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Volkskapitalismus-Romantik oder Realität? | APuZ 45/1957 | bpb.de

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APuZ 45/1957 Sozialdemokratie und Kommunismus Volkskapitalismus-Romantik oder Realität?

Volkskapitalismus-Romantik oder Realität?

JOHANNES GAITANIDES

persönlichen nnd staatsbürgerlichen Freiheit. Was wäre aus Deutschland geworden, wenn wir ja gesagt hätten?“'

Dieses prinzipielle Nein setzt die Sozialdemokratische Partei auch heute den kommunistischen Aufforderungen zur „Aktionseinheit“ entgegen. Sie richtet gleichzeitig an die Sowjetregierung die Aufforderung, gegenüber dem deutschen Volk und der deutschen Arbeiterbewegung endlich die jetzt besonders nachdrücklich herausgestellten Prinzipien der friedlichen Koexistenz, nämlich der Nichteinmischung, der Gleichberechtigung, und der nationalen Selbstbestimmung, praktisch anzuwenden und den Deutschen selbst die Gestaltung ihrer inneren Ordnung nach eigenen Vorstellungen zu überlassen. Dies geschieht in der Überzeugung, daß diese klare Haltung der Sozialdemokratischen Partei

Deutschlands dazu beitragen kann, eine positive Wandlung der sowjetischen Deutschlandpolitik herbeizuführen und auch die nach dem XX. Parteitag der KPdSU in den kommunistischen Staaten, besonders aber nach der polnischen Oktoberrevolution und dem heroischen Aufstand des ungarischen Volkes, in Fluß gekommene Entwicklung in freiheitlichem Sinne zu beeinflussen. In den inneren Auseinandersetzungen im kommunistischen Lager wird immer stärker eine wachsende Opposition gegen das grundlegende totalitäre Machtprinzip des Kommunismus wirksam, gegen die Diktatur der Parteiführung, die in der leninistischen Theorie als „demokratischer Zentralismus“ umschrieben wird. In dieser Situation wird die Herausstellung des demokratischen Sozialismus ls Alternative zum totalitären Kommunismus den Klärungsprozeß unter den kommunistischen Kadern wesentlich fördern.

Ein Gespenst geht um im Westen — das Gespenst des Volkskapitalismus. Ein Jahrhundert nach dem Kommunistischen Manifest — dessen Gespenst sich nur dort verleiblicht hat, wo ihm der Kapitalismus nicht entgegenstand. Im Westen aber ging Marxens Rechnung nicht auf:

Das Kapital hat sich nicht des Staates bemächtigt. Es hat die Reichen nicht reicher, die Armen nicht ärmer gemacht. Statt in die Verelendung hat der Kapitalismus die Arbeiter zu einem ungeahnt hohen Lebensstandard geführt, in die Vollbeschäftigung statt in die „industrielle Reservearmee" der Arbeitslosigkeit. Der Mittelstand wurde nicht zwischen Kapitalisten und Proletariat zerrieben, er hat sich nach beiden Seiten hin mächtig verbreitert. Die Konzentration endete nicht im Monopolkapitalismus, und die Anhäufung des Kapitals kam nicht den wenigen Kapitalisten zugute, sondern den Unternehmen, die sich vom Kapital emanzipierten und ihr Eigentum weit streuten. Nicht mehr taumelt der Kapitalismus von Krise zu Krise; seit dem Tief von 1930 hat er sich gefestigt und ist zu neuen Entwicklungen ausgelaufen.

Kein Mythos hat die Neuzeit so bewegt wie der Marxismus — keiner hat so geirrt wie er. Dieser Irrtum war verständlich. Zur Zeit Marxens stand der Kapitalismus in seiner Pubertät, heute befindet er sich im Mannesalter. Damals gebärdete er sich als wildes Raubtier, heute ist er zum Haustier gezähmt.

An seiner Domestizierung waren viele Bändiger beteiligt: der Staat und der demokratische Wähler, die Gewerkschaften und die kommunistische Drohung, die Technik und nicht zuletzt die kapitalistische Wirtschaftsweise selber. Keine dieser Kräfte hatte Marx in seine Rechnung eingesetzt (und das ist weniger verständlich).

Die Freiheit hört auf und die Ausbeutung beginnt, wo die wirtschaftliche u n d die politische Macht in e i n e r Hand liegen. Solche Konzentration der Macht hat der Kapitalismus nicht zu erringen vermocht; daran hinderte ihn das freie, allgemeine und geheime Wahlrecht des demokratischen Staates, in dem das natürliche Übergewicht der nichtkapitalistischen Stimmen zum Zuge kam. Gewiß hat der Kapitalismus immer wieder versucht, sich in der Politik Geltung zu verschaffen — nicht aber mit dauerndem und nie mit ausschließlichem Erfolg: einmal weil die Interessen von Industriekapital, Handel und Grundbesitz zu weit auseinanderlaufen, um sich zu einer ständigen Aktionsgemeinschaft verbünden zu können. Und seit sich andere Gruppeninteressen, allen voran die Gewerkschaften, politisch organisierten, sind die Kapitalisten von der Offensive in die Defensive abgedrängt, Glied nur noch einer pluralistischen Gesellschaft, in deren Chor sie nur eine von vielen Stimmen haben. Dabei ist die politische Neutralisierung des Kapitalismus weniger fortgeschritten in d e n Demokratien, die ihnen im Vielparteiensystem die Gelegenheit zu einer eigenständischen Interessenvertretung geben; sie ist weiter fortgeschritten in den Zweiparteienstaaten der angelsächsischen Länder, wo jede Partei das gesamte Volk repräsentieren und dessen Gruppengegensätze schon in sich ausgleichen muß, will sie im Rennen bleiben.

Der Staat hat aber auch das wirtschaftliche Aktionsfeld des Kapitalismus eingeengt, indem er selber Unternehmer wurde — und nicht nur im Verkehrs-und Energiewesen. In Großbritannien ist mehr als ein Drittel des Industriepotentials in der öffentlichen Hand, in Frankreich kaum weniger, in den USA beschäftigt der Staat 12 Prozent aller Arbeitskräfte. Bei uns schließlich untersteht ein Drittel aller Aktienkapitalien dem Gemeinbesitz, und das Produktionsmittelvermögen von Bund, L*ändern und Gemeinden beläuft sich — ohne Grundbesitz und Verwal-tungsgebäude — auf rund 100 Milliarden D-Mark! Von einem reinen Kapitalismus kann daher auch im Westen nicht mehr die Rede sein. Öffentliche und private Wirtschaft begegnen sich in einem System der wechselseitigen Durchdringung, der Ergänzung und Konkurrenz.

Doch die staatliche Intervention schnürt die kapitalistische Willkür auch nach innen zu ein, auf ihrem eigenen Arbeitsfeld: durch Arbeitsrecht und Arbeitsschutz. Die steile Progressivbesteuerung verengt die Profitgrenze. So kommen die Aktionäre der bayerischen Energieunternehmen auf eine Dividende von einem Prozent des LImsatzes — der Staat heimst das Elffache davon an Steuern ein. Zehn Maschinenbauanstalten, mit zusammen 300 Millionen D-Mark Grundkapital, erwirtschafteten einen nur zum Teil ausgeschütteten Reingewinn von 79, 6 Millionen D-Mark — ihr Steueraufwand betrug 473, 6 Millionen D-Mark, das Sechseinhalbfache des Gewinns. Von 1929 bis 195 5 stiegen in den USA die Umsätze der Industrie um das Dreieinhalbfache, die Dividenden-summe um das l, 7fache -die Steuerleistungen aber vermehrten sich im gleichen Zeitraum um das Sechzehnfache! So wurde der Staat zum Hauptnutznießer des kapitalistischen Profits, und er verwendet seine Gewinnbeteiligung zu einem unaufhörlichen Lastenausgleich zwischen arm und reich.

Die Eingriffe des Staates in die kapitalistische Wirtschaft gehen noch tiefer: durch Zölle, Subventionen, Kontingentierungen beeinflußt er den Absatz und die Preise, durch seine Zins-, Kredit-und Steuerpolitik beeinflußt er die Investitionen, die Produktivität und das Produktionsvolumen. Mit diesen indirekten Lenkungsmitteln, ergänzt noch durch das öffentliche Auftragswesen, bekam der Staat ein ausreichendes Instrumentarium in die Hand, um mittels Krisenbekämpfung und Konjunktur-förderung die Gesamtwirtschaft zu stabilisieren. So hat im Zeitalter der „gemischten Wirtschaft“ der Staat als konkurrierender Unternehmer dem Kapitalismus räumlich Grenzen gezogen, er übt eine indirekte Kontrolle über seine Aktivität aus und schöpft seinen Hauptprofit ab.

Damit sind dem Kapitalismus die Giftzähne gezogen — die in seinem Naturzustand von Marx richtig diagnostizierten Giftzähne. Daß man ihm diese ziehen könne und nicht gleich das ganze Tier umbringen müsse, auf diesen Gedanken freilich wollte Marx nicht kommen. Das wilde Raubtier von damals und das gezähmte Haustier heute immer noch in den Stall eines Begriffes — „des" Kapitalismus — zu stecken, solche terminologische Schlamperei geht auf das Konto unsrer Wortträgheit. wenn nicht des demagogischen Zwecks.

An der Extraktion der kapitalistischen Giftzähne waren nicht minder beteiligt: die Gewerkschaften, die Arbeiter selber also. Auch ihre Macht in der privaten Wirtschaft hatte Marx völlig verkannt. Diese Macht verdanken sie der Koalitionsfreiheit, und dem demokratischen Staat, der dafür sorgte, daß Löhne, Arbeitszeit, Urlaub und sonstige Arbeitsbedingungen den beiden Sozialpartnern zum freien Aushandeln überwiesen wurden Damit war auch die Entscheidung über die materielle Existenz des Arbeiters der kapitalistischen Willkür entzogen. Der Unternehmer kann also nicht mehr die Löhne, und das heißt den Profit und die Höhe des Mehrwertes nach Gutdünken festsetzen — dem hat die Streikwaffe ein Ende gemacht. Lind über die Löhne gewannen die Gewerkschaften auch Einfluß auf die Preise; durch die überbetriebliche Mitbestimmung haben sie sich in der Montanindustrie sogar schon einen Platz in den kapitalistischen Direktionszimmern erkämpft. Ihren Forderungen geben die sozialdemokratischen Parteien politischen Ausdruck. Schließlich hat der Kommunismus das Seine getan, den Kapitalismus zu zähmen; er macht es der Unternehmerschaft zum Lebensgebot, einer Radikalisierung der Wählermassen vorzubeugen. So haben die Gewerkschaften entscheidend mitgewirkt, den Kommandokapitalismus in einen

Verhandlungskapitalismus zu überführen, und die Ausbeutung in den Ausgleich der Interessen; sie haben den kapitalistischen Profitmotor durch ein sozialwirksames Bremssystem gedrosselt.

Diese Entwicklung bezeugt sich in Amerika in den folgenden Verschiebungen: Von 1929 bis 195 5 stiegen die Umsätze der Industrie um das Dreieinhalbfache, die Löhne und Gehälter um das Vierfache, die Dividenden aber nur um das l, 7fache. Und in der gleichen Zeit erhöhte sich der Anteil der Löhne und Gehälter von 57 auf 69 Prozent des Nationaleinkommens, der Anteil der Dividendenerträge fiel jedoch von 6, 6 auf 3, 3 Prozent. Verhielten sich 1929 die Unternehmergewinne zu den Lohnsummen wie 1 zu 9, 3, so 1956 nur noch wie 1 zu 16. Das heißt: die Dividendengewinne haben sich während der letzten 25 Jahre im Vergleich zu den Löhnen und Gehältern auf die Hälfte reduziert; ihre reale Kaufkraft hat, unter Berücksichtigung der Dollarentwertung, trotz der gewaltigen Produktionsausweitung den Stand von 1929 nicht einmal gehalten. Der kapitalistische Profit ist also ganz erheblich zusammengeschrumpft — und dazu teilen sich nun in ihm noch sehr viel mehr „Kapitalisten". Der kapitalistische Kuchen ist kleiner geworden, und mehr Leute essen davon.

Dafür sorgt auch die technische Entwicklung. Marx hatte die Zusammenballung der Industrieproduktion in immer größeren Werks-und Kapitaleinheiten richtig vorausgesehen — wenngleich sie sich längst nicht über al'Produktionszweige erstreckt hat. Audi seine Folgerung von der konseqenten Weiterentwicklung dieses Prozesses zum Monopolkapitalismus hätte sich wohl verwirklicht, hätte ih.der demokratische Staat nicht rechtzeitig einen festen Damm entgegengestellt: mit seiner Antikartell-und Antimonopolgesetzgebung, die — hier mit mehr, dort mit weniger Erfolg — die Monopoltendenz auf der vorletzten Stufe auffing und beim Oligopol zum Halten brachte. Beim Oligopol, in dem sich ein Produktionszweig nicht in einer, sondern in einigen wenigen Riesen-gesellschaften konzentriert, wie überall im Bergbau, in der Stahl-, Auto-, Erdöl-und chemischen Industrie. Im Oligopol ist nun das technische Leistungsoptimum erreicht, ohne daß. ihm — wie beim Monopol — der Wettbewerb geopfert wird, dieses Lebenselixier der freien Wirtschaft. Aber die Technik selber sorgt meist von sich aus schon für die Erhaltung des Wettbewerbs: so etwa durch die Konkurrenz des Aluminiums zum rostfreien Stahl, durch die Entwicklung neuer Kunststoffe im Auto-karosseriebau, durch die Konkurrenz der Ölheizung zur Kohlenfeuerung, oder durch den Wettbewerb des Flugzeugs mit Schiff und Eisenbahn, des Lkw. zur Güterachse.

Neues Eigentum und neue Kleinunternehmer

Die Gesellschaftskonzentration schluckt aber nicht nur das kleine Eigentum, sie produziert aus sich heraus auch neues Eigentum und neue Kleinunternehmer. Man denke nur an die zahlreichen Zubringerbetriebe, die sich am Rande der großen Industrie ansiedeln. An die unzähligen selbständigen Existenzen im Strahlungsfeld der Autoerzeuger: die Autohändler erster und zweiter Hand, die Garagen, Tankstellen, Reparaturwerkstätten, die Autoverleiher und Fahrlehrer, die Taxibesitzer und Transportunternehmer, die verschiedenen Spielarten des Drive in, die Verkaufsstellen von Reifen und Batterien. Nicht minder fruchtbar sind die Elektro-, Photo-, Radio-, Fernseh-und Filmindustrien in der Erzeugung von autonomen Hilfsbetrieben für Vertrieb und Instandhaltung; sie fordern ein hohes Maß von Geschick und Fachkönnen, das dem der alten Handwerksmeister kaum nachsteht. Die Konzentration hat also eine Gegenbewegung ausgelöst, deren dezentralisierende Tendenz den selbständigen Eigentümer erhält. Die Konzentration erdrückt den Kleinbetrieb nicht — sie braucht ihn: rund 80 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmer sind in Betrieben unter 500, rund 5 5 Prozent in Betrieben unter 20 Belegschaftsangehörigen tätig. Lind auf einen Selbständigen kommen in Frankreich zwei, in Deutschland fünf und in den LISA zwölf Arbeitnehmer. Das Verhältnis von Selbständigen zu Arbeitnehmern ist also selbst im amerikanischen Fall noch keineswegs beunruhigend Auch mit dieser zwangsläufigen Selbstkorrektur des Kapitalismus hat die marxistische Prophetie nicht gerechnet; wider ihre Voraussage verringerte sich der Arbeiteranteil an den Gesamtbeschäftigten Westdeutschlands von 47, 4 Prozent im Jahre 1882 auf 43, 2 Prozent im Jahre 1950.

Die industrielle Konzentration betätigt sich als Eigentumsproduzentin aber auch im eigenen Haus. Das industrielle Wachstum verlangt ja immer größere Kapitaleinsätze, die das Einzelvermögen schon längst nicht mehr aufbringen kann. An seine Stelle tritt daher die Kapitalgesellschaft, die sich aus einer Vielzahl von Aktienbesitzern von kleinen Aktionären rekrutiert. Bei der größten amerikanischen Gesellschaft, der America Telephone and Telegraph Company, verteilten sich schon 1952 deren 3 3, 2 Millionen Anteile auf 1, 1 Million Aktionäre — und keiner von ihnen besaß mehr als ein Zwanzigstel Prozent des Gesamtkapitals. General Motors zählt 477 000, Ford 358 000, General Electric 253 000, Du Pont 138 000 Eigentümer. Sie zählen meist mehr Aktionäre als Arbeiter.

Mehr und mehr verdrängen Mr. Smith und Mr. Miller die Herren Ford und Rockefeller aus dem Eigentum; die New Yorker Wallstreet, einst Herrin über die amerikanische Industrie, hat ihre Macht abtreten müssen an die Mainstreet — an die Bewohner der kleinstädtischen Hauptstraße. Damit ist in Amerika schon der Tatbestand des Volkskapitalismus gegeben: das Eigentum an den Produktionsmitteln ist in die Hände der mittleren und kleineren Einkommensgruppen übergegangen. Unter den 124 Millionen Steuerzahlern der Vereinigten Staaten sind 8, 6 Millionen Besitzer von Aktien — 80 Prozent von ihnen wohnen in der Mainstreet und haben ein Jahreseinkommen unter 15 000 Dollar. Weit größer noch ist der indirekte Anteil des kleinen Mannes am Industriebesitz. Von 1951 bis 1956 verdoppelten die amerikanischen Pensionsfonds ihre Vermögen von 12, 8 auf 24, 3 Milliarden Dollar, die zu einem Drittel in Aktien angelegt sind. In der Hauptsache aber sammeln sich die Sparreserven des Volkes in den Lebensversicherungen: 90 Prozent der männlichen und 70 Prozent der weiblichen Bevölkerung Amerikas sind lebensversichert — insgesamt besitzen 103 Millionen Amerikaner Lebensversicherungspolicen. Allein von 1940 bis 195 5 stieg der Aktienbesitz der Lebensversicherungen von 600 Millionen auf 3, 6 Milliarden Dollar. Noch schneller entwickelte sich das Wachstum der Investmenttrusts, jener Kapitalgenossenschaften, die sehr niedrig dotierte Anteile zum Erwerb breitgestreuter Wertpapiervermögen ausgeben; ihre Anlagen erhöhten sich im Zeitraum 1940 bis 195 5 von einer auf neun Milliarden Dollar. Lebensversicherungen und Investmentfonds verwalten heute schon zusammen über ein Viertel des gesamten amerikanischen Aktienbesitzes. Hinzu kommen die Vermögen der Stiftungen mit 4, 5 Milliarden und die Dotationsfonds der Hochschulen mit über 3 Milliarden Dollars, sie sind gleichfalls vorwiegend in Aktien angelegt.

Parallel zu dieser Entwicklung nimmt der industrielle Familienbesitz rapide ab. Er vermag das schnelle Wachstum der Produktion nicht mehr zu finanzieren; die hohen Einkommen-und Erbschaftsteuern verhindern die Ansammlung von neuen Großvermögen, ja, sie zwingen beim Generationenwechsel die Familien, ihre Mittel für die Vermögensübertragung durch Aktienverkauf rechtzeitig flüssig zu machen. Charakteristisch ist das Schicksal des Hauses Ford, das beim Tode seines Gründers in eine Stiftung verwandelt wurde. Sie gab im Frühjahr 1956 Aktien für 600 Millionen Dollar aus — so kam das größte Familienunternehmen Amerikas über Nacht in die Hände von einigen hunderttausend Einzel-aktionären. Dieser Prozeß hat die gesamte Groß-und Schlüsselindustrie ergriffen — der Einzelbesitz ist auf die kleinen Betriebe und auf die Sekundär-industrien zurückgedrängt. Das veranschaulicht die amerikanische Einkommensumschichtung. Von 1929 bis 1946 sank der Einkommensanteil des einen Prozents der Bevölkerung mit den höchsten Einnahmen von 19, 1 auf 7, 7 Prozent des Nationaleinkommens — inzwischen ist er noch weiter gefallen.

Eigentum an Produktionsmitteln demokratisiert

Die Konzentration der Produktion hat also nicht — wie Marx meinte — zur Konzentration des Kapitals geführt, sie hat im Gegenteil das Eigentum zersplittert und über weite Bevölkerungskreise verstreut. Die Aktie und die hohen Löhne haben es Herrn Jedermann ermöglicht, das klassische Monopol der professionellen Kapitalisten zu brechen und das Eigentum an den Produktionsmitteln zu demokratisieren. Lind je weiter dieser Prozeß fortschreitet, um so tiefer sickert das industrielle Eigentum nach unten, in die Hände der kleinen Sparer.

Die großen Unternehmen selber sind die eifrigsten Förderer dieser Entwicklung. Sie zielen, in ihrem wohlverstandenen Interesse, auf die Umwandlung des Arbeitnehmers in einen Arbeitermitunternehmer. Wenn sie ihm aber Unternehmerfunktionen aufladen, dann müssen sie ihn auch am Unternehmergewinn beteiligen. Sie sind vor dieser Konsequenz nicht zurückgescheut: in unzähligen Formen beziehen sie ihre Belegschaftsmitglieder in den gemeinsam erarbeiteten Ertrag ein: durch Barausschüttungen, durch Pensionsfonds, durch die Ausgabe von Aktien, gratis oder zu besonders günstigen Bedingungen, welche die Arbeitnehmer zu Miteigentümern des eigenen Betriebes machen. Über 15 000 amerikanische Unternehmungen betreiben diese Praxis — in Deutschland an die 400, in England bereits ein Viertel aller Gesellschaften. Das ausschweifendste Exempel dieser Art ist wohl die Lincoln Electric Company in Cleveland, USA, die an ihre 1 228 Betriebsangehörigen allein 19 5 3 5, 1 Millionen Dollar, also 22 Millionen Mark Gewinnbeteiligung ausgab; in den zwanzig Jahren ihres Bestehens hat sie an die Arbeitnehmer, die bei ihr seit der Gründung tätig sind, im Durchschnitt je 230 000 D-Mark Gewinnbeteiligung ausgeschüttet. Das ist in dieser Höhe freilich ein Ausnahmefall. Aber es fehlt nicht an anderen erstaunlichen Beispielen. Unter den 1, 1 Million Aktionären der Telephone and Telegraph Company befinden sich 250 000 Angestellte. Sears Robuck, eines der größten Einzelhandelsunternehmen, ist praktisch im Besitz seiner Angestellten. Bei uns gehen Mannesmann, Siemens, Demag und die IG. Nachfolge-Gesellschaften ähnliche Wege. Nordhoff pflegt den Gewinn des Volkswagenwerkes zu gleichen Hälften zwischen Kapital und Belegschaft zu teilen, nachdem diese schon vorher in den freiwilligen Sozialaufwendungen den Hauptrahm abgeschöpft hat.

Ein namhafter Wortführer dieser Entwicklung ist der deutsche Emigrant Robert Hartmann, Professor an der Columbus-Universität Ohio und Gründer einer Gesellschaft von 600 Gewinnbeteiligungsfirmen. Wir zitieren: „Wir betrachten Erfolgsbeteiligung als eine Methode, welche die Vorteile und Verantwortlichkeiten des freien Unternehmertums auf jeden Teilnehmer im Produktionsprozeß ausdehnt — bei jeden'meine ich jeden, vom Generaldirektor bis zum Laufburschen —, und die deshalb aus dem sogenannten Kapitalismus der wenigen einen echten Kapitalismus macht, nämlich den für alle. Wir sagen immer: es ist nicht nur nicht wahr, daß der Kapitalismus im Absterben ist, er hat im Gegenteil — sozialpolitisch gesehen — noch gar nicht angefangen. Ein System kann erst dann kapitalistisch genannt werden, wenn alle Produktionsteilnehmer Kapitalisten sind.“

Die Aktie hat den Kapitalismus domestiziert — und damit gab sie der freien Wirtschaft die entscheidende Wendung. Auch bei uns, auch wenn wir der amerikanischen Entwicklung nur in weitem Abstand folgen: wenn wir dort von Hunderttausenden sprachen, so sind es bei uns Zehntausende. Mannesmann zählt bei 7 5 000 Belegschaftsmitgliedern 5 5 000 Aktionäre; bei Siemens und den Nachfolgegesellschaften verhält es sich ähnlich. Unsere Investmentgesellschaften haben in den zwei Jahren ihres Bestehens 200 Millionen D-Mark aufgebracht.

Die Aktie hat den Kapitalismus domestiziert, denn sie beherrscht die Großindustrie und die Schlüsselproduktionen. Sie ist der Pionier des technischen Fortschritts, sie bestimmt den Stil des Wirtschaftens, dem sich die anderen Unternehmungsformen notgedrungen angleichen müssen — kurz: sie bestimmt den Kurs der gesamten'Wirtschaft. Mehr als die Hälfte der gesamten Industrieproduktion des Westens entfällt auf 1 500 Großunternehmungen — sie sind Aktiengesellschaften, abgesehen von den wenigen regelbestätigenden Ausnahmen. In Westdeutschland gab es 1950 2 560 Aktiengesellschaften, die mit zwei Millionen ein Drittel aller industriellen Arbeitnehmer beschäftigten: mit 25 Milliarden beanspruchten sie 30, 6 Prozent unseres gesamten Industriekapitals, 3 8, 5 Prozent aber trugen sie zum industriellen Umsatz bei. Wenn auf ihrem Feld der Großkapitalist in der Gestalt des Großaktionärs auch noch nicht ausstarb, so ist er als Eigentümer doch nicht mehr Alleinherrscher, sondern allenfalls primus inter pares — der erste unter gleichen.

Denn der Großkapitalist sieht sich nicht allein an der Eigentumsbasis, er ist auch von der Führungsspitze zurückgedrängt. Der unersättliche Investitionshunger der großen Produktion, die von ihm erzwungene Umwandlung des Personalunternehmens in die Kapitalgesellschaft — sie sprengen schließlich die alte Identität von Eigentum und Geschäftsleitung. Diese Trennung des Eigentums vom Eigentümer — das ist die Geburtsstunde des Managers, der das Vakuum ausfüllt, das durch den Rückzug des Eigentümers a..dem Eigentum entsteht.

Der Manager übt die Funktionen des Unternehmers aus, ohne Unternehmer zu sein — weder das Kapitalrisiko noch die Profitchance fällt ihm zu. Er ist also ein angestellter Unternehmer — kein geborener, sondern ein gewordener Unternehmer; er verdankt seine Laufbahn nicht dem Reichtum, nicht der Familienzugehörigkeit, sondern seinem Charakter, seiner Fähigkeit und Ausbildung. Das macht ihn unabhängig — auch gegenüber den Eigentümern, deren Vielzahl seiner Selbständigkeit zugute-kommt. Wohl hat er von ihnen sein Mandat, aber er versteht sich mehr noch als Treuhänder des Eigentums gegenüber dem Eigentümer. Ja, in seiner Person verselbständigt sich das Eigentum vom Eigentümer, verselbständigt sich der Betrieb vom Kapital. Natürlich sucht er den Interessen der Aktionäre möglichst gerecht zu werden, schon weil er sie vielleicht bei nächster Gelegenheit wieder anzapfen muß — aber er sieht die Dinge doch nicht mit den Augen des Eigentümers. In seinen Augen ist der Betrieb nicht für den Eigentümer da, sondern das Kapital für den Betrieb. Das Kapital ist für ihn nicht „Kapital“, sondern Produktionsmittel, die abstrakte Vorform der Maschine oder eine Art Tankstelle, bei der er sich von Zeit zu Zeit den Brennstoff für seinen Motor holt. Die Produktion aber ist ihm Selbstzweck, es geht ihm um die technische Perfektion, um das vollkommene Funktionieren, um das Gedeihen „seines" Betriebes, dem er alles unterordnet — auch das Kapital. Im Manager erringt das Unternehmen den Primat vor dem Kapital, im Manager überwindet der Unternehmer den Kapitalisten. So demonstriert er, daß in der modernen Privatwirtschaft das Profitmotiv nicht die einzige und nicht die stärkste Triebfeder der unternehmerischen Aktivität ist.

Von dieser Unabhängigkeit des Managements, von dieser Unterordnung des Kapitals geben die Bilanzen der Gesellschaften deutlich Zeugnis; dort, wo die Rede ist von der Verteilung des erarbeiteten Gewinns. Der größte Brocken fällt zunächst wieder in den Betrieb zurück, zum weiteren Ausbau seines Produktionsapparates; der zweitgrößte Anteil geht in Form von freiwilligen Sozialaufwendungen, Prämien, Gratifikationen an die Belegschaft, und dann erst — mit erheblichem Abstand — kommen die Eigentümer an die Reihe.

Und das ist keine Ausnahme, das ist die Regel, auch bei uns Im allgemeinen gibt die große Industrie 15 bis 20 Prozent der gesamten Lohnsumme freiwillig für soziale Zwecke aus. 104 bayerische Aktiengesellschaften leisteten auf je 100 D-Mark Dividende 211 D-Mark für freiwillige Sozialaufwendungen. 20 Unternehmungen zweigten an sie im Geschäftsjahr 1955/56 138 Millionen ab, an ihre Aktionäre 57 Millionen D-Mark. Darunter waren drei Gesellschaften, die keinen Pfennig Dividende ausschütteten, für die betriebliche Sozialpolitik aber 7 Millionen D-Mark aufgewendet hatten. In Amerika wird der freiwillige Sozialaufwand der gesamten Industrie derzeit auf 12 Milliarden Dollar jährlich veranschlagt. Der kapitalistische „Mehrwert" also, dem Marxismus der Hauptstein des Anstoßes, hat sich eine exzessive Abmagerungskur gefallen lassen müssen — der Arbeitnehmer wurde, nach dem Staat, sein Hauptteilhaber.

Technisierung hebt Arbeitsund Lohnniveau

Die Hauptvoraussetzung aber für die Entwicklung zum Volkskapitalismus war die unaufhörliche Erhöhung der Löhne. Ihr ständiges Steigen wird nicht allein von den Gewerkschaften erzwungen, sondern mehr noch vom technischen Fortschritt, vom steten Wachstum der Produktion.

Marx hatte geglaubt, die Maschine werde den hochqualifizierten Facharbeiter mehr und mehr verdrängen und auf die Stufe des ungelernten Hilfsarbeiters zurückstoßen. Die Industrialisierung hat den entgegengesetzten Kurs eingeschlagen. Sie hat den Bedarf an Fachpersonal und vor allem an Angestellten gewaltig vermehrt. Trotz der erheblichen Zunahme der Arbeiterheere ist deren relativer Anteil an den Gesamtbeschäftigten in den letzten siebzig Jahren von 47, 4 Prozent auf 43, 2 Prozent gesunken; die Angestellten und Beamten aber erhöhten ihren Anteil von sieben auf 17, 8 Prozent. Lind kam 1900 ein Ingenieur auf 250 Arbeiter und Angestellte, so heute schon auf 50, ja oft auf 15. Die Technisierung hebt also das Arbeitsniveau, und damit auch das Lohn-niveau. Das aber heißt: die kapitalistische Industrialisierung bewirkt nicht — wie Marx gemeint hatte — die vermehrte Proletarisierung, sondern die schnelle Überführung des Arbeiterproletariats in die mittelständischen Schichten.

Die Erhöhung der Löhne war jedoch nicht allein ein technisches, sie war mehr noch ein wirtschaftliches Gebot der Selbstbehauptung des Kapitalismus. Die Technisierung steigert die Produktivität. Mußten beispielsweise 1950 bei uns für je 100 D-Mark des industriellen Umsatzes elfeinhalb Stunden aufgebracht werden, so sechs Jahre später nur noch sechseinhalb Stunden. Und auf Jahrzehnte gerechnet, multipliziert sich dieser Wachstumskoeffizient noch um ein Vielfaches. Nun ist aber die Produktion nicht Selbstzweck — man kann nur so viel produzieren, wie konsumiert werden kann. Zur Herstellung des unerläßlichen Gleichgewichts zwischen Erzeugung und Verbrauch müssen daher entweder die Arbeitsstunden verringert oder die Löhne erhöht oder die Preise herabgesetzt werden.

Die kapitalistische Wirtschaft hat aus ihren früheren Fehlern gelernt und geht nun alle drei Wege gleichzeitig. Die 48stündige Arbeitswoche — einst das Fernziel der Arbeiterbewegung — ist heute von der 45-stündigen Arbeitswoche bereits unterboten; die amerikanische Arbeitswoche liegt sogar schon unter 40 Stunden. Nicht minder eindrucksvoll ist die Steigerung des Arbeitnehmereinkommens, das in Amerika seinen Anteil am Nationaleinkommen zwischen 1929 und 1956 von 57 auf 70 Prozent erhöht hat; nicht nur nominell, sondern auch real, da die Löhne schneller stiegen als die Preise.

Und zwar zwangsläufig. Die Massenproduktion, dieses Charakteristikum der modernen Industrie, setzt ja notwendig den Massenkonsum voraus. Mit der Produktion möglichst vieler Güter ist es also nicht getan, der kapitalistische Unternehmer muß im Maße ihres Wachstums neue, zusätzliche Kaufkraft produzieren, muß neue Konsumenten erzeugen, wenn nicht er auf seinen Erzeugnissen sitzen bleiben und seine Maschinen verrosten lassen will. Verbraucher zu züchten, ihre Kaufkraft zu pflegen und zu erhöhen, das ist nun ein primäres unternehmerisches Interesse. Lind mit nichts schadet sich der Unternehmer mehr als durch ausbeuterischen Profit. 1929, in der großen Krise, hat der amerikanische Kapitalist entdeckt, daß Ausbeutung dumm ist und selbstmörderisch. Damals entdeckte er: die alte Lehre stimmt nicht, daß Gewinn nur auf Kosten anderer, Reichtum nur auf dem Rücken der Arbeiter und Verbraucher zu haben sei. Vielmehr schätzt der moderne — und der erfolgreiche! — Unternehmer allein als „gutes“ Geschäft, das allen Beteiligten Gewinn bringt. Und nicht angezweifelt wird das Gesetz, daß nichts so sehr Wohlstand erzeugt und erhält als der Wohlstand der anderen, und das heißt aller anderen. Den Gewinn sucht daher der moderne Kapitalist nicht mehr in der hohen Gewinnspanne und nicht im hohen Mehrwert, sondern im hohen Umsatz, dem die niedrige Gewinnspanne vorausgesetzt ist.

So ist im modernen Kapitalismus der Demokratisierung des Eigentums die Demokratisierung des Konsums gefolgt. Jedes neue Industrieerzeugnis, das zunächst seine Käufer nur bei den obersten Schichten findet, jeder Luxusartikel verwandelt sich in der Hand des kapitalistischen Produzenten alsbald zum Massenartikel — wir erleben es bei uns gerade beim Auto und beim Fernsehapparat.

Diese Entwicklung hat der Kapitalismus genau zu d e m Zeitpunkt in Gang gesetzt, da Marx ihm die Verelendung der Massen unterstellte.

War der Lebensstandard der Völker vom alten Athen bis zur Hälfte des vorigen Jahrhunderts fast unverändert auf ein und derselben Stufe stehen geblieben, so hob er sich seither mit bestürzender Geschwindigkeit; ja der Wohlstand der Massen hat den der früheren Eliten schon teilweise überholt. Lim es mit Karl Bednarik zu sagen: „Von der einfachsten Wurzelbehandlung bis zur kompliziertesten Herzoperation stehen heute für jeden Hilfsarbeiter medizinische Hilfen bereit . . . Nicht für Kaiser, König, Edelmann wurde jemals besser gesorgt. Du bist reicher als der Sonnenkönig."

Lind beim Konsumwohlstand bleibt es nicht. Die Lebens-und Verbrauchergewohnheiten bewegen sich auf einer bestimmten Stufenleiter. Zuerst werden die primären Bedürfnisse gestillt — Essen und Trinken. Auf der zweiten Stufe wendet sich das Verbraucherinteresse der Kleidung und Wohnung zu. Danach richtet sich der Konsumwille auf ein drittes Feld: auf Kino, Konzert, Theater und anderes Amüsement der „Freizeit-Industrie“, auf Reisen und „Bildung", auf medizinische und juristische Hilfen, auf all die Dinge, die man auf den gemeinsamen Nenner der „Dienstleistungen" zu bringen pflegt. Der Wohlstand eines Volkes läßt sich nun an der Verteilung seiner Ausgaben auf diese drei Verbrauchs-felder messen.

Um 1800 entfielen in Amerika 80 Prozent der Ausgaben auf die primären Produkte, und je zehn Prozent auf die sekundären und tertiären Konsunibereiche, auf die Industriegüter und die Dienstleistungen — in den kommunistischen Ländern dürfte diese Verbrauchsstaffelung noch heute gelten. In Amerika aber hat sich seither der Konsum mehr und mehr auf das tertiäre Feld der Dienstleistungen verlagert: 1936 beanspruchten sie 34, 5 Prozent aller Ausgaben, und rund die Hälfte aller Berufstätigen in Amerika sind heute in der Sparte der „Dienstleistungen" beschäftigt.

In Europa bahnt sich die gleiche Entwicklung an — wenn auch mit einiger Verspätung: kommt in den USA ein Auto auf 2, 6 Personen, so im westeuropäischen Durchschnitt auf 20. Indessen hat sich Amerika schon auf die vierte Stufe zubewegt, auf den Erwerb von Eigentum — von Eigentum nicht nur an den Wohnungen und Häusern (die derzeit schon zu 80 Prozent ihren Bewohnern gehören), sondern auch an den Produktionsmitteln: wie wir sahen, durch den Kauf von Aktien und indirekt durch den Erwerb von Investmentanteilen oder durch den Abschluß von Lebensversicherungen.

So ist in Amerika sowohl der Konsum wie die Produktion demokratisiert. Der Durchschnittsamerikaner von heute ist in einer Person Arbeitnehmer, Verbraucher und „Kapitalist"; da er alles drei in einem ist, muß er deren ursprüngliche Gegensätze in sich und außer sich überwinden, ausgleichen und versöhnen, denn anders zöge er sowohl als Kapitalist wie als Arbeitnehmer und als Verbraucher den Kürzeren. Diese Personalunion hat Amerika zur Heimat einer „klassenlosen Gesellschaft" gemacht, die sich nicht mehr vertikal nach Eigentum und Besitz differenziert, sondern horizontal nach anderen Kriterien — nach Interessen, Leistung, Bildung und Berufen.

Rückführung des Arbeiters ins Eigentum

Volkskapitalismus — Romantik oder Realität? Auf diese Frage hat Amerika mit „ja“ geantwortet. Nicht mit der Theorie, sondern mit der Tat des „Volkskapitalismus“. Seine Gültigkeit macht aber an den Grenzen der Vereinigten Staaten nicht halt. Wir predigen daher auch keinen „Amerikanismus“, wenn wir für den „Volkskapitalismus" eine Lanze brechen. Er bezeichnet vielmehr eine Stufe, auf die sich der Kapitalismus zwangsläufig hinentwickelt, nachdem er einen bestimmten Grad der Technisierung und der industriellen Konzentration überschritten hat. Amerika erscheint nur deshalb als seine zeitliche Heimat, weil es der Ort der fortgeschrittenen Konzentration und Technisierung ist. Weil es der Ort ist, an dem der Kapitalismus erstmals in seine volle Reife eintritt, indem er alle zu „Kapitalisten" macht. Was Marx als die Todes-krämpfe des Kapitalismus ansah, das waren seine Geburtswehen.

Mag sich Marx im Grabe umdrehen: der Volkskapitalismus erfüllt in letzter Konsequenz die sozialistische Grundforderung — die „Reprivatisierung der Entprivatisierten", die Rückkehr der „Enteigneten“ ins Eigentum. In der Richtung nach oben, während der Kommunismus — wie das bolschewistische Exempel lehrt — das Problem nach unten drückt und es unten festhält: im anonymen „Volkseigentum“, das für den Einzelnen nicht Eigentum ist, noch Eigentum sein kann, da es die Enteigneten in der individuellen Eigentumslosigkeit festhält. Marx hatte die Ursache der Proletarisierung in der Enteignung des Arbeiters erkannt, in der Trennung der Arbeit vom Eigentum. Nachdem sein Heilsrezept — die Überführung des Privateigentums in das Gemeineigentum — sich als Irrweg herausgestellt hat, wie anders kann da noch die Aufhebung der Vermassung und Ausbeutung vorgestellt werden als durch die individuelle Wiedereineignung, als durch die Rückführung des Arbeiters ins Eigentum?

Der zeitbedingte Grundfehler von Marx war wohl seine ausschließlich negative Einstellung zum individuellen Eigentum, das er als die Erbsünde schlechthin ansah, als den Keim aller Übel. Seine Verurteilung des Eigentums besteht zu recht, wo es monopolisiert ist — und zwar gleichgültig, ob es von Einzelpersonen und einer Klasse oder ob es vom Staat und einer Partei monopolisiert ist. Das Eigentum aber verwandelt sich aus einem Fluch zu einem Segen, wo es gleichmäßig und gerecht verteilt, wo die unheilvolle Trennung von Kapital und Arbeit aufgehoben wird. Die radikale Abschaffung des Eigentums ist nicht das Heil, sondern eine Lüge. Was da ist, gehört wem. Es kann nur den Eigentümer wechseln. Wird es der Person genommen, dann geht es an den Staat über, richtiger an dessen Funktionäre. Die bestmögliche, und das kann nur heißen: die am wenigsten üble aller Welten ist vielmehr die, in der das Eigentum an den Produktionsmitteln unter möglichst vielen, unter möglichst allen möglichst gleichmäßig verteilt ist — und zwar in der Identität von Arbeit und Kapital. Das Übel des Kapitalismus ist nicht das Eigentum, sondern das ungleiche Eigentum und seine Abspaltung von der Arbeit. Dieses sein Übel überwindet der Volkskapitalismus — der Staatssozialismus aber steigert es zum schlimmsten Exzeß.

Alle unsere Erfahrung — die des Kommunismus nicht anders wie die des Feudalismus und des Frühkapitalismus — bezeugt: Eigentumslosigkeit bedingt Unfreiheit. Eigentum aber ist ein anderes Wort für Unabhängigkeit. So gewiß die Freiheit etwas anderes und mehr ist als das Eigentum, so ist doch das Eigentum die materielle Basis der Freiheit. Oder um es noch genauer einzugrenzen: ohne Eigentum ist die Freiheit nicht zu haben. Eine Welt aber, die das Recht auf das private Eigentum als ein Unterpfand der Freiheit verteidigt, widerlegt sich selbst und unterhöhlt ihre Grundlagen, wenn sie breite Schichten vom Besitz ausschließt.

Volkskapitalismus ist wirtschaftlich notwendig

Die Eigentumsfrage brennt uns heute mehr denn je auf den Nägeln, weil unseren Industrien die Umstellung auf Automation und Atomenergie bevorsteht, die riesiger Milliarden Kapitalien bedarf und das Eigentumsvolumen ungeheuer aufblähen wird — die Investitionskosten pro Arbeitsplatz in der vollautomatisierten Fabrik werden auf 600 000 D-Mark veranschlagt. Woher die Mittel? Aus ihren eigenen Taschen können sie die Unternehmer gewiß nicht aufbringen Bleibt es in Europa bei den bisherigen Finanzierungsmethoden, bei der Kredit-finanzierung durch Banken und Staat, das heißt durch Sparer und Steuerzahler, dann werden zwar wir die neue Entwicklung bezahlen, der gewaltige neue Vermögenszuwachs aber wird dann entweder einen neuen Monopolkapitalismus züchten oder dem Staat in den Schoß fallen Das ne können wir so wenig wünschen wie das andere. Wenn wir schon, das Volk, die neue Runde der Industrialisierung bezahlen müssen, dann besser direkt als Eigentümer denn als Steuerzahler oder Sparer, als die wir nur neue Mächte schaffen würden, von denen wir nichts als die Verringerung unserer Unabhängigkeit und die Einengung unserer Freiheit zu erwarten hätten. Das Interesse der Gesamtwirtschaft selber aber erfordert die Lösung des Volkskapitalismus, da er allein die Kaufkraft des Verbrauchers so steigern kann, daß dieser die bevorstehende Produktionsvermehrung aufnehmen kann. Der Volkskapitalismus ist also nicht nur sozial wünschenswert, er ist auch wirtschaftlich notwendig.

Er ist nicht minder eine politische Notwendigkeit. Es ist eine unwiderlegbare Lehre der gesamten Menschheitsgeschichte: Freiheit und Demokratie hören auf, wo wirtschaftliche und politische Macht in e i n e Hand fallen. Die Sozialisierung nun ist nichts anderes als die Usurpierung der wirtschaftlichen von der politischen Macht. Die Demokratie lebt aber von der Gewaltentrennung auch und in erster Linie von der Trennung der wirtschaftlichen von der politischen Macht. Die Konzentration der Produktion, die nicht von der Dezentralisation des Eigentums neutralisiert wird, neigt jedoch zur Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht. Von dieser Tendenz bezieht der Kommunismus seine Chance in vielen Teilen der Erde. Die Alternative, vor die uns die Technik stellt, heißt also Sozialisierung oder Demokratisierung der Wirtschaft.

Sozialisierung der Wirtschaft — das wäre das Ende der politischen Demokratie. Demokratisierung der Wirtschaft aber durch Volkskapitalismus macht erst aus der politischen Demokratie die volle, die ganze Demokratie.

Ist aber diese Auslegung nicht materialistischer Geschichtsdeterminismus ä la Marx, der bekanntlich die Geschichte auf die Entwicklung der Produktionsmittel zurückführt? Darauf müßten wir mit einem Ja und mit einem Nein antworten. Mit Ja: weil die materiellen Daseinsfaktoren tatsächlich Geschichte machen, weil ihre Eigengesetzlichkeit dem mensch-liehen Willen feste Grenzen setzt. Mit Nein: weil die materiellen Faktoren das geschichtliche Geschehen nicht — wie der Marxismus meint — in eine Einbahnstraße stoßen, sondern sich ihm in Gestalt einer Alternative stellen. Die Alternative selbst — Sozialisierung oder Demokratisierung der Wirtschaft — diese Alternative ist unser „materielles“ Schicksal, dem wir nicht davonlaufen können. Die Weichenstellung aber liegt in der Hand unseres Willens. Wir selbst haben zu entscheiden zwischen Volkskapitalismus und Kommunismus — und wir haben zu entscheiden von einem Punkt aus, der außerhalb unserer materiellen Bestimmtheit liegt. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Iring Fetscher: „Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus“

Karl Ernst Jeismann: „Zum Problem des Friedens im 20. Jahrhundert"

Hans Koch: „Die Zusammenarbeit Moskaus und Pekings während der europäischen Satellitenkrise"

Helmut Schäfer: „Entstehung der subarktischen Großstadt Workuta"

Georg Stadtmüller: „Geschichte Europas als Problem"

Markus Timmler: „Der wirtschaftliche Wettstreit um Asien und Afrika"

Bernhard Wegmann: „Die Weltindustrieproduktion"

Heinrich Weinstock: „Die politische Verantwortung der Erziehung in der demokratischen Massengesellschaft des technischen Zeitalters"

Karl A. Wittfogel: „Die chinesische Gesellschaft"

Henri M. Wriston: „Erziehung und das Nationalinteresse" • • • „Das Reich der Mitte unter Mao Tse Tung“Nachturaerungen der Beilagen Wochenzeitung . Das Parlament'Beilage zum Preise von DM . Aus Politik una zum Preise von DM 5, — oro Stück einschließlich

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Johannes Gaitanides, geb. 10. Juli 1909 in Dresden, ist Deutsch-Grieche, studierte in München Germanistik, Geschichte und Geographie. Seit 1948 arbeitet er als freier Schriftsteller für Presse und Rundfunk (vor allem auch als Kommentator für den Bayrischen Rundfunk). Im Paul List-Verlag, München, erschien „Griechenland ohne Säulen", im Friedrich Vor-werk-Verlag, Stuttgart, „Passion Europa" (1956).