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Die Freiheit im Lichtedes Marxismus-Leninismus | APuZ 48/1957 | bpb.de

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APuZ 48/1957 Die Freiheit im Lichtedes Marxismus-Leninismus

Die Freiheit im Lichtedes Marxismus-Leninismus

IRING FETSCHER

Einleitung

INHALTSVERZEICHNIS

„Eine gute Definition des Wortes Freiheit hat die Welt nie besessen, und gerade jetzt braucht sie das amerikanische Volk dringend. Wir alle erklären uns für die Freiheit, aber obgleich wir dasselbe Wort gebrauchen, meinen wir nicht dasselbe damit.“

Abraham Lincoln Das Wort „Freiheit" ist heute kein Privileg der westlichen Welt. Auch die Anhänger des Marxismus-Leninismus führen es ständig im Munde und selbst die starrsten Stalinisten unternehmen noch den Versuch, ihre totalitäre Herrschaft als Manifestation oder wenigstens als Mittel zur Herstellung vollkommener Freiheit zu rechtfertigen. Um die Positionen zu klären und das gute Gewissen der ehrlichen Kommunisten wie die Verlogenheit der Demagogen zu begreifen, ist eine Kenntnis der marxistisch-leninistischen Freiheitsauffassungen nötig. Das Bedürfnis nach solcher Begriffserklärung ist — wie man aus dem Erscheinen einer Reihe von Publikationen in den letzten Jahren schließen kann — auch in der kommunistischen Welt vorhanden Wenn die geistige Auseinandersetzung unserer Tage in der Tat die zwischen Freiheit und Unfreiheit ist, dann müssen wir unbedingt wissen, wie sich die Verteidiger der Unfreiheit als Anwälte der „wahren Freiheit“

verstehen oder mißverstehen. Eine solche Besinnung wird uns zugleich auch zu einer klareren Fassung unserer eigenen Freiheitsvorstellungen zwingen. Die Konzeptionen des Marxismus-Leninismus stammen ja keineswegs aus einer anderen Welt, sie sind vielmehr durchwegs Vergröberungen, Radikalisierungen und Fortbildungen von Gedankengängen, die in der bürgerlichen Gesellschaft der klassischen europäischen Nationen entstanden sind. Wir sehen deshalb in ihnen nichts . Fremdes*, sondern Möglichkeiten und Gefahren unserer eigenen Tradition.

Das Wort „Freiheit“ ist außerordentlich vieldeutig und diese Vieldeutigkeit zusammen mit dem affektiven Wert des Wortes macht es zum Mißbrauch äußerst geeignet. Suchen wir uns zunächst ein paar Grund-typen von Freiheitsvorstellungen zu vergegenwärtigen, ehe wir an die Darstellung der marxistischen Auffassung vom Wesen der Freiheit herangehen.

Da haben wir erstens die beiden großen — in innerer Spannung zueinander stehenden — Konzeptionen: die liberale und die demokratische Freiheit Für die Liberalen besteht Freiheit darin, daß der Staat (die öffentliche Gewalt) und die Gesellschaft so wenig wie möglich in die Privatsphäre jedes einzelnen Individuums eingreift. Freiheit ist ihnen der Spielraum innerhalb dessen sich die Persönlichkeit entfalten kann. Die Erfüllung dieses Spielraums kann in mannigfacher Weise vorgestellt werden und es gibt viele, sehr unter-schiedliche Arten des „Liberalismus“. Der Freiheitsraum kann dem skrupellosen Profitstreben dienen — und diese Seite haben die konservativen wie die sozialistischen Kritiker zumeist ausschließlich gesehen — er kann aber auch die Entfaltung der autonomen sittlichen Persönlichkeit und die freie Gewissensentscheidung ermöglichen und in diesem Sinne wird man schwerlich auf liberale Freiheit je ganz verzichten wollen. Für den Demokraten dagegen besteht die Freiheit darin, daß ihm die Möglichkeit gegeben ist, an der Gestaltung des Gemein-

schaftsleben mitzuwirken. Das Maß der Freiheit ist ihm daher mit dem Maß der faktischen Teilhabe an der öffentlichen Gewalt identisch. Jene gleiche Gewalt aber erschien dem Liberalen gerade als der gefährlichste Feind seiner Freiheit. Die Demokraten dagegen waren der Meinung, daß ein solches Mißtrauen gegenüber dem Staat zwar einem absoluten Monarchen nicht aber einer verantwortlichen demokratischen Regierung gegenüber am Platze sei. Eine Beschränkung der staatlichen Macht erschien als überflüssig, weil diese Macht ja die des Volkes selbst sei und kein Volk sich selber schaden werde. Aber „solche Ausdrüdie wie , Selbstregierung'und , die Madtt des Volkes über sich selbst'ent-spredten nicht der wahren Lage der Dinge. Das Volk, welches die Macht a u s ü b t, ist nicht immer dasselbe Volk, wie das, über welches sie a u s g e ü b t wird, und die , Selbstregierung', von der geredet wird, ist nicht die Regierung jedes einzelnen über sich selbst, sondern jedes einzelnen durdt alle übrigen. Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisdi den Willen des zahlreidisten oder des aktivsten seiner Teile, nämlidi der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen. Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrüd^en, und Vorsiditsmaßregeln dagegen sind ebenso geboten, wie gegen jeden anderen Aliflbraudi der Gewalt. Die Begrenzung der Regierungsgewalt über Einzelwesen verliert daher nichts von ihrer Dringlidikeit, wenn die Verwalter der Macht weiterhin der Gemeinsdtaft, d. h. ihrer stärksten Partei, regelredtt verant- wortlidt sind.“ (J. S. Mill, Über die Freiheit, dt. Heidelberg 1948 S. 29 f). Der liberale Schutz des Einzelnen ist also auch bei vollkommener Demokratie notwendig. Liberale und demokratische Freiheit schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Nur der Rat und die Entscheidung freier und verantwortlicher Personen kann der demokratischen Gemeinschaft nützen und nur der Schutz eines Spielraums ungestörter Entfaltung kann solche freien und verantwortlichen Personen entstehen lassen. Demokratische Disziplin schränkt liberale Freiheit ein, aber legitim nur so weit, als ein genügender Spielraum für die sittliche Entfaltung des Individuums bleibt. Die Existenz freier und sittlich verantwortlicher Persönlichkeiten ist umgekehrt eine Garantie gegen die Entartung der Demokratie in Cäsarismus und Tyrannei der Exponenten einer faktischen oder angeblichen Mehrheit.

Zweitens müssen wir prinzipiell zwischen den verschiedenen mög-lichen Subjekten der Freiheit unterscheiden. Das Subjekt der liberalen Freiheit war der Mensch (der „homme“ der französischen Verfas-sung), das der demokratischen ist der „Staatsbürger“ (der „citoyen"). Wenn man nicht behaupten will, daß „homme“ und „citoyen“ zusammenfallen oder daß der „citoyen" der „wahre Mensch“ ist. werden also beide Arten von Freiheit nebeneinander bestehen müssen. Hegel hatte im „citoyen“ den wahren geistigen Menschen erblickt und neigte deshalb dazu, die liberale Freiheit aufzugeben. Marx glaubte, der künftige Mensch der „Klassenlosen Gesellschaft“ werde so mit seinem Gattungswesen eins werden, daß deriinterschied zwischen „homme“ und „citoyen“

wegfallen werde. Das Subjekt der Freiheit kann aber auch eine ganze Gesellschaft oder eine Gruppe sein. Etwa ein Volk, das man als „frei“ bezeichnet, wenn es von keinem fremden Volk abhängt, ohne daß mit dieser äußeren Unabhängigkeit die Freiheit der Glieder des Volkes verbunden zu sein brauchte. Oder auch eine bestimmte Schicht der Bevölkerung, wie die Bourgeosie, die sich in der Französichen Revolution das Recht auf die Gestaltung des Statutes eroberte. Immer handelt es sich in diesen Fällen darum, daß eine Gruppe als ganze frei wird, wobei diese Freiheit nicht notwendig die der Glieder der Gruppe einzuschließen braucht. Das gilt grundsätzlich für jede Gruppe, mag es sich nun um eine Gewerkschaft, eine Partei, eine Kirche oder ein Klasse handeln. In gewisser Weise steht sogar die Freiheit der Glieder in einem gegensätzlichen Verhältnis zur Freiheit der Gruppe, jedenfalls dann, wenn die Gruppe nicht spontan solidarisch ist. Die locker gefügte kriegerische Horde, die aus freien Kriegern besteht, ist der disziplinierten (und hierarchisch-„antifreiheitlich") geordneten Truppe unterlegen, mag auch jeder einzelne Krieger dem gedrillten Soldaten überlegen sein.

Endlich kann man die Arten der Freiheit auch danach unterscheiden, wovon der Mensch in jedem Falle frei ist. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich geht es uns um die Freiheit von der Herrschaft durch andere Menschen. Eine solche Freiheit kann t ot a 1 sein, wenn es gar keine Herrschaft mehr gibt (Anarchie oder Endzustand der klassenlosen Gesellschaft von Marx) oder partiell, wenn die Herrschaft eingeschränkt und ein herrschaftsfreier Raum ausgespart wird (liberale Freiheit). Die demokratische Rechtsstaatskonstruktion endlich geht davon aus, daß die Bürger im Staat nur den selbstgegebenen Gesetzen zu gehorchen brauchen und da-* mit im Gehorsam frei sind. Mit dieser gesellschaftlichen Freiheit ist wiederum verschränkt die Freiheit des Menschen von der Natur, auf die ich im folgenden nur am Rande zu sprechen kommen werde. Unter ihr kann zweierlei verstanden werden: einmal die Freiheit von der äußeren Natur, die Abhängigkeit von den Gegebenheiten des natürlichen Milieus, die Behinderung etwa durch Berge, Flüsse, Meere, durch Wind und Wetter usw. Die Freiheit, die sich der Mensch hier erobert, wird durch „Überlistung“ der Natur errungen, durch Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Natur und Indienststellen ihrer Abläufe für menschliche Ziele. Freiheit wird ermöglich „durch Einsicht in die Notwendigkeit“. Zum anderen aber kann man unter Freiheit von der Natur die von der eigenen (biologischen) Natur des Menschen verstehen. Durch gesellschaftliche Bildung und Selbst-erziehung wird der Mensch von der Befriedigung seiner animalischen Triebe (in begrenztem Maße) unabhängig. Die vollkommenste Freiheit wird hier wiederum — wie Hegel schon betont hat — durch vernünftige Befolgung der Gesetze der Natur erreicht, nicht durch widernatürliche Vergewaltigung. Beide Arten der Befeiung des Menschen von der Natur können nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen verwirklicht werden und so bedingen sich die beiden Arten der „Freiheit von“ wechselseitig.

Den verschiedenen Arten der „Freiheit von“ entsprechen verschiedene Formen der „Freiheit zu“, oder bestimmte Idealvorstellungen von der sinnvollen Erfüllung des menschlichen Wesens.

Die Befreiung des Menschen von der Natur sowohl als Unterwerfung der äußeren wie als vernünftige Beherrschung der inneren Natur wird schon vom Christentum gefordert und bildet ein Spezifikum der abendländischen Kultur. Der Mensch wird als „Krone der Schöpfung" als natürlicher „Herr der Welt“ angesehen und seine geistige Wesenheit gilt als der biologischen Existenz überlegen. Herrschaft und Überlegenheit hat er in seinem Dasein zu „bewähren“. Die Freiheit des Individuums von der politischen Gesellschaft und ihrem Zwang wird begründet mit dem unvergänglichen und einzigen Wert, den jeder Mensch besitzt. Wo eine solche Vorstellung vom Wert des Einzelmenschen fehlt, ist auch eine derartige Freiheit von der Gesellschaft nicht sinnvoll zu begründen und muß sie konsequenterweise in Wegfall kommen. Wenn man das Wesen des Menschen, der gewiß auf Gemeinschaft hin angelegt ist, ganz in seinem „Gattungswesen" aufgehen läßt, wie das Karl Marx letztlich getan hat, wird es schwer, dem Individuum einen Spielraum unabhängiger Entfaltung zu sichern. So hängen letztlich die

Freiheitskonzeptionen von dem zugrunde liegenden Menschenbild ab.

Im Folgenden soll — unter Heraushebung des Wesentlichsten -die Lehre des Marxismus-Leninismus von der Freiheit des Menschen in der Gesellschaft dargestellt und kritisch beleuchtet werden. Eine vollständige und allseitige Würdigung müßte diese Freiheitslehren in einen größeren historischen Zusammenhang stellen und mehr auf die Entwicklungen und Verschiebungen eingehen, die im Denken von Karl Marx und dem seiner Nachfolger eingetreten sind. Im ersten Teil meiner Arbeit ent-wickle ich das „marxistische Zukunftsideal der absoluten Freiheit" so objektiv und gerecht, wie es mir möglich ist, im zweiten behandle ich vor allem die marxistisch-leninistische Lehre von der Partei und vom proletarischen Staat, die als die beiden wichtigsten Mittel zur Herstellung dieser absoluten Freiheit und selbst bereits als Manifestationen vollendeter Demokratie angesehen werden.

Den entscheidenden kritischen Einwand gegen diese Lehren wird man nicht so sehr in der Aufstellung eines „Ideals“ erblicken müssen, auch dann nicht, wenn dieses als utopisch angesehen werden müßte, sondern darin, daß die Anhänger des Marxismus-Leninismus sich für die unfehlbaren Interpreten des Sinnes der Geschichte und des „vernünftigen Willens“ der Mehrheit der Menschheit halten. Das Selbstbewußtsein dieser ihrer „wissenschaftlichen Einsicht in die Notwendigkeit“ läßt sie alle Pluralität menschlichen Wollens als verfehlte Dummheit oder böswillige Störung der fortschrittlichen Entwicklung ansehen. Die Unfreiheit entsteht nicht durch Aufstellung eines Ideals, sondern durch Beanspruchung des Weltmonopols auf seine Verwirklichung.

Es kann deshalb auch nicht darum gehen, alles, was in der marxistisch-leninistischen Theorie gesagt wird, als vollkommen irrig abzuwehren. Sie stellt vielmehr ein höchst buntes Gemisch von wahren Einsichten, Halbwahrheiten und ganzen Irrtümern dar, dessen Wirksamkeit gerade auf dieser Buntheit beruht. Ebensowenig werden wir die westliche Form der Demokratie als absolut vollkommen hinstellen müssen, wenn wir die pseudodemokratische Tyrannis der sowjetischen Welt bekämpfen. Viele Züge unserer Gesellschaftsordnung bedürfen zweifellos der Kritik und die Anstrengung aller ist erforderlich, um die bestehenden Freiheiten aufrechtzuerhalten und für alle Menschen immer realer werden zu lassen. Aber der entscheidende Unterschied der beiden Ordnungen besteht darin, daß die liberale und demokratische Welt des Westens offen ist und sich dauernd selbst korrigieren kann, während die totalitäre Welt ihrem Wesen nach starr bleibt, auch wenn sie von Zeit zu Zeit durch innere Erschütterungen und Palastrevolutionen hindurchgeht.

I. Teil Das marxistische Zukunftsideal der absoluten Freiheit

„La liberte n’est autre chose que le bonheur lui-meme, c’est ä dire le developpement de notre etre, la parfaite satisfaction de nos besoins. Elle ne peut avoir d’autres bornes que ces besoins eux mmes; eile est illimit ou eile n'est pas.“

Theodor Dezamy, 1941

1. Die Befreiung des Menschen vom Staat

Die Abschaffung jeder Art von Herrschaft des Menschen über den Menschen Der Ausgangspunkt des Marxschen Denkens ist eine radikale Über-steigerung und Überbietung der als bloß „formal" abgewerteten demokratischen Freiheit. Schon Rousseau wollte im politischen Staat die Abhängigkeit des Menschen vom Menschen überwinden. Aber seine Lösung-die Herrschaft des allgemeinen Gesetzes über alle und die Herleitung dieses Gesetzes aus dem Gemeinwillen, konnte Marx nicht befriedigen. Solange überhaupt Herrschaft besteht, ist die Freiheit des konkreten, sinnlichen Menschen nicht verwirklicht. Der demokratische Staatsbürger erscheint ihm als ein bloßes Abstraktum, das von dem konkreten sinnlichen Menschen abgezogen ist und dessen Wünsche und Bedürfnisse unbefriedigt läßt. Erst wenn die Gesetze tatsächlich der Willensausdruck jedes Menschen als Menschen wären, könnte man von Freiheit sprechen. Dann aber könnte man auf Gesetze und eine Institution zu ihrer Durchsetzung getrost verzichten. „Ein Land, in dein niemand die Gesetze zu umgehen oder die Regierung zu betrügen suchte, brauchte weder Gesetze noch eine Regierung“, das hat schon Rousseau gewußt, aber für einen unrealisierbaren Zustand gehalten. Marx ist dagegen überzeugt, daß sich die Geschichte, die er-mit Hegel als einen Fortschritt zu immer größerer Freiheit (wenngleich auf dialektischem Wege) begreift, auf diesen staatslosen Endzustand hinbewegt. Der Gegenwart und insbesondere dem Proletariat ist es vorbehalten, bewußt auf die beschleunigte Heraufkunft der „klassenlosen Gesellschaft“ hinzuarbeiten. Denn, da sich die politische Herrschaft (der Staat) aus der Spaltung der Gesellschaft in feindliche Klassen herleitet, wird sie mit Überwindung dieser Spaltung und mit der Herstellung einer universellen Harmonie der Interessen und des Wollens überflüssig und kann „absterben“. Der wirklich freie Mensch wird das Glied einer homogenen klassenlosen Gemeinschaft sein, das keinen Gegensatz zwischen individuellen Wünschen und den Ansprü-

chen der Gesellschaft mehr kennt. a) Vom Staatsbürger Hegels zum vergesellschafteten Mensdien von Marx Hegels Auffassung von der Freiheit des Menschen im Staat ist aus einer Weiterbildung der Rousseauschen Konstruktion der Republik entstanden. Die Freiheit des Menschen im Zustand der politischen Gesellschaft versucht Rousseau dadurch zu fundieren, daß er die „öffentliche Gewalt“ durch einen Vertrag aller mit sich allen konstituieren läßt. In diesem Vertrag verzichten alle Einzelmenschen auf die souveräne Freiheit, die sie im „Naturzustand“ (vor der Staatsgründung) genossen haben, zugunsten der „volonte generale“ (des Gemeinwillens), die sie durch eben diesen Akt der Verzichtleistung ins Leben rufen. Die „öffentliche Gewalt“ soll unter der Leitung dieses Gemeinwillens stehen und der Gehorsam, den jeder Einzelne ihr leistet, bedeutet dann insofern keine Einschränkung der Freiheit, als es ein Gehorsam gegenüber dem eigenen (von jedem mitkonstituierten) Gemeinwillen, dem selbstgegebenen Gesetz ist. Das ganze Wesen des Menschen hat sich durch diesen Vertrag geändert. Während er zuvor eine souveräne Monade war, ist er jetzt zum Teil eines Ganzen geworden, von dem er seine Wesenheit empfängt.

An diesen demokratischen Freiheitsbegriff knüpft Hegel an, er betont Rousseaus Verdienst der Entdeckung dieses Prinzips des Staates, wendet aber kritisch gegen ihn ein, daß er „den allgemeinen Willen nicht als d a s Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Hegel ist der allgemeine, vernünftige Wille die Basis des Staates und seiner Willensäußerungen (Gesetz u n d Maßnahmen der Regierung). Man kann übrigens zweifeln, ob der Hegeische Vorwurf gegen Rousseau zu Recht besteht. Auf alle Fälle aber bedeutet für Hegel der geschichtlich gewordene Staat seiner Zeit (in den entwickelten Ländern, wie er einschränkend hinzufügt) eine Manifestation des vernünftigen Willens. Er nennt ihn daher auch den „objektiven Willen“, der „das an sielt in seinem Begriff Vernünftige sei, ob es von Einzelnen erkannt und von iltrem Belieben gewollt werde oder nicht“ (a. a. OJ. Wenn aber der Staat schon immer Ausdruck des objektiven und vernünftigen Willens ist, dann bin ich als subjektiver Wille vollkommen frei ihm gegenüber, sobald ich mich gleichfalls vernünftig verhalte. Alles kommt daher darauf an, das Individuum zur Vernunft hinaufzubilden. Durch entsprechende Erziehung wird es zum Bewußtsein seiner Freiheit, zum Bewußtsein der Übereinstimmung seines Wollens mit dem des Staates gebracht. Zum lebendigen Staat gehören beide Seiten: die objektive Vernunft der Institution und die subjektive Vernunft mit der ihr entsprechenden sittlichen Gesinnung der Staatsbürger. „Die Einheit des subjektiven Willens und des allgemeinen, ist das sittliche Ganze und in seiner konkreten Gestalt der Staat. Er ist die Wirklichkeit i n der das Individuum seine Freiheit hat“ (Philos, d.

Weltgesch. ed. Lassen Bd. I S. 89 f).

Gegen diese Hegeische Konzeption hat sich Marx schon sehr früh gewandt, weil die Freiheit und Befriedigung, die Hegel dem vernünftigen Staatsbürger in Aussicht stellt, rein abstrakt bleibe. Aber „das deutsche, vom natürlichen Mensdien abstrahierende Gedankenbild des modernen Staats" war nur „möglidt, weil und insofern der moderne Staat selbst vom wirklichen Menschen abstrahiert oder den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre Weise befriedigt“ (Marx Engels Werke 1956 Bd. I. S. 384 f). Die Hegeische Staatsphilosophie erscheint Marx daher als eine angemessene Wiedergabe der staatlichen Wirklichkeit seiner Zeit und indem er sie kritisiert, bekämpft er zugleich die Wirklichkeit, deren abgezogenes Bild sie ist. Dabei geht es lettzlich darum, die bloß abstrakte und imaginäre Befriedigung des abstrakten Staatsbürgers durch die konkrete und reale Befriedigung des sinnlich-wirklichen Menschen zu ersetzen. Das von Hegel als bereits realisiert angegebene Ziel der Befriedigung des Menschen in und durch die Gemeinschaft wird also nicht aufgegeben, sondern lediglich konkretisiert und in die Zukunft verlegt.

Im Staat lebt der Mensch nur als unwirklicher Staatsbürger, seine reale, sinnliche Existenz hat er allein in der bürgerlichen Gesellschaft. Als Staatsbürger mag er sich frei vorkommen und Anteil am Gemeinwesen zu haben glauben, in der bürgerlichen Gesellschaft ist er unfrei, abhängig und unsittlich. „Der vollendete politisdte Staat ist seinem Wesen nadt das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben auflerhalb der Staatssphäre in der bürgerlidren Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlidten Gesellsdtaft. Wo der politisdre Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensdt nid-it nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben, ein doppeltes, ein himmlisdres und ein irdisdtes Leben, das Leben im politisdten Gemeinwesen, worin er sidt als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlidten Gesellsdraft, worin er als Privatmensdt tätig ist, die anderen Menschen als Mittel betrachtet, sidt selbst zum Mittel herabwür-digt und zum Spielball fremder Mädite wird“ (Zur Judenfrage, Marx, Engels Werke Bd. I. S. 3 54 f).

Der Mensch dieser Welt ist ein Doppelwesen: ein spiritualistischer Staatsbürger, der frei ist, und ein materialistischer Bourgeois, der unterdrückt wird und seinerseits unterdrückt. „Für den Mensdien als Bourgeois ist das Leben im Staate nur Sdtein“ (a. a. O.). Der Widerspruch zwischen dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft ist damit zugleich der zwischen dem imaginären Allgemeininteresse und den realen, konkurrierenden Privatinteressen, der nicht aufgelöst werden kann. In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht „der Egoismus, das bellum omnium contra omnes. Sie ist nidit mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des LIntersdiieds. Sie ist zum Ausdrudz der Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, von sidt und den anderen Men- sdten geworden“ (a. a. O. S. 3 56). Dem gegenüber erweist sich der Staat als völlig ohnmächtig. An Hand einer Analyse der Grundrechte in den revolutionären französischen Verfassungen von 1793 und 179 5 kommt Marx zu dem Ergebnis: „Der Mensdt, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, (gilt hier) für den eigentlichen Mensdien, für den homme im Unterschied von dem citoyen, weil er der Mensdt in seiner sinnlichen individuellen nächsten Existenz ist, während der politische Mensch nur der abstrahierte, künstliche Mensdt ist, der Mensch als eine allegorische moralische Person. Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten citoyen anerkannt“ (a. a. O.

S. 379).

Die menschliche Emanzipation, die allein über die vollendete politische hinausführen kann, soll zur Überwindung dieser Aufspaltung des konkreten Menschen führen und an die Stelle des abstrakten politischen Menschen Rousseaus den Menschen setzen, der mit Gattungswesen zusammenfällt: „Erst wenn der wirklidte individuelle Mensdt den abstrakten Staatsbürger in sidt zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine forces propres als gesellsdtaffliehe Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nidtt tifShr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbradtt" (a. a. O.).

Die Voraussetzung für die Überwindung der Spaltung in bourgeois und citoyen ist die Überwindung des Egoismus und der ihn bewirkenden Isolierung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft. Ursache für diese Isolierung und „Entfremdung“ der Menschen voneinander, von ihrer Gattung und von sich selbst ist aber die Arbeitsteilung und das damit im Zusammenhang stehende Privateigentum an den Produktionsmitteln. Eine Veränderung der sozialökonomischen Verhältnisse auf Grund einer Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse erscheint Marx daher als die notwendige Voraussetzung der Stiftung einer wirklich freien Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die Freiheit nicht nur für den abstrakten Citoyen, sondern für den konkreten Menschen realisiert. Der Ausgangspunkt des gesamten Marxschen Denkens ist damit die Kritik an der unvollkommenen Freiheit und der imaginären Befriedigung, die der „spiritualistische“ demokratische Staat gewährt. Wie die Religion nicht unmittelbar durch ein politisches Dekret, sondern mittelbar durch Beseitigung der sie hervortreibenden Zustände aufgehoben werden soll, so auch der Staat, dessen Wurzel im Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft erblickt wird.

Während für Hegel lediglich die Möglichkeit besteht, den sinnlich-egoistischen Bourgeois durch vergeistigende Erziehung zur Würde des Citoyen zu erziehen, glaubt Marx an die Chance der radikalen Umgestaltung des sinnlich-egoistischen Menschen selbst im Zuge einer veränderten Gesellschaftsordnung. Hegel sucht den Status quo durch eine spiritualistische Erziehung zu überwölben, Marx die Basis selbst, das Wesen des gegenwärtigen Menschen, zu verändern.

Hegel hält die schrittweise Vergeistigung für die adäquate Form der Be-freiung, da seiner Auffassung zufolge alle Wirklichkeit „an sich“ Geist ist und der Mensch daher auch erst als rein geistiger eigentlicher Mensch ist. Die Erziehung „denaturiert“ ihn daher nur, um ihm seine höhere, echte Natur zu geben. Den gleichen Gedanken hat auch schon Rousseau ausgesprochen, nur, daß bei ihm der „homme naturel" neben und vor dem Citoyen als ein — wenngleich unwiderruflich versunkenes — Ideal gleichberechtigt stehenbleibt. Marx dagegen hält eine vergeistigende Erziehung, die in ständiger notwendiger Spannung zu allen materiellen Bedürfnissen und Verhältnissen steht, für illusorisch. Er setzt seine Hoffnung auf Umgestaltung des ganzen Menschen nicht auf den spiritualistischen Staat, sondern auf die Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft selbst, aus deren Selbstzersetzung der ganze Mensch als Gemeinschaftswesen sich erzeugen soll. b) Der Staat als Instrument der Klassenherrschaft und das Absterben des Staates in der klassenlosen Gesellschaft Während für Hegel der Staat die Herrschaft des Allgemeinen war, der sich die selbst allgemeinen und vernünftigen Bürger (Citoyens) frei unterordnen konnten, ist er in den Augen von Marx nur die Herrschaft des „illusorischen Gemeininteresses“, des vorgeblich Allgemeinen.

Wie kommt es nun zur Errichtung der Herrschaft eines illusorischen Gemeininteresses, hinter dem sich ein reales Partikularinteresse verbirgt? Die Antwort hierauf gibt Marx mit seiner Theorie des Staates als eines Instrumentes der Klassenherrschaft. In jeder Geschichtsepoche ist jeweils eine Klasse führend und zwar gestützt auf die Tatsache, daß sie den „fortgeschrittensten Zweig“ der gesellschaftlichen Produktion repräsentiert. Mit der Veränderung der gesellschaftlichen Produktion entstehen neue Klassen, die sich auf revolutionärem Wege durchsetzen müssen. „Jede neue Klasse . . . (aber), die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon tun ihren Zweck durchzuführen, i h r Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen . . . ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben“ (Dt. Ideologie S 4 5).

Diese Illusion sei im Anfang sogar wahr, da alle (außer der herrschenden alten Klasse) an der Beseitigung der veralteten Gesellschaftsverhältnisse interessiert seien und die revolutionäre Klasse „als Vertreterin der ganzen Gesellschaft“ auftrete. Sehr bald nach dem Sieg der aufsteigenden Klasse bilde sich jedoch der Gegensatz heraus, in dem sie zu den übrigen Klassen stehe, und ihr Staat mit seiner Rechtsordnung werde erneut zum Herrschaftsinstrument und zum „illusorischen Gemeininteresse“ für die Beherrschten. Für die beherrschten Klassen bedeutete also die Existenz des Staates stets Unfreiheit. Aber auch für die herrschende Klasse selbst sei keine vollständige Freiheit möglich. Der ihm als besondere Macht gegenüberstehende (eigene) Staat repräsentiere für jedes einzelne Glied der Klasse die H e r r s c h a f t d e s durchschnittlichenKlasse n interesse s, sei also kein Ausdruck seiner Herrschaft als Person. Nur in seiner Eigenschaft als Glied seiner Klasse, d. h. aber in seiner beschränkten, nicht seiner menschlich-umfassenden Erscheinung hatte das Individuum teil an dieser Gemeinschaft. „In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat . . . existierte di 5).

Diese Illusion sei im Anfang sogar wahr, da alle (außer der herrschenden alten Klasse) an der Beseitigung der veralteten Gesellschaftsverhältnisse interessiert seien und die revolutionäre Klasse „als Vertreterin der ganzen Gesellschaft“ auftrete. Sehr bald nach dem Sieg der aufsteigenden Klasse bilde sich jedoch der Gegensatz heraus, in dem sie zu den übrigen Klassen stehe, und ihr Staat mit seiner Rechtsordnung werde erneut zum Herrschaftsinstrument und zum „illusorischen Gemeininteresse“ für die Beherrschten. Für die beherrschten Klassen bedeutete also die Existenz des Staates stets Unfreiheit. Aber auch für die herrschende Klasse selbst sei keine vollständige Freiheit möglich. Der ihm als besondere Macht gegenüberstehende (eigene) Staat repräsentiere für jedes einzelne Glied der Klasse die H e r r s c h a f t d e s durchschnittlichenKlasse n interesse s, sei also kein Ausdruck seiner Herrschaft als Person. Nur in seiner Eigenschaft als Glied seiner Klasse, d. h. aber in seiner beschränkten, nicht seiner menschlich-umfassenden Erscheinung hatte das Individuum teil an dieser Gemeinschaft. „In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat . . . existierte die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herr-scltenden Klasse entwickelten Individuen und nur insofern sie Individuen dieser Klasse waren“ (a. a. O. S 74).

Auch innerhalb der herrschenden Klasse fiel das individuelle nicht mit dem gemeinschaftlichen Interesse vollkommen zusammen und der Einzelne konnte sich nur als abstraktes Exemplar seiner Gattung (seiner Klasse) mit dem Staat identifizieren.

Ein „freier Staat“ ist für Marx daher ein Widerspruch in sich, wenn man darunter eine Gemeinschaft verstanden wissen will, deren Glieder frei sind. Jeder Staat ist eine Herrschaftsordnung, in der eine Klasse über die übrigen herrscht. Das gilt auch noch für den proletarischen Staat (die Diktatur des Proletariats), der jedoch mit Vollendung der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft absterben wird. Solange es Staaten gibt, wird es keine vollständige Freiheit (in der Gemeinschaft) geben, und wenn es Freiheit gibt, wird es keinen Staat mehr geben. Diesen Standpunkt hat Marx noch in seiner Kritik des Gothaer Programms (1875) und Lenin in „Staat und Revolution“ (1917) 2) vertreten. Er ist für den Marxismus-Leninismus noch heute verbindlich. Die These, daß jede staatliche Herrschaftsordnung Unfreiheit mit sich führt und Freiheit daher erst voll in einer künftigen staatslosen Gesellschaft möglich sein wird, führt aber dazu, die bereits jetzt möglichen Formen der Freiheit als unbedeutend zu bagatellisieren und auf den Schutz der individuellen Freiheit vor staatlicher Willkür zu verzichten. Alles, was man für die Herbeiführung der Freiheit (als Herrschaftslosigkeit) tun kann, ist die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, in der eine so vollständige Interessenharmonie aller mit jedem besteht, daß keine besondere Gestalt für die Durchsetzung des Gemeininteresses (also kein Staat) mehr nötig sein wird 3). Vom Anarchismus unterscheidet sich diese marxistische Konzeption dadurch, daß Sie den staats-und herrschaftslosen Zustand erst am „Ende der Geschichte“ nach einem Durchgangsziel der proletarischen Diktatur — nicht sofort —für realisierbar hält. Wegen der Gemeinsamkeit ihres Ideals der Freiheit als völliger Herrschaftslosigkeit ist es immer wieder zu heftigen Polemiken zwischen Anarchisten und Marxisten-Leninisten gekommen.

Gegenüber dem Marxschen Ideal einer „konkreten Freiheit“ des mit seinem Gattungswesen zusammenfallenden Individuums erscheint sowohl die liberale Freiheit des egoistischen Bourgeois, die sich durch „Absonderung des Menschen von den Menschen“ in einem gemeinschaftsfremden Spielraum realisiert 4), wie auch die demokratische Freiheit des Citoyen, der ein abstraktes Wesen ist, als überflüssig. Die Abwertung dieser zweifellos unvollkommenen Formen der Freiheit sollte in der Folge verhängnisvolle Konsequenzen zeitigen.

2. Die Befreiung des Menschen von der (entfremdeten) Arbeit

a) Unfreiheit als Entfremdung Was ich bisher entwickelt habe, ist aber für Marx nur eine Form einer umfassenderen Erscheinung der modernen Gesellschaft: der Entfremdung. In der p o 1 i t i s c h e n Entfremdung erscheint der Staat dem konkreten sinnlich-realen Menschen (dem Bourgeois) als ein jenseitiges, ihn beschränkendes Wesen, das er sich so weit wie möglich vom Leibe zu halten sucht. Der Citoyen dagegen, der sich mit dem Staat identifiziert, ist ein ebenso „abstraktes“ Wesen wie dieser Staat selbst, der das gesamte materielle Leben der Gesellschaft außer sich läßt. Die derart in bürgerliche Gesellschaft und Staat, Bourgeois und Citoyen aufgeteilte Welt ist ein notwendiges Zersetzungprodukt der Feudalgesellschaft. Sie stellt dieser gegenüber sowohl einen Fortschritt dar (insofern sie die materiellen Kräfte der Gesellschaft von allen politischen Fesseln befreit) als auch einen Rückschritt (insofern sie die Menschen innerlich zerrissen werden läßt zwischen den Forderungen des spiritualistischen Citoyen und den Wünschen des materialistischen Bourgeois). Die Entwicklung ist „dialektisch", insofern diese beiden Seiten notwendig miteinander verknüpft sind.

Das Auseinandertreten, der Zerfall der ursprünglich gedrungenen Gesellschaft ist aber zugleich die ermöglichende Bedingung für das Bewußtwerden ihrer funktionalen Zusammenhänge. Der Begriff der „Entfremdung“ stammt von Hegel Er wird von ihm an verschiedenen Erscheinungszusammenhängen aufgewiesen und liegt letztlich auch der Struktur des Gesamtsystems zugrunde. Die Linkshegelianer und insbesondere Ludwig Feuerbach wenden diese Hegeische Kategorie nicht mehr auf das Verhältnis: absoluter Geist — Natur an, wie es Hegel tat, sondern auf das Verhältnis von Mensch und Religion. Die Religion, namentlich der Gottesglaube, erscheint dann als eine Entfremdung des Menschen von seinem eigenen schöpferischen Wesen, das er in der Form eines jenseitigen, himmlischen Wesens als fremdes verehrt. Hieran knüpft Marx seinerseits an.

„Die Religion ist (für ihn) das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind“ (Marx-Engels Werke Bd. I S. 378).

Marx geht also insofern über Feuerbach hinaus, als er nicht einfach konstatiert: gewisse Menschen produzieren Religionen, sondern die gesellschaftlichen, historisch-veränderlichen Zustände, in denen religiöse Menschen leben und denken. Die Religion als ein falsches, ideologisches Bewußtsein, als eine Entfremdung des Menschen von seinem Wesen kann nicht durch bloße Veränderung des Bewußtseins, durch rein geistige Erziehung überwunden werden, sondern der Mensch selbst und die gesellschaftlichen Bedingungen, die ihn prägen, müssen hierzu eine Umgestaltung erfahren. Die Religion ist nur darum „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“ (a. a. O).

Wie sich der abstrakte Staatsbürger illusionär mit dem ebenso abstrakten Staat identifiziert und in dieser Identifikation eine scheinbare Befriedigung erfährt, so bezieht sich der abstrakt-spirituelle, um seine Schöpferkraft beraubte, sich als ohnmächtig erfahrende Mensch auf das jenseitige Wesen, Gott, dem alle Eigenschaften der Gattung Menschheit zugeschrieben werden, das nichts anderes als die Hypostasierung dieser Prädikate zu einem illusionären Subjekt dargestellt. Wie der spiritualistische Staat so ist auch die spiritualistische Religion ein „illusorisches Glück des Volkes“. Die Aufhebung des illusorischen Glücks kann daher nur dann gelingen, wenn an seine Stelle ein reales Glück tritt.

„Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist“ (a. a. O. S 379). Die Kritik der religiösen Entfremdung geht daher über in die Kritik der politisch-juristischen Entfremdung. Aber auch diese ist noch nicht die Wurzel der entfremdeten Welt. Diese liegt erst in der. unmittelbaren Lebensbedingungen der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft: in ihren „Produktionsverhältnissen“.

Für die moderne bürgerliche Gesellschaft sind zwei Charakteristika von zentraler Bedeutung:

a) Die immer weiter zunehmend (technisch bedingte) Arbeitsteilung und b) Das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Trennung von Produktionsbesitzer und Arbeiter

Beide zusammen bewirken die „Entfremdung“ im Prozeß der Arbeit.

Als ideales Gegenbild schwebt dabei Marx die unentfremdete Arbeit z. B.des schöpferischen Künstlers vor. Für diesen bedeutet das Anschauen seines Werkes das Gewinnen eines angemessenen Selbstbewußtseins, des Bewußtseins seiner gestaltenden Freiheit und Überlegenheit über die bloß daseiende, passive Natur. Erst auf dem Umweg über die geistige Aneignung des eigenen Werkes, in das er sich selbst „entäußert“, „vergegenständlicht“

hat, gelangt er zu seinem Selbstbewußtsein und damit zu einer Menschlichkeit, die ohne solches Selbstbewußtsein nicht existiert.

Die Arbeitsteilung und das ausschließende Privateigentum an den Produktionsmitteln hindern den durchschnittlichen Arbeiter an einer solchen Aneignung seines Wesens. Als Produzent eines isolierten Teistücks vermag er sich nicht auf das Ganze eines Werkes, eines Produktes zu beziehen, und als vom notwendigen Egoismus der privatwirtschaftlichen Welt Geprägter kann er sich nicht zum Gemeinschaftsbewußtsein des produzierenden Kollektivs erheben.

$In seiner genialen Jugendarbeit über „Nationaloekonomie und Philosophie“

(1844) hat Marx die verschiedenen Formen und Stufen der entfremdeten Arbeit analysiert:

1. kommt es zu einer Entfremdung zwischen dem Arbeiter und dem Produkt seiner Tätigkeit, das ihm fremd und feindlich gegenübertritt.

„Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt“ (MEGA I. Abt. 3 S. 83 f). Er fährt daher in seiner Arbeit nicht seine schöpferische Freiheit, seine Überlegenheit über die Natur, sondern seine Ohnmacht und Abhängigkeit.

2. wird ihm aber auch die Tätigkeit des Produzierens eine fremde. Arbeit ist so gesehen keine freie, frohe Äußerung seines menschlichen Wesens (und Menschsein bedeutet für Marx Produzent sein, kulturelle Wirklichkeit schaffen können), sondern bloß abgenötigte Zwangsarbeit. Damit sind die Verhältnisse auf den Kopf gestellt (per-vertiert).

„Es kommt daher zu dem Resultat, daß der Mensch nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken, Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck usw. sich, als f r e i t ä t i g fühlt und in seinen m e n s c h l i c h e n Funktionen nur mehr als Tier. Das Tierische wird das Menschlidte und das Menschlidte das Tierisdre. Essen, Trinken und Zeugen sind zwar auch edite mensddidie Funktionen. In der Abstraktion aber, die sie von dem übrigen Umkreis menschlicher Tätigkeit trennt und zu letzten und alleinigen Endzwed^en macht, sind sie tierisch“ (MEGA I. Abt. 3 S. 86).

3. Mit der Entfremdung des arbeitenden Menschen von seiner Tätigkeit, die zum bloßen Mittel zur Fristung der animalischen Existenz wird, entfremdet sich der Mensch seinem eigenen „ G a t -

tungswese n“, seiner menschlichen Natur. Das bedeutet, daß ihm der innere Zusammenhang mit dem Menschengeschlecht (bzw. mit seiner Gesellschaft) verlorengeht und er sich nicht mehr als Mensch auf den anderen Menschen zu beziehen vermag. Das zeigt sich deutlich an dem herrschenden Verhältnis von Mann und Frau, an dem man ablesen kann, „in wie weit dem Menschen ...der andere Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, in wie weit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwesen ist“ (MEGA I. Abt. 3 S. 113). Dieses Zusammenfallen von Gemeinwesen und individuellem Dasein ist das ideale Ziel, das Marx ständig im Auge hat. Mit seiner Verwirklichung wäre die vollkommene Freiheit als totale Entfaltung der Menschlichkeit erreicht. Die beste Formulierung dieser Vollendung der Menschlichkeit durch die unentfremdete Arbeit findet sich an einer wenig bekannten Stelle in den „Exzerptheften", die ich deshalb zum Abschluß vollständig zitieren möchte: „Gesetzt, wir hätten als Menschen (d. h. nicht als isolierte, von der uns tragenden Gesellschaft abstrahierte Einzelne, 1. F.) produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den anderen doppelt bejaht. Ich hätte 1. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebens-ä u ß e r u n g genossen als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabene Macht 2. zu wissen. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschlich Bedürfnis befriedigt, als das menschliche Wesenvergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben. 3. für didt der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe (!) mich bestätigt zu wissen, 4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar Deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben. Unsere Produktionen wären ebensoviele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete“ (MEGA I. 3. S. 546 f). b) Die Freiheit des „totalen Menschen“ und Freiheit als Muße Den nichtentfremdeten, freien Menschen der künftigen Gesellschaft nennt Marx auch gelegentlich in seinen Jugendschriften den „totalen Men-schen". Dieser „totale Mensch" wird nicht mehr „arbeiten“, in dem Sinne wie bisher gearbeitet wurde, er wird produzieren, indem er sein „Leben betätigt“, und zwar wird er das auf allseitige, universelle Weise tun, ohne unter die Teilung der Arbeit „subsumiert“ zu sein. „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten aussddießlichen Kreis der Tätigkeit, der i h m aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder britischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nidit die Mittel zum Leben verlieren will — während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Vieh-zudit zu treiben, nadt dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe ; ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Deutsche Ideologie, Berlin 195 3 S. 29 f). Der wesentliche Gedanke dieser Formulierung ist, daß in einer wirklich freien Gesellschaft niemand zeitlebens auf eine einseitige Weise der Produktion festgelegt werden wird, sondern jederzeit diejenige „Lebensäußerung" wählen kann, zu der er „gerade Lust“ hat. Wie diese individuelle Willkür mit der gesellschaftlichen Regelung der allgemeinen Produktion zusammen-bestehen kann, müssen wir mehr erschließen, als wir es ausdrücklich formuliert finden. Der Gedankengang bei Marx läuft darauf hinaus, daß die künftigen Menschen in ihrem Wollen ganz mit dem aller übrigen Menschen solidarisch sind, so daß ein Konflikt zwischen Gemein-interesse und besonderem Interesse gar nicht mehr denkbar ist. In der bisherigen Geschichte haben dagegen die „Individuen (immer) nur ihr besonderes, für sie nicht mit ihrem gemeinschaftlidren Interesse zusammenfallendes“ Interesse gesudtt, und daher mußte ihnen das „Allgemeine“, die „illusorische Form der Gemeinschaftlichkeit“ (z. B.der Staat) „als ein ihnen , fremdes'und von ihnen . unabhängiges'erscheinen“ (a. a. O. S. 30 f).

Wie sehr Marx bei all diesen Ausführungen im Grund an das Modell des Künstlers denkt, geht u. a. daraus hervor, daß die zweite ausführliche Stelle, an der die Aufhebung der Arbeitsteilung erwähnt wird, gerade den Künstler betrifft. „Bei einer kommunistischen Organisation der Gesellsdtaft — so heißt es dort — fällt jedenfalls fort, die Subsumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums unter diese bestimmte Kunst, so das? er aussdtließlich Maler, Bildhauer usw. ist und schon der Name die Borniertheit seiner gescltäft-lichen Entwicklung und seine Abhängigkeit von der Teilung der Arbeit hinlänglidt ausdrückt. In einer kommunistischen Gesellsdtaft gibt es keine Maler, sondern hödistens Menschen, die unter anderm auch malen“ (a. a. O. S. 415).

Ein Künstler, der unter der Kategorie „Maler“ subsumiert wird, würde damit nicht als Mensch anerkannt, sondern nur als Agent dieser künstlerischen Partialfunktion. In der menschlichen Gesellschaft sollen aber allseitig freie Menschen und nicht die abstrakten Funktionsträger anerkannt werden und sich entfalten. In dieser freien Zukunftsgesellschaft wird überhaupt der Gegensatz von einzelnen Genies und einer banausischen Masse wegfallen, denn „die exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und seine damit zusammenhängende LInterdrüdmng in der großen Masse ist Folge der Teilung der Arbeit“ (a. a. O.) und wird mit ihrer Aufhebung notwendig verschwinden. Hier liegen bei Marx zweifellos romantische Züge, auf die Ernst Kux erst eben wieder (Karl Marx, das romantische Verhängnis, München 19 57) aufmerksam gemacht hat.

Während in den Marxschen Jugendschriften die totale Befreiung des Menschen (die menschliche Emanzipation, die auf die politische folgt, die proletarische Revolution, die die bloß politische, bürgerliche Revolution überbietet) dazu führen soll, daß allseitig entwickelte, totale Individuen frei ihr Leben betätigend die Produktion tragen, ist Marx in seinen späteren Schriften wesentlich zurückhaltender. Zwar wird die Arbeitsteilung (vor allem die Teilung in geistige und körperliche Arbeit, Stadt-und Landarbeit) weiter kritisiert, aber von der Überwindung der Entfremdung bleibt doch nur der eine Gedanke: daß die Macht des zu einem selbständigen Subjekt konsolidierten Wirtschaftsprozesses (des Kapitals, des Marktes) unter die Herrschaft der assoziierten Produzenten ge-bracht werden muß. Die restlose Befriedigung und Befreiung wird jetzt nicht mehr von der Verwandlung der egoistischen und isolierten Arbeiter in mit dem Gemeinwesen sich identifizierende allseitige Produzenten erwartet, sondern von der Reduktion der Arbeitszeit. Das Moment der Notwendigkeit, das in der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse noch liegt, kann erst jenseits dieses Bereichs abgeschüttelt werden. Ein unvermeidlicher Rest von Notwendigkeit wird daher stets erhalten bleiben: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zwedmiäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nadt jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion, Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dieses Reidt der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleidt erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwedtsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrsdtt zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer inensMidien Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehst. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwiddung, die sich als Selbst-zwed? gilt, das wahre Reich d e r F r e i h e i t, das aber nur auf jenem Reidt der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung" (Das Kapital, Volksausg., Berlin 1949 Bd. III, S. 873 f).

Diese Formulierung zeigt gegenüber den Jugendschriften deutlich eine Ernüchterung und größeren Realismus, zugleich könnte man von einer Verstärkung des „liberalen“ Momentes sprechen. Das Ideal des konkreten Citoyen, der sich — allseitig freiwillig produzierend — mit der produzierenden Gemeinschaft identifiziert, wird durch das des in Muße genießenden Menschen ersetzt, oder wenigstens ergänzt. Als daher Paul Lafargne sein Buch über „das Recht auf Faulheit" schrieb, hätte er sich auf diese Äußerung seines Schwiegervaters berufen können. Von der ursprünglichen Konzeption Marxens aus müßte man dagegen die Forderung eines „Rechtes auf Faulheit“ als notwendiges Korrelat der entfremdeten Arbeit verstehen, das mit der Aufhebung der entfremdeten Arbeit überflüssig würde. Wenn die Arbeit zur freien „Lebensbetätigung" geworden ist, fällt ja „die ganze Grundlage des Gegensatzes von Arbeit und Genuß“ weg (Die deutsche Ideologie, S 221). Marx’ Wendung im Kapital bedeutet dagegen die Anerkennung der Tatsache, daß noch in jeder Arbeit ein Stück „unterdrückter Begierde“ und damit etwas Unbehagen steckt, daß sich Arbeit für die Befriedigung der Notdurft — und sei’s auch innerhalb der solidarischen Gemeinschaft — von der freien Produktion des Künstlers wesenhaft unterscheidet. Die romantische Verklärung der Arbeit nach der Analogie des künstlerischen Schaffens ist offenbar aufgegeben. Die Assoziation der Produzenten erscheint dann mehr und mehr als bloßes Mittel für die Schaffung der Voraussetzung-der „wahren Freiheit“, der Individuen die jenseits der materiellen Produktion in Muße, Spiel und künstlerischer Betätigung liegt. Wenn aber das Ziel in dieser Art der Freiheit liegt, braucht der marxistisch-leninistische Weg nicht der einzige und beste zu diesem Ziel zu sein. Wer die Mußezeit in sowjetischen Ländern mit dem Ausmaß an Muße in den entwickelten westlichen Industriestaaten vergleicht, wird jedenfalls in den letzteren mehr von dieser Freiheit finden.

3. Die Befreiung von der Macht des blinden Schicksals (von der Geschichte und vom Wirtschaftsprozeß)

Der Mensch ist abhängig von der Macht der Geschichte, die als ein Schicksal über ihn verhängt zu sein scheint. Der höchste Anspruch des Marxismus besteht darin, daß er die Menschheit auch von dieser Abhängigkeit zu befreien verspricht, daß er das „blinde und fremde“ Schicksal aufheben und der souveränen Menschheit in die Hand geben möchte.

Ludwig Landgrebe hat gezeigt, wie diese von Marx konzipierte Befreiung die überbietende Fortbildung und damit zugleich „Aufhebung“ der abendländischen Philosophie und ihrer Tradition darstellt. Seit den Griechen hatte diese den Versuch gemacht, „B i n düng des Mensdien zu sein an die im absoluten verwurzelte, in der Erkenntnis ersdtlossene Ordnung des Seins: eine Bindung, die aber zugleidt Vollendung der Freiheit des Mensdien, seine Befreiung durch philosophische Erkenntnis in sich schließt" (in , Marxismusstudien', Erste Folge S. 41 f). Indem der Mensch philosophierend zurückgeht in den Grund, von dem her er sein Sein als geordnetes empfängt, befreit er sich zugleich von der blinden Fatalität seiner unmittelbaren Existenz. In dieser abendländischen Tradition stand auch noch Hegel, der das Sein als wesenhaft geschichtliches begriff und den Menschen mit der ihn produzierenden Geschichte zu versöhnen unternahm. Das „begriffene“, als sinnvoll anerkannte Schicksal verliert seinen fremden und bedrohlichen Charakter und damit wird der philosophierende Mensch von ihm „frei“. Diese bloß philosophische Befreiung erschien Karl Marx (besonders in der abstrakten Gestalt, die sie bei den Linkshegelianern angenommen hatte) als illusorisch. Was die Philosophie in begreifender Hinnahme (und An-eignung) zu haben meinte: eine vollkommen rationale Ordnung, in der der vernünftige Mensch in absuluter Freiheit und Identität mit sich selbst existieren kann, das soll für Marx erst noch durch die Praxis der assoziierten Menschheit geschaffen werden. Der wirklich befreite Mensch wäre „erst der Mensch der sich als Schöpfer begreift, als Grund des eigenen Daseins“ (a. a. O. S. 44). Eine solche Befreiung der Menschheit vom Schicksal erscheint aber als möglich, weil auch das, was bisher über die Einzelnen herrschte, letztlich ein Produkt ihres (ungeordneten) Wirkens und Aufeinanderwirkens war. Die Geschichte wurde schon immer von den Mensdien gemacht, wächst ihnen aber solange über den Kopf, als sie sich nicht zu gemeinsamer, bewußter Aktion zusammengeschlossen haben.

Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurdt, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions-und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwiidisigen Voraussetzungen zum erstenmal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Mensdiheit behandelt, ihrer Naturwüdtsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. Seine Einridttung ist daher wesentlich oekonomisch; die materielle Herstellung der Bedingungen dieser Vereinigung, sie madit die vorhandenen Bedingungen der Vereinigung. Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmadiung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennodi nidits als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist“ (Dt. Ideologie S. 70 f).

Eine solche Herrschaft der vereinigten Individuen über das Schicksal, die die Menschheit zur „causa sui“ macht, ist dadurch möglich, daß die Basis der geschichtlichen Entwicklung die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft ist, deren Entwicklungsgesetz Marx erkannt zu haben glaubt. Durch die „wissenschaftliche Einsicht“ in diese Gesetzmäßigkeit glaubt er — ganz analog zur Naturbeherrschung auf Grund der Naturwissenschaften — menschliche Herrschaft verwirklichen zu können. Die Menschheit, der die sozialökonomischen Bedingungen ihrer Existenz bewußt geworden sind, könne diese Bedingungen vernunftgemäß und sinnvoll in Freiheit gestalten. „Die allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des welt-schichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, wird durdt diese kommunistische Revolution verwandelt in die Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte, die, aus dem Aufeinander-wirken der Menschen erzeugt, ihnen bisher als durchaus fremde Mächte imponiert haben“ (a. a. O. S. 34).

Solange die Gesellschaft aus isolierten „Einzelnen“ besteht — und diese Isolierung ist in der kapitalistischen Gesellschaft unvermeidlich — geht das Schicksal in Form der Geschichte und der Schwankungen des Weltmarktes über ihre Köpfe hinweg in einem unbegriffenen Jenseits vor sich. Indem sie aber die kapitalistische Gesellschaftsordnung beseitigen und die sozialoekonomische Basis des Sozialismus schaffen, schaffen sie die „Bedingung der Vereinigung“ aller zu einem solidarischen Kol-lektivsubjekt, das fortan planmäßig und bewußt das Leben jedes Einzelnen gestaltet Durch die Teilhabe an diesem Kollektivsubjekt ist jeder nicht nur frei wie der Citoyen gegenüber seinem Staat, sondern frei auch gegenüber dem bisher mit blinder Notwendigkeit ablaufenden sozialen Entwicklungsprozeß. Wir produzieren gemeinsam und bewußt die Voraussetzungen der Existenz jedes Einzelnen. Ähnlich wie der Rousseausche Citoyen gemeinsam mit seinen Concitoyens die Voraussetzungen seiner politischen Existenz schuf. Die demokratische Konstruktion Rousseaus ist hier von der politisch-abstrakten Existenz auf die sozial-konkrete des Menschen übertragen worden. An die Stelle des bloß politisch aktiven Staatsbürgers ist der materiell-produzierende vergesellschaftete Mensch getreten. Der Einzelne verdankt seine Existenz jetzt nicht mehr einem blinden Schicksal, sondern sich selbst, insofern er Teil hat am universellen Subjekt der universellen Planung. „Freiheit“ besteht so gesehen nicht im „Genuß der Zufälligkeit“ sondern gerade in der Überwindung des Zufalls durch rationale und geplante Aktion.

Als Subjekt dieser künftigen freien Befreiungsaktion erscheint Marx das Proletariat. Nur das Proletariat kann — seiner Meinung nach — eine derart radikale Revolution vollbringen, weil es in seiner Existenz auf radikale Weise reduziert ist. Marx deduziert geradezu aus der (theoretisch konzipierten) Stellung und Funktion des Proletariats in der bisherigen Gesellschaft seine künftige revolutionäre Rolle.

Diese Deduktionen erfolgen weithin ohne empirisches Ausgehen vom vorhandenen Proletariat. Das Proletariat erscheint ihm als „eine Klasse mit radikalen Ketten, eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, weldter die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecltt schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem a Ilse i t i g e n Gegensatz zu den Voraussetzungen des (bürgerlichen, 1. F.) deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, die sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust d e s Mense h e n ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschensich selbst gewinnen kann“ (Zur Kritik der Hegeischen Rechtsph. Einleitung. Marx-Engels Werke Bd. 1 S. 390). Ganz ähnlich heißt es in der „Deutschen Ideologie“: das Proletariat sei eine Klasse, „welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welclte aus der Gesellschaft heraus-gedrängt, in den entsdtiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht . . (S. 69).

Marx versucht in seinem oekonomischen Analysen nachzuweisen, daß die kapitalistische Gesellschaft 1. eine ständig größer werdende Menge von Proletariern (und damit ihre eigenen „Totengräber“) erzeugt und daß diese 2. in immer materielle Not getrieben größere und geistige werden (Verelendung).

Durch ihre zahlenmäßige Zunahme wächst die Macht und durch das Elend die Notwendigkeit einer revolutionären Vereinigung der Prole-tarier Außerdem aber haben sie gegenüber den herrschenden Klassen kein „besonderes Klasseninteresse“ (wie die Bourgeoisie gegenüber dem Adel) mehr durchzusetzen, sondern das allgemeine Recht der Menschen schlechthin. Während daher die früheren revolutionären Klassen genötigt waren (anfangs guten Gewissens), ihr spezielles Interesse als Allgemeininteresse darzustellen, um die Gefolgschaft der übrigen nicht-herrschenden Klassen zu gewinnen, sind die Proletarier auch objektiv von vornherein im Recht, wenn sie ihre Interessen mit den allgemeinen Interessen der Gesamtgesellschaft identifizieren. An die Stelle der (bisher stets notwendig wieder auftauchenden) „Illusion des gemeinschaftlichen Interesses“ tritt das wirkliche Interesse der Gemeinschaft. Auch kann ihnen mit einer bloßen Änderung der Verteilung der Arbeiten nicht gedient sein, weil sie ja alle Arbeit schlechthin verrichten, sie müssen vielmehr „ihre eigene bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit aufheben“ (a. a. O. S. 78). Es sind also nicht besondere moralische Qualitäten die das Proletariat dazu prädestinieren, die menschliche Befreiung zu verwirklichen, sondern die objektiven Bedingungen seiner geschichtlichen Existenz (wie Marx sie ausfaßt). Zunächst ist das Proletariat — genau wie die Bourgeoisie — durch die Konkurrenz der einzelnen Arbeiter untereinander in egoistische Individuen zersetzt, aber die Not und die Einsicht in die Nützlichkeit der Vereinigung sowie die faktische Zusammenarbeit im modernen Großbetrieb führen zur Überwindung dieses Egoismus. Marx glaubt offenbar, daß im Falle des Proletariats die Einsicht in den Nutzen des Zusammenschlusses und die technische Erfahrung der Zusammenarbeit den oekonomisch bedingten Standpunkt des unmittelbaren Einzelinteresses überwinden kann. Die erste gemeinschaftliche Tat der so vereinigten Proletarier ist die Revolution, durch die sie die „Bedingungen ihrer Vereinigung“ eigentlich erst schaffen, indem sie die Schranke des Privateigentums beseitigen und damit auch die Wurzel des egoistischen Konkurrenzgeistes überwinden. Die Revolution als erste, bewußte Gemeinschaftstat bedeutet zugleich die Überwindung des blinden Schicksals, weil sie erstmals bewußt sich zum Ziele setzt, was frühere Revolutionen nur unbewußt, ohne ihr Wissen gewollt hatten: Die Veränderung der sozialoekono-mischen Basis der Gesellschaft. Es ist die erste Revolution, die auf der Grundlage einer „wissenschaftlichen Voraussicht“ erfolgt. Zugleich hat die Revolution aber auch eine erzieherische Funktion. Sie reinigt die Individuen, die an ihr teilnehmen, von allem Schmutz der Vergangenheit und macht sie so dazu fähig, die neue Gesellschaft aufzubauen: „die stürzende Klasse (kann) nur in einer Revolution dahin kommen . . ., sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu sdtaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellsdiaft befähigt zu werden (a. a. O. S. 70). Die Revolution befreit also in doppelter Weise: sie befreit 1. die Gesellschaft von den Fesseln der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und 2. die Revolutionäre als Individuen von ihrer abstrakten individualistischen Mentalität. Die Revolution ist gleichsam die erste neue Gemeinschaftstat noch ohne die sozialoekonomischen Bedingungen der Gemeinschaft. Marx spricht in vorsichtiger Weise davon, daß sich die hierzu nötige „massenhafte Veränderung der Menschen . .

im Laufe der Revolution vollzieht, und verdeckt damit die un-materialistische Voraussetzung, daß nämlich am Anfang des Umwälzungsprozesses ein durch die sozialökonomische Basis nicht kausierter Willensentschluß steht.

Mit dem Vollzug dieser Revolution, von der Marx freilich ursprünglich annahm, daß sie nur „als die Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig“ möglich sei, endet nach Marx „die Vorgeschichte der Menschheit“ und ihre eigentliche Geschichte beginnt. Anders ausgedrückt, die Geschichte im überkommenden Sinne als ein erlittenes Schicksal hört auf und wird durch bewußte, universelle Planung ersetzt. Die Befreiung wird hier zur Erlösung. Not und Tragik sollen aus der Welt verschwinden, damit die Menschheit in konfliktloser Harmonie glücklich dahinleben kann. In dieser Vision gipfelt die Marxsche Utopie. Aus der Faszination dieses Endzieles schöpft der Marxismus bis heute das sittliche Pathos seiner politischen Aktionen.

Zusammenfassung

Der Marxismus erstrebt eine Befreiung des Menschen in mehrfacher Hinsicht:

1. eine Befreiung von politischer Abhängigkeit im Staat durch Beseitigung der Klassenstruktur der Gesellschaft, die als die Voraussetzung jedes Staates angesehen wird und mit deren Wegfall der Staat absterben kann.

2. eine Befreiung von der entfremdeten Arbeit, die aus der freien Betätigung der schöpferischen menschlichen Wesenskräfte ein Mittel zur Fristung bloß-animalischer Existenz gemacht hat. Als Weg hierzu erscheint die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Arbeitsteilung oder zumindest die Überwindung des „Gegensatzes“, der zwischen den verschiedenen Arbeiten besteht.

3. eine Befreiung von der Macht des blinden Schicksals, das als „Geschichte“ oder auch als „Wirtschaftsprozeß“ bisher über die Köpfe der Menschen hinweg und ohne deren Bewußtsein ablief.

Die 1. Befreiung soll die Herrschaft des Menschen über den Menschen abschaffen, die 2. die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen unmöglich machen und die 3. die vergesellschaftete Menschheit zur causa sui erheben.

Die Menschen sollen politisch frei werden dadurch, daß sie in „ihrem individuellen Dasein Gattungswesen“ geworden sind; sie sollen wirtschaftlich frei sein, indem sie gemeinsam die materiellen Voraussetzungen des Lebens jedes einzelnen produzieren (analog zu Rousseaus Theorie, daß die Staatsbürger gemeinsam die „volonte generale“ konstituieren, die jedem die Norm sittlichen Handelns vorschreibt, so daß er nur dem selbstgegebenen Gesetz zu gehorchen hat). Die gemeinsame Arbeit aller ist die Voraussetzung des individuellen Lebens eines jeden.

Die Voraussetzung für die Befreiung des Menschen ist aber schließlich die Vollendung der Geschichte durch die bewußte und gemeinschaftliche Aktion der Proletarier, die sich in der Revolution „den ganzen alten Dreck vom Halse schaffen“. Die bisherige, blind ablaufende Geschichte ermöglicht diese Befreiungsaktion durch die Schaffung des Proletariats und die Entstehung des „wissenschaftlichen Sozialismus“, der in diesem Proletariat einen fruchtbaren Boden finden soll. Der Prozeß der Selbstbefreiung des Proletariats im Namen der Menschheit setzt daher mit der Befreiung vom erlittenen Schicksal, mit dem bewußt vollzogenen revolutionären Umschwung ein. Im zweiten Teil meiner Darstellung will ich untersuchen, wie auf dem Wege zur Verwirklichung des absoluten Ideals die Freiheit auch als partielle verloren geht.

II. Teil Der Verlust der partiellen Freiheit auf dem Weg zur Verwirklichung der absoluten

„Der Zwed? heiligt die Mittel. Aber ein Zweck, der itnheihger Mitte! bedarf, ist kein heiliger Zweck".

Karl Marx in der „Rheinischen Zeitung“ (1842), Marx, Engels Werke Bd. I S. 60.

1. Die kommunistische Partei

a) Die Partei als ausschließliche Inhaberin des „richtig verstandenen proletarischen Klassenbewußtseins“ Wir haben gehört, daß das Subjekt der Vollendung der „Vorgeschichte der Menschheit“ für Marx das Proletariat ist. Diese historische Funktion war dem Proletariat auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung und der vorausgegangenen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft „zugeschrieben“ worden. Genauer gesagt: der bürgerliche Intellektuelle Marx hatte aus der sozialen Stellung und Funktion des Proletariats dessen künftige historische Rolle deduziert. Es handelt sich also nicht um das empirisch vorfindliche Proletariat (in seiner „faulen Existenz“, wie man mit Hegel sagen könnte), sondern um eine gedankliche Konstruktion. Das proletarische Klassenbewußtsein (wie es Marx formuliert hat) ist daher — nach Georg Lukacs’ genialer Formulierung „die rationell angemessene Reaktion .. ., die einer bestimmten typisdten Lage im Produktionsprozeß zugeredmet wird" (Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 62). Es ist also keineswegs „das psychologische Bewußtsein einzelner Proletarier oder das (massenpsychologische) Bewußtsein ihrer Gesamtheit, sondern der b e w u ß t -gewordene Sinn der geschidttlichen Lage der Klasse" (a. a. O. S. 86).

Der Sinn der geschichtlichen Lage des Proletariats kommt aber zuerst nicht in diesem Proletariat selbst zum Durchbruch, sondern im Bewußtsein bürgerlicher Intellektueller. Von sich aus gelangt — wie Lenin und vor ihm schon Kautsky erklärt hat — das Proletariat lediglich zu einem „tradeunionistischen“ Bewußtsein. D. h. zum Bewußtsein seiner unmittelbaren ökonomischen Interessen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft, nicht aber zu einem „politischen Klassenbewußtsein", das für die Marxisten in der revolutionären Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt besteht. Dieses „politische Klassenbewußtsein kann in den Arbeiter nur von außen hineingetragen werden, d. h. aus einem Bereidt außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unter-nelutteru. Das Gebiet, aus dein dieses Wissen allein geschöpft werden kann, ist das Gebiet der Beziehungen aller Klassen und Schichten zutn Staat und zur Regierung, das Gebiet der Wechselbeziehung zwischen sämtlichen Klassen“ (Lenin, „Was tun?" [1902] in Ausgew. Werke in zwei Bänden Moskau 1946 Bd. I. S. 240). Diese umfassende und allseitige Erfahrung kann nach der Überzeugung Lenins nur durch (ehemals bürgerliche) Intellektuelle und hauptberufliche Parteitheoretiker (Agitatoren usw.) dem empirischen Proletariat vermittelt werden. „Die Lehre des Sozialismus (d. i. eben das „angemessene proletarische Klassenbewußtsein“, I. F.) ist . . . aus den philosophischen, historisdien und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klasse, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen, wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels gehörten ihrer sozialen Stellung nadt der bürgerlichenIntelligenz an“ (a. a. O. S. 199).

Die Organisation der im Besitze der theoretischen Einsicht in das „angemessene proletarische Klassenbewußtsein" befindlichen Menschen ist die kommunistische Partei. Da es nur e i n wissenschaftlich-exaktes, angemessenes Klassenbewußtsein des Proletariats geben kann, kann es auch nur eine „echte“ Arbeiterpartei geben.

„Die kommunistische Partei ist eine — im Interesse der Revolution — selbständige Gestalt des proletarischen K l a s -senbewu/Itseins. Es gilt sie in dieser doppelten dialektisdien Beziehung: zugleich als Gestalt dieses Bewusstseins, wie als Gestalt dieses Bewußtseins, also zugleich in ihrer Selbständigkeit und ihrem Zugeordnetsein theoretisch richtig zu begreifen“ (Lukacs, a. a. O.

S. 333).

Der hier in seiner dialektischen Zweiseitigkeit konzipierte Zusammenhang hat sich in der Empirie freilich sehr bald in ein einseitig-mechanisches Abhängigkeitsverhältnis verwandelt, worüber alle Phrasen von der Notwendigkeit der „Kontakthaltung“, der Partei mit den Massen, von der Berücksichtigung der Wünsche der Massen usw. nicht hinwegtäuschen können. Die kommunistische Partei, die sich im alleinigen Besitze der wissenschaftlichen Einsicht in den notwendigen, zur vollkommenen Freiheit hinführenden Geschichtsprozeß glaubt, leitet aus diesem Wissen einen unbedingten und ausschließlichen Führungsanspruch ab. Sie verkörpert das „angemessene Klassenbewußtsein des Proletariats“ auch wenn kein einziger empirischer Proletarier sich dieses Bewußtsein bereits „angeeignet“ hat. Sie vertritt „in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung“ (Komm. Manifest) und hat damit letztlich notwendig immer recht. Wenn nur das Proletariat rational will, wenn es seinem vernünftigen Willen folgt, kann es gar nichts anderes wollen als die von der Partei betriebene „wissenschaftliche Politik". „Nur die Partei, die theoretisch vor den übrigen Massen des Proletariats die Einsidit in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus hat, . . . nur die Partei, wie Marx und Engels sie forderten, Lenin sie schuf, kann die freie Entscheidung der Arbeiterklasse garantieren“ (Ernst Fischer, in „Das Problem der Freiheit im Lichte des wiss. Sozialismus, Berlin 1956, S. 403).

Frei, in dem Sinne, daß das gewollte Ziel auch in der Wirklichkeit erreicht wird, kann nur handeln, wer die kausalen Zusammenhänge der Wirklichkeit berücksichtigt. Wenn daher die Partei allein im Besitz der Einsicht in den historisch-sozialen Kausalzusammenhang ist, kann auch nur unter ihrer „weisen Führung" erfolgreiche proletarische Politik gemacht werden. Aus diesem derart legitimierten Anspruch der Partei und ihrer theoretischen Führer ergibt sich ihre Aufgabe gegenüber dem Proletariat, die nicht in einer Vertretung von dessen unmittelbaren Interessen (das ist die Aufgabe der Gewerkschaften), sondern in der planmäßigen Erziehung zur Erkenntnis seiner „eigentlichen Interessen" besteht. Die Partei als „revolutionäre Avantgarde", als „bewußter Vortrupp" des Proletariats soll das Proletariat allmählich auf das „theoretische Niveau" des wissenschaftlichen Sozialismus heben. Solange dieses Ziel aber noch nicht voll und ganz verwirklicht ist, kann sie sich ungestraft auch gröberer Methoden zur Gewinnung des Vertrauens und der Gefolgschaft des unaufgeklärten Proletariats bedienen.

Agitation und Propaganda appellieren nicht an das rationale Bewußtsein, sondern an irrationale Gefühle und Ressentiments. Diese „List" ist nicht mehr — wie in Hegels Geschichtsphilosophie — die der objektiven historischen Vernunft, sondern die subjektive der Parteiführung im Namen einer von ihr angeblich erkannten „Notwendigkeit“. Die Partei ist nicht mehr (wie die welthistorischen Individuen Hegels es waren) unbewußtes Werkzeug, sondern selbst = bewußtes Vollzugs-organ der erkannten Vorsehung. Sie erfreut sich wirklich — um die berühmte Engelssche Formel zu variieren — einer Freiheit auf Grund ihrer (behaupteten) Einsicht in die Notwendigkeit, denn sie kann in deren Namen absoluten Gehorsam als einzig-sinnvolle Haltung fordern. Diskussion, Kritik oder gar Revision der Grund-dogmen dieser „wissenschaftlichen Einsicht“ wird zugleich als überflüssig (man diskutiert ja auch nicht über die Richtigkeit wissenschaftlicher Einsichten mit Laien) und als moralisch verwerflich verurteilt.

Diese schon bei Marx angelegten theoretischen Zusammenhänge wurden von Lenin zur Fundierung seiner auch durch die praktischen Erfordernissen der spezifischen russischen Verhältnisse „gerechtfertigten“ Konzeption einer „Partei neuen Typs“ verwendet. Er hat sie vor allem in den beiden Schriften „Was tun?“ (1903) und „Ein Schritt vorwärts — zwei Schritte zurück“ (1904) entwickelt. Die Partei wird bei Lenin zu einer revolutionären Elite, zum Führerkorps der Bürgerkriegsarmee. Sie ist deshalb auch nach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ straff zu organisieren und schlagkräftig zu machen. Die Partei „wird nur dann ihre Pflicht erfüllen können, wenn sie möglichst zentralistisch organisiert ist, wenn in ihr eine eiserne Disziplin herrscht, die an die militärische Disziplin grenzt, und wenn ihr Parteizentrum ein mit Machtbefugnissen ausgestattetes, autoritatives Organ mit weitgehenden Vollmadtten ist“ (Lenin, Aufnahmebedingungen der Komm. Internationale, Ausgew. Werke Bd. 10 S. 197). Der „demokratische Zentralismus“ soll insofern „demokratisch“, sein, als im Prinzip alle Führer von den entsprechenden Parteigremien (Delegiertenkonferenzen usw.) gewählt werden. Zentralistisch ist dagegen die Festlegung der politischen Generallinie, die vom Zentralkomitee bzw.dessen Exekutivorganen (Politbüro bzw. Präsidium) ausgearbeitet wird und für jedes Parteimitglied absolut bindend ist. Da nun aber die jeweils übergeordneten Instanzen über ein Mehr an staatlich-wirtschaftlichem Einfluß verfügen und dadurch einen erheblichen Druck nach unten ausüben können, zudem auch die Anerkennung der Generallinie zur Voraussetzung jeder Kandidatur gemacht wird, verwandelt sich dieses demokratische Wahlprinzip unter der Hand in das einer „Ernennung" (bzw.

Konzessionierung) von oben oder auch in einfache Kooptation, die nachträglich von den Wahlkörperschaften — und zwar stets einstimmig — gebilligt wird. Das Prinzip der innerparteilichen Demokratie wild weiter dadurch illusorisch gemacht, daß schon Lenin jede F r a k -

tionsbildung innerhalb der Parteiorgane untersagte. Das bedeutet aber praktisch, daß die Verständigung oppositioneller Kräfte in den Führungsgremien bereits als Verbrechen gegen die „Einheit der Partei und damit als eine Art Hochverrat angesehen wird. Die Partei als Hüterin des proletarischen Klassenbewußtseins wird mit dem jeweiligen obersten Machthaber bzw.der jeweiligen herrschenden Majorität des Präsidiums identifiziert. Immerhin gab es zu Lenins Lebzeiten und bis Ende der zwanziger Jahre (von 1921 bis 1929) wenigstens noch die Möglichkeit der Bildung sogenannter „Plattformen'd. h.der Formulierung einer gemeinsamen Stellungnahme verschiedener Parteiführer zu einer konkreten Tagesfrage. Stalin hat auch diesem Rest einer spontanen Gruppenbildung den Garaus gemacht. Eine weitere Maßnahme zur Zerstörung der funktionsfähigen innerparteilichen Demokratie stellt die fortschreitende Geheimhaltung aller wesentlichen Verhandlungen im ZK dar. Wie sehr sich die kommunistischen Parteiführer an diese Praxis gewöhnt haben, zeigte sich anläßlich der Drohung Gomulkas, er werde die Diskussionsreden des ZK-Plenums veröffentlichen lassen, die bekanntlich zum Nachgeben des Gomulka-feindlichen stalinistische .

Flügels seiner Partei führte.

Die Übertragung des Willens der Partei auf die Massen erfolgt mit Hilfe der großen gesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften, Jugendverbände, Sowjet usw.). „Die Diktatur (nämlich der Partei im Namen des Proletariats, I. F.) läßt sich nicht verwirklichen ohne einige Trans in i s s i o n e n von der Avantgarde zur Masse der Werktätigen . . (Lenin, Sämtl. Werke Bd. XXVI S. 80). Alle Parteimitglieder haben die Pflicht, in diesen „Frontorganisationen" mitzuarbeiten und in ihnen womöglich Führungsstellungen zu erringen. Alle diese Organisationen werden daher von Lenin lediglich als Mittel verstanden, deren sich die Partei zur „Heranziehung“ der Massen zu bedienen hat. Für das Verhältnis zwischen Partei und Proletariat braucht Lenin fast immer Bilder aus dem Bereich der Mechanik, wir sind also denkbar weit von dem dialektischen Verhältnis entfernt, das Lukacs idealisierend herausgestellt hatte.

Paul Levi meinte: „Für Lenin zerfällt das Proletariat ganz offenbar in zwei Teile: den einen, der . heranzieht'; den anderen Teil, der . herangezogen'wird, und die Verbindung zwischen diesen beiden Teilen ist, wie das Bild des Hebels (und des Transmissionsriemens, 1. F.) zeigt, dem Gebiet der Mechanik entnommen. Für Lenin sind beide Teile einer getrennten Existenz fähig“ (Paul Levi in seiner Einleitung zu Rosa Luxemburgs nachgelassener Schrift „die Russische Revolution“, 1922).

Gegen diese mechanistische Auffassung hat sich schon 1904 Rosa Luxemburg in einem Artikel in der „Neuen Zeit“ (22. 1hg. Stuttgart B. 2 S. 484— 92 und 529— 3 5) energisch gewandt.

Im Gegensatz zum Elitegedanken Lenins und seiner Anhänger war Rosa Luxemburg der Meinung, daß „die sozialdemokratische Bewegung die erste in der Geschichte der Klassengesellschaft sei, die in allen ihren Momenten, im ganzen Verlauf auf die selbständige direkte Aktion der Masse berechnet ist“ Eine derartige direkte Aktion der Masse lehnen die orthodoxen Marxisten-Leninisten ab, weil sie in der „wissenschaftlich-geschulten" Kaderpartei die einzig legitime Organisation der Massenführer erblicken und alle „spontanen Bewegungen“ des Proletariats auf Grund des begrenzten Horizonts dieser Bewegungen (Tradeunionismus) als unzulänglich verurteilen.

Rosa Luxemburg hat schon 1904 erkannt, daß die Leninsche Einstellung geradewegs zur Alleinherrschaft des selbstherrlichen Zentralkomitees führen muß: . Jetzt stellt sich das , lch‘ des russischen Revolutionärs auf den Kopf und erklärt sich wieder einmal für einen allmächtigen Lenker der Geschichte — diesmal in der höchsteigenen Majestät eines Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt die Rolle des Lenkers zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler madten und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Lind schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirkliche revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten . Zentralkomitees'".

Rosa Luxemburg weicht darin von der leninschen Orthodoxie ab, daß sie das empirische Proletariat zum Subjekt der revolutionären Aktion machen will, statt des theoretisch-deduziert e n Massen-Ichs, das die Kaderpartei erst schaffen bzw. als Fiktion voraussetzen muß, um die empirischen Arbeiter mit Hilfe agitatorischer Manipulationen entsprechend handeln zu lassen. Rosa Luxemburg glaubte an das empirische Proletariat — die Marxisten-Leninisten und ihre Exponenten — die Parteiführer an das theoretisch deduzierte. Für sie kann daher das Proletariat erst dann frei werden, wenn es sich bedingungslos dem Führungsanspruch der „wissenschaftlichen“ Interpreten seines eigentlichen Willens beugt. Die (historische) Freiheitsmöglichkeit jedes Proletariers besteht darin, sich auf das theoretische Niveau der Partei zu erheben. Hierzu hilft ihm die Partei. Nicht das empirische Proletariat des ungarischen Aufstandes —, sondern das theoretische Proletariat der Ideologen ist für sie der Held der Geschichte. b) Die Partei als marxistische Kirche „Der dialektische Materialismus ist die Weltanschauung der marxistisch-leninistischen Partei“.

(Stalin)

„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie richtig ist. Sie ist in sich abgeschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitlid'te Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion . . . vereinbaren läßt“.

(Lenin)

Der Führungsanspruch der leninistischen Partei neuen Typs erstreckt sich jedoch nicht nur auf das Gebiet der Politik im engeren Sinne. Als Inhaberin einer allumfassenden und allmächtigen Weltanschauung ist die Partei zugleich buch die Hüterin der höchsten Wahrheiten und Werte, die universelle Sittenrichterin und die Kirche der Auserwählten. Ihre Ideologen sind die privilegierten Priester einer streng dogmatischen Religion. Diesen Weltanschauungscharakter hat der Marxismus nicht immer in diesem Ausmaß gehabt. Die spezifischen Entwicklungsbedingungen des Marxismus haben zu seiner Ausbildung erheblich mit beigetragen. Der sowjetische dialektische Materialismus behauptet von sich nicht allein die einzige wissenschaftliche Geschichtstheorie zu besitzen, sondern eine wissenschaftliche Weltanschauung überhaupt, die — soweit das heute möglich ist — auf alle Fragen eine Antwort gibt. Diese Weltanschauung, deren fehlender Wissenschaftscharakter hier nicht erst entwickelt werden kann, stützt sich auf eine Reihe dogmatischer Sätze, an die zu „glauben“ jeder Anhänger verpflichtet ist (z. B. Materialität aller Wirklichkeit, Unendlichkeit des Weltalls, sinnvolle und vorwärtsschreitende Geschichte). Diese Dogmen sind in einer Reihe „kanonischer Schriften“ niedergelegt, zu denen heute nur noch die Werke von Marx, Engels und Lenin gerechnet werden, während die Stalinschen Arbeiten, obwohl man seine Thesen nur in ganz geringfügigen Details kritisiert hat, nicht mehr als „klassisch“ gelten. Die Reinerhaltung des Dogmas und die autoritative Interpretation der klassischen (oder kanonischen) Texte ist die eine — die Missionierung der Massen die andere Aufgabe der Parteiideologen. Dabei sind die Anhänger dieses Glaubens so innig von der rationalen Evidenz ihrer Dogmen überzeugt, daß sie es nicht begreifen können, daß jemand sie „verstehen" und nicht zugleich mit ihnen „einverstanden“ sein kann. Für jede Abweichung vom Dogma gibt es nur zwei Erklärungen: entweder Dummheit (d. h. Nichtverstehen der Weisheit, die in ihm enthalten ist) oder Schlechtigkeit (Ablehnung der Sittlichkeit, die hier mit vollendeter Weisheit zusammenfällt). Deshalb heißt es auch in dem sowjetzonalen Lied auf die Partei, daß ihre Gegner (die damit zugleich „Beleidiger des Lebens“ sind!) „dumm oder schlecht“

sein müssen.

Eine klassische Kennzeichnung dieser kommunistischen Kirche hat schon im voraus J. G Fichte vor über 150 Jahren gegeben: „Da aber . . . die Absidit der Verbindung gar nicht die ist, versdtie-dene Meinungen zu sammeln, sich durdi Vergleidtung derselben zu belehren und die seinige danach zu bilden; sondern durch die Übereinstimmung der Meinung des anderen mit der unsrigen in derselben bestärkt und befestigt zu werden; so . . . muß nicht bloß bestimmt werden, daß der andere sagen solle, was er glaubte, sondern audt, was er sagen solle daß er glaube. Der kirchlidie Vertrag . . . heißt nunmehr so: wir wollen alle einmütig das gleiche glauben, und diesen unseren Glauben gegenseitig bekennen . . . Wir sollen nicht stillsdiweigen, sondern unseren Glauben laut bekennen. Unser Stillsdiweigen würde die

Mitglieder der Kirche (der Partei und ihrer Führung, I. F.) auf den Ver-dadit bringen, daß wir entweder gar nichts glaubten, oder etwas anderes ... als sie . . . Wir sollen aufrichtig sagen, was wir glau- ben . . . Wenn die Kirche (die Partei, I. F.) von ihren Mitgliedern an-nähme, daß ihr Bekenntnis nur Heuchelei, nur ein Werk der Lippen . . .sei, so würde der Zweck derselben dadurch vernichtet; ein Glaubensbekenntnis, das man für falsch hält, kann uns in unserem Glauben nicht bestärken. — Dennoch sollen wir mit dieser völligen Überzeugung ein bestimmtes, schon vorher vorgeschriebenes Glaubensbekenntnis a b l e g e n . Wenn wir nun aber von der Wahrheit desselben weder überzeugt sind, noch uns davon überzeugen können, was sollen wir dann tun? Keine Kirche (keine totalitäre Partei, I. F.) nimmt diesen Fall: (totalitäre Partei, Rücksicht auf jede konsequente Kirche I. F.) ... muß die Möglichkeit desselben schlechterdings leugnen; . . . Die erste Voraussetzung, ohne welche überhaupt kein kirchlicher (keine totale Weltanschauungspartei, I. F.) ist, möglich Vertrag ist die: daß das ihm zugrunde gelegte Glaubensbekenntnis ohne allen Zweifel die einzige und reine Wahrheit enthalte, auf welche jeder, der die Wahrheit suche, notwendig kommen müsse (soweit er durch die Partei geschult worden ist und nicht durch seine sittliche Verkommenheit oder seine bourgeoise Klassenzugehörigkeit an dieser Erkenntnis gehindert ist, I. F.); daß er der einzige wahre Glaube sei; — die zweite, weldte unmittelbar aus der ersten folgt: daß es in der Macht jedes Menschen stehe, diese Überzeugung in sich hervorzubringen, wenn er nur wolle; daß der Unglaube immer entweder auf Mangel an aufmerksamer Beherzigung der Beweise (bzw. auf ungenügender Schulung und Selbstschulung, I. F.) oder auf mutwilliger Verstoßung sich gründe, und daß der Glaube von unserem freien Willen abhänge. Daher gibt es in allen kirchlichen Systemen (in allen totalitären Parteien und Staaten, 1. F.) eine G l a u b e n s p f l i c h t . . .“ (Fichte, Sämtl. Werke, 1845 Bd. VI S. 365 ff).

Die kommunistischen Parteien sind aber nicht nur »Kirchen“ die der von Fichte entworfenen Karikatur entsprechen, sondern sie sind zugleich auch Herrschaftsorganisationen, die über eine in der Geschichte Zwang beispiellose Machtkonzentration verfügen. Der gegenüber den Leibern wird zur Verstärkung des Zwangs auf die Gewissen verwendet und in dieser Verbindung der kirchlich-geistlichen und der staatlich-politischen Gewalt liegt die denkbar größte Steigerung totalitärer Herrschaft. Wenn nur der wahre Glaube frei macht, dann kann die theokra-tische Führung (ich übernehme diesen Terminus in der Anwendung auf die Kommunisten von Eduard Heimann) legitim zum Glauben zwingen. Die Methode der Überzeugung durch „wissenschaftliche“ Argumentation und der Überredung durch Agitation wird — wie wir noch sehen werden — durch kompakten materiellen Zwang ergänzt. 2. Die Diktatur des Proletariats'und die Sowjetdemokratie'a) Zur marxistischen Kritik der „bürgerlichen Demokratie“.

Da für den Marxismus jeder Staat der Herrschaftsorganisation einer Klasse zur Unterdrückung der anderen darstellt, erscheint ihm der Anspruch der bürgerlichen Demokratie, Herrschaft des gesamten Volkes zu sein, als Betrug. „In welche Formen immer die Republik sielt hüllen mag, mag sie die allerdemokratischste Republik sein, wenn sie jedoch eine bürgerliche Republik ist, wetm in ihr das Privateigentum an Grund und Boden, an den Fabriken und Werken erhalten geblieben ist und das Privatkapital die ganze Gesellschaft in Lohn-sklaverei hält, d. h. wenn in ihr nicht das erfüllt wird, was das Programm unserer Partei und die Sowjetverfassung verkünden, dann ist dieser Staat eine Maschine, dazu bestimmt, die einen durch die anderen zu unterdrüßen" (W. I. Lenin, Über den Staat, Berlin, 1948 S. 23). Die Eigentumsordnung wird also als das ausschließliche Kriterium für die Frage nach dem Subjekt der Herrschaft angesehen, dem gegenüber die politische Ordnung (Monarchie, parlamentarische Republik, faschistische Diktatur) von sekundärer Bedeutung ist. Jeder Staat, der das Privateigentum an den Produktionsmitteln anerkennt, ist damit eo ipso D i k -taturderBourgeoisie. Solange es sich die „herrschende Klasse“ leisten könne, gewähre sie eine demokratische „Scheinfreiheit“ für die unterdrückten Klassen, im Moment der Gefahr wirft sie aber diese „Maske“ ab, und etabliert sich offen als Diktatur.

Auf alle mögliche Weise suchen die Marxisten-Leninisten immer wieder den völlig illusorischen Charakter der politischen Freiheit in den bürgerlichen Demokratien zu erweisen. Der französische Stalinist Roger Garaudy nennt in seiner Doktordissertation „Die Freiheit des kapitalistisßen Regimes das Gesetz des Dsßungels — der freie Fußs im freien Hühnerstall“ (La Liberte, S. 2 58). Eine Freiheit also, die nur den wirtschaftlich Starken nützt und für die ökonomisch Abhängigen ganz „formell“ bleibt. „Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirklichen . Freiheiten“ für die Ausgebeuteten geben, sßon aus dem Grunde, weil die Räumlißkeiten, Drußereien, Papierlager usw., die Gebrauß der zum , Freiheiten“ notwendig sind, ein Privileg der Ausbeuter bilden. Die Demokratie unter dem Kapitalismus ist eine kapitalistische Demokratie, eine Demokratie der ausbeutenden Minderheit, die auf der Beschränkung der Rechte der ausgebeuteten Mehrheit beruht und gegen diese Mehrheit gerichtet ist" (Stalin, Fragen des Leninismus, S. 44 f).

Als Beleg für diese Behauptung Stalins, die nach wie vor ein Glaubensartikel des Marxismus-Leninismus ist, werden Wahlzensus, Wahlgesetze und Bestechung der „verräterischen Arbeiterparteien" durch die Kapitalisten angeführt. Die im Besitze aller Massenbeeinflussungsmittel befindliche Bourgeoisie könne die gesamte öffentliche Meinung ganz nach ihren Wünschen manipulieren und die Freiheiten der Rede, der Versammlung usw. „verwandelten sich ... für die Arbeiterklasse in leeren Schall“ (a. a. O. S. 626). Garaudy zieht dabei in seiner Darstellung von allen kapitalistischen Ländern jeweils die fragwürdigsten und nachteiligsten Züge heran, um sie zu einem niederschmetternden Bild zusammenzufügen (die faktische Beschränkung des Negerwahlrechts in den LISA, die französischen Wahlgesetze, das Zeitungsmonopol in diesem Lande und den Polizeidruck in jenem), ohne zu erwähnen, daß es in all diesen Ländern jeweils auch demokratische Gegenbewegungen und Institutionen gibt, die korrigierend einwirken. Nachdem in aller Breite der „Beweis“ geführt worden ist, daß die Parlamentswahlen nicht „frei“ sind und die Arbeiter keine Möglichkeit haben sich vor der Wahl hinlänglich zu informieren, wird der Wert des Parlaments selbst in Zweifel gezogen: „Die Maßt des Kapitals ist alles, die Börse ist alles, das Parlament, die Wahlen sind nur Marionetten, Drahtpuppen" (Lenin, Liber den Staat, S. 22 f). „Man sehe ein beliebiges parlamentarisch regiertes Land an, . . . die eigentlißen , Staats“ geschäfte werden hinter den Kulissen abgewickelt und von den Departements, Kanzleien, Stäben verriß-tet. In den Parlamenten wird nur geschwatzt, speziell zum Zweß, das . gemeine Volk“ zu betölpeln" (Lenin, Ausgew.

Werke in 2 Bdn. Bd. 2 S. 192).

Die gleiche Einstellung zu der Institution des Parlaments findet sich übrigens auch schon beim jungen Engels, der in seiner begeisterten Rezension von Carlyles, „Past and Present . . .“ (1844) dessen aristokratischen Antiparlamentarismus sehr begrüßt. Er zitiert dort folgende Äußerung Carlyles, die — wie Engels meint — „wenig zu wünschen übrig läßt“: „Die Vorstellung, dajl jemandes Freiheit darin besteht, seine Stimme bei der Wahl zu geben und zu sagen: Siehe, iß auß habe jetzt mein Zwanzigtausendstel eines Spreßers in unserer Nationalschwatzanstalt ... diese Vorstellung ist eine der spaßhaftesten der Welt" (Marx, Engels Werke Bd. I S. 5 36).

Das Parlament mit mehreren Parteien erscheint den Marxisten-Leninisten von Anfang an als eine typisch bürgerliche und daher zeit-bedingte Institution, die für die künftige proletarische Demokratie überflüssig sein wird und durch andere, „materialere" Formen des „Demo-kratismus“ ersetzt werden muß. Die Abwertung des Parlamentes als „Schwatzbude" haben die rechtsradikalen Gegner der Demokratie mit den Marxisten-Leninisten gemein.

Diese Geringschätzung der parlamentarischen Demokratie hat dazu geführt, daß die deutschen Kommunisten vor 1 93 3 den Hauptfeind nicht im Nationalsozialismus, sondern in der Sozialdemokratie erblickten und in ihrer Blindheit sogar so weit gingen, beide als „Zwillingsbrüder" zu bezeichnen, eine Bemerkung, die noch 1954 in einer sowjetzonalen Publikation auftaucht: „Der Faschismus und die Sozialdemokratie — das sind zwei Handlanger der imperialistischen Bourgeoisie . . . die Sozialdemokratie ist objektiv der gemässigte Flügel des Faschismus . . . diese Organisationen scltließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Sie sind keine Antipoden, sonderen Zwillinge“ (W. Danilow, in „Lehrmaterial zur Theorie Staat u. Recht“). Zu dieser Einstellung konnte es nur kommen, weil das unterschiedliche Verhältnis beider Parteien zur parlamentarischen Demokratie als irrelevant erschien und nur die Tatsache, daß beide „die Interessen der Arbeiter“ zu vertreten behaupteten, als Kriterium angesehen wurde. Da es aber nach der Überzeugung des Marxismus-Leninismus nur eine richtige Interpretation des proletarischen Klasseninteresses und des Willens der Arbeiterklasse geben kann — nämlich die der kommunistischen Partei — müssen notwendig alle anderen „Arbeiterparteien“ „Verräterparteien“, „Sozialfaschisten“ und „Lakaien des Monopolkapitalismus“ sein, wenn man ihre Anhänger nicht für harmlose Dummköpfe halten will. Dumme Verführte und verräterische Anführer, so lautete die „Analyse“ beider Parteien durch die KPD.

Andererseits haben die Kommunisten aus den Erfahrungen von 1933 gelernt und sind zu der Erkenntnis gekommen, „daß der Faschismus dem Proletariat weniger Möglichkeiten für seinen Klassenkampf gewährt als die demokratische Republik, so daß die Arbeiterklasse der Staatsform gegenüber nicht gleichgültig sein kann“ (Garaudy, a. a. O., S. 261). Wenn freilich die bürgerliche Demokratie so illusorisch wäre, wie das die meisten marxistischen Darstellungen behaupten, so könnte man auch diese Wertschätzung der Demokratie als Mittel (die sich auch bei Marx, Engels und Lenin gelegentlich findet) nicht verstehen. Man kann hierin eine indirekte Anerkennung der Existenz faktischer Freiheit auch für die Arbeiterklasse in der bürgerlichen Demokratie erblicken.

Gegen faschistische Bedrohung machen sich daher heute die Kommunisten oft zu Verteidigern der bürgerlichen Demokratie, die sie freilich nur als ein Mittel ansehen, das selbst zerstört werden kann, sobald die proletarische Revolution mit seiner Hilfe gesiegt hat. Ihre Liebe zur parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie ist die des Wolfes zum Schaf. Sie bekämpfen nur deshalb die faschistische Aufhebung der Demokratie, weil sie sie selber und auf ihre Weise aufzuheben beabsichtigen. b) Die . Diktatur des Proletariats* und die . Sowjetdemokratie* Die Beseitigung der Klassen stellt nach der Lehre des Marxismus-Leninismus die Voraussetzung für „wahre Demokratie“ und in der Folge fürs Absterben jeder „Kratie“, jeder Herrschaft überhaupt dar. Zwischen der bürgerlichen Diktatur und diesem kommunistischen Endzustand der klassenlosen Gesellschaft liegt eine Libergangsperiode, die Diktatur des Proletariats. Sie gilt als die letzte historische Form des Staates und der Klassenherrschaft. Während aber bisher immer eine Minderheit über die Mehrheit geherrscht habe, herrsche hier zum ersten Male die überwältigende Mehrheit über eine verschwindend kleine Minderheit. Während daher die Diktatur der Bourgeoisie nur Scheindemokratie für die Mehrheit ermöglichte, soll unter der Diktatur des Proletariats (theoretisch!) reale Demokratie für die Mehrheit möglich sein. Die Theorie der Diktatur des Proletariats hat namentlich Leni n, gestützt auf die Äußerungen von Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) und in der Schrift über die Pariser Kommune (1871), entwickelt. „Die Diktatur des Proletariats ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Madtt, die an keine Gesetze gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie erobert wurde und behauptet wird, eine Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist.“ (W. I. Lenin, „Die prolet. Revolution und der Renegat Kautsky", in Marx, Engels, Marxismus, S. 3 30 f.).

Offentsichtlich nimmt Lenin hier der Terminus „Diktatur“ viel wörtlicher als im Falle der „Diktatur der Bourgeoisie" im parlamentarisch-demokratischen Staat. Auch vermischt er in der Polemik gegen Kautsky und andere Demokraten — absichtlich (?) — die Frage nach der Legitimität einer gewaltsamen Revolution und die nach dem Wesen des neu zu errichtenden Staates. Wer freilich von der Überzeugung ausgeht, daß in der bürgerlichen Demokratie wegen ihres Scheincharakters auf legalem Wege niemals eine Mehrheit kommunistischer Stimmen und damit die Möglichkeit eines parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus zustandekommen kann, der „muß“ die gewaltsame Revolution fordern. Wenn aber die Revolution und die folgenden Taten der Kommunisten wirklich so überzeugend sind, wie sie es behaupten, wenn jetzt — in „vollkommener Freiheit“ — „die Werktätigen sich von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges“ überzeugen können, dann ist nicht einzusehen, warum dann die Demokratie nicht wiederhergestellt werden sollte.

Wie soll aber konkret diese Diktatur der Klasse des Proletariats aussehen? Kautsky wandte schon gegen Lenin ein, daß eine ganze Klasse nicht gut herrschen kann, zumal wenn sie die Mehrheit der Bevölkerung umfaßt (was jedenfalls für die „vereinigten Werktätigen", Industriearbeiter und Bauern, die angeblich die Diktatur tragen, gilt). Lenin meinte, „eine Diktatur bedeute nicht unbedingt die Aufhebung der Demokratie für diejenige Klasse, die diese Diktatur über die andern Klassen ausübt“ (a. a. O.). Er hält es also doch offenbar auch für möglich, daß die nominell herrschende Klasse, faktisch diktatorisch beherrscht wird, denn was soll man sich sonst unter der „Aufhebung der Demokratie für die herrschende Klasse“ vorstellen? In seiner Arbeit „Staat und Revolution" (1917) hat Lenin in aufschlußreicher Weise die „Diktatur des Proletariats“ geradezu als „die Organisation der Avantgarde (d. h.der Partei, I. F) der Unterdrücker zur herrsch e nden Klasse zwecks Niederhaltung der Unterdrücker" bezeichnet (a. a. O. S. 298). Aus der „Diktatur des Proletariats" ist damit — ganz konsequent — die „Diktatur der Partei im Namen des Proletariats" geworden. Unter der Diktatur des Proletariats ist nach Lenin „dieDiktatureinerorganisiertenundklassenbe-wußten Minderheit“ zu verstehen. Das müsse deshalb notwendig so sein, weil „im Zeitalter des Kapitalismus . . . die Arbeitermassen nicht imstande sind, ihre menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln, und die politischen Parteien der Arbeiter. . . nur eine Minderheit ihrer Klasse erfassen können“ (Lenin, Ausgew. Werke Bd. 10, S. 206). Die bewußte Minderheit macht sich zum alleinigen Anwalt der Interessen der unbewußten Mehrheit, sie deutet „wissenschaftlich“ deren Willen und führt sie. „Die Partei ist die unmittelbar regierende Avantgarde des Proletariats, sie ist der Führer“ (Lenin).

Als angemessene „Staatsreform der Diktatur des Proletariats“ hat sich in Rußland die „Sowjetmacht“ erwiesen. Die Sowjets stellen „die allumfassende Massenorganisation des Proletariats“ (Stalin) dar und „erfassen alle Arbeiter ohne Ausnahme“. Die ursprünglich spontan entstandenen lokalen Komitees der Arbeiter, Bauern und Soldaten wurden im Laufe der Zeit in staatliche Institutionen umgewandelt, denen ein Teil der „Verwaltungsarbeit“ übertragen ist. Eine Pyramide von Sowjets geht von den Kolchos, Dorf, Kreis, Rayons, usw. -Sowjets bis hinauf zum „Obersten Sowjet", der eine Art parlamentarischen Gremiums darstellt, das faktisch jedoch nur zur Entgegennahme von Regierungserklärungen befugt zu sein scheint, wenn auch in der Fiktion alle Gewalt des Staates von ihm ausgeht. Auch für diese Organisationen gilt wie für die Partei das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“. Außerdem wird überall der absolute und alleinige Führungsanspruch der Partei geltend gemacht, auch wenn als Kandidaten für die Wahlen zum „Obersten Sowjet“ neben Parteimitgliedern „Parteilose“ aufgestellt werden, die der Partei aus irgendeinem Grunde genehm sind. Bei der faktischen Bedeutungslosigkeit des Parlaments und der totalen Abhängigkeit der Gesamtbevölkerung von der Parteiführung kommt dieser Konzession an die demokratische Fassade keinerlei Bedeutung zu. Das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht, die Geheimhaltung der Abstimmung usw. wer-den gleichfalls zur Bedeutungslosigkeit entwertet durch die Tatsache, daß nur eine Liste, die des „Blocks der Partei und der Parteilosen“ vorgelegt wird und alle nominierten Kandidaten gewählt werden müssen. Die ideologische Rechtfertigung der Einparteienherrschaft ergibt sich aus den bereits entwickelten Gedankengängen der Marxisten-Leninisten. „Als regierende Partei“, meint Lenin, „konnten wir nidit umhin, die . Spitzen der Sowjets mit den . Spitzen der Partei zu verschmelzen — sie sind bei uns verschmolzen und werden es bleiben“ (Sämtl. Werke Bd. XXVI S. 254). f Die Einparteienherrschaft wird von den Marxisten-Leninisten als eine notwendige Konsequenz der Interessenharmonie der Gesamtbevölkerung angesehen. Während in bürgerlichen Gesellschaften auf Grund des dort herrschenden Klassenkampfes eine Zweiheit von Parteien notwendig sei, falle diese Notwendigkeit mit der Beseitigung antagonistischer Klassen in der Sowjetdemokratie weg. Stalin erklärte 1937 in seiner Rede über die neue Verfassung: „Ich muß zugeben, daß der Verfassungsentwurf . . . tatsadilich das Regime der Diktatur der Arbeiterklasse aufrechterhält, ebenso wie er die jetzige führende Stellung der KP d. SU unverändert beibehält. Wenn die verehrten Kritiker das für einen Mangel des Verfassungsentwurfs halten, so kann man dies nur bedauern. Wir Bolschewik! aber halten dies für einen Vorzug . . (Die Stalinsche Verfassung S. 33 f.).

Da die kommunistische Partei das Monopol auf eine richtige (wissenschaftliche) Politik besitzt, könnten andere Parteien nur Irrtümer zur Grundlage haben und es „wäre die höchste Tollheit, für jede falsche Auffassung eine eigene politische Partei zu konstituieren“ (Ernst Fischer, in „Die Freiheit im Lichte des wiss. Sozialismus“, S. 401). Außerhalb der Partei gibt es weder Wahrheit noch Heil.

Die berühmte Verfassung von 1937 enthält aber u. a. auch einen Katalog der Grundrechte, der dem anderer demokratischer Staaten nachgebildet ist und ihn sogar zu übertrumpfen sucht. So werden etwa in Artikel 125 die politischen Grundrechte der Sowjetbevölkerung garantiert: a) die Redefreiheit, b) die Pressefreiheit, c) die Meetings-und Versammlungsfreiheit, d) die Freiheit von Straßenumzügen und -kundgebungen.

Diese zunächst formellen Rechte werden im zweiten Abschnitt des Artikels „materiell“ fundiert: „Diese Rechte werden dadurch gewährleistet, daß den Werktätigen und ihren Organisationen die Drucl^ereien, Papiervorräte, öffentlichen Gebäude, Straßen, das Post-und Fernmeldewesen und andere materielle Bedingungen, die zu ihrer Ausübung notwendig sind, zur Verfügung gestellt werden“.

In der Hinzufügung dieser „materiellen Gewährleistungen“ zu den Freiheitsrechten erblicken die Marxisten-Leninisten einen ganz besonderen Vorzug der Sowjetverfassung. Bei genauerer Lektüre fällt jedoch auf, daß im ersten Abschnitt des Artikels die vier politischen Freiheitsrechte ganz allgemein formuliert werden, während im zweiten Abschnitt als Rechtssubjekte lediglich die „Werktätigen und ihre Organisationen erscheinen. Nur diese bestimmten, von der kommunistischen Partei kontrollierten und gelenkten Organisationen kommen also in den „Genuß“ der angegebenen Rechte. Am Ende der Aufzählung einer Reihe derartiger Organisationen im Artikel 126 heißt es sogar ausdrücklich, daß „die aktivsten und zielbewußtesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse und anderen Schichten der Werktätigen sich in der K o m munistischen Partei der Sowjetunion vereinigen, die. der Vortrupp der Werktätigen im Kampf für die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems und den leitenden K e r n d e r Organisationen bildet“. Der einzige effektive Nutznießer der politischen Freiheitsrechte ist also die kommunistische Einheitspartei. Da sie ihrerseits keinerlei effektive innerparteiliche Demokratie kennt, fallen die angekündigten politischen Freiheiten in der Praxis in nichts zusammen und zwar nicht erst auf Grund eines Mißbrauchs der Verfassung, sondern mit voller Legitimation durch deren eigene Bestimmungen und in Einklang mit der Doktrin des Marxismus-Leninismus. * Entsprechend der Behauptung, daß es in der Sowjetunion keine „antagonistischen Klassen“ mehr gibt, sondern lediglich drei in Freundschaft verbundene Bevölkerungsteile: Industriearbeiter, Kolchosbauern und Intelligenz, soll auch das Verhältnis der Staatsbürger zum Staat sich grundsätzlich verändert haben. Während der bürgerliche Staat nur die Herrschaft des scheinbaren Allgemeininteresses darstellt, hinter dem sich angeblich nur das Partikularinteresse der herrschenden Kapitalistenklasse versteckt, soll der proletarische Staat wirklich das richtig verstandene Gemeininteresse und den richtig interpretierten Gemeinwillen der Gesamtgesellschaft aller Werktätigen (und andere Bevölkerungsteile gibt es ja nicht mehr) zum Ausdruck bringen. Auch wenn man mit Mao Tse-tung zugibt, daß es in Einzelfällen zu Divergenzen zwischen Regierung und Bevölkerung kommen kann, hält man doch daran fest, daß „ Widersprüche zwischen den Volks-massen und den Führern . . . ebenso wie alle anderen Widersprüche im Volke (unter dem Sozialismus) keine antagonistischen Widersprüche sind und auf der Basis der Einheit der grundlegenden Interessen entstehen“ (Mao Tse-tung, aus der Rede vom 12. 3. 1957, vgl. Ostprobleme, 1957, S. 691).

Solche Divergenzen können daher auf friedlichem Wege durch Kritik und Selbstkritik aus der Welt geschafft werden und bedürfen keines gewaltsamen Umsturzes. Der proletarische Staat soll so lange existieren, als es überhaupt noch einen Staat geben muß. Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, die im Laufe der Zeit notwendig werden, erfolgen fortan „auf Initiative der bestehenden Macht“ als eine „Revolution von oben“, wie Stalin 1950 in seinen berühmten Linguistikbriefen zugegeben hat. Da aber „ die bestehende Macht“ auf höchst vollkommene Weise die Wünsche und den Willen der Massen zum Ausdrude bringt, werden diese auch (wenn sie nur genügend „aufgeklärt“ sind) die Maßnahmen der Regierung unterstützen. Da die Partei und der von ihr beherrschte Staat das Monopol aller Nachrichtenmittel und Publikationsmöglichkeiten besitzt, kann sie eine massenhafte Unterstützung ungestraft und unwidersprochen auch dann behaupten, wenn sie in Wirklichkeit auf erbitterten Widerstand trifft. Das gilt z. B. von der durch Stalin 1929 begonnene Zwangskollektivierung des Dorfes, die nach seiner Behauptung „mit direkter Unterstützung von unten durch die Millionenmassen ...der Bauern vollzogen wurde" (Geschichte der KPdSU, S. 413, ähnlich in den Linguistikbriefen S. 3 5).

Die restlose Übereinsimmung zwischen dem vernünftigen Wollen der marxistisch-leninistischen Partei und der von ihr gebildeten Regierung auf der einen und der Gesamtheit der Staatsbürger auf der anderen Seite ist ein fundamentales Postulat, das durch keine empirische Tatsache widerlegt werden kann. Aufstände (wie der Kronstädter Aufstand von 1919 und der ungarische von 1956, der 17. Juni 1953 usw.) müssen deshalb als „Machenschaften“ staats-und klassenfremder Elemente hingestellt werden oder als Wahnsinnsaktionen verblendeter Einzelner.

Jeder Gedanke an die Möglichkeit eines systematischen Machtmißbrauchs durch die allmächtige Partei-und Staatsführung ist von vornherein „verboten“ und theoretisch „undenkbar“, weil das einzige dem Marxismus bekannte Motiv des Machtmißbrauchs, das Privateigentum an den Produktionsmitteln, nicht mehr besteht. Daß es zahlreiche andere Formen der Macht von Menschen über Menschen gibt, die mit der Beseitigung der privatkapitalistischen Verfügung über die Produktionsmittel nicht wegfallen, hat der Marxismus einfach nicht gesehen. Verbrechen wie die Stalins oder Berijas müssen daher den krankhaften Charaktereigentümlichkeiten oder der moralischen Minderwertigkeit dieser Individuen zugerechnet werden, ohne daß dabei die Frage auftauchte, wie es dazu kam, daß sie jähre-und jahrzehntelang ungestraft und unkontrolliert ihre absolute Herrschaft ausüben konnten. Der im westlichen Rechtsstaat im Vordergrund stehende Gedanke des Schutzes der Individuen vor Machtmißbrauch fehlt im sowjetischen Rechtsdenken so gut wie ganz, jedenfalls gibt es auch heute noch keine hinlänglichen institutionellen Sicherungen, die in Verbindung mit einem wachen Rechtsbewußtsein der Bevölkerung allein eine Garantie gegen die Wiederholung der Stalinschen Brutalitäten bilden könnten. Der Sinn für den Wert institutioneller Sicherungen gegen möglichen Machtmißbrauch fehlte übrigens schon dem jungen Engels, der sich in seiner „Lage Englands“ (1842) über die notorische „Angst“ der Engländer mokiert und ihr umständliches Gesetzgebungsverfahren als „Lächerlich“ bezeichnet. Auch der Schutz, der dem Angeklagten vor britischen Gerichten zuteil wird, erschien Engels als unsinnig (Marx, Engels Werke, Bd. I, S. 578, 586 f).

Es ist daher kein Wunder, daß es in der sowjetischen Verfassungswirklichkeit Sicherungen gegen Machtmißbrauch nicht gibt und die in Artikel 127 und 128 genannten persönlichen Freiheitsrechte so illusorisch bleiben wie die politischen. Da aber weder die Sicherheit der Person, noch die der Wohnung oder der Korrespondenz gewährleistet ist, könnten auch die politischen Freiheitsrechte selbst dann nicht ungehindert ausgeübt werden, wenn die Einparteienherrschaft — was, wie ich gezeigt habe, theoretisch eine Revolution bedeuten würde — aufgehoben würde Die monotone Uniformität der „öffentlichen Meinung“ (richtiger der von den staatlichen Organen behaupteten öffentlichen Meinung), die jeder Schwenkung der offiziellen Generallinie gehorsam und schleunigst folgt, gibt für das Fehlen effektiver politischer Freiheit ein beredtes Zeugnis. Es ist ja doch in der Tat nicht denkbar, daß die ganze Masse der Journalisten, Funktionäre und Beamten von einem Tag zum andren über oft fundamentale Fragen ihre Überzeugung ändern. Genau das aber wird von der sowjetischen Staatsführung verlangt und erreicht. Neben der ständigen polizeilichen Bedrohung der persönlichen Existenz, die in der Sowjetunion seit einigen Jahren faktisch geringer geworden zu sein scheint, ohne daß sich die Menschen deshalb schon „frei“ fühlen könnten, besteht aber eine universelle und totale Abhängigkeit der gesamten Bevölkerung vom Staat, insofern er zugleich der einzige Arbeitgeber ist. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß z. B. jeder Journalist so rasch wie möglich seine Äußerungen der Wendung der „von oben kommenden“ Generallinie anzupassen sucht. Schließlich möchte er ja in seinem Beruf bleiben und nicht zum einfachen Fabrikarbeiter degradiert werden. Denn der Staat garantiert ihm zwar Arbeit, aber niemand ist verpflichtet, ihn als Journalisten zu beschäftigen. Wenn der einzige Weg zum Überleben oder auch zur Erhaltung des gesellschaftlichen Status (je höher der Rang, desto mehr hat man zu verlieren und desto abhängiger wird man!) darin besteht, jederzeit das Glaubensbekenntnis und die im Augenblick daraus gezogenen Nutzanwendungen auf den Lippen zu tragen, wird sich jeder, der nicht das Zeug zum Märtyrer hat, zu diesem Bekennntnis bequemen. Wenn in einem derartigen Lande 99, 9°/0 der Bevölkerung für die Regierung stimmen, dann heißt das nur, daß die Mehrheit ihre Ohnmacht erkannt hat und zu überleben wünscht. Der gleiche Wunsch motiviert die bereitwilligen und ungeheuerlichen Selbstanklagen, die man gelegentlich auf höchster Ebene hören kann. c) Die sozialistische Planwirtschaft als Mittel zur Überwindung der entfremdeten Arbeit Während — nach der offiziellen Darstellung — die „Unterdrückerfunktion“ des Staates immer mehr abstirbt, weil es keine feindlichen, zu unterdrückenden Klassen mehr gibt, bleiben zwei wesentliche und für den sozialistischen Staat spezifische Funktionen noch auf lange Zeit hinaus erhalten: die wirtschaftlich-organisatorische und die erzieherische. Wir wollen uns abschließend ansehen, in welcher Form hier Freiheit realisiert worden ist bzw. werden soll.

Die sozialistische Planwirtschaft soll 1. als Plan-wirtschaft das Chaos der krisenempfindlichen kapitalistischen Marktwirtschaft überwinden und 2. als sozialistische Wirtschaft die Produktion entsprechend den Bedürfnissen der Gesamtbevölkerung leiten. Die sowjetische Plan-oder Komandowirtschaft hat sich vom rein oekonomischen Gesichtspunkt aus nicht als nützlich erwiesen; mit dieser Frage können wir uns hier jedoch nicht beschäftigen. Dagegen soll die Frage nach dem angegebenen „sozialistischen Charakter“ dieser Wirtschaft erörtert werden. Entsprechend dem Grundsatz, daß nicht das empirische, sondern das theoretisch vorausgesetzte Proletariat Subjekt der Geschichte ist, bestimmt die Partei souverän, worin das Interesse des Proletariats und der . übrigen Werktätigen besteht. Dabei läßt sie sich von dem tech-

nischen Ideal einer möglichst raschen Industrialisierung leiten. Der Aufbau einer Industrie bedeutet aber Investition und Investition erfordert Konsumverzicht. Diesen Konsumverzicht legt die Sowjetführung der völlig machtlosen Bevölkerung auf, wobei in den vergangenen Jahrzehnten die Hauptlast von der bäuerlichen Mehrheit zu tragen war. Auf Grund eines geradezu unvorstellbaren „Konsumverzichtes“, der m i t Hilfe der staatlichen Terrormaschinerie (Zwangsarbeitslager!) erzwungen wurde, gelang eine Industrialisierung in sehr erheblichem Tempo. Nach teilweisem Abbau dieser Maschinerie sehen sich die Sowjetführer daher heute genötigt, das Industrialisierungstempo zu verringern und mehr Rücksicht auf den Konsumbedarf der Bevölkerung zu nehmen. Das Tempo dieser Industrialisierung wurde nicht schon durch die Planwirtschaft als solche, sondern lediglich mit Hilfe des unerhörten staatlichen Zwangs und der geballten Macht der Führung ermöglicht.

Während Lenin anfangs noch angenommen hatte, daß die neue Wirtschaftso. dnung mit einer Art demokratischer Mitwirkung der Produzenten vereinbar sei, setzte sich bald auch auf diesem Gebiet'eine autoritäre Einmannherrschaft (bis in die Betriebe hinein) durch. Die Gewerkschaften wurden zu bloßen Handlangern der staatlichen Wirtschaftsleitung degradiert und hatten von nun an nicht mehr die Interessen der Arbeiter, sondern die der Produktionssteigerung zu vertreten. Ihre Aufgabe besteht — offiziell! — in der „Erziehung zur Arbeitsdisziplin“, in der „Entfaltung des sozialistischen Wettbewerbs“, der „Hebung der Arbeitsfreudigkeit“ usw. Die traditionellen Funktionen wie Schutz der Arbeiter und Vertretung ihrer Lohnforderungen verschwanden lange Zeit praktisch ganz von der Bildfläche und beginnen eben erst in Polen z. B. wieder etwas in Erscheinung zu treten.

Der Glaube Lenins, die moderne Wirtschaft werde unterm Sozialismus so einfach zu leiten sein, daß jeder Volksschüler die notwendigen Verrichtungen von „Rechnungslegung und Kontrolle“ ausüben könnte, hat sich ebenfalls als großer Irrtum erwiesen. Eine breite Schicht von Wirtschaftsspezialisten hat vielmehr überall die Führung der Produktion in ihren Händen und auch Bucharins „kolossale Überproduktion von Organisationen“, durch die er das Entstehen einer neuen Bürokratenkaste verhindern wollte, (Theorie des hist. Materialismus, Hbg. 1922 S. 365) ist nicht eingetreten. Die „Spezialisten“ der Wirtschaftsleitung beanspruchen auf Grund ihrer Wichtigkeit einen erheblichen Anteil des produzierten Mehrwertes und eignen sich diesen in Form von Prämien usw. an. Die Entwicklung der Gesetzgebung (Zulassung des Baus privater zweistöckiger Häuser) und die Existenz von Privilegierten-läden sind Zeugnisse für diese neuentstandene Klassenschichtung. Es ist denkbar, daß sich Chruschtschow, in der Absicht seiner Gruppe eine breite Basis der Zustimmung zu sichern, gegen eine Reihe dieser Privilegien wendet. Die neue Managerschicht als solche wird er nicht beseitigen können. Trotz des Vorhandenseins gewaltiger Lohnunterschiede und eines sehr stark differenzierten Lebensstandards wird in der Ideologie die Fiktion des gemeinsamen Volkseigentums aller an den Industrieanlagen und den Bodenschätzen behauptet und damit die Identifikation jedes einzelnen Sowjetbürgers mit dem produzierenden Kollektiv „ermöglicht". Die „Sowjetmenschen“ werden dazu erzogen, stolz zu sein auf die technisch-industriellen Leistungen der Sowjetunion und sich an den Plan-ziffern zu berauschen. Es scheint so, als ob dieser Rausch z. T. durchaus echt wäre. Jeanne Hersch hat in ihrem Buche „Die Ideologien und die Wirklichkeit“ mit Recht darauf hingewiesen, daß es sehr merkwürdig ist, mit welchem Enthusiasmus die Sowjetrussen die gleichen technischen Errungenschaften feiern, denen wir gleichgültig, ja meist sogar skeptisch und mißtrauisch gegenüberstehen. Das Abenteuer der Industriealisierung ist schließlich kein Privileg der Sowjetunion. Eine konkrete Bedeutung hat für den Sowjetbürger die Tatsache, daß er „Miteigentümer“ der Produktionsmittel ist, freilich nicht, aber dafür tritt die staatliche Erziehung ein, die ihm zum „Bewußtsein seiner Freiheit“ verhilft. d) Die staatliche Erziehung zum Bewußtsein der Freiheit Die zweite Hauptfunktion des Sowjetstaates liegt „in der Erziehung der Massen im Geiste des Sozialismus“. „Man kann“, meint Lenin, „den Kommunismus aus nichts anderem und nicht anders als aus dem Menschen material (!) und mit dem Menschenmaterial aufbauen, das der Kapitalismus geschaffen hat, man kann die bürgerliche Intelligenz nicht fortjagen und vernichten, sondern mufl sie besiegen, u m m o d e l n , u m w a n d e l n , um erziehen, genau so wie m a n in langwierigen Kämpfen, auf dem Boden der Diktatur des Proletariats auch die Proletarier selbst umerziehen muß, die sich von ihren eigenen kleinbürgerlichen Vorurteilen nicht auf einmal, nid'it durch ein Wunder, nicht auf Geheiß der Mutter Gottes, nicht auf Geheiß einer Losung, einer Resolution, eines Dekrets befreien, sondern nur in langwierigen und schweren Massenkämpfen gegen den Masseneinßuß des Kleinbürgertums (Ausgew. Werke in 2 Bänden Bd.

II. S. 756.)

Wie zuvor die Partei gegenüber dem Proletariat so hat jetzt der Staat gegenüber der Gesamtgesellschaft die Aufgabe der Erziehung zum „vernünftigen Wollen“ d. h. aber zur Übereinstimmung mit dem Wollen der Regierung. Zweck der Erziehung ist die Herstellung des Bewußtseins der Freiheit, das bei vollständiger Übereinstimmung zwischen dem individuellen Wollen jedes Staatsbürgers und dem Willen der Regierung erreicht ist. Damit sind wir genau wieder bei Hegel angelangt, aber bei einem reaktionär verstandenen. Freiheit erscheint hier nicht als das Produkt der Umgestaltung der unfreiheitlichen Situation, sondern als Ergebnis der Anpassung des Bewußtseins an die vorgegebenen Machtverhältniss e. Wie in dem undialektischen Materialismus die Materie einen Primat erhält, so in der undialektischen Gesellschaft die „bestehende Macht“. Daß es nur noch darauf ankäme dieses fehlende Bewußtsein zu erzeugen, um die Menschen in der deutschen Sowjetzone „frei“ zu machen, hat der SED-Ideologe Kurt Hager auf dem letztjährigen Freiheitskongreß zum Ausdruck gebracht. Er meint „wir haben (in der SBZ, I. F.) tatsächlich die Grundlagen derFreiheit, die materiellen Voraussetzungen eines freien Lebens geschaffen. Aber das Bewußtsein derFreiheit, die Bewußtheit dieser Freiheit, istnochkeineswegs in unseren Werktätigen voll entwickelt“ (Das Problem der Freiheit . . ., S. 307).

Damit widersprach Hager dem ehrlicheren Ernst Bloch, der zugegeben hatte, daß „gerade um eine Freiheit, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat, zu erwerben, im sozialistisclren Übergangsstadium an m a n- chen der V i e r t e 1 s f r e i h e i t e n vorübergehend gespart werde, die die bürgerliche Gesellschaft in ihrer liberalen Zeit noch aufwies . . (a. a. O., S. 30) 8a).

Ernst Bloch kann in seiner enthusiastischen geistigen Vorwegnahme künftiger Freiheit schwelgend die bestehende Unfreiheiten zugeben, der Parteifunktionär, dem es um die Erhaltung der Herrschaft geht, muß die bestehende Unfreiheit in Freiheit umlügen, um die Sowjetzone „zum freiesten Staat der deutschen Geschichte“ zu machen.

Wo aber die vereinigten Anstrengungen von Propaganda, Agitation und Schulung nicht zur Herstellung des sozialistischen Bewußtseins führen, wird auch die Anwendung physischen Zwanges nicht verabscheut: „Die Führung wird durch die Methode der Überzeugung der Massen gesichert . . . Das schließt aber die Anwendung von Zwang nicht aus, sondern setzt sie voraus, wenn dieser Zwang sich auf das Vertrauen . . .der Mehrheit der Arbeiterklasse gründet, wenn er gegenüber der Minderheit angewen-d e t wird . . .“ (Stalin, Fragen des Leninismus, S. 163).

Da die Auffassungen der von der Generallinie der Partei abweichenden Minderheit ja notwendig nur gefährlicher Irrtum oder betrügerischer Verrat sein können, erscheint einem technizistischen Machtdenken jeder Schutz derartiger oppositioneller Minderheiten als überflüssig und schädlich für das reibungslose Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens.

Zusammenfassung Der Marxismus-Leninismus erhebt den Anspruch auf Grund wissenschaftlicher Einsicht in den notwendigen und als sinnvoll angenommenen Geschichtsprozeß, die allein vernünftige Politik des Proletariats und damit der sich in ihm und durch es entwickelnden Menschheitbestimmen zu können. Zweck dieser von der kommunistischen Partei verfolgten Politik ist die Beschleunigung des Geschichtsprozesses, der bewußt gewollt wird und sich damit in eine „frei ergriffene Notwendigkeit“ verwandelt. Ziel der Entwicklung ist die klassenlose Zukunftsgesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Komm. Manifest). In diesem „Reich der Freiheit" soll alle Herrschaft (Politik) aufhören und alle Ausbeutung verschwinden. Zu Erreichung dieses als notwendig erkannten und als ethisch-wünschenswert verfolgten Zieles erscheinen alle Mittel als legitim. Da jeder vernünftige Proletarier und nach Beseitigung des Klassengegensatzes jeder Staatsbürger notwendig zur Erkenntnis der Richtigkeit und Wahrheit des Marxismus-Leninismus gelangen muß, erscheint ein Zwang auf diesem Wege nur so lange als nötig, als sich noch nicht alle auf das vernünftige Niveau der Führung erhoben haben. Die Aufgabe des sozialistischen Staates und der Partei wird in der Erziehung zu solcher „Vernunft" und dem mit ihr verbundenen „Bewußtsein der Freiheit“ erblickt.

Angesichts der zunehmenden Verhärtung der gesellschaftlichen Strukturen und der Verfestigung der totalitären Herrschaftsordnung (trotz aller „Reformen“) in der Sowjetunion wird der Hinweis auf das freiheitliche Fernziel notwendig mehr und mehr zur ideologischen Verschleierung der gegenwärtigen Unfreiheit und die Erziehung zum „Bewußtsein der Freiheit“ zum Ersatz für die Realisierung der konkreten. Während ein Ernst Bloch noch relativ ehrlich und durchaus „marxistisch“ die herrschende Unfreiheit als notwendiges Mittel für die Herbeiführung absoluter künftiger Freiheit begriff, sahen sich die Apologeten der sowjetzonalen Parteidiktatur genötigt, ihre unkontrollierbare Herrschaft als vollkommenste Demokratie umzudeuten. Das künftige Absterben von Staat und Partei wird zum kaum noch geglaubten Mythos.

Zur Bestätigung des demokratischen Charakters ihrer Herrschaft veranstalten die Diktatoren sogenannte Wahlen. In ihnen demonstrieren sie sich selbst und dem Volke scheinbar die Homogenität des gemeinsamen Willens — in Wahrheit jedoch nur die Effektivität des universellen Zwanges. Ideologische Schulung, polizeilicher Terror und wirt-schaftliche Abhängigkeit aller von der politisch-parteilichen Hierarchie fügen sich zu einem System lückenloser und totaler Abhängigkeit zusammen, dem sich keiner zu entziehen vermag.

Das unter der Berufung auf die künftige Freiheit und die wissenschaftliche Einsicht in den vernünftigen Willen der Gesellschaft errichtete System der totalen Abhängigkeit produziert aber zugleich notwendig Menschen, die sich ihrer persönlichen und politischen Freiheit gar nicht mehr zu bedienen vermöchten, wenn man ihnen diese über Nacht bescheren würde. Damit schaffen sich die Diktatoren eine Vorwand mehr für die Aufrechterhaltung ihrer Vormundschaft.

Das westliche politische System ist weniger schlagkräftig als das sowjetische, weil die Rücksicht auf die Macht der öffentlichen Meinung manchen Staatsmann an der Nützung sich plötzlich bietender Chancen hindert. Auch wird niemand behaupten, daß die Freiheit bei uns niemals gefährdet und die Demokratie keinerlei Mißbrauch ausgesetzt wäre. Trotz allem aber besteht in der rechtsstaatlichen Sicherung der persönlichen Freiheit und der Pluralität der um Macht im Staat ringenden Gruppen (Parteien, Verbänden, Gewerkschaften usw.) eine echte Chance für das verantwortliche und selbständige Individuum. Da es keine wirklich wissenschaftliche Erkenntnis der Geschichtsentwicklung gibt, und da sich aus einer derartigen Prognose auch wenn es sie gäbe, die konkreten Entscheidungen der Gegenwart gar nicht ableiten ließen (z. B. war aus der Theorie des Marxismus-Leninismus weder der Zeitpunkt noch der Modus der Einführung des sozialistischen Eigentums auf dem Lande abzuleiten, wie Stalin das behauptet hat), muß es im politischen Leben bei der freien Konkurrenz verschiedener Konzeptionen bleiben, von denen keine die „ganze Wahrheit“ besitzt, jede auf ihre Art das „Gemeinwohl“ erstrebt und es auf ihre Weise deutet. In dem Wissen um die Begrenztheit aller menschlichen Entwürfe darf sich keine dieser Konzeptionen selber absolut setzen und jede muß bereit sein, sich dem Willen und dem Votum der „empirischen“ Staatsbürger in all ihrer Unvollkommenheit zu beugen

Die Sowjetapologeten behaupten, die Freiheit der freien Welt könne nur durch Mystifikationen und Mythen verteidigt werden. Wenn man aber den unkontrollierbaren und undiskutierbaren Anspruch der Partei und ihres Zentralkomitees, die einzig richtige Deutung des Willens der Sowjetbevölkerung zu besitzen, nicht als Mythos bezeichnen will, was soll er dann sein? Der XX. Parteitag der KPdSU hat die Entmythologisierung Stalins gebracht, aber der Mythos der Partei und ihrer obersten Führung ist aus diesem Prozeß nur in um so strahlenderer Helle hervorgegangen. W. Iche Vernunft aber lehrt, daß zehn Menschen oder auch hundert weniger fehlbar sind als ein einziger? Wir westlichen „Mythologen" jedenfalls trauen in politischer Hinsicht keinem Menschen Unfehlbarkeit zu, auch nicht, wenn er ein altgedienter Funktionär ist (und dann noch weniger), weil wir wissen, daß alle der Versuchung des Machtmißbrauchs und der Bevorzugung ihrer Eigeninteressen ausgesetzt sind und daß die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln keineswegs alle Wurzeln dieser menschlichen Versuchungen abschneidet. Sicherungen vor möglichem Mißbrauch der Macht erscheinen uns deshalb unentbehrlich und einem Weg vorzuziehen, der zwar zu himmelstürmender Befreiung führen soll, aber in totaler Knechtschaft endet.

Wie der Glaube an die objektiv-notwendige historische Funktion des Proletariats schließlich zur Manipulation des empirischen Proletariats durch seine absolutistischen „Führer", die Marxisten-Leninisten, geführt hat, so ist aber auch aus dem Glauben an den objektiven Entwicklungs-sinn der Geschichte eine Vergewaltigung der Geschichte hervorgegangen, deren Zweck es ist, das vorausgesetzte Dogma zu bestätigen.

Während in Rußland und China, gestützt auf eine „proletarische Weltanschauung“ und eine „kommunistische Partei", Revolutionen durchgeführt wurden, deren Stoßkraft in der Verteilung des feudalen Grundbesitzes an die Kleinbauern begründet lag, entwickelten sich die großen Industrieländer immer weiter von der politischen Revolution fort. Dennoch halten die Marxisten-Leninisten an dem alten Geschichts-Schema fest und vertuschen bewußt den spezifischen Charakter der russischen und chinesischen Revolution. In diesen Ländern mußte und muß das Proletariat, das der eigentliche Träger der Revolution sein sollte, erst nachträglich geschaffen werden. Während also die angeblichen proletarischen Revolutionen nur von einer ganz kleinen radikalisierten proletarischen Minderheit mitgetragen wurden, wandten sich die proletarischen Massen des Westens (mit Ausnahme Frankreichs und Italiens) vom revolutionären Marxismus-Leninismus ab. Aber auch solche empirischen Fakten können den Glauben an die Geschichtskonstruktion nicht erschüttern. Wenn die Geschichte nicht gehen will, wie sie soll, muß sie mit Gewalt in der als „notwendig" angesehenen Richtung vorangetrieben werden. So kam es zum Okkupationskommunismus in den Volksdemokratien und der sowjetischen Zone Deutschlands. Die imperialistische Expansion der Sowjetunion, die ihr durch Adolf Hitler ermöglicht wurde, offenbart noch einmal den unfreiheitlichen Charakter dieses Regimes. Friedrich Engels hat vor achtzig Jahren in bezug das damalige Rußland mit Recht gesagt: „Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren. Die Macht, deren es zur Unterdrückung der anderen bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst. Solange russisd-te Soldaten in Polen stehn, kann das russisdie Volk sich weder politisch noch sozial befreien . . . (Aus „Volksstaat“ vom 11. 6. 1874).

Den gleichen Gedanken hat auch W. I. Lenin ausgedrückt (Marx, Engels, Marxismus, S. 2 54), sollte er nicht auch für die Sowjetunion gelten, deren verhängnisvolle Rolle sich in Ungarn noch einmal offenbart hat?

Die letzte Rechtfertigung all dieser Vergewaltigungen der Geschichte und der wirklichen Menschen liegt in der Behauptung wissenschaftlich-zwingender Einsicht in den notwendigen Gang des historischen Fortschritts. Man kann aber diesen Glauben sehr wohl bezweifeln, ohne deshalb schon zu einem „Apostel des Nihilismus“ und des Verfalls zu werden. Lins scheint es jedenfalls so, als seien die Menschen zugleich mächtiger und ohnmächtiger in bezug auf die Geschichte als es die Marxisten-Leninisten wahrhaben wollen. Mächtiger, weil sie nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die Richtung mitzubestimmen vermögen, ohnmächtiger, weil es ihnen kaum je gelingen wird, das Schicksal ganz in die Hand zu bekommen. Die Menschen haben daher auch je mit ihren Entscheidungen verantwortlich mit ein-zustehen für den Gang der Geschichte, ohne sich auf ein fatales Entwicklungsgesetz berufen zu können. Es gibt gewiß Bedingungen einer Epoche, denen sich kein Politiker zu entziehen vermag (z. B. heute die Notwendigkeit der Industrialisierung der wirtschaftlich unterentwickelten Gebiete), aber entscheidend sind nicht diese Unvermeidlichkeiten, sondern die Art und Weise, wie Menschen in Freiheit auf die in ihnen enthaltene „Herausforderung“ eine „schöpferische Antwort“ finden, die den Ansprüchen der Sittlichkeit genügt. Man kann nicht sagen, daß die Industrialisierung der westlichen Staaten noch die der Sowjetunion derartigen Ansprüchen besonders gerecht geworden wäre.

Was dem Marxismus-Leninismus in seiner heutigen Form das Gepräge gibt, ist die Verbindung des zur „Weisheit“ gewordenen Hegeischen Dogmas mit dem technisch-naturwissenschaftlidien Anspruch des souveränen „Machens“ und Manipulierens. Unter der Herrschaft dieses technischen Geistes mußte es notwendig zu einer Hypertrophie der Mittel, d. h. dazu kommen, daß über der Suche nach Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der Mittel Wert und Sinn der Ziele verlorenging. Ein dämmerndes Bewußtsein dieser Tatsache kann man in den Romanen finden, die seit dem Beginn des „Tauwetters“ in der Sowjetunion erschienen sind und die sämtlich die ethischen Ideale und Ansprüche des Kommunismus mit der unzulänglichen Wirklichkeit der heutigen Sowjet-weit konfrontieren. Da es aber gefährlich ist, das Bild der Marxschen Utopie als kritischen Maßstab der Gegenwart entgegenzuhalten, werden die Frühschriften von Marx nur in kleinen Auflagen veröffentlicht und Denker wie Ernst Bloch, die sich vornehmlich auf sie stützen, als Häretiker gemaßregelt.

Literatur A. Quellen:

Karl Marx und Friedrich Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe (MEGA) Erste Abteilung Bd. 1— 7 Frankfurt, Berlin, Moskau 1927 ff.

Karl Marx, Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Berlin 1953.

Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (auf 35 Bände berechnete Auswahl) Bd. 1 Berlin, 1956.

Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie und andere Frühschriften, Berlin 1953.

Karl Marx, Die Frühschriften, herausgegeben von Siegfried Landshut, Stuttgart (Kröner Bd: 209) 1953.

Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1953.

Karl Marx, Das Kapital (Volksausgabe) 3 Bände, Berlin, 1956.

Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staats, Berlin 1953.

Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Berlin 1953 (Auszug daraus; Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, enthalten in 2).

W. I. Lenin, Sämtliche Werke, 4. russ. Ausgabe, Moskau 1941— 1951.

W. I. Lenin, Ausgewählte Werke in 12 Bänden, Wien 1930.

W. 1. Lenin, Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Moskau, 1947.

W. L Lenin, Uber den Staat, Berlin 1948.

J. W. Stalin, Fragen des Leninismus, 4. Auflage, Berlin 1950.

J. W. Stalin, über dialektischen und historischen Materialismus, Text und kritischer Kommentar von Iring Fetscher, Frankfurt (Diesterweg) 1957 3.

Die Stalinsche Verfassung, Berlin 1950.

Andrei Y. Vyshinsky, The Law of the Soviet State, New York 1948.

Der sozialistische Sowjetstaat, Sonderdruck aus „Lehrmaterial für die Hörer der Politschulen'', Moskau, 1953, dt. Berlin 1954.

Der Staat, die Staatsgewalt, der Staatsapparat, aus „die große Sowjet-enzyklopädie", Berlin 1953.

Theorie, Staat und Recht, herausgegeben von der „Deutschen Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft , Walter Ulbricht'“, Berlin 1954.

Staatspolitische Schulung für die Mitarbeiter in den Organen der Staatsverwaltung der DDR, herausgegeben von der Regierung der DDR, 1953, Teil 1 und 2.

N. Kosew, Das sowjetische Wahlsystem — das demokratischste der Welt, Berlin 1954.

Howard Selsam, Sozialismus und Ethik. Berlin 1955.

Roger Garaudy, La liberte, preface de Maurice Thorez, Paris 1955 (von der Universität Moskau angenommene Dissertation des bekannten französischen Stalinisten).

„Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus", Protokoll der Konferenz vom 8. bis 10. 3. 1956 in Ostberlin, herausgegeben von der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (bald nach Erscheinen aus dem Handel gezogen, vermutlich wegen der kritischen Äußerungen von Leszek Kolakowski und der Häresien Ernst Blochs sowie der Tatsache, daß Wollgang Harich wiederholt das Wort ergriffen hat) 1956.

B. Literatur zur kritischen Auseinandersetzung:

Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1950.

G. A. Wetter, der dialektische Materialismus, Freiburg 1952.

J. M. Bochenski, der sowjetische dialektische Materialismus, Bern-München 1956.

J. M. Bochenski, die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen im Sinne des GG.der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1956.

Marxismusstudien, erste Folge, herausgegeben von E. Metzke, Tübingen 1954 (vgl. besonders die Beiträge von E. Thier und L. Landgrebe).

Marxismusstudien, zweite Folge, herausgegeben von I. Fetscher, Tübingen 1957 (vgl. besonders die Arbeit von Th. Ramm).

Henri Chambre, Le Marxisme en union sovietique, Paris 1955.

Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, dt. München 1957.

Rudolf Schlesinger, Soviet legal theory, its social background and deve-lopment, New York 1945.

Reinh. Maurach, Handbuch der Sowjetverfassung, München 1956.

Merle Fainsod, How Russia is ruled, Cambridge Mass. 1953.

Der Mensch im kommunistischen System, Tübinger Vorträge über Marxismus und Sowjetstaat, herausgeben von Werner Markert, Tübingen 1957 (enthält u. a. Th. Eschenburg: die Rechte des Menschen in der Sowjetdemokratie). Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Karl Ernst Jeismann: „Zum Problem des Friedens im 20. Jahrhundert"

Hans Koch: „Die Zusammenarbeit Moskaus und Pekings während der europäischen Satellitenkrise"

Helmut Schäfer: „Entstehung der subarktischen Großstadt Workuta"

Georg Stadtmüller: „Geschichte Europas als Problem"

Markus Timmler: „Der wirtschaftliche Wettstreit um Asien und Afrika"

Heinrich Weinstock:

„Die politische Verantwortung der Erziehung in der demokratischen Massengesellschaft des technischen Zeitalters"

Karl A. Wittfogel:

„Die chinesische Gesellschaft"

Henri M. Wriston: „Erziehung und das Nationalinteresse"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Roger Garaudy, La liberte, Paris, 1956 (Dissertation der Universität Moskau). „Das Problem der Freiheit im Lichte des wiss. Sozialismus", hrsg. von d. Dt. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1956.

  2. Die liberale Freiheit wird vom Marxismus-Leninismus immer ausschließlich als die ökonomische Maxime des Manchestertums gedeutet. Daß Freiheit als individueller Spielraum persönlicher Entfaltung auch abgesehen von dieser — gewiß oft fragwürdigen — wirtschaftlichen Funktion für die „Verwirklichung" menschlicher Möglichkeiten wichtig ist, hat er nicht gesehen.

  3. In seinem Frankfurter Vortrag vom 24. 7. 1957 hat Hans Barth in eindrucksvoller Weise den Gedanken der Selbstentfremdung als zentrale Kategorie der Rousseauschen Kultur-und Gesellschaftskritik nachgewiesen. Der Terminus findet sich freilich bei Rousseau noch nicht in seiner spezifischen durch Hegel und Marx geprägten Bedeutung. Vgl. über die Entstehung des Entfernungsbegriffs A. Gehlen, über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung in Archiv, f. Rechts-und Sozialphilos. 40 Jg. 1952 S. 338— 352.

  4. Der französische Marxist HenriLefebvre unterscheidet — soweit ich sehe als einziger — zwischen der „division du travail", der technisch-bedingten Teilung der Arbeitsfunktionen und der „Separation entre ces activites“, der. Trennung zwischen diesen Tätigkeiten. Ursache der

  5. Daß mit der Freiheit der Gesellschaft (oder einer Klasse) nicht notwendig die jedes Individuums verbunden zu sein braucht, hat Leszek Kolak o w s k i auf dem Ostberliner Freiheitskongreß hervorgehoben und damit den Widerspruch der Marx-Orthodoxie heraufbeschworen. Er sagte dort u. a.: „Die marxistische Theorie der Freiheit konzentrierte sich in ihrer Geschichte auf den Begriff der Freiheit als des Programms zur Erlangung der Herrschaft der Gesellschaft über ihre geschichtliche Situation und über die Physiologie der eigenen materiellen Produktionsprozesse. Ich glaube, daß diese ausschließliche Konzentration der Aufmerksamkeit auf die politische Emanzipation der Arbeiterklasse ... zu theoretischen Vereinfachungen führte, die unter den Bedingungen der Diktatur der Arbeiterklasse sichtbar werden. Bei der richtigen Annahme, daß ... es keinen antagonistischen Widerspruch zwischen der Freiheit der sozialistischen Gesellschaft und der Freiheit jedes Individuums gibt . . ., haben wir nicht selten das Problem eines möglichen Konfliktes zwischen den Interessen der Einzelperson und dem allgemein-gesellschaftlichen Interesse als ein angebliches Scheinproblem überhaupt liquidiert. Da zuder Marxismus den vom Personalismus erdachten Begriff der gesellschaftlich nicht determinierten Persönlichkeit liquidiert, nahmen wir ... an, daß der Grad der Freiheit, den die Gesellschaft als Ganzes erreicht, automatisch einen ebenso hohen Grad der Freiheit jeder Einzelperson die ein Bestandteil jener Gesellschaft oder jener Klasse ist, mit sich bringt. Diese Schlußfolgerung ist falsch und stützt sich auf eine platonische Betrachtungsweise, die ausschließlich ... ex essentia folgert, in der Annahme, daß jede individuelle menschliche Existenz durch das allgemeine Wesen des gesellschaftlichen Menschen, das in ihr steckt, erschöpft wird" (in Die Freiheit im Lichte des wiss. Sozialismus'S. 158 und 161). Vgl. zu der ganzen Frage meine Ausführungen im zweiten Teil dieser Arbeit.

  6. Daß diese beiden Marxschen Prognosen sich auf die Dauer nicht bewahrheitet haben, weiß heute jeder Nationalökonom und jeder Soziologe. Vgl. z. B. Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln und Hagen, 1949; Rene König, Soziologie heute, Zürich, 1945 und andere. Da jedoch Marx, wie wir gesehen haben, gar nicht vom empirischen, sondern von einem theoretisch konzipierten Proletariat ausging, können orthodoxe Marxisten über derartige Fakten mit dem (nicht ausgesprochenen) Hegeischen „umso schlimmer für die Tatsachen" oder mit dem Morgensternsdien „weil nicht sein kann was nicht sein darf" sich hinwegsetzen. Mit welchem Aufwand an Scharfsinn und Kasuistik trotz aller widersprechenden Fakten z. B.selbst die These der absoluten Verelendung aufrechterhalten wird, zeigen die interessanten Arbeiten von Jürgen Kuczynski.

  7. Vgl. Karl Marx: „Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs ... weil sie Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren hat" usw. (Die Heilige Familie S. 138). Wie gering im Grunde die Einschätzung des Proletariats durch seine marxistisch-leninistische Führer ist, zeigt auch die Theorie des prolet. Klassenbewußtseins, das erst von außen der zur spontanen Erkenntnis ihrer Aufgabe unfähigen Arbeiterschaft beigebracht werden muß. Vgl. hierzu meine Ausführungen im zweiten

  8. Die Entwicklung des Marxismus zu einer umfassenden metaphysischen Weltanschauung habe ich wiederholt dargestellt vgl.: Die Entstehung des dialektischen Materialismus als metaphysische Weltanschauung, in Ztschr. f. Theologie und Kirche, Tübingen, 1953 S. 184—. 207; Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, in „Marxismusstudien“, Zweite Folge, Tübingen, 1957.

  9. Vgl. hierzu meinen Rundfunkvortrag „Der Wissenschaftsanspruch des dialektischen Materialismus", im Druck erschienen in „Christen oder Bolschewisten", Stuttgart, 1957.

  10. Der Gedanke, daß es einen legitimen „Zwang zur Freiheit" geben könne, hat eine lange Vorgeschichte. Vgl. z. B J. J. R o u s s e a u : „Wer immer den Gehorsam gegenüber dem Gemeinwillen verweigert, wird dazu durch die gesamte Staatsgesellschaft gezwungen werden: was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein“ (Gesellschaftsvertrag, 1. Buch Kap. VII).

  11. Ein weiteres Mittel zur völligen Entmachtung der Abgeordneten ist das als besonders demokratisch gepriesene „Abberufungsrecht" durch die Wahler. In der Praxis stellt dieses eine bequeme, legal aussehende Handhabe für die Beseitigung unliebsamer Deputierter durch die Parteispitze dar, die derartige Abberufungen auf dem Wege der zentralistischen Anweisung an ihre lokalen Einheiten „bestellen" kann. (vgl. Art. 142 der Verfassung von 1937).

  12. Vgl. hierzu Theodor Eschenburg, Die Rechte des Menschen in der Sowjetdemokratie, in „Der Mensch im kommunistischen System, Tübinger Vorträge über Marxismus und Sowjetstaat", herausgegeben von Werner Markert, Tübingen, 1957.

  13. Daß sich politische und persönliche Freiheiten wechselseitig bedingen und stützen, hat Franz L. Neumann in seinem hervorragenden Essay „Zum Begriff der politischen Freiheit" in der Ztschr. f. d. ges. Staatswissenschaften, Tübingen, 1953 Bd. 109 S. 25— 53 überzeugend nachgewiesen.

  14. Vgl. hierzu J. B. T i t o : „die Sowjetpraxis . . zeigt, daß in der Sowjetunion die Ausbeutung des Arbeiters nicht beseitigt ist, denn sie leiten die Produktion nicht, sondern sind schlechtbezahlte Lohnarbeiter, sie haben keinen Anteil an der Verteilung des Mehrproduktes (Tito schreibt „der Mehrarbeit", meint aber offensichtlich das Mehrprodukt), das nimmt vielmehr die Staatsbürokratie vollständig in der Form von Riesengehältern und Prämien“ (Der Kampf der Kommunisten Jugoslawiens für die sozialistische Demokratie, in „Der VI. Kongreß der KPJ", Bonn 1952 S. 20).

  15. Der polnische Exildichter Czeslaw Milosz hat in seinem Buch „Verführtes Denken" die Versuchung, die in der Möglichkeit einer Pseudobefreiung durch Anpassung des Bewußtseins an die bestehenden Verhältnisse liegt, eindringlich und überzeugend geschildert. Er vergleicht dort die Hinnahme der marxistisch-leninistischen Weltanschauung mit dem Verschlucken der Wunderpille „Murti-Bing", durch deren Genuß man zu vollständigem harmonischem Einklang mit der Umwelt gebracht wird.

  16. Vgl. hierzu den Vortrag von A. A r n d t , Das Toleranzproblem aus der Sicht des Staates, in „Die neue Gesellschaft" 1957.

  17. Vgl. hierzu die Ausführungen von Jeanne Hersch in „Die Ideologien und die Wirklichkeit" S. 286 usw.

Weitere Inhalte

Anmerkung Dr. Iring Fetscher (geb. 4. 3. 1922 in Marbach am Neckar) arbeitet zur Zeit an einer Studie über das Problem der politischen Freiheit, aus deren Zusammenhang auch der vorliegende Beitrag entstanden ist. Er studierte Philosophie an den Universitäten Tübingen und Paris, promovierte 1950 mit einer Arbeit über „Hegels Lehre vom Menschen“ und hat sich seither in einer Reihe von Arbeiten mit dem Problem des Marxismus beschäftigt. Veröffentlichungen u. a.; Stalin, über dialektischen und historischen Materialismus, Text und kritischer Kommentar, Frankfurt 1957 (4. Auflage); Von Marx zur Sowjetideologie, Frankfurt 1957 (3. Auflage); Der wissenschaftliche Anspruch des dialektischen Materialismus, in „Christen oder Bolschewisten", Stuttgart 1957. Einleitung zur A. Comte, Rede über den Geist des Positivums, Hamburg 1956. Der Marxismus im Spiegel der französischen Philosophie in „Marxismusstudien" (erste Folge) Tübingen, 1954; Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung in „Marxismusstudien" (zweite Folge), Tübingen 1957. Struktur und Ideologie der modernen Tyrannei in „Gesellschaft, Staat, Erziehung", Ztschr. f. polit. Bildung, Frankfurt 1957 Heft 5.