Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Verschwörung der Kremlärzte | APuZ 28/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 28/1957 Die Verschwörung der Kremlärzte Marxismus und russisches Erbe im Sowjetsystem

Die Verschwörung der Kremlärzte

WOLFGANG LEONHARD

Keine Phase der sowjetischen Entwicklung dürfte so unklar, rätselhaft und widerspruchsvoll sein wie die Ereignisse zwischen der offiziellen Mitteilung über eine angebliche „Verschwörung der Kremlärzte“ am 13. Januar 1953, dem offiziell angegebenen Datum des Todes von Stalin am 5. März und der Freilassung und Rehabilitierung der Kremlärzte am 4. April 1953. Seit dieser Zeit sind mehr als vier Jahre vergangen und manches, was damals unerklärlich schien, ist inzwischen verständlich geworden; vor allem jedoch dürfte inzwischen unbestritten sein, daß es sich bei diesen Ereignissen nicht nur um eine geheimnisvoll anmutende Episode im Frühjahr 195 3 handelt, sondern

Die Vorbereitung der „Ärzteverschwörung"

Die am 13. Januar 1953 veröffentlichte Mitteilung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, worin neun führende Ärzte der medizinischen Verwaltung des Kreml beschuldigt wurden, die ehemaligen Politbüromitglieder Shdanow und Schtscherbakow ermordet, sowie die Ermordung von fünf hohen sowjetischen Militärführern geplant zu haben, stellte den Höhepunkt einer seit langem vorbereiteten politischen Kampagne dar, die im Spätsommer 1952 von der Stalinführung begonnen worden war. Um diese Zeit dürfte die Stalinführung beschlossen haben, die für sie gefährlichen Kräfteverschiebungen innerhalb des Systems — vor allem das Vordringen der nach Ruhe und Sicherheit strebenden Wirtschaftskräfte — durch die erneute Hervorhebung des Parteiapparates in Schach zu halten. Diesem Ziel diente der vom 5. — 14. Oktober tagende 19. Parteitag der KPdSU, der nach dreizehneinhalb Jahren Pause einberufen worden war, um die führende Rolle der Partei zu betonen, die ideologisch-politische Tätigkeit der Partei zu verstärken und gleichzeitig innerhalb der Partei jene Veränderungen durchzuführen, die, rückschauend betrachtet, deutlich der Vorbereitung für eine bereits damals geplante Wachsamkeitskampagne und Säuberung dienten.

Der 19. Parteitag beschloß anstelle der bis dahin im Statut festgelegten vier Pflichten jedes Parteimitgliedes zusätzlich neun weitere einzufügen; zu den neuen Pflichten gehörten, die Staatsdisziplin (nicht wie früher nur Parteidisziplin) zu festigen, die Kritik und Selbstkritik zu entwickeln, politische Wachsamkeit zu üben, sowie „daran zu denken, daß Wachsamkeit der Kommunisten auf jedem beliebigen Arbeitsgebiet und in jeder Situation notwendig ist“. Jedes Parteimitglied wurde in dem neuen Statut auch verpflichtet, „den leitenden Partei-organen bis zum Zentralkomitee der Partei über Mängel in der Arbeit ohne Ansehen der Person Mitteilung zu machen". Gleichzeitig wurden die Kompetenzen der Partei-Kontrollkommission verschärft. Die Kontroll-Kommissionen, die die Parteidisziplin zu überwachen und Parteimitglieder zur Verantwortung zu ziehen haben, falls sie sich, vom um ein Ereignis, das große und wichtige politische Widersprüche deutlich werden ließ, dessen Nachwirkungen bis heute noch zu spüren sind und dessen letzter Akt noch bevorstehen dürfte.

Die nachstalinistische Führung hat bis heute noch nicht diesen Fall restlos aufgeklärt und es kann daher wohl sein, daß in absehbarer Zukunft die „Verschwörung der Kremlärzte“ noch einmal aufgerollt wird — umso notwendiger erscheint es, die bisherigen Hinweise zusammenzufassen und jene Schlußfolgerungen zu ziehen, die heute vielleicht schon gezogen werden können.

Standpunkt der Parteiführung, eines Vergehens schuldig gemacht haben, erhielt im neuen Statut zusätzlich das Recht, „in den Republiken, Gauen und Gebieten seine von'den örtlichen Parteiorganen unabhängigen Bevollmächtigten einzusetzen“. Durch diese Bestimmung wurde sowohl die Kontrolle der Parteiführung über die örtlichen Parteiorganisitionen noch weiter verstärkt, als auch ein von diesen völlig unabhängiges Organ geschaffen offensichtlich mit dem Ziel, die Säuberung auch innerhalb der Partei vorzubereiten und später leichter durchführen zu können.

Schließlich wurden unmittelbar nach dem 19. Parteitag die höchsten Organe der Parteiführung vergrößert und verwässert. Das Politbüro, das bis zum 19. Parteitag aus neun Mitgliedern bestand, wurde in ein INHALT DIESER BEILAGE: Wolfgang Leonhard:

Die Verschwörung der Kremlärzte Werner Markert:

Marxismus und russisches Erbe im Sowjetsystem (S. 455) „Parteipräsidium“ umbenannt und seine Mitgliederzahl auf fünfundzwanzig vergrößert, hinter den neuen Mitgliedern befanden sich meist jüngere Parteifunktionäre, die teilweise nur wenig bekannt waren. Die Zahl der Kandidaten des Parteipräsidiums wurde von vier auf elf erhöht, das Sekretariat des Zentralkomitees von fünf auf zehn Personen. Durch die Vergrößerung dieser höchsten Parteiorgane wurden völlig unklare Herrschaftsverhältnisse geschaffen mit dem deutlichen Ziel, die bis zu diesem Zeitpunkt führende Elite der Partei einer Säuberung zu unterziehen. Stalin dürfte er vor allem darum gegangen sein, die älteren Politbüromitglieder, Molotow, Woroschilow, Mikojan, in der weiteren Entwicklung wahrscheinlich auch Kaganowitsch und Bulganin, vielleicht auch Chruschtschow auszuschalten und durch jüngere, weniger erfahrene Funktionäre zu ersetzen, die ihn in jeder Hinsicht unterstützen würden und zudem den Vorzug hatten, über die internen Fragen der Partei aus der Zeit der zwanziger oder dreißiger Jahre etwas wissen. kaum zu Nach Abschluß des 19. Parteitages (Mitte Oktober 1952) bis zur offiziellen Bekanntgabe über die „Verschwörung der Kremlärzte''

(Mitte Januar 19 5 3) stand die sowjetische Innenpolitik völlig im Zeichen der Verschärfung der Wachsamkeit und damit der Vorbereitung einer neuen großen Säuberung. Diese Vorbereitung verlief in drei Hauptlinien.

Der Hauptschlag richtete sich zunächst gegen die Wirtschaftsfunktionäre. Von Oktober bis Mitte Januar wurden sie in immer schärferer Form beschuldigt, beschönigende Berichte an höhere Instanzen abgegeben, die Interessen der eigenen Dienststelle über die Gesamtinteressen der Partei und des Staates gestellt und Bedingungen geschaffen zu haben, „in der eine Hand die andere wäscht und das Bestreben herrscht, bestehende Mängel im gegenseitigen Interesse zu vertuschen“. Dagegen wurde nun, ähnlich wie zu Beginn der großen Säuberung von 1936— 38 eine scharfe Kampagne eingeleitet, denn tatsächlich lag für die Stalinführung eine großer Gefahr darin, daß die bestehenden freundschaftlichen Beziehungen im Wirtschaftsapparat dazu führen könnten, daß die entsprechende Institution oder Organisation sich der Kontrolle von oben entziehen und auf zunehmende Unabhängigkeit drängen könnte. Außerdem mußten diese „Familienzirkel“

von der Stalinführung zerschlagen werden, um das politische Klima zu verschärfen und eine Psychose der Wachsamkeit und des gegenseitigen Mißtrauens zu schaffen. Die Kampagne gegen Wirtschaftsfunktionäre bestand nicht nur aus Zeitungsartikeln und Parteikonferenzen. Anfang Dezember wurden bereits die ersten Todesurteile gegen Wirtschaftsfunktionäre in der Ukraine vollstreckt und der Angriff nun auch auf Parteiorganisationen ausgedehnt, die mit den Wirtschaftsfunktionären verbunden waren und sich nicht in der gewünschten Schnelligkeit dem von Stalin geforderten scharfen Kurs anpaßten.

Die zweite Methode zur Vorbereitung der Säuberung bestand darin, die Unsicherheit innerhalb der Spitzenführung noch zu vergrößern.

Nachdem die Stalinführung durch die Vergrößerung der höchsten Parteiorgane Unklarheit und Verwirrung geschaffen hatte, wurde plötzam 30. Oktober 1952, zwei Wochen nach dem Parteitag, der mit den Shdanow-Kreisen eng verbundene Marschall Goworow durch eine aufsehenerregende Mitteilung nachträglich als Kandidat in das Zentralkomitee kooptiert (mit der eigentümlichen Begründung, durch einen Fehler der Mandatskommission sei sein Name vergessen worden). Am 7. November geschah das Außergewöhnliche, daß der gerade eben erst kooptierte Marschall Goworow die Ehre erhielt, während der großen Demonstration auf der Tribüne des Mausoleums direkt neben Stalin stehen zu dürfen. Am gleichen Tag wurde die Reihenfolge der Namensnennung der Führung geändert. Berija, bisher stets. an vierter Stelle (nach Stalin, Malenkow und Molotow) genannt, fiel auf den sechsten Platz zurück. Woroschilow und Bulganin rückten vor den Chef des Innenministeriums und der Staatspolizei. Kein einziges Mitglied des Parteipräsidiums — mit Ausnahme des Parteiideologen Suslow -hat in diesen drei entscheidenden Monaten auch nur einen einzigen Artikel in der Sowjetpresse veröffentlicht. Nach den Angaben Chruschtschows im Geheimreferat sollen sich Molotow und Woroschilow bereits damals in Hausarrest befunden haben und Mikojan soll von Stalin bestimmter Vergehen beschuldigt worden sein.

Die dritte Maßnahme zur Vorbereitung der großen Säuberung lag darin, eine Situation zu schaffen, die es der Stalinführung ermöglichte, durch die Schaffung eines Hauptangeklagten eine große Zahl von höchsten Partei-, Staats-und Wirtschaftsfunktionären zur Verantwortung ziehen zu können. Dies geschah durch die sogenannte „Fedossejew-Affäre“. Professor Fedossejew, lange Jahre Redaktionsmitglied der führenden parteioffiziellen Zeitschrift „Kommunist“ wurde am 24. Dezember in einem Artikel vom Parteiideologen Suslow beschuldigt, in den Jahren 1948— 49 die Auffassung des damaligen Politbüro-Mitglieds Wossnessenskij propagiert zu haben. Wossnessenskij aber war 1948 bis 49 nicht nur Politbüro-Mitglied, sondern gleichzeitig Stellvertretender Ministerpräsident der UdSSR und Vorsitzender der Staatlichen Planungskommission und sein 1948 erschienenes Buch „Die Wirtschaft der Sowjetunion während des großen vaterländischen Krieges“ hatte den Stalinpreis erhalten. Es gab unter den führenden Partei-, Staats-und Wirtschaftsfunktionären kaum einen, der 1948— 49, als Wossnessenskij in höchsten Ehren stand, nicht seine Ideen und Auffassungen propagiert hätte. Wossnessenskij war in März 1949 seiner Funktionen enthoben und bis zum 24. Dezember nie wieder erwähnt worden. Dieses Schweigen wurde nun gebrochen — durch den Parteiideologen Suslow, der früher im Privatsekretariat Stalins tätig war, seit 1946 die Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees leitete und auf dem 19. Parteitag zum Mitglied des ZK-Präsidiums ernannt worden war. Nachdem Suslow jetzt Wossnessenskij wieder genannt und diesen als Hauptfeind herausgestellt hatte, waren mit einem Schlag alle jene Wirtschafts-, Staats-und Parteifunktionäre angeklagt, die 1948 bis 49 direkt oder indirekt mit Wossnessenskij irgendetwas zu tun hatten. Durch die Herausstellung des Hauptfeindes Wossnessenskij waren somit eine ganze Schicht führender Wirtschaftler, Parteifunktionäre und Parteiideologen als präsumptive Volksfeinde dargestellt.

Die innenpolitische Vorbereitung der Säuberung wurde durch ähnliche Methoden in den Ostblockstaaten unterstützt. Es sei nur daran erinnert, daß in der kurzen Zeitspanne vom Oktober 1952 bis Januar 1953 in der Tschechoslowakei der Slansky-Prozeß stattfand, in der KP Frankreichs die Parteiführer Andre Maity und Charles Tillon gesäubert, in der KP Griechenlands das Politbüromitglied Joanidis ausgeschlossen, in der KP Finnlands der Chefredakteur Palmgreen seiner Funktion enthoben und in der Sowjetunion ein Prozeß ä la Slansky vorbereitet wurde.

Alle diese Maßnahmen hatten die Situation in wenigen Monaten weitgehend verändert. Die Mitteilung über eine Verschwörung der Kremlärzte hätte ohne diese Vorbereitung keineswegs jene Wirkung haben können. Sie erfolgte zu einem Zeitpunkt, da durch eine organisierte Kampagne jene Verschärfung der Atmosphäre und Wachsamkeitspsychose geschaffen worden war, die diesem Ereignis die größte Wirkung geben mußte.

Die Bekanntgabe der „Ärzteverschwörung"

Am 13. Januar 195 3 wurde unter der harmlos erscheinenden Über-schrift „Chronik“ in der letzten Spalte auf der letzten Seite der Prawda eine Mitteilung veröffentlicht, wonach es den Organen des Staatssicherheitsdienstes gelungen sei, eine „terroristische Ärztegruppe zu entlarven“. Neun Professoren der medizinischen Verwaltung des Kreml wurden beschuldigt, „als geheime Feinde des Volkes ihre Patienten vorsätzlich einer schädlichen Behandlung“ unterworfen, absichtlich falsche Diagnosen gestellt und ihre Patienten durch falsche Behandlungsmethoden getötet zu haben. Sie hätten versucht, „die Gesundheit führender militärischer Persönlichkeiten der Sowjetunion zu untergraben, diese zu beseitigen und damit die Landesverteidigung zu schwächen".

Den bedeutenden Experten der Sowjetmedizin wurde ferner vorgeworfen, bereits früher den Tod des ehemaligen Chefs der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee Generaloberst Schtscherbakow (gestorben am 11. Mai 1945) und den Tod des Sekretärs des Zentral-komitees der Bolschewistischen Partei, Shdanow (gestorben am 30. August 1948) auf dem Gewissen zu haben. Außerdem hätten sie versucht, die Sowjetmarschälle Wassiljewskij, Goworow, Konjew, den Armeegeneral Schtemenko und Admiral Lewtschenko zu beseitigen. Von den neun angeklagten Kreml-Ärzten sollten laut der Mitteilung fünf Professoren (Wowsi, B. B. Kogan, Feldman, Grinstein und Etinger) mit der internationalen jüdischen Organisation „Joint“ und dem amerikanischen Geheimdienst in Verbindung gestanden haben. Drei Professoren (Winogradow, M. B. Kogan und Jegorow) wurden beschuldigt, langjährige Agenten des britischen Geheimdienstes gewesen zu sein, während Majorow als einzigem Angeklagten keine ausdrückliche Verbindung zum Ausland vorgeworfen wurde. In der Mitteilung wurden die Staatssicherheitsorgane gerügt, da sie die Schädlingsorganisation „nicht rechtzeitig aufgedeckt hätten“ sowie das Gesundheitsministerium der UdSSR, weil es „die terroristische Schädlingsarbeit der gemeinen Ausgeburten“ übersehen habe.

Die Mitteilung vom 13. Januar gibt uns einige Hinweise über den vermutlichen Zeitpunkt, wann von der Stalinführung der Plan für die Inszenierung dieser Verschwörung gefaßt worden ist. Die angeklagten Kremlärzte hatten jahrelang unbestritten das Vertrauen der Stalin-führung genossen. Der Angeklagte Professor Wowsi erhielt 1947 für „heroische Leistungen bei den Kämpfen um Leningrad“ den Leninorden.. Professor Winogradow war sogar der Stalinführung in der Vergangenheit politisch behilflich gewesen. Beim Prozeß gegen den rechtstrotzkistischen Block im Frühjahr 1938 hatte er als gerichtsmedizinischer Experte fungiert — gegen die damals angeklagten Kremlärzte, Pletnjow, Kasakow und Lewin. Nun, fünfzehn Jahre später, befand sich Winogradow selbst auf der Anklagebank.

Noch am 27. Februar 1952 — und dies scheint für die Ermittlung des Zeitpunktes wichtig zu sein — war Winogradow mit dem Leninorden für „Verdienste auf dem Gebiete der Medizin“ ausgezeichnet worden. Es dürfte daher wahrscheinlich sein, daß die Stalinführung den Beschluß über eine neue große Säuberung nach dem 27. Februar 1952 und vor dem 19. Parteitag im Oktober 1952 gefaßt hatte. Das für den engeren Kreis der Sowjetführung in dieser Zeit wesentlichste Ereignis war die interne Diskussion über die Ausarbeitung eines neuen Lehrbuchs der politischen Ökonomie. An dieser Diskussion nahm Stalin einen aktiven Anteil und im Laufe dieser Diskussion verfaßte er seine letzte Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“. Der Hauptteil dieser Schrift war am 1. Februar 1952 beendet. Darauf folgten Stalins „Antwort an Notkin“ am 21. April, seine „Antwort an Jaroschenko" am 22. Mai 1952 und schließlich seine „Antwort an Sanina und Wenscher“ am 28. September 1952. Stalins Schrift, zusammen mit den erwähnten Antworten, wurde am 3. — 4. Oktober 1952, d. h. am Vorabend des 19. Parteitages veröffentlicht. Die hier genannten Daten geben uns gewisse Anhaltspunkte. Die Stalinführung hatte, wie aus Stalins Anworten eindeutig hervorgeht, maßgebliche Ideologen und Ökonomen der Partei beauftragt, im Rahmen der Vorbereitung für das zukünftige parteioffizielle Lehrbuch der politischen Ökonomie eigene Abhandlungen zu bestimmten Themen zu verfassen. Diese Vorarbeiten waren dann Stalin zugeleitet worden. Der Text dieser Arbeiten ist uns nicht bekannt, wohl aber einige Zitate daraus, die Stalin in seinen Anworten veröffentlichte. Aus diesen Zitaten ist jedoch sichtbar, daß die genannten Parteiideologen und Ökonomen Auffassungen vertreten hatten, die Stalin (von seinem Standpunkt übrigens mit Recht) als äußerst gefährlich insehen mußte. Es sei hier nur erwähnt, daß Jaroschenko sich ganz offen für ein Primat der neuen Wirtschaftsschichten des Landes ausgesprochen und Sanina und Wenscher sogar die Auflösung der Maschinen-Traktorenstation — einer Lieblingsidee Stalins — sowie die Übergabe der landwirtschaftlichen Maschinen an die Kollektivwirtschaft vorgeschlagen hatten.

Die scharfen Antworten Stalins zeigen, wie entschlossen er diese ketzerischen Ansichten zurückwies. Die Gefährlichkeit der Situation mag ihm deutlich bewußt geworden sein. Wenn sich sogar Funktionäre seiner engeren UImgebung, geschulte Parteiideologen und Ökonomen mit so weitgehenden Reformgedanken trugen, wie ernst mußten dann die Strömungen in anderen Teilen der herrschenden Schicht sein! Laut Chruschtschows Geheimreferat hatte damals Stalin zu den Mitgliedern des Politbüros geäußert: „Ihr seid blind wie junge Katzen. Was würdet Ihr wohl ohne mich machen? Das Land wird untergehen, weil Ihr Eure Feinde nicht erkennen könnt“. Stalin erkannte seine Feinde rechtzeitig und es ist durchaus denkbar, daß er sich nicht nur auf ideologische Anworten an Notkin, Jaroschenko, Sanina und Wenscher beschränkte, sondern gleichzeitig beschloß, sowohl diese Funktionäre als auch vor allem die hinter ihnen stehenden Kräfte, die nach Ruhe und Sicherheit strebenden Wirtschaftsführer durch eine Säuberung zu vernichten. Die Tatsache, daß der verschärfte Kurs gegen Wossnessenskij und seine Anhänger begann und die Kampagne sich in erster Linie gegen die Wirtschaftsfunktionäre und die mit ihnen verbundenen Teile des Partei-und Staatsapparates richtete, läßt die Schlußfolgerung zu, daß der letzte Anstoß für die Säuberung somit in der Zeit der ideologischen Diskussionen um das neue Lehrbuch, d. h. in der Zeit zwischen Februar und September 1952 gegeben wurde.

Die Säuberung der Wirtschaftsfunktionäre scheint mir noch bedeutsamer zu sein als die meist in den Vordergrund gestellten anti-semitischen Momente in der Ärzteverschwörung. Gewiß: von den neun Kremlärzten waren fünf (nach einigen Berichten vier, nach anderen sogar sechs oder sieben) jüdischer Abstammung. Die Anklage, sie hätten mit der jüdischen Organisation „Joint“ in Verbindung gestanden, und die anti-semitischen Momente in dem Slansky-Prozeß vom November 1952 waren so deutlich, daß eine anti-semitische Komponente zweifellos nicht geleugnet werden kann. Andererseits dürfte dies kaum als alleinige Erklärung ausreichen, denn unter den verhafteten Kremlärzten befanden sich keineswegs nur Juden, sondern auch Russen und Ukainer, und sowohl vor als auch nach der „Ärzteverschwörung“ richtete sich die Kampagne keineswegs nur gegen Juden, sondern gegen weitaus größere Teile der sowjetischen Bevölkerung.

Auch die weit verbreitete „Anti-Berija-These“, nach der die Verschwörung dazu dienen sollte, einen Schlag gegen Berija und seinen Apparat zu führen, dürfte kaum als alleinige Erklärung ausreichen. Gewiß war Berija, wie bereits erwähnt, am 7. November in der Reihenfolge der Führer degradiert und auch die Kritik am Staatssicherheitsdienst könnte wohl gegen ihn gemünzt sein. Auf der anderen Seite aber hatte es auch zu Beginn der großen Säuberung von 19 36— 38 eine ähnliche Kritik am Staatssicherheitsdienst gegeben — um ihn zu schnellerem und schärferem Vorgehen anzuspornen. Es ist durchaus möglich, daß auch diesmal eine ähnliche Regie geplant war und die Kritik am Staatssicherheisdienst nicht eine Zurückdrängung bedeutete, sondern vielmehr als Ansporn zu schärferem Vorgehen gedacht war.

Eine weitere Erklärung könnte man als die „Armee-These“ bezeichnen. Sie geht davon aus, daß den Kremlärzten eigentümlicherweise vorgeworfen wurde, ausschließlich die Ermordung von Militärführern geplan zu haben. Da es während der Stalin-Ära kaum eine größere Ehre gegeben hat, als von sogenannten „Volksfeinden“ ermordet zu werden, wurden diese gewissermaßen als besonders vertrauenswürdig hingestellt, was auf eine wachsende Machtstellung schließen läßt. Die Ärzte-Verschwörung, so wird gefolgert, sei entweder direkt von Militärführern oder aber auf Druck der Armeeführung inszeniert worden, um den eigenen Einfluß und die Rolle der Armee im Stalin-System zu vestärken. Es scheint tatsächlich sehr viel dafür zu sprechen, daß die Armeeführung von der zu erwartenden Vernichtungswelle verschont werden sollte — zumindest in der ersten Periode. Es ist jedoch sehr fraglich, ob im weiteren Verlauf der Säuberungskampagne die Armeeführung völlig verschont geblieben wäre, auf jeden Fall aber zweifelhaft, daß die Armeeführung tatsächlich ein neues 1937 erstrebt oder sogar forderte.

Obwohl es somit durchaus wahrscheinlich ist, daß innere Auseinandersetzungen in der Sowjetführung bei der „Verschwörung der Kremlärzte“ eine Rolle gespielt haben dürfen, scheinen die heute zur Verfügung stehenden Materialien noch nicht auszureichen, weder um die Rolle der inneren Machtkämpfe bei dieser Inszenierung, noch um die treibenden Kräfte genau . feststellen zu können.

Die Krankheit Stalins

Neben den Hypotheken über den Ärzte-Komplott als Instrument einer anti-semitischen Kampagne oder als Ausdruck innerer Machtkämpfe, könnte die Verschwörung der „Mörderärzte“ im Kreml auch noch durch die Krankheit und die daraus entspringende Todesangst Stalins erklärt werden. Diese Hypothese ist keineswegs so unwahrscheinlich oder unglaublich, wie sie im ersten Augenblick klingen mag; in der Tat gibt es dafür zwei interessante Hinweise, daß dies zumindest eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte. So wurde in einer ärztlichen Stellungnahme zu den offiziellen sowjetischen Erklärungen über die Erkrankung und den Tod Stalins in der deutschen Zeitschrift „Osteuropa“ darauf hingewiesen, daß Stalin an einer Blutdruckkrankheit gelitten habe und eine Art schwerer Arteriosklerose des Gehirns festgestellt worden sei. Offensichtlich müßten daher schon in den letzten Jahren seines Lebens Krankheitssymptome bestanden haben, wahrscheinlich in Form einer Angina pectoris, möglicherweise aber auch in Form leichter Schlaganfälle. Dies führe zu wiederholten Durchblutungsstörungen der Organe, . besonders aber des Herzens und des Gehirns. „Bei Beachtung dieses Punktes bekommt die vor einigen Monaten berichtete Verhaftungswelle der neun Kremlärzte ein neues Gesicht. Man könnte sich denken, daß Stalin wegen eines leichten Angina-pectoris-Anfalles von den Kremlärzten behandelt wurde und daß trotz der Behandlung ein schwerer Angina-pectoris-Anfall oder ein leichterer Schlaganfall nachfolgte — ein dem Arzt aber nicht dem Laien verständliches Geschehen"

Da das allgemeine tiefe Mißtrauen Stalins gegenüber seiner Umgebung, vor allem in den letzten Jahren seines Lebens, bekannt ist — und durch Chruschtschows Referat vom 25. Februar 1956 noch bestätigt wurde — wäre es nicht unmöglich, daß Stalin tatsächlich um sein Leben bangte und an die Gefahr glaubte, von den Kremlärzten, wenn auch nicht ermordet, so doch „vorsätzlich einer schädlichen Behandlung“

unterworfen zu sein und annahm, daß diese „falsche Diagnosen stellten, die nicht dem wahren Charakter der Krankheit entsprachen“. Das aber wurde ja gerade den Kremlärzten (wenn wir von der angeblichen Ermordung der Militärführer und den haarsträubenden politischen Beschuldigungen absehen) am 13. Januar 195 3 vorgeworfen! Die Angst vor seinem Tod und die aus LInkenntnis über die medizinischen Vorgänge geborene Furcht, er würde vorsätzlich nicht richtig behandelt (von dieser Annahme bis zur Sabotage und Ermordung dürfte für Stalin nur ein kleiner Schritt gewesen kein) scheint übrigens auch aus einer sowjetischen Quelle — natürlich nur in indirkter Form — hervorzugehen. Nur zwei Wochen nach der Veröffentlichung über die Verschwörung der Kremlärzte erschien im offiziellen Organ des sowjetischen Gesundheitsministerium ein scharfer Angriff gegen den Leiter des Pharmakologischen Komitees, Professor Schereschewski, den stellvertretenden Minister für Gesundheit, Kotschergin und den Vorsitzenden des medizinischen Gelehrtenrates des Gesundheitsministeriums der UdSSR, Professor Wyhodtschikow, weil diese „die Lösung des überaus wichtigen Problems, die menschliche Gesundheit zu stärken und das Leben zu verlängern, in unzulässiger Weise verzögern“. Es könnte durchaus möglich sein, daß dieser Angriff im Zusammenhang mit Stalins Erkrankung gestanden hat und das Gesundheitsministerium angegriffen wurde, weil es nicht schnell genug neue Medikamente herstellte, die Stalins Leben verlängern sollten.

Wenn auch die Todesangst Stalins allein kaum als Erklärung für die Inszenierung der Verschwörung ausreicht, so könnte dies wohl ein Faktor, neben anderen, vorwiegend politischen Gründen, dafür gewesen sein, daß sich der Schlag zunächst, fast voreilig gegen die Kremlärzte richtete.

Die entscheidende Ursache für dieses immer noch nicht geklärte Ereignis dürfte jedoch darin gelegen haben, durch die Aufdeckung einer angeblichen „Verschwörung“ die allgemeine Wachsamkeitskampagne und Säuberungswelle schlagartig zu verschärfen, und zwar in einer solchen Art, daß weder ihre Richtung noch die davon, betroffenen Kreise der Sowjetbevölkerung sofort sichtbar würden. Die Formulierungen, die unmittelbar nach der Veröffentlichung in der Prawda erschienen „Um also die Schädlingsarbeit zu beseitigen, muß mit der Vertrauensseligkeit in unseren Reihen Schluß gemacht werden", wurden in den Mittelpunkt der gesamten Kampagne gestellt. Nachdem die Prawda Vertrauensseligkeit als Vorbedingung und Voraussetzung der Schädlingsarbeit bezeichnet hatte, konnten nun auch alle diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die sich der Säuberung widersetzten oder diese abzuschwächen, zu verzögern und ihr Ausmaß zu verringern suchten. Der Stoß richtete sich damit auch gegen Kräfte, die wahrscheinlich in der höchsten Spitzenführung vorhanden waren — und es war eine Warnung, die kaum hätte überhört werden können.

Das Ziel der letzten Stalin-Säuberung

Vom Tage der Mitteilung über die „Verschwörung der Kremlärzte“

begann in der gesamten Sowjetunion eine ungeheure Hetze gegen einen immer weitergehenden Personenkreis in hunderten von Zeitungen, Dutzenden von Zeitschriften und Rundfunksendungen, auf Kundgebungen und Konferenzen in den Organisationen der Partei, der Gewerkschaft, der Jugend, auf Konferenzen der Wissenschaftler, Wirtschaftler und Ärzte. Recht schnell verschob sich das Schwergewicht dieser Kampagne von direkten Feinden auf alle diejenigen, die „mangelnder Wachsamkeit" und „Schlafmützigkeit“ beschuldigt wurden.

Am 20. Januar, eine Woche nach der „Entlarvung" der Kremlärzte wurde die Ärztin Lidija Fedrossejew Timaschuk „für die Hilfe, die sie der Regierung bei der Entlavung der Mörderärzte erwies" vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR mit dem Leninorden ausgezeichnet. Damit war erstmalig das Denunziantentum offiziell als besondern positiv und nachahmenswert herausgestellt worden — eine Tendenz, die im weiteren Verlauf der Säuberung im Februar noch eine große Rolle spielen sollte. Der Name Lidija Timaschuk tauchte damals zum ersten Male auf. In seinem Geheimreferat vom 25. Februar 1956 bezeichnete Chruschtschow Lidija Timaschuk als Angehörige des Sicherheitsdienstes; es ist daher anzunehmen, daß sie eine Helfershelferin jener Kreise der Stalinführung gewesen ist, die an einer Beschleunigung und Verschärfung der Säuberungskampagne interessiert waren.

Die allgmeine Verschärfung der Wachsamkeitskampagne sei an zwei weiteren Beispielen illustriert. So wurde z. B. in der Prawda am 24.

Januar eine Reihe von Justizfunktionären Sibiriens angegriffen, weil sie angeblich nicht scharf genug vorgegangen seien. Die Prawda schloß ihren Bericht mit den Worten: „Diese Maulaffen müssen eine scharfe, gerechte Strafe erhalten", — wobei nicht etwa die Angeklagten sondern die zu „weichen“ Justizbeamten gemeint waren. In einem Kommentar anläßlich des am 12. Februars erfolgten Abbruchs des Beziehungen zwischen der UdSSR und Israel hieß es wörtlich: „Die Meute der tollwütigen Hunde in Tel-Aviv ist abstoßend in ihrer niederträchtigen Blutgier“. Auch die am gleichen Tag erhobenen Forderung, die sowjetische Bevölkerung müsse „die gefährliche Krankheit der Sorglosigkeit mit glühendem Eisen ausbrennen" zeigte, wie scharf die Formulierungen der Kampagne bereits wenige Wochen nach der angeblichen Entlarvung der Kremlärzte geworden waren.

Immer deutlicher wurde das grauenvolle Jahr 1937, der Höhepunkt der großen Säuberung, heraufbeschworen. Bis ins kleinste wurden sogar in Äußerlichkeiten die damaligen Methoden der Schreckensjahre nachgeahmt. Genau wie damals wurde diese Kampagne ideologisch und politisch durch die Stailn-These begründet, gerade mit der weiteren Entwicklung zum Sozialismus würden die Feinde noch gefährlicher und der Kampf sei daher nicht zu verringern, sondern im Gegenteil, zu verschärfen. Seit dem 6. Februar wurden in der Sowjetpresse auch häufig wieder Stalins Aussprüche über die Wachsamkeit vom Jahre 1937 zitiert.

Die zunehmende Säuberungskampagne ging nicht nur aus der Verschärfung der Formulierungen, dem Heraufbeschwören einer Parallele zum Jahre 1937 und der Verherrlichung des Denunziantentums hervor, sondern vor allem aus der ständigen Erweiterung des angegriffenen Personenkreises. Dies wurde durch eine Methode bewerkstelligt, die ebenfalls schon in den Jahren der großen Säuberung 1936/38 anwandt worden war: in den fast täglich erscheinenden Artikeln über mangelnde Wachsamkeit wurden jeweils immer Beispiele unter Namensnennung der Person, des Ortes, der Organisation oder Institution gegeben. Nach einem ungeschriebenen, der sowjetischen Bevölkerung längst bekannten Gesetz war damit immer ein typisches Beispiel für die entsprechende gesamte Bevölkerungsgruppe gegeben.

Eine genaue Übersicht aller angegriffenen Personengruppen und der in diesem Zusammenhang in der Presse gebrachten Anschuldigungen läßt die Schlußfolgerung zu, daß sich bis Mitte Februar 1953 die Säuberung in der UdSSR auf folgende Bevölkerungskreise ausgedehnt hatte: 1. Angehörige der sowjetischen Intelligenz, darunter Wirtschaftswissenschaftler, Juristen, Partei-Ideologen, Hochschulprofessoren, Historiker, Naturwissenschaftler, Ärzte, Mitarbeiter der Presse und des Rundfunks, Angestellte von Museen und Bibliotheken als die Hauptbetroffenen. Die wichtigsten Anklagepunkte waren Subjektivismus, Objektivismus, Kosmopolitismus, politische Unzuverlässigkeit, mangelnde Wachsamkeit, Schlafmützigkeit, Katzbuckelei vor dem Ausland und Einschmuggeln feindlicher Ideen.

2. Personen jüdischer Abstammung — fast immer des „heimatlosen Kosmopolitismus“ und häufig der Spionage für das Ausland beschuldigt.

3. Mittlere und höhere Staatsfunktionäre. Hauptbeschuldigung: Verlust von Geheimdokumenten, Ausplaudern von Staatsgeheimnissen, mangelnde Wachsamkeit.

4. Wirtschaftsfunktionäre — meist angeklagt, die vorhandene Produktionskapazität nicht genügend auszunützen, Volkseigentum zu schädigen und sich persönlich zu bereichern.

5. Funktionäre der nicht-russischen Unionsrepubliken — die Stichworte der Säuberung waren „bürgerlicher Nationalismus“, Kosmopolitismus“

und „Spionage für das Ausland“. Die Unionsrepubliken Ukraine, Turkmenistan und Bjelorußland, schienen zunächst besonders gefährdet zu sein.

6. Parteifunktionäre — die häufigsten Beschuldigung waren liberale Einstellung gegenüber falschen Auffassungen, mangelnde Wachsamkeit, Vernachlässigung der ideologischen Arbeit, zu pflaumenweiche Kritik und Schönfärberei der Berichterstattung.

7. Funktionäre des sowjetischen Jugendverbandes — Hauptbeschuldigungen:

erschütternde Leichtfertigkeit und mangelnde Wachsamkeit.

8. Sowjetbürger, die im Verlauf der Kriegsereignisse im Ausland waren — sie wurden beschuldigt, während des Krieges zunächst für die Gestapo und nach Ende des Krieges für den amerikanischen Geheimdienst tätig gewesen zu sein.

9. Ehemalige Trotzkisten und Menschewiki — mit der Beschuldigung, daß ihre Erklärungen über die Parteitreue in den zwanziger Jahren verlogen und sie bereits seit Jahrzehnten Agenten ausländischer Geheimdienste gewesen seien.

Diese, zweifellos noch nicht vollständige Aufzählung zeigt, daß die letzte stalinistische Säuberung keineswegs nur eine antisemitische Kampagne war, sondern sich weit darüber hinaus gegen entscheidende Teile der Sowjetbevölkerung richtete, vor allem, ähnlich wie 1936— 38, gegen die führende Schicht des Landes. Nur die Armee-Führung blieb von Angriffen verschont, aber es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß sie im weiteren Verlauf der Säuberungskampagne, die Mitte Februar noch keineswegs ihren Höhepunkt erreicht hatte, auch noch mit einbezogen worden wäre.

Die Säuberung und die Verherrlichung des Denunziantentums wurde schließlich am 20. Februar 19 5 3 erneut verschärft durch einen beweihräuchernden Prawda-Artikel über die bereits erwähnte Ärztin Lidija Timaschuk, die einen Monat zuvor mit dem Leninorden „für die Hilfe bei der Entlarvung der Mörderärzte“ ausgezeichnet worden war. Lidija Timaschuk wurde jetzt als „Symbol des sowjetischen Patriotismus, der großen Wachsamkeit, des unversöhnlichen mutigen Kampfes gegen die Feinde unseres Vaterlandes“ bezeichnet, die „für Millionen Sowjet-bürger zu einem nahen und treuen Menschen“ geworden sei.

Die Wendung a 22. Februar 1953

Gerade zu jener Zelt, da die Säuberung ihrem Höhepunkt entgegeneilte und nur wenige Wochen vor seinem Tod empfing Stalin zwei ausländische Besucher; sie sollten die letzten sein, die den „Woshdj“ noch vor seinem Tode sahen. Es waren die Botschafter Argentiniens, Dr. Leopold Bravo (am 7. Februar) und der Botschafter Indiens, Krishna Menon (am 17. Februar). Beide Botschafter erklärten später übereinstimmend, keinerlei Anzeichen einer drohenden Erkrankung an Stalin bemerkt zu haben. Stalin sei in guter Stimmung gewesen und habe verschiedene Male gelacht und gescherzt. Menon berichtete aber auch von einer eigentümlichen Beobachtung. Während des Gesprächs zeichnete Stalin ununterbrochen auf einen Blatt Papier. Dies war eine alte Gewohnheit Stalins. Er fiel Krishna Menon jedoch auf, daß Stalin diesmal mit einem roten Buntstift ständig dasselbe zeichnete: Wölfe. Einen nach dem andern. Dann begann Stalin auch über Wölfe zu sprechen. Russische Bauern, so sagte er, wissen wie man mit Wölfen umzugehen hat. Man hat sie zu vernichten. Aber die Wölfe, sagte Stalin weiter, wissen dies und benehmen sich dementsprechend — eine Bemerkung, die im Gegensatz zu der scheinbar guten Laune Stalins zu stehen schien 2).

Nur fünf Tage nach dieser Unterredung trat ein überraschendes Ereignis ein: die Säuberungskampagne wurde plötzlich und unvermittelt am 22. Februar 1953 eingestellt, d. h. 13 Tage vor Stalins Tod. Noch am 20. Februar hatte die Prawda, die mit dem Leninorden ausgezeichnete NKWD-Agentin Lidija Timaschuk verherrlicht und in einem Leitartikel verlangt, die sowjetische Presse müsse „die Erziehung der Sowjetmenschen im Geiste einer hohen politischen Wachsamkeit verstärken“. Noch am 21. Februar richtete die Prawda scharfe Angriffe gegen das Gebietskomitee der Partei von Orel. Die Ausgabe vom 22. Februar und alle darauf folgenden deuteten jedoch mit keinem Wort mehr auf eine Säuberung hin. Die Aufrufe zur erhöhten politischen Wachsamkeit und der Kampf gegen „Sorglosigkeit“ und „Schlafmützigkeit“ waren aus der Sowjetpresse verschwunden. Nur noch ein einziges Mal, am 26. Februar, wurde die inzwischen eingetretene farblose Ruhe unterbrochen, als das Zentralkomitee der KP Turkmeniens, offensichtlich in Unkenntnis der eingetretenen Veränderungen und völlig überflüßigerweise, in einer selbstkritischen Stellungnahme die Anschuldigungen der Prawda vom 26. Januar, für „völlig berechtigt“ erklärte und die Absetzung einer Reihe von Parteisekretären bekannt-gab. Abgesehen von dieser einzigen Ausnahme deutet nichts mehr auf jene grauenvolle Psychose hin, die noch wenige Tage zuvor das Land in Atem hielt.

Die plötzliche Abstoppung der Säuberung am 22. Februar gehört zu den vielen rätselhaften Ereignissen, die sich in den letzten Wochen vor und in den ersten Wochen nach Stalins Tod in der Sowjetunion abspielten. Die einzige Erklärung dafür könnte darin liegen, daß Stalin nicht, wie offiziell erklärt, am 2. März einen Schlaganfall erlitt, sondern bereits am 22. Februar, d. h. acht Tage vorher so erkrankt war, daß er die Säuberungskampagne nicht mehr weiterführen konnte. Es ist anzunehmen, daß bis zu diesem Tage die Inszenierung, Organisation und planmäßige . Verschärfung der Säuberung von Stalin selbst ausgegangen war und alle Fäden in seiner Hand zusammenliefen; die plötzliche Wendung vom 22. Februar dürfte somit darauf hindeuten, daß die übrigen Mitglieder der damaligen Spitzenführung — zumindest aber die Mehrzahl von ihnen — die Erkrankung des Diktators sofort dazu ausgenutzt haben, die von ihm befürwortete und durchgeführte Säube-rungskampagne abzustoppen und damit, in der zu jener Zeit wichtigsten innenpolitischen Frage genau das Gegenteil von dem zu tun, was Stalin angeordnet hatte. Es kann ferner kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß zu jener Zeit die absolute Mehrzahl der sowjetischen Spitzenführung von der Säuberung selbst bedroht war und daher das Ab-leben Stalins insgeheim mit Erleichterung begrüßt haben dürfte.

Die heutigen Unterlagen reichen jedoch nicht dazu aus, festzustellen, an welchem Tag und zu welcher Stunde Stalin der lähmende Schlaganfall traf und sein Tod erfolgte, und ob dies ein Resultat der grauenvollen nervlichen Anspannung gewesen ist, oder andere Kräfte dabei noch eine Rolle spielten, die das Land vor der Katastrophe einer neuen drohenden großen Säuberung zu retten gewillt waren.

Die Befreiung der Krem! -Ärzte

Am 4. April 1953, kaum vier Wochen nach dem Tag, an dem der offiziellen Version zufolge Stalin gestorben sein soll, wurde die Haft-entlassung und Rehabilitierung der Kreml-Ärzte bekanntgegeben. In einer Mitteilung des Innenministeriums wurde erklärt, die am 9. Januar 19 53 erfolgte Verhaftung der Kreml-Ärzte sei „zu Unrecht und ohne jede gesetzliche Grundlage“ erfolgt. Die Anschuldigung gegen die Kreml-Ärzte sei „von den Mitarbeitern der Untersuchungsinstanzen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheits durch Anwendung unzulässiger und von sowjetischen Gesetzen aufs strengste verbotener Methoden der Untersuchung erlangt worden“. Die im Januar verhafteten Kreml-Ärzte seien freigelassen worden. Anschließend wurden die Namen von 13 rehabilitierten Kreml-Ärzten bekanntgegeben. Dabei wurden jedoch sechs Kreml-Ärzte — die Professoren. Wassilenko, Selenin, Preobrashenskij, Popowa, Sakusow und Scheroschewskij — genannt, die bei der ersten Liste vom 13. Januar garnicht als verhaftet angegeben worden waren! Die nachstalinsche Führung befreite somit mehr Ärzte als die Stalinführung offiziell hatte verhaften lassen. Dieser in der Rechtsgeschichte wahrscheinlich einzig darstehende Fall dürfte da. mit zu erklären sein, daß die Verhaftungsliste vom 13. Januar unvollständig war und offensichtlich nur diejenigen Personen erfaßte, die bereits erzwungene „Geständnisse“ für den damals vorbereiteten Prozeß abgelegt hatten. LInter den Befreiten befand sich auch Schereschewskij, der Leiter des Pharmakologischen Komitees, der am 22. Januar beschuldigt worden war, nicht genügend für die Verlängerung des Lebens getan zu haben.

Auf der anderen Seite aber geht aus der Rehabilitierungsliste vom 4. April hervor, daß zwei der im Januar verhafteten Kreml-Ärzte — die Professoren J. G. Ettinger und M. B. Kogan — sich nicht unter den Entlassenen und Rehabilitierten befanden. Die Frage bleibt offen, ob diese Ärzte in der Zwischenzeit unter den Foltern gestorben oder aber im April 195 deshalb nicht rehabilitiert wurden, weil sie im Januar 1953, d. h. vor Stalins Tod, den damaligen Organen des Staatssicherheitsdienstes bei der Vorbereitung des Prozesses geholfen und damit nun von der nachstalinschen Führung als Mitschuldige angesehen wurden.

Als Kuriosum sei noch mitgeteilt, daß die Äztin Lidija Timaschuk, im Februar noch als Retterin des Vaterlandes gefeiert, nun ihren Leninorden zurückgeben mußte. Am Tage der Rehabilitierung der KremlÄrzte veröffentlichten alle Sowjetzeitungen einen Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets, wonach die Verleihung des Leninordens an L. F. Timaschuk „in Anbetracht des jetzt ermittelten Sachverhaltes"

rückgängig gemacht worden sei.

Am 6. April veröffentlichte die Prawda unter dem Titel „Die sowjetische sozialistische Gesetzlichkeit ist unverletzbar“, eine offizielle Erklärung zum Fall der Kreml-Ärzte: „Wie konnte es geschehen, daß im Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR, das die Aufgabe'hat, über die Interessen des Staates-zu wachen, ein provokatorischer Fall inszeniert wurde, zu dessen Opfern ehrliche Sowjetbürger, hervorragende Vertreter der sowjetischen Wissenschaft gehörten?“

Laut Prawda sei dies geschehen, weil die verantwortlichen Funktionäre des früheren Ministeriums für Staatssicherheit „nicht auf der Höhe ihrer Aufgaben standen“, weil sie „sich vom Volk und von der Partei lösten und vergaßen, daß sie Diener des Volkes und verpflichtet sind, über die sowjetische Gesetzlichkeit zu wachen“. Das war die einzige offizielle politische Erklärung. Die Anschuldigung, die Staatssicherheitsfunktionäre hätten sich von der Partei gelöst, war dabei ein Hinweis, daß die Beziehungen zwischen Partei und Staatssicherheitsdienst schon gleich nach Stalins Tod einer Prüfung unterzogen worden waren, und offensichtlich auf neuer Basis geregelt werden sollten.

Die Hauptschuld für die unrechtmäßige Verhaftung der Kreml-Ärzte wurde auf den damaligen stellvertretenden Minister für Staatssicherheit (MGB) und Leiter der Untersuchungsabteilung, Michael Rjumin, gelegt. Über Rjumins frühere Karriere ist nur wenig bekannt. Nach Wollenberg soll Rjumin bereits bei der Organisierung der großen Prozesse von 1936-38 hinter den Kulissen eine maßgebende Rolle gespielt haben 3). Weder in Orlows Buch „Kreml-Geheimnisse“ noch in Kriwitzkys „Idi war in Stalins Dienst" ist jedoch Rjumin erwähnt worden. Nach einer anderen Quelle war Rjumin lange Jahre Leiter der Sicherheitsabteilung in Stalins Privatkanzlei unter Poskrebyschew und ist erst 1952 — offensichtlich zur Vorbereitung der beabsichtigten Prozesse — zum stellvertretenden Minister für Staatssicherheit der LldSSR ernannt worden.

Neben Rjumin — wenn auch nicht in so scharfen Worten — wurde auch der damalige Staatssicherheitsminister Semon Denissowitsch Ignatjew angegriffen. Ignatjew war während des Krieges 1. Sekretär des Gebietskomitees der Partei in Baschkirien, wurde im Herbst 1946 stellvertretender Leiter einer Abteilung im Zentralkomitee und 1949 als Vertreter des Zentralkomitees nach Usbekistan entsandt. Er dürfte ebenfalls erst im Jahre 1952 (als Nachfolger Abakumows), zum Minister für Staatssicherheit eingesetzt worden sein. Nunmehr wurde er „politischer Blindheit“ beschuldigt, sowie „sich am Gängelband verbrecherischer Abenteurer“ befunden zu haben.

Aber der bedeutsame Prawda-Artikel vom 6. April richtete sich — und dies dürfte von besonderem Interesse sein — keineswegs nur gegen Rjumin und Ignatjew. Mehrere Male wurde ganz allgemein von „verbrecherischen Abenteurern“ im Staatssicherheitsdienst gesprochen und darauf hingewiesen, daß Abteilungen und Institutionen des Staatssicherheitsdienstes sowjetische Gesetze mißachtet und sich gegen die Gesetzlichkeit vergangen haben.

So wenig die Verhaftung der Kreml-Ärzte in erster Linie ein Schlag gegen diese selbst war, sondern nur als Vorbereitung, als Mittel dazu diente, um viel einflußreichere und maßgebendere Kräfte der sowjetischen herrschenden Schicht zu säubern, so wenig war nun auch die Befreiung und Rehabilitierung der Kreml-Ärzte nur ein Vorgang, der sie selbst betraf. Es handelte sich vielmehr darum, durch diese Haft-entlassung den maßgebenden sowjetischen Funktionären die Versicherung zu geben, daß sie sich nicht mehr in Gefahr befinden. In diesem Sinne handelte die oberste Spitzenführung der LldSSR klar und entschlossen — sowohl aus Gründen der eigenen Sicherheit, als auch als Interessenvertreterin der nach Ruhe und Sicherheit strebenden Kräfte der Wirtschafts-und Armeeführung und eines maßgebenden Teils des Staats-und Parteiapparates.

Die Gründe für die Befreiung der Kreml-Ärzte können somit in folgenden Punkten zusammengefaßt werden: 1. eine deutliche klare Beendigung der Säuberung zu vollziehen, die im Herbst 1952 begonnen und seit Januar 19 5 3 besonders scharfe Formen angenommen hatte, 2. die überhitze Atmosphäre der Wachsamkeitskampagne zu beenden und den maßgebenden Kräften des Wirtschafts-und Parteiapparates zu verstehen zu geben, daß sie in Ruhe arbeiten können, 3.den Staatssicherheitsdienst zu diskreditieren und damit seine Macht einzuschränken, als ersten Schritt, um in Zukunft diesen Apparat der Staats-und Parteiführung zu unterordnen.

Das weitere Schicksal der an der Arzteverschwörung" Beteiligten

Seit diesen Ereignissen sind mehr als viereinhalb Jahre vergangen. In dieser Zeit ist seitens der nachstalinschen Führung eigentümlicher-weise über die angebliche „Verschwörung der Kreml-Ärzte“ nicht jene Klarheit geschaffen worden, die man eigentlich hätte erwarten können. Logischerweise müßte es im Interesse der nachstalinschen Führung gelegen haben, den ganzen Fall vor die Öffentlichkeit zu bringen, einen öffentlichen Prozeß gegen Rjumin, Ignatjew, Lidija Timaschuk und alle anderen Verantwortlichen zu führen, die Kreml-Ärzte als Zeugen hinzuziehen, und die Schuldigen öffentlich zu verurteilen. Die nachstalinsehe Führung hätte sich dabei in der seltenen Lage befunden — im Unterschied zu den früheren von Stalin inszenierten Prozessen — wirkliche Schuldige mit wirklichem Beweismaterial an der Hand zu haben und nicht, wie es bei den früheren Prozessen üblich war, sich Dinge ausdenken zu müssen. Ein solcher Prozeß hätte sich darüberhinaus auch propagandistisch gut verwerten lassen; die nachstalinsche Führung hätte z. B. durchblicken lassen können, daß sie das gesamte Land vor einer grauenvollen Säuberung gerettet habe.

Eigentümlicherweise gab es jedoch keinen solchen Prozeß. Statt dessen geschah etwas völlig anderes. Der damalige Staatssicherheitsminister S. D. Ignatjew, dem „politische Blindheit" vorgeworfen worden war und der sich, laut Prawda vom 6. April 19 5 3 „am Gängelband verbrecherischer Abenteurer“ befunden hatte, wurde im Februar 19 54 zum 1. Sekretär der Partei in Baschkirien ernannt und zog im März 19 54 als Abgeordneter Baschkiriens in den Obersten Sowjet der LIdSSR ein. Am 20. Parteitag im Februar 1956 nahm er als Delegierter teil. Auf dem Parteitag hielt er sogar eine Rede, in der er mit keinem Wort weder die damaligen Ereignisse erwähnte, noch auch nur die geringste Selbstkritik übte und statt dessen über die Ölproduktion in Baschkirien berichtete und vom Straßenbauministerium der LIdSSR forderte, eine neue Straße zu errichten. Er wurde in das Zentralkomitee der Partei gewählt und auch von Chruschtschow in seinem Geheimreferat positiv erwähnt — offensichtlich weil Ignatjew sich unmittelbar nach der Rehabilitierung der Kreml-Ärzte der neuen Führung zur Verfügung stellte, um dieser bei der Aufdeckung der Untaten des Staatssicherheitsdienstes und der Schwächung dieser Institution behilflich zu sein.

Gegen Michael Rjumin, dem Untergebenen Ignatjews, der nach der Befreiung der Kreml-Ärzte am schärfsten angegriffen worden war, wurde tatsächlich ein Prozeß durchgeführt — aber erst mehr als ein Jahr später! Nach einer Mitteilung vom 23. Juli 1954 soll zwischen 2. und 7. Juli ein Prozeß gegen Rjumin stattgefunden haben. Er wurde zum Tode verurteilt und erschossen; aber — und dies ist vielleicht das merkwürdigste — die Verhaftung der Kreml-Ärzte wurde dabei nur am Rande erwähnt. Rjumin wurde in diesem Prozeß vorgeworfen, „als verborgener Feind des Sowjetstaates“ gewirkt und „aus karrieristischen und abenteuerlichen Gründen Untersuchungsmaterial gefälscht und provokatorische Fälle (interessanterweise wird der Plural gebracht W. L.)

inszeniert“ sowie „Sowjetbürger, einschließlich hervorragender medizinischer Gelehrter ungerechtfertigterweise verhaftet“ zu haben. Die Verurteilung Rjumins erfolgte auf Grund § 58 Punkt 7 des Strafgesetz-buches der RSFSR, der allgemein als Wirtschaftsparagraph bekannt ist.

Nadi diesem Artikel werden in erster Linie Wirtschaftsvergehen geahndet, darunter Versuche, das ökonomische Leben des Landes zu unterminieren und die normale Tätigkeit der Staatsindustrie und des Handels zu schädigen.

Daraus ist ersichtlich, daß Rjumin nicht in erster Linie wegen der Ärzteverschwörung — die nur mit drei Worten erwähnt wurde — sondern offensichtlich wegen anderer Vergehen verurteilt worden ist. Die Veurteilung nach dem Wirtschaftsparagraphen und die Benutzung des Plurals in der Anschuldigung weist auf die bereits zu Beginn dieses Artikels geäußerte Vermutung hin, daß schon im Jahre 1953 die Stalin-führung viel weitergehende Prozesse vorbereitete, die offensichtlich in erster Linie gegen führende Wirtschaftsfunktionäre des Landes gerichtet waren. Die Tatsache, daß bei der Verurteilung und Erschießung Rjumins die Ärzteverschwörung keineswegs im Mittelpunkt stand, sondern nur beiläufig erwähnt wurde, läßt zudem den Schluß zu, daß die nachstalinsche Führung offensichtlich kein Interesse hatte— und es auch heute noch nicht hat — diesen Fall wirklich aufzuklären.

Zur gleichen Zeit, da der Prozeß gegen Rjumin stattfand, geschah etwas noch eigenartigeres. Lidija Timaschuk, jene Ärztin, die für ihre Hilfe bei der Inszenierung der Verschwörung der Kreml-Ärzte Ende Januar mit dem Leninorden ausgezeichnet, im Februar als „Retterin des Vaterlandes“ gepriesen und im April ihres Leninordens wieder verlustig ging, wurde am 8. Juli 1954 wieder mit einem Orden ausgezeichnet — diesmal mit dem Orden des Roten Arbeiterbanners. In der Auszeichnung wurde sie als Mitarbeiterin des Hospitals Nr. 1 der IV. Abteilung des Gesundheitsministeriums bezeichnet.

Auf diese Weise ergibt sich das eigentümliche Bild, daß von den drei entscheidenden Personen, die von der Sowjetpresse im Zusammenhang mit der Kreml-Ärzteverschwörung als Schuldige genannt worden waren, einer, S. D. Ignatjew, heute als Abgeordneter des Obersten Sowjets der LIdSSR und als Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei fungiert, während der zweite, Rjumin, tatsächlich erschossen wurde, aber unter anderen Anschuldigungen und schließlich Lidija Timaschuk zwar ihren Orden abgeben mußte, aber dafür einen anderen erhielt.

Chruschtschows Versi des Ärzte-Komplotts

Man hätte nun annehmen können, daß die Sowjetführung zwar nicht bereit war, den Fall in aller Öffentlichkeit aufzurollen, aber wenigstens in einem internen Referat vor höchsten Parteifunktionären den wirklichen Sachverhalt aufklären würde, aber auch dies geschah nicht.

Am Morgen des 25. Februar 1956 hielt Chruschtschow vor den Parteitagsdelegierten sein Referat „Der Personenkult und seine Folgen“, in der nicht-sowjetischen Welt als „Geheimreferat Chruschtschows" bekannt. In seiner Rede widmete Chruschtschow der Verschwörung der Kreml-Ärzte jedoch nur folgende Sätze:

„Was war das eigentlich mit dem , Ärzte-Komplott‘? (Erregung unter den Zuhörern).

Tatsächlich gab es keine . Affäre', mit Ausnahme der Erklärung der Ärztin Timaschuk, die wahrscheinlich durch irgend jemand beeinflußt wurde oder auf Befehl handelte — letzten Endes war sie ein inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes — und an Stalin einen Brief schrieb, in dem sie behauptete, das angeblich einige Ärzte ungeeignete Behandlungsmethoden anwendeten.

Solch ein Brief genügte Stalin, um sofort daraus zu schließen, daß ein Ärzte-Komplott in der Sowjetunion existierte. Er gab Befehl, eine Gruppe von bedeutenden medizinischen Sowjet-Spezialisten zu ver-haften. Er griff persönlich in die Untersuchungen ein und in die Art und Weise, wie die Verhafteten verhört wurden.

Stalin verlangte, daß das Mitglied der Akademie Winogradow in Ketten gelegt werden sollte. Ein anderer sollte geschlagen werden. Hier auf diesem Kongreß befindet sich als Delegierter der frühere Staatssicherheitsminister Genosse Ignatjew. Stalin sagte ihm kurz und bündig: . Wenn du keine Geständnisse von den Ärzten erhältst, werden wir dich einen Kopf kürzer machen.'(Aufregung unter den Zuhörern).

Stalin rief den Untersuchungsrichter persönlich zu sich und gab ihm Anweisungen und Instruktionen über die anzuwendenden Untersuchungsmethoden. Diese Methoden waren einfach: Prügel, Prügel und nochmals Prügel.“

Anschließend wies Chruschtschow darauf hin, die Mitglieder des Politbüros hätten Protokolle mit den Schuldbekenntnissen der Ärzte erhalten. Nach Chruschtschows Version waren die Politbüro-Mitglieder jedoch nicht davon überzeugt, hatten aber keine Möglichkeit der Nachprüfung. Wörtlich sagte Chruschtschow:

„Die Sache wurde so dargestellt, daß niemand die wirklichen Gründe für die Untersuchung erkennen konnte. Es bestand keine Möglichkeit, auch nur zu versuchen, eine Bestätigung für diese Fakten zu erhalten und mit den Beschuldigten in Kontakt zu treten.

Wir hatten aber das Gefühl, daß die ganze Angelegenheit -fragwürdig war. Wir kannten einige von diesen Leuten persönlich, da sie uns einmal behandelt hatten.“

Laut Chruschtschow lag die gesamte Schuld für den Ärzte-Komplott bei Stalin:

„Dieser schmähliche . Fall'war von Stalin inszeniert worden. Er hatte aber keine Zeit, um die Sache zu einem Abschluß zu bringen — einem Abschluß, wie er ihn sich dachte. Darum sind die Ärzte noch am Leben. Sie sind jetzt alle rehabilitiert. Sie arbeiten an ihren alten Arbeitsplätzen. Sie behandeln angesehene Leute einschließlich Mitglieder der Regierung. Sie haben unser volles Vertrauen, und sie erfüllen ihre Pflicht ebenso aufrichtig, wie sie es früher taten.“

In dieser Darstellung ist, abgesehen von einigen Details und der direkten Einmischung Stalins, nichts enthalten, was nicht vorher schon bekannt gewesen wäre. Chruschtschow gab keine Erklärung dafür — warum die Entlassungsliste 13 Kreml-Ärzte, die Verhaftungsliste aber nur 9 aufwies, warum Ignatjew heute in hoher Position steht und nicht einmal zu einer einzigen selbstkritischen Äußerung genötigt war, und warum im Prozeß gegen Rjumin die Affäre der Kreml-Ärzte nur nebenbei erwähnt wurde. Chruschtschow gab auch keine Begründung dafür, warum die KremlÄrzte angeblich nur hohe Militärs ermorden wollten, und warum in der Zeit von Oktober 1952 bis zum Tode Stalins kein Sowjetführer in irgendeiner Weise zur Säuberungskampagne Stellung nahm — mit Ausnahme von Suslow, der sich als einziger an dieser Kampagne beteiligte, nach Stalins Tod ebenfalls dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, sondern im Gegenteil im Juli 195 5 zum Mitglied des Parteipräsidiums avancierte und auf dem 20. Parteitag das ideologische Referat hielt.

Für all diese widerspruchsvollen Ereignisse und die seltsame Toleranz gegenüber jenen, die die „Ärzteverschwörung“ inszenierten, scheint es nur eine einzige Erklärung zu geben. Die nachstalinsche Führung ist offensichtlich deshalb nicht daran interessiert, die Affäre der Kreml-Ärzte öffentlich aufzurollen, weil gegenwärtig innerhalb der höchsten Führung sowohl die Verantwortlichen als auch die in Aussicht genommen Opfer gemeinsam tätig sind. Daher schien es ratsam zu sein, durch einen gegenseitigen Pardon die ganze Angelegenheit zu begraben. Es bleibt abzuwarten, ob dies auf lange Sicht möglich sein wird. In jüngster Zeit sind zwei Militärführer, die angeblich von den KremlÄrzten als Opfer vorgesehen waren, wieder in der Presse genannt worden. Admiral Lewtschenko, nach dem Tode Stalins kaum erwähnt, wurde am 10. März 1957 erstmalig wieder als stellvertretender Befehlshaber der sowjetischen Flotte genannt und Armeegeneral Schtemenko, nach Stalins Tod zum Obersten degradiert, wurde am 30. März 1957 „für langen und einwandfreien Dienst in der Sowjetarmee“ mit dem Leninorden ausgezeichnet.

Das Auf und Ab der am Ärzte-Komplott Beteiligten — sei es als Inszenierer oder als vorgesehene Opfer dieses Komplotts — dürfte mit dieser plötzlichen Wiedererwähnung zweier Militärführer nicht beendet sein. Es scheint überhaupt kaum möglich zu sein, auf die Dauer die Aufklärung des Ärzte-Komplotts zu umgehen. Bei zukünftigen politischen Differenzen und Auseinandersetzungen, vor allem wenn sie einen bestimmten Grad der Schärfe erreichen, ist immer für den einen oder anderen Teil die Möglichkeit vorhanden, die damaligen Ereignisse zu Anschuldigungen gegen den Widersacher zu benutzen und an die Öffentlichkeit zu tragen. In diesem Sinne ist die „Verschwörung der Kreml-Ärzte“ nicht nur ein wichtiges Ereignis zur Aufhellung der eigentümlichen Vorgänge um Stalins Tod, sondern auch von entscheidender Bedeutung für die Analyse der Kräfte, die gegenwärtig und in Zukunft in der sowetischen Politik eine maßgebliche Rolle spielen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Felix Heni, „Ärztliche Stellungnahme zur Krankheit und zum Tode Stalins", „Osteuropas", Nr. 2/1953, S. 37— 38.

  2. Erich Wollenberg, „Der aktuelle Kommentar". Frankfurt/M., April 1953.

Weitere Inhalte