach Entlassung Brünings Deutschland in die Diktatur Hitlers gedrängt hat.

Jeder demokratische Staat muß in der Lage sein, sich gewisser Notstandseinrichtungen bedienen zu können, damit er außerordentliche Maßnahmen im Moment der Staatskrise zu treffen berechtigt ist. Auch die angelsächsischen Ländern und ebenso die Schweiz kennen diese Einrichtungen. Nicht die Institution als solche und damit die Verfassung, die sie vorsieht, trifft die Schuld, sondern entscheidend ist, welchen Zwecken und mit welchem Ziel diese außerordentlichen Machtbefugnisse eingesetzt werden. AIs Hindenburg Brüning entließ, hatten kurz vorher bei den Reichspräsidentenwahlen 47°/der Wähler für antidemokratische Kandidaten, davon 37° für Hitler gestimmt.

Die Rechte gab ihre mit der Demokratie sympathisierende Position auf und bezog eine antidemokratische in dem Moment, als der Weimarer Republik ihr Atout, die Chance, einen weitgehenden status-quo

Frieden zu erreichen, durch die Bekanntgabe der Friedensbedingungen entrissen wurde.

Die primitive, national und verfassungspolitisch unwürdige Vorstellung von einem Tauschgeschäft zwischen Einführung der Demokratie und Gewährung eines status-quo-Friedens, die auch eine Folge der alliierten Kriegspropaganda war, verlor damit ihre Basis. Für die Rechte standen seitdem Weimarer Verfassung und „Versailler Diktat“ in einem inneren unauflöslichen Zusammenhang.

Wenn ich hier von der Rechten spreche, so meine ich damit jene Kreise und Schichten, die im Kaiserreich den Konservativen und Nationalliberalen, im Anfangsstadium der Weimarer Republik den Deutschnationalen und der Deutschen Volkpartei nahestanden. Man kann grob in der Monarchie zwei Richtungen unterscheiden. Einerseits die autoritär-konstitutionelle, wobei der Ton auf autoritär liegt, deren größerer Teil zugleich aus Vitalität, aus Ideologie und aus wirtschaftlichen Interessen imperialistisch eingestellt war. Sie wollte den Macht-raum des Reiches erweitern, um durch Ausnutzung der sich so ergebenden ökonomischen Möglichkeiten eine Entlastung von dem steigenden sozialen Druck zu erreichen, den sie immer stärker spürte, aber dem sie selbst nicht nachgeben wollte. Nur so schien die feudale Ordnung, an die sich die oberen Schichten und die nach oben strebenden immer mehr angepaßt und deren sich diese gleichsam bedient hatten, erhalten werden zu können. Zugleich aber würden sichtbare außen-politische Erfolge von Dauer erneut das im Weltmaßstab und unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands antiquierte Verfassungssystem rechtfertigen. Auf der anderen Seite standen die Anhänger des Zentrums, der Linksliberalen und der Sozialdemokratie. Sie waren gegenüber der protestantischen Monarchie, dem feudalen Militär-und Verwaltungsstaat mit seiner streng gegliederten Gesellschaftshierarchie wenn auch aus verschiedenen Motiven skeptisch, wenn nicht gar feindlich eingestellt. Bismarck hatte sie alle drei als „Reichsfeinde“ bezeichnet. Sie befürchteten, daß jeder außenpolitische konkrete Erfolg dem deutschen Staat in seiner bestehenden Verfassungsform und den führenden Gesellschaftsschichten allein zugut kommen würde, daß alle Risiken zu Lasten der minderberechtigten Schichten gehen könnten. Mit dem Zusammenschluß des Reichs zum gesamtdeutschen Staat hatten sie sich nicht nur abgefunden, sondern sie bejahten dessen Existenz in ehrlicher Anerkennung. Aber gerade deswegen füchteten sie, daß durch eine gewagte Reichspolitik die Existenz des staatlich geeinten Deutschland wieder aufs Spiel gesetzt werden könnte.

Im ersten Weltkrieg wurde dieser Gegensatz nach 1916 schon einmal mit aller Schärfe ausgetragen, als es um die zunächst innerpolitische Alternative ging: status-quo-Frieden um eines baldigen Kriegsendes willen oder Fortsetzung des Krieges im Interesse eines an territorialen und finanziellen Gewinnen ertragreichen Friedensschlusses. Die Rechte war sich viel mehr als ihre in der inneren Politik uneinigen Gegner bewußt, daß ein status-quo-Friede, der Deutschland zum mindesten gezwungen hätte, seine inneren Kriegslasten selbst zu tragen, zu einer Änderung des innerstaatlichen status-quo hätte führen müssen und daß für dessen Behauptung ein wirtschaftlich und territorial ergiebiger Frieden Voraussetzung wäre.

Der Versailler Vertrag

Dieser Gegensatz brach mit dem Versailler Vertrag neu auf. Der auf dem Boden der Demokratie sich zusammenfindenden Gruppe von Zentrum, Demokraten und Sozialdemokraten, die in anderen Fragen, vor allem wirtschaftlich-sozialen und kulturellen gespalten war, ging es um die möglichst risikolose Aufrechterhaltung des Reichsbestandes. Sie erstrebte eine Revision des Friedensvertrages im Sinne einer möglichst weitgehenden Annäherung an den status-quo und beschränkte sich außenpolitisch zunächst auf dieses Ziel. In der an sich prinzipiell positiven Einstellung zur demokratischen Staatsform bestanden graduelle Unterschiede. Wirkliche und entschiedene Anhänger der Demokratie, sowohl in der programmatischen wie in der praktischen Politik, waren die Sozialdemokraten, die aber ihren Anhängern in dieser Haltung manches sozialpolitische und daher von diesen nicht verstandene Opfer zumuten mußten. Das Zentrum hatte der konstitutionellen Monarchie in einer positiv akzentuierten Distanz gegenüber gestanden und hatte gegenüber der Demokratie den positiven Akzent deswegen verstärkt, weil sein politischer Einfluß im Reich auch in den meisten vorwiegend protestantischen Ländern ganz erheblich gewachsen war. Bis zu einem gewissen Grade ähnlich verhielten sich die Linksliberalen. Demgegenüber sehnte die andere Gruppe innerstaatlich eine weitgehende Restauration der autoritär-konstitutionellen Herrschaftsform herbei. Sie erstrebte ebenfalls die Revision des Versailler Vertrages, aber wesentlich ungeduldiger und radikaler. Hinter diesem Streben stand als eigentliches Ziel: die Entscheidung des ersten Weltkrieges faktisch umzukehren. Die beiden Leitbilder, die ineinander verschwammen, waren die Bismarck-seheMonarchie und die Ludendorffsche Diktatur.'*Mit diesen restaurativen außen-und innenpolitischen Zielen verbanden sich starke Daseins-vorsorge-Interessen, vor allem der Schwerindustrie und der Großlandwirtschaft. Diese Interessen veranlaßten die Rechte, sich zeitweise der Demokratie zu nähern, zumal sie im Kampf gegen die sozialen Forderungen der Sozialdemokratie auf das Zusammengehen mit dem Zentrum und den Demokraten von Zeit zu Zeit angewiesen waren, wie diese aus dem gleichen Grund auf das Zusammenwirken mit jenen.

Die konstitutionelle Monarchie hätte die Konsequenzen einer militärischen Niederlage institutionell ertragen können. Für die improvisierte, ungefestigte Demokratie war der Versailler Friedensvertrag eine ungeheure Belastung, eine große Starterschwerung. Lind dennoch scheint es mir weitgehend übertrieben zu sein, wollte man behaupten, die Weimarer Republik sei am Versailler Vertrag gescheitert wie am Verhältnis-wahlrecht. Beide haben erheblich beigetragen zu ihrer Labilität, aber ich behaupte, daß die Lage deutscherseits dennoch zu meistern gewesen wäre. Übrigens blieb bei der durch die Bevölkerungsbewegung der letzten 30 Jahre völlig überholten Wahlkreiseinteilung in der Monarchie und bei der Unmöglichkeit, in Schnelligkeit die Weimarer Nationalversammlung zusammenzurufen und gleichzeitig eine gründliche neue Wahlkreiseinteilung vorzunehmen, nichts als die Einführung des Verhältniswahlrechts übrig. Es kann mit Recht die Frage gestellt werden, ob ein anderes Wahlrecht, z. B. das bis dahin bestehende absolute Mehrheitswahlrecht, nicht unter Umständen eine Bürgerkriegssituation forciert hätte. An die Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts nach englischen Vorbild wurde damals nicht gedacht.

Soviel über die deutsche Situation nach Kriegsende. Die traditionellen stabilen Demokratien Westeuropas, Englands, Belgiens, Hollands, der Schweiz sowie der drei skandinavischen Länder hatten die durch den Krieg mittelbar oder unmittelbar, ideologisch oder materiell bedingte große Daseinsvorsorge zu meistern und die verfassungspolitische Entwicklung in Richtung der Volldemokratisierung fortzusetzen verstanden. In diesen Staaten entstand zwischen traditionellen demokratischen Institutionen und den neuen Staatsbelastungen der Nachkriegszeit kein Bewertungszusammenhang.

Improvisierte Demokratien

Völlig anders lagen die Verhältnisse in den Staaten Ost-und Südosteuropas. Hier entstanden einerseits neue Staaten wie Polen, Finnland, die baltischen Länder und die Tschechoslowakei, oder schon bestehende Staaten, wie Rumänien und Jugoslawien, erfuhren eine so erhebliche Ausdehnung, daß sie vor kaum zu bewältigenden Integrationsaufgaben standen. Ihr Schwierigkeitsgrad wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zu Anfang des vorigen Jahrhunderts Bayern, Württemberg und Baden die durch den großen Gebietszuwachs neu gestellten Aufgaben der Staatsintegration nur autoritär gemeistert hatten und dank einer intakten, ausbaufähigen Bürokratie, ohne daß sie mit Daseinsvorsorge-und Nationalitätenproblemen belastet waren.

Alle diese Staaten erhielten entweder eine parlamentarisch-demokratische Verfassung nach westlichem Vorbild oder bauten ihre bisher autoritäre Staatsform entsprechend um. Es waren improvisierte Demokratien, ohne geistige Vorbereitung und ohne Ausbildung zur modernen Massendemokratie des Daseinsvorsorgestaates, die die traditionelle Demokratie in einer stufenweisen Entwicklung erfahren hatte. Bei der Umschaltung vom feudal-autoritären System zur sozialen, demokratischen Ordnung der Daseinsvorsorge fehlte die Zwischenstufe. In den neuen Staaten war die Oberschicht, soweit sie bestanden hatte, entmachtet, z. T. auch wirtschaftlich durch die Agrarreform, und ebenso fehlte es an einer erfahrenen Bürokratie und erfahrenen Politikern. Als ein schwieriges Hindernis der Integration wirkte sich in vielem die Existenz von zum Teil sehr starken Nationalitätenminderheiten aus, die durch das Verhältniswahlrecht entsprechend zur Geltung kamen. Die neuen Staaten wurden aus großen Wirtschaftsgebieten gelöst; diese Isolierung stellte sie vor schwierige Wirtschafts-und Sozialprobleme ebenso wie innere Kriegsfolgelasten, die sie weitgehend selbst zu tragen hatten. Nicht leichter waren die Probleme für Rumänien und Jugoslawien, die aus dem österreichisch-ungarischen Wirtschaftsverein abgetrennt waren. Bulgarien, Ungarn und Österreich waren so stark amputiert, daß ihre wirtschaftliche Existenzfähigkeit in Frage gestellt wurde. Dazu kam die Angst um die Behauptung der gerade eben geschaffenen nationalen Existenz oder des außerordentlichen Zuwachses. Sowohl das eine wie das andere verdankten diese Staaten der Schwäche oder dem Zerfall der drei Großmächte. Wenn auch die Wiederherstellung Österreich-Ungarns sehr unwahrscheinlich war, so existierten doch nach wie vor Rußland und Deutschland und konnten vielleicht eines Tages wieder mit Nachdruck begehren können, was sie verloren hatten. Vor allem lebten die Nachbarstaaten Sowjetrußlands in Sorge vor dessen innenpolitischer Einwirkung, die außenpolitische Folgen haben konnte. Es fehlten weitgehend, wenn auch in unterschiedlichem Grade — abgesehen von einigen Ausnahmen, auf die ich noch zu sprechen komme —, die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine demokratische Ordnung. Daher entstanden in den meisten dieser Staaten im Laufe der nächsten 15 Jahre Diktaturen verschiedenster Art. Sie wurden von Militärs, führenden Politikern oder von den Monarchen selbst errichtet und durch mehr oder minder sichtbare Staatsstreichs, auch durch Aufstände organisierter Bewegungen herbeigeführt. Aber sie entstanden aus dem Versagen des Parlamentarismus, das zu einem Versagen der elementaren Staatsfunktion geführt hatte.

Man kann von funktionalen Diktaturen reden, deren Aufgabe es war, einfach den Staat intakt zu halten. Zum Teil sind es sogar Erziehungsdiktaturen — so wie List von Erziehungszöllen gesprochen hat —, die nur vorübergehend bestehen sollten, bis die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen waren. Es ging weniger um weltanschauliche Ziele, dem Staat eine bestimmte Form zu geben, sondern nur darum, den unerwartet neu entstandenen oder vergrößerten Staat am Leben zu erhalten. Die Diktaturen waren daher mehr oder minder gemäßigter Art. Die rechtsstaatliche Ordnung, soweit sie überhaupt Fuß gefaßt hatte, wurde aufrecht erhalten oder nur wenig beeinträchtigt. Vielfach waren diese Diktaturen ausgesprochen antifaschistisch, wie in Estland und in Rumänien, wo faschistische Organisationen existierten und von den autoritären Regierungen bekämpft wurden. Diese Diktaturen waren meist nicht ideologisch orientiert, stützten sich nicht auf Bewegungen, sie wurden institutionell verfestigt, wie in Estland und Lettland, bis zu einem gewissen Grade auch in Polen, indem die zunächst schwach ausgestattete Präsidentengewalt verstärkt wurde. Es blieb aber zum mindesten die Chance, daß die demokratische Ordnung bei entsprechender gesellschaftlicher Entwicklung wieder hergestellt würde.

Finnland

Auf vier Ausnahmen dieser die verfassungspolitische Entwicklung charakterisierende Erscheinung muß ich kurz hinweisen. In Finnland behauptete sich die Demokratie sogar im Zweiten Weltkrieg trotz des Bündnisses mit dem nationalsozialistischen Deutschland, — Finnland war der einzige demokratische Staat, der auf deutscher Seite kämpfte; und neben Japan der einzige, der seine Unabhängigkeit gegenüber Hitler bewahrte. Es behauptete sie auch nach 1945 gegenüber dem siegreichen Sowjetrußland. Dabei muß man bedenken, daß die schwedische Oberschicht, die zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht, in der Zeit der Staatsbildung und der Anfangsentwicklung vom finnischen Mittelstand und der ständig wachsenden finnischen Intellektuellenschicht verdrängt, aber nicht unterdrückt wurde. In diesem Land bestand aber eine lebendige liberal-demokratische Tradition antiautoritärer Haltung, sie verband sich mit antirussischer Einstellung, ebenso wirkte skandinavischer Einfluß mit. In der demokratischen Auffassung bestanden zwischen Schweden und Finnland keine wesentlichen LInterschiede.

Auch in Finnland wurde zunächst eine, extrem demokratische Verfassung eingeführt, 1930 wurde verfassungsrechtlich die Macht des Präsidenten verstärkt, vor allem unter dem Druck der auch von der lutherischen Geistlichkeit angeregten bäuerlich-faschistischen Lappobewegung, die mit der Stärkung der Präsidentengewalt ein Verbot der kommunistischen Partei durchsetzte, um dann aber wieder zu verschwinden. Sie hatte ihre Funktion erfüllt. Der Mann, den die Lappobewegung ins Amt gebracht hatte, der alte, kluge Ministerpräsident Svinhuvud distanzierte sch von ihr. Ihr antidemokratisches Programm fand keine große Resonanz mehr, 1938 erlitt sie eine vernichtende Wahlniederlage.

Tschechoslowakei

Ebenso hielt sich in der Tschechoslowakei die Demokratie, bis Hitler sie zerstörte. In diesem wohl am stärksten industrialisierten Gebiet des alten Österreich-Ungarn waren die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine demokratische Ordnung vorhanden. Von den westslawischen Völkern hatten die Tschechen die wenigsten Analphabeten. In Böhmen existierte schon zur Habsburger Zeit eine gut ausgebildete, erfahrene und zuverlässige Bürokratie der mittleren und auch der höheren Stufe, die im neuen Staat mit seinen Minderheiten zu einem ihn stabilisierenden Faktor wurde. Hier gab es einen starken Mittelstand. Auch hatte sich im tschechischen Bürgertum eine demokratische Tradition im Kampf gegen die deutsche Vorherrschaft der österreichischen Monarchie gebildet. Die Existenz eines frei gewählten Parlaments, das die osteuropäischen Staaten nicht gekannt hatten, bot hierzu die Möglichkeit. Die Minderheiten, die, zum mindesten im politischen Bereich, weniger im ökonomisch-sozialen, relativ liberal behandelt wurden, wirkten sich nicht so desintegrierend aus wie in Polen, sondern ihr Drude drängte die tschechischen Parteien aneinander. Vor allem darf die integrierende Kraft, die von Masaryk, dem eigentlichen Staatsgründer dieses zunächst in der Wilsonschen Konzeption nicht vorgesehenen Staates, ausging, nicht unterschätzt werden. Er war der überlegene Staatsbewahrer, eine höchst respektable Erscheinung, gleichsam die Franz-Joseph-Figur der Tschechoslowakei. Baumont spricht von der „dictature du respect". Eine faschistische Bewegung bestand unter General Gayda, aber ein Putsch-versuch wurde 193 3 unterdrückt. Von den fünf Parteien der deutschen Minderheit war eine faschistisch, die Nationalsozialisten. In der Slowakei bestand wie auch in Kroatien eine autoritäre, vom Klerus geführte Autonomiebewegung in faschistischer Organisationsform, die aber erst durch Hitler 1938 zum Zuge kam. Die Demokratie war in der Tschechoslowakei stabil.

Österreich

In Österreich stand es mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen im großen und ganzen wie in der Tschechoslowakei; beide Gebiete waren ja die am stärksten westlich orientierten in der alten Monarchie gewesen. Aber die politischen Verhältnisse lagen völlig anders. Dieses Land, bis 1918 Kernstaat eines Vielvölkerreiches, wollte zunächst kein selbständiger Staat werden, aber mußte es. Die katholische, in erster Linie bäuerliche Bevölkerung und vor allem der Klerus hatten der Monarchie mit einem katholischen Herrscherhaus sehr viel positiver gegenüber gestanden, als es im Reidt der Fall gewesen war und neigten daher auch nach dem Zusammenbruch zu autoritären Tendenzen. Andererseits gehörte die österreichische Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg dem linken Flügel der II. Internationale an. Während im Bismarckschen Reich Zentrum und Sozialdemokratie — wenn auch dem Grade nach sehr unterschiedlich — diskriminiert worden waren und daher häufig kooperiert hatten, um sich dann in der Weimarer Republik zu einer gemeinsamen Regierungspolitik zusammenzufinden, blieb in Österreich der alte starke Gegensatz bestehen, ja verschärfte sich noch. Hinzu kam, daß die österreichische Sozialdemokratie den Anschluß wollte, die Christlich-Sozialen unter Seipel aber nicht. Wahrscheinlich hätte der Anschluß zu einer inneren Beruhigung Österreichs geführt. Die österreichischen Nationalsozialisten waren vorwiegend anschlußfreudige Antisozialisten. Der Anschluß hätte wahrscheinlich auch mäßigend auf die reichsdeutschen Parteien gewirkt. Aber er war damals vor allem außenpolitisch nicht erreichbar. Hätte er doch dazu geführt, daß Ungarn mit seinen starken Revisionsbestrebungen unmittelbar Nachbar Deutschlands geworden und die Tschechoslowakei vom deutschen Staatsgebiet fest umschlossen worden wäre. Gegner des Anschlusses war auch das faschistische Italien um Südtirols willen, das seinerseits daher die autoritären Bestrebungen der österreichischen Christlich-Sozialen intensiv förderte. Der Faschismus war hier Vorbild und Gegner zugleich. Im März 1933 schuf Dollfuß mit Hilfe eines Staatsstreiches, gestützt auf starke paramilitärische Verbände, ein diktatorisches Regime in Form eines „christlichen Ständestaates“, der sowohl gegen die „rote Demokratie“ und das „rote Wien“ als auch gegen den Anschluß an das nationalsozialistische Deutschland gerichtet war. Österreich warmehr eine ideologische als eine funktionale Diktatur.

Ungarn

In Ungarn — und das ist die vierte Ausnahme — erhielt sich über den Weltkrieg hinaus und trotz des Zusammenbruches der Donaumonarchie — abgesehen von einer kurzen Unterbrechung — die feudale konstitutionelle Monarchie als die einzige in Europa. Der Friedensvertrag nahm Ungarn zwei Drittel seines bisherigen Gebiets; aber gerade dadurch wurde die alte Herrschaftsform konserviert. Die Magyaren verloren erhebliche Teile ihres Landes, aber damit auch ihre Gegner im Banat, in Siebenbürgen, in Kroatien und in der Slowakei, die sie bisher als von ihnen Abhängige beherrscht hatten. Diese Monarchie ohne Monarchen stützte sich auf den Kleinadel und den Klerus. Eine demokratische Opposition konnte nicht aufkommen, weil eine gebildete städtische Mittelklasse fehlte und weil die Bauernschaft ebenfalls ungebildet und unorganisiert war. So entstanden im Laufe von anderthalb Jahrzehnten in Ostmitteleuropa und in Südosteuropa, eben in jener vor 1914 autoritär-feudalen Zone mehr oder minder unideologische Diktaturen. Zwar wurde die Errichtung dieser Diktaturen z. T. von weltanschaulichen Richtungen betrieben oder gefördert, wie z. B. durch den katholischen Klerus in Litauen oder den griechisch-orthodoxen in Rumänien, oder sie standen im Gegensatz zu bestimmten Richtungen, vor allem zu den Sozialisten, z. T. gerade wegen deren strenger demokratischer Einstellung, wie z. B in Estland und Lettland, aber auch in Bulgarien. Es entstand jedoch keine einseitige totalitäre Weltanschauungsherrschaft. Diese Staaten waren mit ihren improvisierten Verfassungen auf einer noch vordemokratischen Stufe ihrer Gesellschaftsordnung überfordert worden und hatten diese Überforderung nur autoritär meistern können Bei einer friedlichen Entwicklung und einer anhaltend günstigen Wirtschaftssituation wäre wohl mit der Zeit eine Anpassung an die westeuropäischen Demokratien zu erwarten gewesen. Diese Art von Diktaturen sind ver-fassungspolitische Zwischenstufen zwischen autoritär-feudalem und demokratischem Zustand. Charakteristisch ist das Fehlen von charismatischen Führerfiguren, wenn man einmal von Pilsudski absieht. Aber auch durch seinen Tod entstand keine Staatskrise. Ebenso charakteristisch sind die Königsdiktaturen in Südosteuropa, wo die Monarchen mit auswechselbaren Ministerpräsidenten regierten.

Auf die Rand-und Grenzgebiete dieser Zone, die nach Westeuropa hineinragen oder dazu gehören, die auf einer höheren gesellschaftlichen Entwicklungsstufe standen und sich einer politischen Tradition bedienen , konnten, dehnte sich der Prozeß nicht aus. Finnland und die Tschechoslowakei blieben Demokratien, LIngarn konstitutionelle Monarchie;

lediglich in Österreich schlug die Demokratie in eine ideologische Diktatur um, weil ihm der natürliche Weg des Anschlusses an Deutschland verwehrt wurde. Es war selbst zu klein und wirtschaftlich zu schwach, um die innerstaatlichen extremen Gegensätze demokratisch austragen zu können.

Vorbild: Italien

Als Vorbild für die ideologische Diktatur bürgerlicher Observanz wirkte weitgehend Italien. Dieses Land hatte unter dem Ersten Weltkrieg schwer gelitten und war im Friedensvertrag von den alliierten Großmächten am schlechtesten bedacht worden. Es spürte daher auf alliierter Seite am stärksten die Nachkriegsfolgen. Nicht von ungefähr war Giolitti ein Gegner des Kriegseintritts, in der Sorge, daß Italien durch diesen Krieg wirtschaftlich und sozial überfordert würde. Einer seiner propagandistischen Gegner war Mussolini, der wegen seines Eintretens für Italiens Beteiligung am Krieg aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen wurde. Nach Kriegsende gründete Mussolini eine nationale Erneuerungsbewegung, die zunächst mit leidenschaftlichen, aber vagen und wechselnden Parolen arbeitete, die Mißstimmung weiter Bevölkerungskreise über die wirtschaftliche Not ausnützend, um die demokratischen Institutionen anzuklagen und vor allem die revolutionären Intellektuellen, die Kriegsteilnehmer, die schlechter und schwerer ins Zivilleben zurückfanden, sowie die kleinbürgerliche Intelligenz . an sich ziehend, eben jene, die nicht in den marxistischen Parteien organisiert waren, aber unter der Not, vor allem der Inflation und Arbeitslosigkeit litten. Ihnen folgten Industrie und Großgrundbesitz aus Angst vor dem Linksradikalismus. Zwar war es den russischen Kommunisten entgegen ihren Erwartungen nicht gelungen, die Revolution auch nur in einem Lande, abgesehen von Ungarn — und auch hier nur vorübergehend — zu entfachen. Wenn es aber irgendwo eine Chance gab, dann am ehesten in Italien gleich nach dem Kriege. 1922 bestand diese Gefahr kaum mehr, da sich die sozialistischen Parteien auf das schärfste untereinander bekämpften. Aber die bewußte Übertreibung der Gefahr war ein gewaltiger Propagandafaktor in den Händen Mussolinis. Seine antiliberalen und antidemokratischen Parolen fanden um so mehr Glauben im Bürgertum, als die Arbeiter, die, soweit sie Analphabeten waren, nicht wählen durften, als Nutznießer des erst 1919 eingeführten allgemeinen Wahlrechts erschienen. Das Bürgertum war daher bei dieser Verschiebung der Machtverhältnisse bereit, die alten Prinzipien preiszugeben, um vor dem Sozialismus und Kommunismus bewahrt zu bleiben.

Mussolini eröffnete gleichsam das zu Anfang der zwanziger Jahre einsetzende antiliberale und antidemokratische Ringen in Europa. Liberalismus und Demokratie erschienen nur so lange erstrebens-und behauptenswert, als sie vor allem dank des Zensur-und Klassenwahlrecht? als Privilegien der Oberschicht wirkten. Der Klerus verhielt sich weitgehend unentschieden. Die faschistische Bewegung wurde zu einer militärisch organisierten, streng hierarchischen Machterwerbsorganisation in der Hand eines charismatischen Führers, der durch sie über eine Privat-armee verfügte. Sie hatte kein politisches Programm wie der Kommunismus, von dessen Methoden und Organisationsformen sie manches übernahm und ersetzte dies durch ein pseudo-historisches Pathos, das an die Größe des antiken Rom und die. Renaissance-Herrlichkeit erinnerte und die Hoffnung auf deren Wiederherstellung weckte. Im Grunde war sie opportunistisch und nur an der Macht als solcher interessiert.

Sie war daher Gegner der damaligen Machthaber und ihrer Einrichtungen. In dieser Form und in dieser Verbindung war der Faschismus eine neuartige Erscheinung in Europa. Er nutzte die Aschermittwochsstimmung des italienischen Volkes, das in den Krieg gezogen war, nicht zu den Besiegten gehörte, aber, was ähnlich deprimierend Wirkte, ohne sichtbare größere Erfolge geblieben war, ja sogar schwer unter den Lasten des Krieges zu leiden hatte. Tatsächlich zeigten sich auch anhaltende und in steigendem Maße schwere Funktionsstörungen des Staates. Das Verhältniswahlrecht, das nach dem Krieg eingeführt wurde, hatte die Regierungsbildung sehr erschwert. Per häufige Regierungswechsel führte zu einer wachsenden Schwächung der Regierungsautorität.

Mussolini wurde mit Hilfe eines starken Druckes, den er durch den Marsch auf Rom ausübte, legal Chef einer Koalitionsregierung. Mit Hilfe seiner Privatarmee, der faschistischen Miliz, schüchterte er das Parlament ein, um seinerseits ein günstiges Wahlgesetz zu erreichen, durch das er bei den Wahlen die Zweidrittelmehrheit erzielte. Zunächst versuchte er, autoritär-konstitutionell zu regieren; aber der Widerstand der Opposition und die Sorge, durch sie gestürzt zu werden, trieb ihn immer stärker in despotische Methoden hinein. 1926 löste er die gegnerischen Parteien auf, nachdem er ihre Angehörigen schon vorher mit terroristischen Mitteln verfolgt hatte.

Nunmehr institutionalisierte er die Diktatur durch eine neue Verfassung. An der Spitze des Staates stand er, dessen Wille Gesetz war.

Zwar blieb der König, aber von einer Königsdiktatur, wie sie auf dem Balkan bestand, war nicht die Rede. Mussolini war gleichzeitig uneingeschränkter Führer der einzigen Partei, deren Gremien die Staatsorgane überwachten. Es entstand eine neue Staatsordnung und damit in Italien ein neuer Staatstyp. Der Staat sollte nicht mehr im Dienst der Gesellschaft stehen, die ihn formt, die Rechte der Individuen sollten nicht mehr geschützt werden vor dessen Übergriffen, sondern der Staat sollte das ganze Leben der Individuen beherrschen. Mussolini war der erste nichtkommunistische Politiker, der für den Staat die Totalität bean wenn er auch in der Praxis sehr viel gemäßigter war als Hitler. Yon allen diesen Prinzipien und Vorstellungen war in den funktionalen Diktaturen nicht die Rede. In Italien entstand die erste nichtkommunistische ideologische und institutionalisierte Diktatur, aber auch sie war aus Funktionsstörungen hervorgegangen. Dabei erfuhr die Bewegung erst nach der Machtergreifung ihre ideologische Formung, wobei die neuen Ziele aus opportunistischen Überlegungen erheblich von den ursprünglichen, dem Machterwerb dienenden, abwichen. Eines der stärksten Reizmittel der faschistischen Bewegung waren die außenpolitischen Forderungen Mussolinis, daß Italien zur beherrschenden Macht des Mittelmeerraumes werden sollte, wie es das alte Rom gewesen war. Diese imperialistischen Ansprüche, die immer wieder verkündet wurden, wirkten nach der Machtergreifung als innerstaatliche Konservierungsmittel. Tatsächlich hatte Mussolini zunächst eine sehr behutsame Außenpolitik verfolgt, um die noch labile Ordnung im Innern vor auswärtigen Risiken zu bewahren. Erst 1936 begann er, gestützt auf Hitler und zugleich mit diesem rivalisierend, mit außenpolitischen Abenteuern. Mehr oder minder nach italienischem Modell — wenn auch in sehr unterschiedlicher Größenordnung und Bedeutung — entstanden in den meisten europäischen Staaten ähnliche Organisationen, selbst in einigen traditionell demokratischen Ländern; aber nur eine, nämlich die deutsche, kam zum Zug.

Spanien

Wie stand es mit Spanien? Es hatte zwar nicht am Kriege teilgenommen und daher nicht unter den Kriegsfolgen zu leiden, um so mehr aber unter der wirtschaftlichen Rückständigkeit und den scharfen Gegensätzen zwischen Arbeiterschaft und den feudalen Mächten, vor allem Groß-grundbesitz und Kirche. Ein demokratischer Ausgleich war hier kaum möglich. Schwachen Regierungen standen starke außerparlamentarische Kräfte gegenüber, die anarcho-syndikalistische Bewegung einerseits die Offizierjuntas andererseits. Die katalanischen Autonomiebestrebungen drohten die Staatseinheit zu gefährden. Seit der Widerherstellung der Monarchie im Jahre 1874 befand sic Spanien in einer latenten Bürgerkriegssituation. Es schien nur die Alternative zwischen radikalsozialistischer oder konservativ katholischer Diktatur zu bestehen. Das Regime des Generals Primo de Rivera von 1923— 1930 war eine Art Königsdiktatur. Er gründete 1924 zur Sicherung seiner Macht nach dem Vorbild des italienischen Faschismus eine Regierungspartei, die Union Patriotica, die aber keine breite Anhängerschaft fand. 1931, ein Jahr nach dem Rücktritt Primo de Riveras, der auf Veranlassung des Königs erfolgt war, wurde die Monarchie gestürzt. Auch den republikanischen Regierungen gelang eine Stabilisierung der Verhältnisse nicht. 193 3 wurde die Falange als Gegenbewegung gegen die Anarchosyndikalisten gegründet; sie war eine faschistische Organisation, aber mit sozial-radikalen, linkskatholischen und republikanischen Tendenzen; sie erstrebte den Einparteienstaat. Es fehlte ihr jedoch der charismatische Führer; sie hatte zu Anfang keine Bedeutung. Der Militäraufstand des General Franco erfolgte zunächst unabhängig von der Falange. Franco war konservativer Monarchist mit ausgesprochen klerikaler Orientierung. Sein Ziel war es, den Staat wieder funktionsfähig zu machen, aber in Form einer konservativ-katholischen Monarchie. Er bediente sich dazu der Falange, an deren Spitze er sich stellte, verwandelte sie in eine Staatspartei, räumte ihr jedoch nicht die zentrale Machtstellung ein. Auch Franco institutionalisierte die Diktatur, aber viel mehr in monarchisch konservativ-etatistischer Richtung, gestützt . auf Klerus und Offiziere, als in faschistischer.

Portugal

In Portugal, wo in den zwanziger Jahren noch nicht einmal 10 Prozent der Bevölkerung des Lesens und Schreibens kundig waren und ähnlich scharfe Gegensätze wie in Spanien bestanden, folgte eine Revolution auf die andere. Diese 10 Prozent waren allein wahlberechtigt. Starke Intellektuellenkämpfe entwickelten sich. Nach zwei vergeblichen Militär-putschen und einem gescheiterten Syndikalistenaufstand machte 1926 General Carmona durch einen Staatsstreich, dessen Impulse vom Klerus ausgingen, den anarchischen Verhältnissen ein Ende. Carmona war zunächst Staatsoberhaupt und Regierungschef zugleich, um sich später auf die Funktion des Staatsoberhauptes zu beschränken. Den maßgebenden Mann, den eigentlichen Diktator, Salazar, berief Carmona 1928 zunächst als Finanzminister, dann als Ministerpräsidenten. Salazar, Professor der Nationalökonomie, war als Politiker vorher nicht in Erscheinung getreten. Er war an der Machtergreifung nicht beteiligt, -sondern fand das diktatorische System schon vor. Er wirkte zunächst als überlegener, völlig integerer Fachminister, dem es gelang, die verkommenen Finanzen und damit die Wirtschaft Portugals zu sanieren. Er institutionalisierte die Diktatur durch eine Verfassung, in der der Präsident die Stellung eines konstitutionellen Monarchen gewann, und durch die Gründung einer einzigen Partei (1930), der eine Miliz und eine Jugendorganisation, welcher alle Jugendlichen von sieben bis 20 Jahren angehörten, angeschlossen waren. Insofern bediente er sich des faschistischen Vorbildes, aber in einer sehr gemäßigten, wesentlich toleranteren Form. Als Carmona 1951 starb, wurde ein zuverlässiger Salazar-Anhänger sein Nachfolger. Sowohl in Spanien wie in Portugal waren die Diktaturen aus vorangegangenen anhaltenden'funktionalen Störungen hervorgegangen. Insofern ähnelten sie denen der ehemals autoritären Zone. Sie bedienten sich aber zu ihrer Befestigung ideologischer Organisationen, ohne diesen einen maßgebenden Einfluß einzuräumen. Sie schufen auch keinen neuen Staatstyp, sondern konservierten weitgehend, wenn auch, wie vor allem in Portugal, unter Anpassung an die modernen Verhältnisse, die alte Ordnung.

Sowohl Salazar als auch Franco hatten den Versuch gemacht, eine berufsständische Ordnung zu schaffen, die praktisch ebensowenig funktionierte wie in Österreich, sondern nur fassadenhafte Bedeutung gewann. Überhaupt hat die österreichische Diktatur mit der faschistischen Italiens, an die sie sich aus außenpolitischen Gründen anlehnte, sehr viel weniger Ähnlichkeit als mit der spanischen und portugiesischen. So verschieden die gesellschaftlichen Verhältnisse Österreichs von denen Spaniens und Portugals sind, so war ihnen doch gemeinsam der unüberbrückbare Gegensatz zwischen den politischen Gruppen, die Existenz starker außerparlamentarischer Kräfte und die Sorge der Kirche um ihre Behauptung, falls die Gegenseite die Oberhand behält. Keine der Gruppen konnte sich parlamentarisch-demokratisch in der Macht behaupten und suchte daher nach außerparlamentarischer Sicherung. In allen drei Staaten betrieb daher die Geistlichkeit die Errichtung eines diktatorischen Regimes und wirkte als eine seiner stärksten Stützen. Man kann daher von katholischen Diktaturen, zu denen das faschistische Italien aber nicht gehört, reden. Ob sich in Österreich auch ohne Hitlers Intervention bei dem Fehlen einer solchen Führerpersönlichkeit wie Franco und Salazar das autoritäre Regime gehalten hätte, ist zumindest fraglich. Andererseits wird es sich erst nach dem Ausscheiden von Franco und Salazar zeigen, ob ihre Institutionalisierungen sie über leben werden.

Griechenland

Noch ein kurzes Wort über Griechenland, das von 1912— 1922 einen zehnjährigen Kriegszustand erlebt hatte und seit 1913 nicht mehr aus immer wieder auftretenden revolutionären Wirren herausgekommen war. Die Monarchie vermochte sich hier gegenüber ihrem großen Gegenspieler, dem imperialistischen demokratischen Republikaner Venizelos längere Zeit nicht zu halten. Aber auch die 1924 ausgerufene Republik wurde der inneren Unruhen nicht Herr. 192 5 errichtete General Pangalos mit Hilfe eines Militärputsches eine Militärdiktatur, die, republikanisch orientiert, keine besonderen ideologischen Merkmal? aufwies, aber sich nur ein Jahr hielt. Der 1935 wieder eingesetzte König Georg II. versuchte zunächst, parlamentarisch zu regieren, berief aber 1936, nach einem neuen, gescheiterten Aufstandsversuch Venizelos', gegen die republikanische Opposition und die zunehmende Tätigkeit der Kommunisten General Metaxas zum Ministerpräisdenten, den er mit ähnlichen Vollmachten ausstattete, wie sie Primo de Rivera in Spanien besessen hatte. Metaxas übernahm damals auch sehr behutsam einige faschistische Methoden und Formen, so den „spartanischen Gruß, konnte sich aber nicht auf eine faschistische Bewegung stützen. Durch die Besetzung Griechenlands fand diese Militärdiktatur ein Ende.

Von den vier westlichen labilen Demokratien vermochte keine zwischen den beiden Weltkriegen die demokratische Konstruktion zu behaupten, weil diese für das Funktionieren des Staates nicht ausreichte. Schwere und anhaltende Funktionsstörungen waren in allen vier Staaten der Anlaß zur Errichtung einer Diktatur.

Die Weimarer Republik

In Deutschland lagen die Verhältnisse und verlief die Entwicklung ganz anders. Die große Staatskrise im Jahre 1923, die durch Ruhrbesetzung und passiven Widerstand, durch Währungszersetzung und die Gefahr der Abtrennung Westdeutschlands, durch kommunistische Aufstände und den nationalsozialistischen Putschversuch entstanden war, meisterte mit Hilfe verfassungsmäßiger Mittel eine demokratische Reichsführung unter Ebert und Stresemann. Die Gefahren der Reichs-auflösung, des Wirtschaftszerfalls und der Aufhebung der demokratischen Verfassungsordnung waren im Dezember 1923 gebannt. Seit dem Kapp-Putsch 1920, der nicht zuletzt am Widerstand der damals noch vorwiegend konservativen Beamtenschaft in den Zentralbehörden gegen jegliche Illegalität scheiterte, war die im Verhältnis zum Nationalsozialismus gemäßigte Rechte zu einem gewaltsamen Umsturz nicht mehr bereit, weil das Risiko zu groß war. Um so mehr war sie daran interessiert, die Chancen anhaltender großer Funktionsstörungen auszunutzen, um legal an die Macht zu gelangen und zu gegebener Zeit ein autoritäres Regime zu institutionalisieren. Das Ziel war mit einem Wort, über die funktionale die institutioneile Diktatur zu erreichen, und zwar durch Anwendung des Art. 48 in Verbindung mit dem Einsatz der Reichswehr als dem eigentlichen Machtinstrument der autoritären Staatsgewalt. Als Stresemann Kanzler einer Koalitionsregierung wurde, an der die Weimarer Parteien und damit auch die Sozialdemokratie beteiligt waren, richtete sich der ganze Angriff der Rechten gegen ihn, der selbst von rechts her kam und dem seine eigene Partei nur widerwillig folgte. Nach seinem Sturz wäre die Bildung einer parlamentarischen Regierung, die über eine ausreichende Mehrheit verfügte, kaum mehr möglich gewesen, wäre also der Weg frei für die Errichtung eines direktorialen Regimes oder für die Einsetzung eines diktatorischen Machthabers geworden. Die Rechte hat Stresemann die Rettung der Republik nie verziehen. Allen Anstrengungen der Deutschnationalen, Teilen der Deutschen Volkspartei, der Stresemann selbst angehörte, der Schwerindustrie und der Großlandwirtschaft, aber auch der Reichswehrführung zum Trotz hielt sich Stresemann und hielt Ebert ihn. Der entscheidende Faktor war die Reichswehr, ohne und gegen die keine Chance zur Usurpation bestand. Diese war wiederum stark interessiert an der Umwälzung — aber nur auf legalem Weg. So begann ein unheimliches Spiel, als Deutschland dem Höhepunkt der Krise zueilte. Wer ihrer Herr würde, würde über Bestand oder Änderung der Staatsordnung bestimmen. Ebert und Stresemann banden Seeckt, indem sie die Reichswehr einsetzten, sofern er bereit war, und auf den Einsatz verzichteten, wenn er nicht gewillt war. Dieser Bindung vermochte Seeckt sich nicht zu entziehen. Die Staatsführung blieb funktionsfähig. Ein letzter Versuch Seeckts, am 3. November von Ebert zum Kanzler ernannt zu werden, scheiterte an dessen überlegener Gesprächsführung. Als am 9. November der Hitlerputsch kläglich zusammenbrach, war zugleich der Höhepunkt der Krise überschritten. Die Demokratie war zunächst gerettet. Hitler hat aus dieser Niederlage die Lehre gezogen, daß ein von vornherein illegaler Umsturz in Deutschland keine Erfolgschance haben würde, und hat daher einen zweiten Versuch peinlich vermieden. Nachdem durch den schnellen wirtschaftlichen Aufstieg und durch das Nachlassen des außenpolitischen Druckes eine Stabilisierung des Verfassungszustandes erreicht war, entfiel damit auch für die Rechte die Möglichkeit, in ihrem Sinne die Chancen eines Notstandes auszunutzen.

Es blieb ihr nur die der Parlamentsmehrheit, abgesehen davon, daß dies in normalen Zeiten ein unerreichbares Ziel war, hätte eine solche Rechtsmajorität nur zusammen mit dem Reichspräsidenten, da nur er den Art. 48 in Kraft setzen konnte, eine Änderung der Verfassungsordnung in autoritärer Richtung bewirken können. .

Seit 1924 hatte die Rechte entweder die Möglichkeit einer Regierungsbildung mit den Mittelparteien, die den von ihnen vertretenen Daseinsvorsorgebelangen, vor allem in der Steuer-und Zollpolitik, zugute kam, sie aber zur Verfassungstreue und zur Anerkennung des außenpolitischen Kurses zwang, oder aber sie mußte das Regieren den Mittelparteien bzw. diesen zusammen mit der Sozialdemokratie überlassen. Gegen die Teilnahme an der Regierung wehrten sich aber weite Kreise ihrer Anhänger im Lande, die nicht bereit waren, sich mit der republikanisch-demokratischen Ordnung und der Duldung des nur ganz langsam und an wenigen Stellen veränderten Friedensvertragszustandes abzufinden. Sie wurden von der extremen Gruppe unter Hugenberg angetrieben und gestützt, der als Leiter eines der größten Pressekonzerne und des größten Filmunternehmens außerordentlich starken Einfluß auf die Meinungsbildung ausübte und eben mit Hilfe jener Kreise 1928 die Führung der Deutschnationalen Volkspartei übernommen hatte.

Nach dem Tod Eberts 1925 hatte die Rechte die Wahl eines überzeugten Anhängers der konstitutionellen Monarchie, der sich aber korrekt gegenüber der Republik verhalten hatte, des höchst populären Generalfeldmarschalls Hindenburg, zum Reichspräsidenten durchgesetzt. Politisch war diese Wahl eine schwere Niederlage für die Republikaner. Sie zeigte, wie schwach im Volke die demokratische Gesinnung verteilt war. Aber das Ziel der Rechten, über diesen Reichspräsidenten Einfluß auf die Regierungsbildung und die Anwendung des Diktaturparagraphen zu erlangen, schien zunächst nicht erreichbar zu sein. Hindenburg, aus Überzeugung Monarchist, aus Pflicht Republikaner, hielt sich streng an die Verfassung, die er respektierte, deren Sinn und Wesen er aber wohl nicht verstand.

Die zweite Staatskrise

Die zweite große Staatskrise der Weimarer Republik entstand durch die im Herbst 1929 hereingebrochene Wirtschaftskrise, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der sprunghaft ansteigenden Arbeitslosigkeit fand. Im Oktober 1929 war Stresemann gestorben, der der eigentliche Konstrukteur aller Regierungskoalitionen gewesen war und dessen parlamentarischer Virtuosität Regierung und Parlament ihre Funktionsfähigkeit in beachtlichem Ausmaß verdankten. Die ersten Folgen der Wirtschaftskrise und des Todes Stresemanns war, daß die Regierungskoalition zerfiel. Der neue Reichskanzler Brüning, der ein Minderheitenkabinett gebildet hatte, wagte in der Wirtschaftskrise bei drei Millionen Arbeitslosen im Sommer 1930 eine Auflösung des Reichstages in der Hoffnung, zusammen mit dem von den Deutschnationalen unter Hugenberg abgespaltenen gemäßigten Flügel eine verfassungstreue bürgerliche Regierung bilden zu können. Dieses Wagnis scheiterte infolge der Krise. Wo der Hunger anfängt, hört der Verstand auf. In die Radikalisierungsbereitschaft der Massen brach Hitler, der in der Massenführung allen deutschen Politikern turmhoch überlegen war, mit ungehemmter demagogischer Macht, erweiterte und vertiefte sie. Hitler wurde der Prophet der durch die Inflation Enterbten und der durch die Arbeitslosigkeit Entrechteten, soweit diese nicht in proletarischer Disziplin in den festgefügten Organisationen der Sozialdemokratie und der Kommunisten verblieben waren; dazu gesellten sich die durch die Republik Enttäuschten und die von Abenteuerlust Erfüllten. Die auf die Inflation mit ihrem rechnerisch kaum mehr vorstellbaren Entwicklungsgrad der Mark folgende Stabilisierung von 1923 hat zwar zu einem sehr beachtlichen Wirtschaftsaufschwung und einer weitgehenden politischen Entradikalisierung, aber gleichzeitig auch zu einer schweren Erschütterung des Staatsbewußtseins, vor allem in jenen breiten Schichten geführt, die ihre Ersparnisse im Vertrauen auf die vom Staat geschützte Währung gemacht hatten und nun faktisch enteignet waren.

Zwar hatte der Wirtschaftsaufstieg sie vor Elend bewahrt, aber für ihre Inflationsverluste wurden sie nicht entschädigt. Deshalb unterblieb zunächst die Radikalisierung. An ihre Stelle trat Indolenz. Aber sie blieben oder wurden Antidemokraten, weil sie unter der Demokratie gelitten hatten, während es ihnen in der Monarchie gut oder zumindest erträglich gegangen war. Diese Erscheinung der Indolenz zeigt sich vor allem in weiten protestantischen Kreisen. Der deutsche Protestantismus, vor allem die Geistlichkeit, war ja ausgesprochen monarchisch-konservativ orientiert. Diese Kreise hatten mit dem Sturz der Monarchie ihre Orientierung verloren, sie waren politisch heimatlos geworden. Je deutlicher es sich nun zeigte, daß keine wirklichen Aussichten für die monarchische Restauration bestanden, desto nachhaltiger vollzog sich der Zersetzungsprozeß der protestantischen Parteien. Als ihre Existenz nun von neuem bedroht war, riß Hitler sie aus ihrer Indolenz, so daß sie zu einem maßgebenden Faktor der Wahlen wurden. Die Zahl der nationalsozialistischen Mandate stieg bei den von Brüning veranlaßten Wahlen im Herbst 1930 von 12 auf 107. Die Nationalsozialisten waren zur zweitstärksten, die Kommunisten zur dritt-stärksten Partei des Parlaments geworden. Die Reichstagswahlen waren zugleich ein Plebiszit gegen die parlamentarische Demokratie, wenn auch die Gegner sich über die Staatsform, die an deren Stelle treten sollte, nicht einig waren. Es gab drei Richtungen: die autoritär-konstitutionelle, die faschistisch-totalitäre und die kommunistisch-totalitäre. Bei dieser Situation entstand wiederum eine legale Diktatur, die Diktatur Brünings mit Erlaubnis Hindenburgs und mit Duldung der Sozialdemokratie. Brüning regierte autoritär, wie es die Rechte erstrebte, aber vermied peinlich antidemokratische und antisozialistische Experimente. Er benutzte autoritäre Befugnisse, ausschließlich um die Funktionsfähigkeit des Staates zu erhalten und die Krise zu beheben, änderte aber nichts an der Verfassungskonstruktion. Brüning stellte seine Diktatur in den Dienst der Demokratie, während die Rechte sich ihrer zur Beseitigung der Demokratie bedienen wollte. -Je länger Brüning regierte, desto größer wurde daher ihr Widerstand gegen, ihn. Die Chancen der Krise von 1923 hatten infolge der Politik von Ebert und Stresemann nicht genutzt werden können. In ruhigen Zeiten bestanden, wie die Wahlentscheidungen gezeigt hatten, keine Chancen für die Rechte. Nunmehr bot sich jedoch eine Aussicht durch die neue Wirtschafts-und Staatskrise. Deren Meisterung würde zu einer weiteren Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie und damit zu einer Steigerung des stimmenmäßigen Gewichts der Arbeitnehmer und umgekehrt zur Einbuße der Vormachtstellung von Schwerindustrie und Groß-landwirtschaft geführt haben. Wenn auch die Bindungen der Reichs-wehr und Schleichers an letztere beiden Gruppen nicht mehr so eng waren wie zu Seeckts Zeiten, so tendierte sie einfach als Militärorganisation und dank ihrer Tradition in Richtung einer autoritären Staats-organisation. Die Situation war sehr viel günstiger als 1923, da Hindenburg, der diesen Kreisen nahestand, Reichspräsident war. Für die nichtradikale Rechte war nicht Mussolini, sondern Primo de Rivera das Modell. Für Hitler hingegen war die NSDAP mit ihren militärischen Verbänden, ebenso wie es die faschistische Partei für Mussolini gewesen war, eine Machterwerbsorganisation, nicht Werbehilfsorganisation der autoritären Richtung, als welche sie von dieser Seite angesehen wurde.

Kampf gegen die Verfassung

Wenn auch die Regierung zwischen 1924 und 1930 relativ häufig gewechselt hat, so war es doch Stresemann als ständigem Außenminister, dem heimlichen permanenten Kanzler einander sich ablösender Koalitionen, durch die Unterordnung der Innenpolitik unter seine Konzeption der Außenpolitik gelungen, die Staatsführung funktionsfähig zu erhalten. Die Rechte hatte die Hoffnung auf ein autoritäres Regime noch nicht aufgegeben. Zwar hatte die konstitutionelle Monarchie mangels geeigneter, volkstümlicher Thronprätendenten an Werbekraft verloren, um so mehr operierte sie mit der noch nicht abgenutzten Parole des Kampfes um den Versailler Vertrag. Die Demokratie wäre zu einer „Befreiungspolitik" weder gewillt noch in der Lage, sondern nur eine starke „nationale" Figur, wobei historisch auf Bismarck, aktuell auf Kemal Atatürk und Mussolini angespielt wurde. Diese Parole hatte den propagandistischen Vorzug, daß jeder außenpolitische Erfolg der Regierung, die von den weltpolitischen Möglichkeiten abhängig war, als unzulänglich diskreditiert werden konnte. Wenn hinter dieser Parole im Grunde als Ziel die Umkehr der Weltkriegsentscheidung stand, so verpflichtete sie praktisch zu nichts. Denn ein autoritäres Regime würde über Mittel verfügen, um ein etwaiges Erinnern an die Parole zu unterbinden. So verband sich mit der Forderung nach einer nationalen starken Außenpolitik der Kampf gegen die Verfassung. Hinter dieser Parole standen Schwerindustrie und Großlandwirtschaft. Beide hatten es verstanden, sich auch in der Demokratie eine zwar nicht wie im Kaiserreich beherrschende, aber doch weit über ihren ökonomischen Bereich hinausgehende einflußreiche politische Stellung zu verschaffen, wozu ihnen mittelbar die Alliierten durch den Versailler Vertrag verhelfen hatten. Die Rüstungsbeschränkung des Friedensdiktates gab der Schwerindustrie im Hinblick auf eine deutsche Wiederaufrüstung Anspruch auf besonderen Schutz, und die Landwirtschaft leitete diesen Anspruch aus ihrer Grenzland-position in den durch Polen verstümmelten Ostgebieten her. Sie waren beide die größten Gegner der Republik und ihre stärksten Nutznießer zugleich. Über sie hielt die Reichswehr ihre schützende Hand aus Rüstungsüberlegungen und dank der traditionellen Beziehungen des Offizierskorps zu diesen Kreisen. Die Reichswehr aber war bei aller militärischen Leistungsfähigkeit eine der Demokratie wesensfremde, nach monarchischen Prinzipien aufgebaute, weitgehend demokratischer Kontrolle sich entziehende, autonome Macht im Staat mit einem starken politischen Einfluß, vor allem, seitdem Hindenburg Präsident war. Sie war nicht ein Instrument der Gegenrevolution schlechthin, aber sie war nicht entschieden antigegenrevolutionär. So haben sich diese drei Faktoren — Schwerindustrie, Großlandwirtschaft und Militär — auch in der Demokratie einen großen Teil ihrer Vormachtstellung, die sie in der Monarchie hatten, zu erhalten verstanden.

Ihr Machtdenken war viel ausgeprägter als das der Weimarer Parteien und der hinter diesen stehenden Organisationen.

Die legale Diktatur Brünings konnte vom Parlament solange nicht in Frage gestellt werden, als Sozialdemokratie und Mittelparteien sie duldeten. Diese waren aber bereit zur Duldung, weil Brünings Sturz zu einer Regierung Hitlers und damit zu einer antidemokratischen Diktatur hätte führen können. So war Brüning allein vom Reichspräsidenten abhängig, dessen Legislaturperiode im März 1932 ablief. Da Hitler neben Hindenburg der einzig aussichtsreiche Kandidat war, mußten diese Wahlren darüber entscheiden, ob Brüning im Amt bleiben würde. Brüning gelang es, die republikanischen Parteien, einschließlich der Sozialdemokratie, dazu zu bewegen, Hindenburg, gegen den sie 192 5 gestimmt hatte, zu wählen. Die Wahl Hindenburgs war für Brüning, der in erster Linie für diesen den Wahlkampf geführt hatte, eine plebiszitäre Bestätigung.

Schicksalhafte Entscheidung

Kaum war diese Staatskrise gemeistert, so setzte eine neue ein. In Preußen, das als größtes Land des Reiches über die stärkste Verwaltungs-und Polizeiorganisation verfügte und länger als ein Jahrzehnt von einer aus Weimarer Parteien bestehenden Koalition regiert wurde, hatten Landtagswahlen stattgefunden. Die Nationalsozialisten waren zur stärksten Partei geworden; trotzdem verfügten sie zusammen mit den nichtradikalen Rechtsparteien nicht über die absolute Mehrheit, ebensowenig die bisherigen Koalitionsparteien. In Preußen gab es kein Staatsoberhaupt, das eine Regierung mit diktatorischen Vollmachten einsetzen konnte. Dazu wäre nur die preußische Regierung selbst in der Lage gewesen, die sich aber nunmehr in dem politischen Zustand einer schweren Regierungskrise befand und aus Mangel an Vitalität in Resignation verfiel. Daß Preußen bisher fest in demokratischen Händen gewesen war und dadurch gleichsam das Bollwerk der demokratischen Ordnung im Reich dargestellt hatte, war für die Rechte weit mehr als nur ein Ärgernis gewesen. Aber auch diese Situation hätte Brüning meistern können, und das hätte eine weitere Stärkung seiner Position und damit den Verlust einer großen Chance für die Rechte bedeutet. Brüning hatte damals Aussicht, in absehbarer Zeit vor zwei großen außenpolitischen Erfolgen, nämlich der Annullierung der Reparationen und der alliierten Anerkennung des deutschen Anspruchs auf Rüstungsgleichheit zu stehen. Das hätte auch im Volksbewußtsein seine Stellung und damit die der Demokratie befestigt, wie sich 1923 an Stresemann gezeigt hatte. Die Rechte würde dann die letzten Chancen, die ihr diese Staatskrise bot, verloren haben.

In dieser Situation und aus dieser Erkenntnis setzte die Rechte zu einem konzentrischen Angriff auf den greisen Hindenburg ein. Dieser Angriff ging in erster Linie von Angehörigen des Großgrundbesitzes aus, welche an sich durch die Notzeit bedingte und daher berechtigte, jedoch gegen ihre Privilegien gerichtete Maßnahmen Brünings befürchteten und zu denen Hindenburg herkunftsmäßig, aber auch als Gutsnachbar sehr enge persönliche Beziehungen unterhielt. Im Hintergrund stand die schillernde Figur des taktisch sehr wendigen, aber konzeptionslosen Generals Schleicher, der auch die letzte Chance zur Restauration nicht verpassen wollte.

Diesem Einfluß erlag Hindenburg, der nicht in Kategorien der politischen Dynamik zu denken vermochte. Er hatte die formalen Gerechtigkeitsvorstellungen eines Feldwebels. 1925 war er von rechts gewählt worden und hatte sich daher nach links geneigt. 193 3 hatte links für ihn gestimmt,, und er fühlte sich damit nach rechts gedrängt.

Hindenburg drohte ultimativ Brüning mit Entzug der legalen diktatorischen Befugnisse, wenn er nicht in die Bildung einer um Hitler und Hugenberg erweiterten Regierung und die Auflösung des Reichstages einwilligte. Formal wäre der Präsident berechtigt, ja sogar verpflichtet gewesen, falls die Verhältnisse nicht mehr den Ausnahmezustand rechtfertigten, dem Kanzler die diktatorischen Befugnisse zu nehmen. Hier aber forderte der Reichspräsident die Wiederanwendung normaler demokratischer Verfahren in einer höchst anomalen Situation, als nämlich die Demokratie von ihren Feinden lebensgefährlich bedroht war. Indem er zum falschen Zeitpunkt formal korrekt handelte, setzte er die Demokratie tatsächlich aufs Spiel.

Was Hindenburg aus Alter und Unkenntnis nicht mehr zu durchschauen vermochte, hatte Brüning zweifellos sofort erfaßt. Er nahm aber resigniert die Entscheidung hin, ohne auch nur die leiseste Anstrengung zu machen, Hindenburg umzustimmen, wie er es bisher mehrfach mit Erfolg getan hatte.

Die Resignation, der Fatalismus, der Mangel an Vitalität, der sich nicht nur bei Brüning, sondern in den maßgebenden Kreisen der positiven Verfassungsrichtung in jener Zeit zeigte, bleibt das Erstaunliche, Unheimliche im Augenblick dieser schicksalhaften Entscheidung. Andererseits war symptomatisch für die Altersschwäche Hindenburgs, daß er den Nachfolger wahllos und ungeprüft aus den Händen Schleichers, der ihn schon vorher ausgesucht hatte, entgegennahm. Schleicher hatte schon vor Papens Ernennung, ohne diesen zu fragen, die Regierung zusammengestellt und bei Hitler gegen Zusage der Reichstagsauflösung eine Tolerierung erreicht. Papen war nicht Primo de Rivera, sondern zunächst ein Strohmann Schleichers. Er war der erste autoritäre Kanzler ohne parlamentarischen Rückhalt, um den er sich nicht einmal bemühte. Während aber Schleicher nur ein weiteres Übergangskabinett, das ihm ergeben und der Rechten angenehmer war als das Brüningsche, wünschte, um taktisch Zeit für die Überwindung der Wirtschaftskrise und damit zur Zähmung des Rechtsradikalismus zu gewinnen, machte Papen sich gleichsam selbständig, um einen „neuen Staat“ zu schaffen, der zwi‘sehen parlamentarischer Demokratie und nationalsozialistischer Diktatur stehen, aber keiner von beiden sein, sondern eine Art konstitutioneller Monarchie unter der mythischen-Gestalt Hindenburgs mit parlaments-unabhängiger Regierung darstellen sollte.

Ein erster Schritt auf diesem Weg war die Absetzung der preußischen Regierung mit Hilfe eines Staatsstreiches und die Unterstellung Preußens unter die Reichsregierung. Damit glaubte Papen sowohl gegenüber den republikanischen Parteien als auch gegenüber dem Nationalsozialismus über eine entscheidende administrative Machtposition zu verfügen. Nachdem aber bei den Reichstagswahlen die Nationalsozialisten ihre Mandatszahl gegenüber 1930 mehr als verdoppelt hatten und eine Verständigung mit Hitler, der auf seiner Bestellung zum Kanzler beharrte, gescheitert war, hätte Papen sich nur noch durch einen Staatsstreich behaupten können. Hindenburg wäre hierzu bereit gewesen, nicht aber Schleicher, der nicht gewillt war, die Reichswehr für einen Staatsstreich zur Realisierung der unrealistischen und von einer kleinen Minderheit anerkannten Restaurationspläne Papens einzusetzen.

Schleicher stürzte Papen und wurde selbst Kanzler. Sein Versuch, die Nationalsozialisten zu spalten, mißlang, und ebenso scheiterte er an der Sozialdemokratie mit seinem Plan, in Anlehnung an die Gewerkschaften unter Ausschaltung der Parteien eine soziale autoritäre Regierung, eine vorübergehende funktionale Diktatur, aber mit ungewissem Verfassungsziel, zu errichten. Nunmehr blieb auch Schleicher kein anderer Weg übrig als der des Staatsstreiches, den ihm Hindenburg durch seine Weigerung, eben mit dem Hinweis auf dessen Argumente gegen Papens gleichartige Pläne, erschwerte.

Der in vielen Farben schillernde General hatte sich durch seine Unzuverlässigkeit isoliert. Die Restaurationsparteien unter Hugenberg waren seine Gegner wegen seiner sozialen Tendenzen, die Nationalsozialisten wegen seiner Spaltungsversuche, die demokratischen Parteien mißtrauten ihm und ebenso Hindenburg. Dieser wurde von Papen, der den Sturz durch Schleichers Hand nicht verwunden hatte, unablässig bearbeitet, ein Kabinett unter Hitler, der durch konservative Kräfte eingeengt werden sollte, zu bilden. Das Argument war, die verfassungsmäßigen Regeln wieder anzuwenden, das Ziel, erneut die Restauration zu versuchen.

Die Diktatur Hitlers

So kam dieses Bündnis der Autoritär-Konstitutionellen und der Anhänger der totalitären Diktatur, das nur auf der Feindschaft gegen die Demokratie beruhte, zustande. Mit einem aus Not und Desorientierung . unter einem fanatischen Demagogen rebellierenden Mittelstand hatte sich eine an Einfluß und Bedeutung immer mehr verlierende Schicht, die eine autoritäre, aber rechtsstaatliche Ordnung mit zum Teil mystischen Vorstellungen anstrebte, in einem gegenseitigen mala-fide-Verhältnis verbunden. Die nichtnationalsozialistischen Gegenrevolutionäre wollten mit Hitler, dessen Bewegung sie sich als Werbehilfsorganisation bedienten, zur Macht kommen, sie kalkulierten, er würde sich in der Führung der praktischen Politik abnutzen, dann würden sie die Demokratie von Hitler befreien — durch die Restauration. Ihre Kalkulation setzte aber Hitler in die seine ein, um sich, nachdem er erst einmal an die Macht gelangt war, von ihnen zu befreien durch Staatsstreich und imperialistische Erfolge.

Ohne die konservativ-autoritäre Gruppe, vor allem ohne die propagandistische Hilfestellung Hugenbergs hätte die Hitlersche Machterwerbsorganisation sehr viel geringere Chancen gehabt. Andererseits hatte die konservativ-autoritäre Gruppe nur Chancen dank der massiven nationalsozialistischen Massenbewegung, die allein in der Wirtschaftskrise die Demokratie in ihrer Existenz gefährden konnte. Es gelang dieser Gruppe aber nicht, sich der Massenbewegung zu bedienen, wie es Franco unter anderen Umständen gelingen sollte. Im Gegenteil, Hitler unterdrückte die Anhänger der Restauration, nachdem er sich ihrer bedient hatte.

Die Diktatur Hitlers war das Ende der Demokratie, aber auch der rechtsstaatlichen Ordnung. Die Anhänger der Restauration, ja zahllose Mitläufer Hitlers lebten in der Vorstellung, daß in Zukunft weiterhin Wahlen regelmäßig stattfinden würden, wenn auch nur zu Körperschaften, die auf die Gesetzgebung beschränkt gewesen wären, und daß die rechtsstaatliche Ordnung, vor allem die Institution der Unabhängigkeit der Rechtsprechung erhalten bliebe. Hitler war sich der Gefahren, die für ihn in diesen Einrichtungen lag, bewußt und beseitigte sie. Er radikalisierte sein Regime immer mehr, nicht allein, aber auch aus Furcht vor seinen Gegnern

So unterscheidet sich die Hitlersche Diktatur grundlegend in ihrer Entstehung von allen anderen. Weder innerstaatlich noch außenpolitisch bestand ein Bedürfnis zu ihrer Errichtung. Bis zu Brünings Entlassung — und das war die entscheidende Weichenstellung — hatten sich keine gravierenden Störungen der Staatsfunktionen, die die Errichtung einer Diktatur gerechtfertigt hätten, gezeigt. Keine andere Verfassung hatte so gut — um nicht zu sagen perfektionistisch — für den Fall eines Staatsnotstandes Vorsorge getroffen wie die Weimarer Verfassung. Der Reichs-Präsident hatte im Höhepunkt der Staatskrise eine gut funktionierende, vom Parlament geduldete Regierung ohne Notwendigkeit lediglich aus Richtungsintentionen unüberlegt entlassen und an dessen Stelle eine unparlamentarische gesetzt. Deren Restaurationsversuch scheiterte, löste aber einen neuen Staatsnotstand aus, der nur durch ein übergesetzliches „Staatsnotrecht“, wie Schleicher es beabsichtigt hatte, oder durch Kapi-tulation vor den Totalitaristen, die ein formal verfassungstreues Verfahren zuließ, zu meistern war.

So nimmt Deutschland aufs Ganze gesehen doch eine Sonderstellung innerhalb der europäischen Entwicklung zwischen 1919 und 1933 ein, die sich nicht nur aus seiner Lage in der Mitte Europas und aus seiner Stellung in der allgemeinen historischen Entwicklung, sondern vor allem aus seiner besonderen innerstaatlichen Konstellation erklären läßt.

Diese deutsche Diktatur ist nicht einfach zu vergleichen mit den anderen, am allerwenigsten mit den Gelegenheitsdiktaturen, die unter Umständen wieder in demokratische Herrschaft umgewandelt werden konnten; am ehesten noch mit Italien, obgleich sie viel intensiver, viel perfektionistischer und radikaler, eben totalitärer war. Sie unterscheidet sich aber grundlegend von der italienischen durch die völlig anders gearteten gesellschaftlichen Verhältnisse.

Der gesellschaftliche Zustand ähnelt am stärksten dem der westlichen stabilen Demokratien. Wenn man Deutschland gesellschaftlich in eine Gruppe mit den stabilen westlichen Demokratien zusammenfassen würde, dann wäre es das einzige Land dieser Gruppe, das in eine Diktatur umgeschlagen ist. Darum war auch die Diktatur in Deutschland stärker gefährdet als in irgend einem anderen Staat. Hitler entsprach mit seinem hyperwilhelminischen Imperialismus nicht nur seinem Macht-und Geltungstrieb, sondern glaubte, daß nur die Hegemonie Deutschlands in Europa und der Welt sein Herrschaftssystem zu sichern vermöge. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

H. G. Adler: „Der Kampf gegen die Endlösung der Judenfrage"

Margarete Buber-Neumann: „Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion"

G. F. Hudson: vChruschy’s Komet"

Junius: „Die Jugend in der Tschechoslowakei"

Helmut Schäfer: „Entstehung der subarktischen Großstadt Workuta"

Karl A. Wittfogel: „Die chinesische Gesellschaft"

Henri M. Wriston: „Erziehung und das Nationalinteresse"

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung: Staatsrat Dr. Theodor Eschenburg, Professor für wissenschaftliche Politik an der Universität Tübingen, geb. 24. 10. 1904 in Kiel.