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Vom Wesen menschlicher Freiheit. Erziehung zu Freiheit und Mitverantwortung am Humanistischen Gymnasium | APuZ 10/1957 | bpb.de

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Vom Wesen menschlicher Freiheit. Erziehung zu Freiheit und Mitverantwortung am Humanistischen Gymnasium

WILHELM LUTHER

I. Das Problem der politischen Freiheit

Zeus wies den Weg uns zur Einsicht. Ewig gilt seine Satzung, Daß die Menschen lernen durch Leid.

(Aischylos’ Agamemnon 176—178)

Humanistisches Gymnasium als Hort der Freiheit Der gewaltsame Abbau der Humanistischen Gymnasien durch die sogenannte Schulreform der Jahre 1936/37 zielte nicht nur darauf ab, den theologischen Nachwuchs zahlenmäßig zu beschränken, sondern galt ebensosehr dem Gymnasium als dem traditionellen Hort freiheitlichen Denkens und freiheitlicher Gesinnung. Es war nicht der Totalitarismus der nationalsozialistischen Gewaltherschaft allein, der am Humanistischen Gymnasium in dieser Hinsicht Anstoß genommen hat. Da unsere politische Vergangenheit aufs Ganze gesehen undemokratischen Staatsformen den Vorzug gegeben hat, ist es auch in den vorhergehenden Jahrhunderten bereits zu Konflikten gekommen. Wirkten doch schon die Unterrichtsstoffe, auch wenn sie von monarchistischen Lehrern dargeboten wurden, irgendwie ansteckend auf die Jugend. So schreibt im März 1820 der durch seine antiliberale Einstellung bekannte Direktor im Preußischen Polizeiministerium, von K a m p t z, an den gleichgesinnten Fürsten von Wittgenstein: „Ein großer Teil des Republikanismus kommt aus der Tollheit, die wir in unseren Sclnilen mit der griechischen Literatur treiben. Unsre Jugend . . . verlebt ihre schönste Zeit in den schönen Zeiten der grie-drischen Freistaaten; der erste Monarch, Alexander, von dem sie hört, erscheint ihr als der Unterdrücker jener schönen Freistaaten; nun schreitet man nach Rom, dort hört der Knabe von den sieben Königen, allein nur aus den Schriften der römischen Republikaner, sie erscheinen auch hier wieder als Unterdrücker der Freiheit . . . Der Jüngling verläßt bei einem solchen Unterricht, selbst wenn keine unerlaubten Einmischungen von Seiten der Lehrer erfolgen, die Schule erfüllt und begeistert von Bildern und Reden aus griechischen und römischen Freistaaten auf der einen und von der Abneigung gegen Monarchie und unsre heutigen Staaten auf der anderen Seite." Ähnlich schreibt von Bismarck im Eingang seiner Selbstbiographie: „A. ls normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Sdrule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei."

Griechische Freiheit Wenn wir uns heute nach Überwindung einer unmenschlichen totalitären Staatsform Gedanken darüber machen, wieweit das Humanistische lebendigen wirkungsvollen Gymnasium in den Dienst der Erziehung zur Freiheit gestellt werden kann, so ist dies nicht im Sinne eines engen Programmhumanismus zu verstehen, der den Ideenreichtum der Antike in ein politisches Schema zu zwängen versucht, sondern als eine der unausweichlichen Gegenwartsaufgaben, vielleicht sogar als die wichtigste, weil von ihrer Lösung oder Nichtlösung das Schicksal des Humanismus und der abendländiselten Kultur schlechthin abhängt. Diese Aufgabe wird nicht aus äußeren Gründen politischer Zweckmäßigkeit dem Gymnasium heute auf-geredet, sondern sie gehört zum Wesen der Humanistischen Bildung seit dem historischen Beginn derselben, hat doch die Freiheitsidee von den Griechen ihren Ausgang genommen.

Ihre Entfaltung und ihre verschiedenen Aspekte vermögen wir heute unschwer zu überblicken, nachdem Max Pohlenz in seiner Monographie „Griechische Freiheit“ (1955) das Material in ziemlich umfassender Weise vorgelegt hat. Aber es würde uns wenig nützen, wenn wir die reichen Ergebnisse dieses Buches einfach in den altsprachlichen Untericht einzubauen versuchten. Der Wilamowitz-Schüler Pohlenz steht auf dem Boden des Historismus und beschränkt sich darauf, die Erscheinungsformen des griechischen Freiheitsbegriffs und ihr Werden historisch zu beschreiben, ohne daraus das Fazit für unsere heutige politische und geistige Situation zu ziehen. Diese Methode exakter Nachzeichnung historischer Wirklichkeit hat zweifellos ihren Sinn und Wert innerhalb der wissenschaftlichen Altertumsforschung, aber sie bleibt rein reproduktiv und genügt deshalb nicht, die heutige Jugend für das abendländische Freiheitsideal zu begeistern und zu echter Aneignung zu bestimmen. Der Lehrer der alten Sprachen wird dieses Buch gewiß dankbar als Vorarbeit begrüßen, wie ihm auch alle Bücher willkommen sind, die das Weiterleben des griechischen Freiheitsideals im Abendlande verfolgen. Aber nach ihrem Studium beginnt erst seine eigentliche pädagogische Aufgabe, nämlich der Versuch, die Schüler durch Interpretation des antiken Leitbildes und Vergleich mit der gegenwärtigen Situation zu echtem Freiheitsverständnis und Freiheitsstreben anzuregen. Es ist die für den Humanismus entscheidende Aufgabe der Aneignung oder, vom Lehrer her gesehen, der rechten und Aktualisierung antiken Erbgutes. Dabei kann es sich nicht um bloß wiederholende Erneuerung antiker Tradition handeln, sondern um kritische Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung entsprechend den veränderten ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen unserer Zeit. Für Aristoteles ist die Polis eine Gemeinschaft der Freien (Politik 1279 a 21). Diese Kennzeichnung bezieht sich nicht nur darauf, daß ausschließlich die freien Vollbürger Träger der politischen Entscheidung im Staate sind, sondern grenzt zugleich auch die griechische Polis von den Volksverbänden der Barbaren ab, in denen ein Despot uneinge-, schränkte Gewalt über Leben und Eigentum seiner Untertanen hat. Über diesen charakteristischen Unterschied haben die Hellenen in dem langen Zeitraum der kleinasiatischen Kolonisation und der Perserkriege hinreichend Klarheit gewonnen Eine geradezu klassische Formulierung begegnet unseren Gymnasiasten bei der Lektüre Herodots. Als Xerxes gegenüber dem verbannten Spartanerkönig Demaretos prahlend auf die erdrückende zahlenmäßige Überlegenheit seines Heeres hinweist und die Meinung äußert, die Hellenen würden es gar nicht wagen, ernsthaft gegen seine Truppen anzutreten, wird er von Demaretos eines anderen belehrt: Die Bewohner von Hellas seien schon immer an Armut gewöhnt. Politische Klugheit und strenges Gesetz habe aber bei ihnen die bürgerliche Tüchtigkeit (& Qeth) eingeführt. Die Übung dieser Tugend schütze sie vor Armut und Despotie (VII, 102). Als Xerxes gerade aus dem Fehlen eines Despoten und aus der bestehenden Freiheit schließen zu können glaubt, die Hellenen würden sich auf einen so sinnlos erscheinenden Kampf nicht einlassen, widerspricht ihm Demaretos mit folgenden Worten: „Wenn sie auch frei sind, so sind sie doch nicht in jeder Beziehung frei; denn sie haben über sich als Zwingherrn das Gesetz (vuog). Dieses fürchten sie nodt viel mehr, als deine Leute dich fürchten. Sie tuen jedenfalls, was es gebietet. Es gebietet ihnen aber stets das gleidie: sie dürfen vor keiner Übermadit in der Schlacht fliehen, sondern müssen auf ihrem Posten ausharren und entweder siegen oder fallen! (VII, 104).

Gegenüber dem Despotismus des Perserreiches sieht Herodot selbst in dem mit totalitären Zügen durchsetzten spartanischen Staatsbau eine Heimstatt echter Freiheit; aber er denkt offenbar nicht an Sparta allein, sondern allgemein an die für die Hellenen bezeichnende Gemeinschaftsform der Polis. Der entscheidende Gedanke ist aber der, daß die Freiheit nicht als freies Belieben verstanden wird, sondern auf der Bindung der Bürger an eine rechtsstaatliche Ordnung, ein überkommenes gemeinsames Gesetz (einschließlich Brauchtum und Sitte) beruht. Freiheit und Gestz schließen sich gegenseitig nicht aus, ja, sie ermöglichen sich erst, weil die Bürger um der Gemeinschaft willen ihre Freiheit freiwillig beschränken und sich an eine höhere, übergreifende Instanz binden. Dieser für den echten abendländischen Freiheitsbegriff charakteristische Gedanke der freiwillig übernommenen Bindung begegnet mehr oder weniger abgewandelt auch sonst in der griechischen Literatur sowohl in der Tragödie als auch in der Philosophie, in der Historie nach Herodot vor allem bei T h u k y d i d e s.

Nun war aber in den griechischen Stadtstaaten die politische Freiheit in verschiedenen Graden verwirklicht, am geringsten in Sparta, wo sich die Gemeinschaft der Vollbürger, der sogenannten Spartiaten, damit zufrieden geben mußte, daß die Polis als Ganzes unabhängig und frei war und daß im Inneren rechtsstaatliche Zustände herrschten. Der größere Teil des Volkes diente entweder wie die Heloten im Sklavenstande auf den staatlichen Ländereien oder genoß wie die Periöken eine eingeschränkte Selbstverwaltung und mußte dafür in untergeordneter Stellung im spartanischen Heere dienen. Die wiederholten Versuche der Heloten, das Joch der Knechtschaft abzuschütteln, und die dauernde Unzufriedenheit der Periöken nötigte die herrschende Schicht der Spartiaten zu einer totalitären Staatsform, die das Leben Aller zugunsten des Staates kollektiven Erziehungsformen, persönlichen Einschränkungen und militaristischem Drill unterwarf, so daß für Privatleben und persönliche Interessen kein Raum mehr blieb. Wenn auch Sparta das Vorbild einiger totalitärer Staaten der Neuzeit geworden ist, so muß Freiheit und Gesetz Spielarten der Unfreiheit in der Antike man sich doch hüten, den totalen Staat Spartas dem modernen Totalitarismus gleichzusetzen.

Die verwandten Erscheinungsformen des Despotismus, der Tyrannis, der Diktatur und des Absolutismus in ihren Übereinstimmungen und Unterschieden descriptiv zu bestimmen sowie mit dem modernen Totalitarismuszu vergleichen, ist in erster Linie Aufgabe des Geschichtsund Sozialkundeunterrichts. Diesen Fächern steht auf dem Gymnasium reiches Anschauungsmaterial aus der Geschichte Griechenlands und Roms zur Verfügung Dabei wird sich ergeben, daß es in der Antike Despotien und Tyranneien gegeben hat, die zwar Willkürherrschaften waren, aber nur in geringem Maße totalitäre Züge trugen. Der Despotismus des Perserreiches war, obwohl Land und Bewohner als persönliches Eigentum des Herrschers galten, nicht in der Lage, das gesamte Volk totalitär zu durchdringen und zu überwachen. Seine Macht war willkürlich, aber in der Reichweite beschränkt. Mit dem modernen totalitären System läßt sich am ehesten noch die Tyrannis in der Antike vergleichen, aber auch bei dieser Regierungsform ist trotz Geheimpolizei und argwöhnischer Beaufsichtigung der Bevölkerung eine totale Gängelung des politischen und geistigen Lebens nur selten vorgekommen Die römische Diktatur war mit Ausnahme der letzten Phase der Republik eine verfassungsmäßig verankerte Notstandsmaßnahme, die zwangsläufig damit verbundene Kontrolle und Reglementierung des Lebens der Bürger also legal und zeitlich begrenzt. Die Erneuerung der Tyrannis und Despotie durch die römischen Caesaren nahm nach vorübergehenden Verschärfungen eigentlich erst unter Diokletian und Konstantin das Gepräge eines absoluten Totalitarismus an, der mit einem riesigen zentralisierten Beamtenapparat die gesamte Bevölkerung des Imperiums unter Kontrolle nahm und ausbeutete. Dieses System kommt den modernen autoritären Staaten zweifellos sehr nahe, aber bei allem Druck und allen Grausamkeiten der damaligen Geheimpolizei hatte es doch seine Lücken. Erst die Entwicklung der Technik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat den modernen Totalitarismus zu einem lückenlos funktionierenden Apparat gemacht, dessen Kontrolle sich auf die Dauer niemand entziehen kann. Die Methoden der totalitären Umklammerung und Durchdringung haben mit Hilfe der technischen Errungenschaften den äußersten Grad der Perfektion erreicht und sind im Grunde noch unmenschlicher als die bekannten Menschenquälereien der Antike.

Bindungsloses Machtmenschentum Durch den Geschichtsunterricht und die Lektüre werden die Gymnasiasten nicht nur mit den freiheitsfeindlichen Regierungsformen, sondern auch mit dem Typ und der Psychologie des hemmungslosen Macht-menschen vertraut gemacht. Bei Herodot ist Xerxes der typische. Vertreter des Despotismus, der sein Volk in Katastrophen stürzt und schließlich selbst ein Opfer seiner Machtgier und seines Nicht-Maß-halten-könnens wird. An Xerxes kann man gut die zum Wesen der Macht gehörende Tendenz zur Pleonexie beobachten. In schrankenloser Willkür setzt er sich über menschliches und göttliches Recht hinweg. Indem er die ihm gesetzten Grenzen in Hybris und Verblendung überschreitet, kommt er mit der göttlichen Weltordnung in Konflikt und fordert die Vergeltung der Götter heraus. Im welthistorischen Kampf zwischen Asien und Europa siegt am Ende die Freiheit über die Despotie.

Für den Primaner schließlich rundet sich das Bild des verantwortungslosen Machtmenschen, wenn er in P 1 a t o n s „Gorgias", im ersten Buche des „Staates“ und in Thukydides'Melierdialog die Urbilder und Vorläufer von Nietzsches „Übermenschen“ kennen lernt. Sokrates und Platon geben ihm das philosophische Rüstzeug, den verhängnisvollen Standpunkt des Willens zur Macht und des Naturrechts des Stärkeren zu widerlegen. Er erkennt, daß das Problem der Freiheit mit dem der politischen Macht, der Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit eng verbunden ist. Macht rechtfertigt sich nie durch sich selbst. Nur der innerlich freie, besonnene, maßvolle Mensch, der seine Begierden und Gelüste durch vernüftige Einsicht zu zügeln weiß, ist in der Lage, politische Macht zu verantworten und mit ihr gerecht umzugehen

Im Humanistischen Gymnasium, zu dessen Lektürekanon die platonischen Dialoge: Apologie, Kriton und Gorgias gehören, kann die Problematik dieser Phänomene in voller Breite und Tiefe besprochen werden. Schon in der Apologie entscheidet sich Sokrates in einer Entscheidung zwischen Leben und Tod für gerechtes Tun und Gehorsam gegen göttliches Gebot. Entsprechend bleibt er auch im Kriton seinem, wie er sagt, seit langem feststehenden Grundsätze treu, daß man unter keinen Umständen absichtlich Unrecht tun und auch nicht erlittenes Unrecht mit neuem Unrecht vergelten dürfe (49 a 4 ff.). Denselben Standpunkt hält er im Gorgias (479 d—e) gegenüber K a 11 i k 1 e s aufrecht. Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht erleiden, und ungestraft Unrecht tun ist schlimmer, als die Strafe dafür auf sich zu nehmen und so das verletzte Recht wiederherzustellen. Wir spüren die Nähe zur Ethik des Neuen Testamentes: aber während Jesus seinen Jüngern zumutet, sich von jeglichem Gedanken an Wiedervergeltung so frei zu halten, daß sie dasselbe und noch Schlimmeres erneut zu erdulden bereit sind (Matth. 38 ff.), erscheint es Sokrates und Platon richtig, sich dem Unrechtleiden nicht stärker als nötig auszusetzen. Ja, man soll außerdem dafür sorgen, daß Unrechttun nie straffrei ausgeht; denn dem Ungerechten bleibt selbst bei höchster Machtfülle und Reichtum die wahre Glückseligkeit versagt. Man darf das Angenehme und Lustvolle nicht mit dem Guten verwechseln. Letztes Ziel alles Handelns muß stets das Gute sein (499 e). Demgegenüber vertritt Kallikles das Recht des Stärkeren ohne Einschränkung. Er sieht in ihm das von Natur gegebene Recht. Es erlaubt dem Mächtigen, ungehemmt und ohne Rücksicht auf die Mitbürger, seine Triebe und Begierden zu befriedigen (491 e 5 ff.). Ein solcher Machtmensch kennt weder Selbstbeherrschung noch Maß noch freiwillige Einordnung in die Gemeinschaft. In der Geschichte Athens verkörpert Alkibiades diesen Typ. Sein abenteuerliches Leben und sein frühes bitteres Ende haben exemplarische Bedeutung und sind ein anschauliches Modell, an dem unsere Gymnasiasten die elementare Typik eines bindungs-und maßlosen Herrenmenschentums studieren können.

Sophokles zeigt in der „Antigone", daß man in bestimmten Situationen den ungeschriebenen Gesetzen mehr gehorchen muß als denen des Staates, vor allem dann, wenn ein Tyrann wie Kreon seine Macht mißbraucht und gegen die göttlichen Satzungen verstößt. Antigone bleibt innerlich frei, auch wenn sie an Kreons Machtgebot scheitert. Absolute Macht tendiert zu Korruption und Terror. Diese Erfahrungstatsache kann schon der Mittelstufe durch eine geeignete Auswahl oder durch Klassenarbeiten aus Ciceros „Reden gegen Verres" bewußt gemacht werden. Auch die Lektüre der Catilinarischen Verschwörung in der Darstellung des Cicero und des Sallust oder die Geschichte der dreißig Tyrannen in Xenophons „Hellenika" (lib. II) geben Gelegenheit, darüber zu sprechen.

Der Widerstandsgedanke Tyrannenregiment ist in Griechenland immer auf Widerstand gestoßen. Tyrannenmord war erlaubt und erwünscht. Die Tyrannen galten als Rechtsbrecher, als Frevler gegen die göttliche und menschliche Ordnung. Harmodios und Aristogeiton wurden in Athen als Befreier und Bringer gleichen Rechtes gefeiert und sowohl im Liede als auch in Standbildern verherrlicht. Der Widerstandsgedanke war, -wenn auch nicht gesetzlich kodifiziert, so doch durch die Sitte legitimiert. In der T h e o g n i s Sammlung (1181/2) steht der bezeichnende Vers: „Bring'den Tyrannen zu Fall, das bürgerfressende Untier, Stürz'ihn, wie immer du magst! Das verdenkt dir kein Gott."

Alle wesentlichen politischen Maßnahmen, die in der Geschichte Athens zur Vorbereitung bzw. Festigung der demokratischen Staatsform beigetragen haben, suchten gleichzeitig zu verhindern, daß aus der Schicht des Adels ein Einzelner die Alleinherrschaft an sich reißen konnte. Das gilt sowohl für die sozialen Reformen Solons wie für die Phylenreform des Kleisthenes, ebenso für die Einführung des Ostrakismos um 48 8, die Sicherung gegen persönliche Machtbildung innerhalb des Archontats im Jahre 487/86 und die Übertragung der Rechte des Areopags auf die Volksversammlung (462). Man. kann seit Kleisthenes geradezu von einer festen Tradition sprechen, die zum Ziele hatte, den Staat gegen das Aufkommen einer Einzelherrschaft zu schützen. Ja, wir dürfen abschließend feststellen, daß die griechische Demokratie ihre Entstehung und Vollendung der dauernden Auseinandersetzung mit der Staatsform der Tyrannis und deren Überwindung verdankt 5).

Auch die Römer suchten sich gegen eine permanente Diktatur zu sichern. Daher die Zweizahl der Konsuln, die Beschränkung der Amtsgewalt auf ein Jahr und das gegenseitige Einspruchsrecht! In der Frühzeit der römischen Republik war die Amtsperiode des Diktators auf den Zeitraum eines halben Jahres beschränkt. Mit Sulla und Caesar setzt dann der getarnte oder offene Mißbrauch der Diktatur zur Errichtung einer Einmannherrschaft ein. Die gesamte Psychologie und Pathologie caesarischer Tyrannei stellt T a c i t u s unseren Ober-klassen eindringlich vor Augen. Das entscheidende Motiv aller Schwächen ist der ungezügelte Geltungsdrang und Ehrgeiz der jeweiligen Herrscher. Daraus entspringen weitere Laster, vor allem die Eifersucht auf fremden Ruhm, der Neid gegen erfolgreiche Zeitgenossen, die Angst vor möglichen Gegnern, das Mißtrauen gegen freiheitliche Männer u. a. m. Aus der Atmosphäre von Furcht und Angst erwächst dann in der Regel das gesamte Terrorsystem der Einschüchterung, Überwachung und grausamen Verfolgung echter und vermeintlicher politischer Gegner. Mögen auch persönliche Erlebnisse unter Domitian den Blick des Tacitus verdüstert haben, so daß er in seiner Befangenheit nicht allen Kaisern gerecht geworden ist, seine Freiheitsliebe und meisterhafte psychologische Analyse werden unsere Jugend mit Abscheu gegen Tyrannei und Totalitarismus erfüllen. Ich erinnere mich des aufwühlenden Eindrucks, den die Anfangskapitel des „Agricola“ auf eine Oberprima in der Zeit kurz nach dem Zusammenbruch gemacht haben.

Wir wissen, daß der Widerstandsgedanke tiefer im germanischen Recht wurzelt als in Griechenland und daß er im angloamerikanischen Rechts-kreis auch in den finstersten Zeiten des Absolutismus lebendig und positiv-rechtlich verankert gewesen ist. Das gute Funktionieren der angelsächsischen Demokratie und ihre weitgehende Immunität gegenüber autoritären Entartungserscheinungen ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß das Widerstandsrecht tief im Bewußtsein der Staatsbürger eingeprägt war und schon durch die Tatsache seines Bestehens rechtsstaatliche Regierungsformen garantierte. Die Aufnahme des Widerstandsrechts in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 gab den Anstoß, daß der Widerstandsgedanke auch in den Verfassungsentwürfen der Französischen Revolution berücksichtigt wurde. Mit seiner Übernahme in die französische Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte von 1789, Art. II, kehrte er nach Europa zurück und konnte zum ersten Male auf dem europäischen Kontinent als verfassungsmäßig festgelegtes und formuliertes Grundrecht Boden fassen.

Trotz dieser ermutigenden Vorbilder hat sich der Widerstandsgedanke im deutschen Staatsrecht bis heute nicht durchsetzen könnens Die Gründe für diese bedauerliche Entwicklung sind vielfältiger Art, und die Ursachen liegen z. T. um Jahrhunderte zurück. Der Absolutismus hat sich auf die ablehnende Stellungnahme des frühen Luther berufen. In ihr verweist der Reformator auf die göttliche Einsetzung der Obrigkeit und bekennt sich zum unbedingten, gegebenenfalls auch leidenden Gehorsam in der gläubigen Erwartung, daß die gerechte Sache am Ende doch siegen werde. Der Absolutismus hat aber geflissentlich übersehen, daß Luther die Obrigkeit als an das göttliche Gesetz gebunden sich vorstellt und daß er später ein Widerstands-und Notwehrrecht der niederen Obrigkeit eingeräumt hat. Diese spätere Auffassung Luthers ist auch vom preußischen Militär-und Polizeistaat dem Volke vorenthalten worden. Wiederum versuchte man aus Luthers Lehre und aus einigen Bibelstellen den Anspruch auf absoluten Gehorsam der Staatsbürger abzuleiten; und das orthodoxe Luthertum hat mit der Übernahme der Devise „Thron und Altar“ seinen Segen dazu geben. So hat die Tatsache, daß bei Luther eine einheitliche Doktrin fehlt und daß man sich in der Folgezeit an seine ursprüngliche negative Stellungnahme hielt, wesentlich zur Ablehnung des Widerstandsgedankens in den deutschen Ländern beigetragen. Sie begünstigte die endgültige Zuwendung der Deutschen zum Obrigkeitsstaat und verstärkte den schon bestehenden Autoritätsglauben und Untertanengeist der Staatsbürger.

Immanuel Kant hat dann die Möglichkeit einer Anknüpfung an das angloamerikanische und französische Vorbild vereitelt, indem er die alte fruchtbare Spannung zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht aufhob. Die lex naturalis wird für unverbindlich erklärt; das vom Staat gesetzte positive Recht, das in seinem idealen Gehalt a priori gegeben ist, duldet keine objektive höhere Ordnung über sich. Jeder Widerstand gegen die oberste gesetzgebende Gewalt ist gesetzwidrig. Er müßte in jedem Falle durch ein öffentliches Gesetz legitimiert sein, oder die oberste Gesetzgebung müßte eine Bestimmung in sich enthalten, daß sie nicht die oberste ist, bzw. sie müßte das Volk zugleich zum Untertan und zum Souverän machen (Metaph. Anfangsgründe der Rechtslehre, VII, 12 5 ff., Ausgabe: E. Cassirer, 1922). Kant lehnt deshalb ein natürliches Widerstandsrecht ab. Durch seine einseitige Stellungnahme für das positive Recht hat er dem im Zeitalter des Absolutismus entstandenen Reclitspositiviswus den Weg gebahnt, so daß dieser im 19. Jahrhundert das deutsche Staatsrecht erobern und beherrschen konnte. Das Widerstandsrecht, das praktisch schon im Absolutismus aufgehört hatte, eine Einrichtung des positiven Staatsrechts zu sein, wird nunmehr auch in der staatsrechtlichen Diskussion mehr und mehr totgeschwiegen. Der Rechtspositivismus im konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts war von einem blinden Vertrauen in die bestehende Staatsordnung beseelt. Eine Entartung zur Diktatur galt als unmöglich. Unter diesen Voraussetzungen mußten Obrigkeitsgesinnung und Staats-gehorsam wie in einem Treibhause gedeihen. Der Gedanke des Widerstandsrechts fehlt deshalb auch in der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 und selbst in der Verfassung der Weimarer Republik. So konnte Hitler auf dem Boden einer demokratischen Verfassung im trügerischen Scheine der Legalität seine Diktatur errichten, die mit ihrem totalitären System sich über alle Menschenrechte hinwegsetzte und jeden Widerstandsversuch in Blut und Terror erstickte. Selbst im Grundgesetz der Bundesrepublik hat sich die negative deutsche Tradition wieder so weit durchgesetzt, daß seine geistigen Väter eine positiv-rechtliche Zulassung des Widerstandsrechtes wegen der unübersehbaren und unkontrollierbaren Folgen seiner Ausübung nicht glaubten verantworten zu können. Das Widerstandsrecht gehört nicht zu den im Bonner Grundgesetz garantierten Grundrechten, und es ist auch kein besonderer Schutz für diese neben dem allgemeinen Rechtsweg vorgesehen.

Auch die meisten Länderverfassungen kennen kein Widerstandsrecht. Zu den wenigen erfreulichen Ausnahmen gehört indes die Hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946, die in Artikel 147, Abs. 1 „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt für jedermanns Recht und Pflicht“ erklärt. Sie hat damit die notwendige Folgerung aus der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gezogen und befindet sich in erfreulicher Übereinstimmung mit den Verfassungen der westlichen Demokratien und der Praxis der Griechen. Ein ähnliches Widerstandsrecht findet sich in der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen und als Kuriosum ohne praktische Bedeutung in der Verfassung der Mark Brandenburg.

Neben dem germanischen Widerstandsrecht und seiner Wiedergeburt im angloamerikanischen und französischen Rechtsdenken hat auch der Humanismus zum Durchbruch des Widerstandsgedankens in der europäischen Geschichte der Neuzeit beigetragen. Sophokles’ „Antigone“ spielt in der Französischen Revolution und allgemein im Kampf gegen den Absolutismus eine bedeutende Rolle. Das Vorbild der Antigone und die ungeschriebenen, göttlichen Satzungen bei Sophokles haben seitdem vielen Widerstandskämpfern die innere Legitimation gegeben, sich gegen Machtmißbrauch und tyrannische Unterdrückung zur Wehr zu setzen. So beruft sich einer der profiliertesten Gegner des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, Kurt Huber (f 1943), in seinem Schlußwort vor seinen grausamen Richtern ähnlich wie Antigone vor Kreon auf das ungeschriebene Recht: „leit habe gehandelt, wie ich aus einer inneren Stiwwe heraus handeln mitfite. Ich nehme die Folgen auf midi ...“

Das griechische Leitbild mahnt auch uns zur Wachsamkeit. Für unsere traditionslose demokratische Staatsform sollte das Widerstandsrecht selbstverständlich sein, zumal nach den Erfahrungen, die wir in der Weimarer Republik gemacht haben. Die Erziehung zur Widerstands-bereitschaft gegenüber totalitärem Machtmißbrauch ist nicht nur eine politische, sondern auch eine pädagogische Aufgabe unserer Zeit. Das Zeitalter der Technik mit seiner sichtbaren Tendenz zur arithmetischen Gleichheit hat einen Herrschaftsmechanismus entwickelt, der in der Hand eines Diktators sich rasch wie ein unsichtbares Netz über das ganze Volk breiten kann, so daß hinterher niemand mehr die verlorene Freiheit wiederherzustellen vermag. Deshalb lasse man autoritäre, rechtswidrige Gewalt erst gar nicht aufkommen! Principiis obsta! Dieser Appell darf sich in unseren Tagen aber nicht an eine besondere Schicht des Volkes allein, etwa an die Beamten, die Ministerialbürokratie, die Wehrmacht oder an die Gewerkschaften richten; vielmehr spricht er ohne Ansehen des Berufes und Besitzes jeden einzelnen Staatsbürger an. Ein im Grundgesetz verankertes Widerstandsrecht, das in der Schule und im politischen Leben immer wieder eingeschärft würde, wäre ein wirksamer Garant gegen verfassungswidrige Ausübung der Staatsgewalt und ein Ansporn für jedermann, sich aktiv am Staats-leben zu beteiligen.

Das Humanistische Gymnasium wird aber den Blick der ihm anvertrauten Jugend nicht nur auf die freiheitsfeindlichen Staatsformen und Ereignisse der Antike richten, sondern seine Hauptaufgabe darin sehen, das Ideal demokratischer Freiheit bis in seine ersten Anfänge hinein zurückzuverfolgen.

Griechische Freiheit und Demokratie Zu den geistigen Wegbereitern der griechischen Freiheit und Demokratie gehört schon Hesiod mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Gerechtigheit des Zeus, der als Schirmherr der Dike den Menschen eine feste Reditsordnung zur Überwindung schrankenloser Willkür und brutaler Gewaltherrschaft gegeben hat und darüber wacht, daß sie überall, auch vor Gericht, streng eingehalten wird Gerechtigkeit und ehrliche Arbeit bilden nach Hesiod die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Die Begrenzung der Macht durch das Recht ist einer der Garanten echter Demokratie geworden. So entbehrt es auch nicht der inneren Folgerichtigkeit, daß Solon, der entscheidende Bahnbrecher der attischen Demokratie mit seiner Idee der gerechten sozialenOrdnung (evoun) Hesiodisches Gedankengut über Zeus, den Hüter des Rechts, übernommen und schöpferisch weitergebildet hat Mag auch das staatspolitische Werk Solons mit einer modernen Demokratie nur sehr entfernte Ähnlichkeit haben, die Grundgedanken des solonischen Rechtsstaates gelten ohne Einschränkung auch für unsere Gegenwart: Soziale Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich sind noch immer die wichtigsten Aufgaben unserer eigenen Demokratie. Daß der Staatsmann die unbeschränkte Vollmacht seiner Mitbürger nicht dazu mißbrauchte, sich zum Tyrannen von Athen aufzuwerfen, sondern nach Durchführung der gewünschten Reformen ins Privatleben zurücktrat, zeigt die moralische. Größe dieses Mannes, der politische Macht zu verantworten wußte. Solon fühlt sich als Bringer der Freiheit, einer Freiheit, die aber im Einklang mit Gesetz und Recht steht (frg. 24). Rücksichts-loses Streben nach Gewalt befleckt und schändet den Ruhm (23). Sein politisches Ziel ist die Herstellung der Eunomie, einer Verfassungsform, die allen Bevölkerungsklassen gerecht zu werden und alle vor Zwietracht und Unrecht zu bewahren sucht. Solon empfiehlt Maßhalten, Einsicht in die gottgesetzten Grenzen und warnt davor, persönlichen Reichtum ins Grenzenlose zu steigern (1, 65 ff.). Wie Hesiod glaubt er unerschütterlich an die göttliche Rechtsordnung. Zeus schaut, wenn er Rechtsverletzungen ahndet, nicht nur auf die äußere Tat, sondern auch auf die Gesinnung des Täters (1, 25 ft.). Aristoteles hat drei Züge an der Verfassung Solons als besonders volksfreundlich hervorgehoben: die Aufhebung der Schuldsklaverei, die Vollmacht an jeden beliebigen Bürger, für einen anderen, der zu Unrecht geschädigt war, vor Gericht Wiedergutmachung zu verlangen und drittens das Recht, von der Entscheidung der Behörde an das Gemeindegericht appellieren zu dürfen (Vom Staatswesen der Athener, c. 9, ed. Oppermann) Aristoteles hat aber auch den Hesiodischen und Solonischen Grundgedanken von der Notwendigkeit einer festen Rechtsordnung für jede echte staatliche Gemeinschaft erneuert, am eindrucksvollsten in seiner „Politik“ 125 3 a 37 ff.:

„Die Gerechtigkeit aber ist eine Angelegenheit des Staates; denn das Recht ist nichts anderes als die Ordnung, die in einer staatlichen Gemeinschaft herrsctit. Das Recht ist die Instanz, die darüber entscheidet, was geredet ist!"

Man kann das Studium der einschlägigen Elegien Solons mit der Herodotlektüre verbinden; denn die solonische Gedankenwelt ist so elementar und wirklichkeitsnah, daß sie bereits unsere Sekundaner im wesentlichen begreifen und von ihr gefesselt werden können.

Die Freiheit in der perikleischen Demokratie Die griechische Polis als höchste Möglichkeit menschlicher Freiheit und Selbstverantwortung tritt dem Primaner am überzeugendsten in der klassischen Darstellung entgegen, die Thukydides in seinem Geschichtswerke der athenischen Demokratie unter P e r i k 1 e s gewidmet hat. Ihr kommt ein ganz besonderer erzieherischer Wert zu, wenn überhaupt literarische Dokumente zu Freiheit und Demokratie zu erziehen vermögen. Das Athen des Perikies darf mit Fug und Recht „Demokratie“ genannt werden, da jetzt der alte Adelsstaat endgültig überwunden ist. Ja, gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß der Begriff „Demokratie“ überhaupt erst nach 462 entstanden ist, und zwar haben ihn die Gegner des neuen politischen Kurses zunächst mit verächtlichem Nebensinn auf die Verfassung des perikleischen Staates angewandt.

In seiner einzigartigen Totenfeierrede benutzt Perikies den sparta-nischen Militärstaat als Folie, um auf ihr die Grundlagen und den Aufbau der attischen Demokratie aufzuzeigen. Während in Sparta die persönliche Freiheit um der Freiheit des Ganzen willen weitgehend eingeengt« und kontrolliert wird, versucht die perikleische Demokratie das demokratische Ideal mit dem der persönlichen Freiheit zu verbinden. Der perikleische Staatsentwurf ist in der Forschung vielfach Mißdeutungen ausgesetzt gewesen. Der erste Mann des Staates war weder ein autoritärer Volksführer noch ein willfähriges Werkzeug der wankelmütigen Masse. Seine Führerstellung beruhte ja auf der alljährlich stattfindenden freien Wahl zum ersten Strategen. Volkssouveränität und demokratische Willensbildung blieben während seiner Amtszeit in vollem Umfang gewahrt. Als das Volk nach der verheerenden Pest zu Perikies und seinem Kriegsplan das Vertrauen verlor, wählte es ihn im Jahre 430 nicht wieder; seine demokratische Entscheidung war also in keiner Weise eingeschränkt. — Auch das von Jakob Burkhardt entworfene Gegenbild der perikleischen Demokratie als einer Pöbel-herrschaft ist zweifellos verzeichnet — Obwohl Perikies die betont volksfreundliche Politik des Kleisthenes und Ephialtes fortführte und die große Masse der unbegüterten Bürger durch Auszahlung von Tagegeldern für die Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten auf seine Seite zog, hat er sich doch nie auf die Methoden der üblichen Demagogen eingelassen, sondern mit seiner erstaunlichen Überzeugungskraft und genialen Menschenführung die schlimmsten Masseninstinkte niedergehalten und mehr die Masse geführt, als sich von ihr führen lassen (Thuk. II, 65). Sein politisches Ziel war die aktive Beteiligung aller Vollbürger am Staatsleben. Der Verfall der attischen Demokratie zur Ochlokratie setzte erst nach seinem Tode ein.

Im Staatsgedanken des Perikies wird stillschweigend vorausgesetzt, daß der Einzelmensch nur in der Polis sein wahres Wesen erfüllen kann. Die Gemeinschaft ist das Primäre und Übergeordnete. Sie hat aber keinen Anspruch auf Omnipotenz und Totalität, sondern ist dazu bestimmt, dem einzelnen so viel Spielraum zu geben, daß er seine Persönlichkeit und sein Privatleben in Freiheit entfalten kann. Gleichheit vor dem Gesetz und persönliche Freiheit sind die tragenden Pfeiler dieser Demokratie. Die Schlagworte der Französischen Revolution:

galit und liberte, knüpfen an das perikleische Staatsideal an. Unter Gleichheit ist aber bei Perikies keine mechanische Gleichheit zu verstehen. Zwar ist jeder vor dem Gesetze gleich; es gibt keine Vorrechte mehr der Geburt oder des Vermögens. Aber neben diese mechanische oder arithmetische Gleichheit, die sich in den Abstimmungen der Volksversammlung bekundet, tritt als Korrektiv die geometrische oder proportionale Gleichheit. Sie teilt den bestimmenden Einfluß im politischen Leben nach der politischen Tüchtigkeit oder Leistungsfähigkeit zu (II, 37, 5 ff.). So kann Perikies als der geistig und politisch überragende Kopf seiner Zeit, vom Vertrauen des Volkes getragen, fünfzehn Jahre lang der eigentliche Lenker der politischen Geschicke Athens sein, ohne daß er die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und die persönliche Freiheit des einzelnen anzutasten braucht. Stolz nimmt er für seine Athener in Anspruch, daß sie im Geiste der Freiheit ihr Gemeinwesen geordnet haben und auch im persönlichen Verkehr jeden lästigen Druck vermeiden. Diese Zwanglosigkeit ist allerdings nur möglich in einer Gemeinschaft, in der die Bürger freiwillig auf die Obrigkeit und auf die Gesetze, die geschriebenen wie die ungeschriebenen, hören und eine heilige Scheu vor Gesetzesübertretung und Unterdrückung der Schwächeren empfinden (II, 37, ff).). Geradezu für unsere deutsche Gegenwart scheinen die Worte geschrieben zu sein, daß die freiheitlich lebenden Athener in Kriegszeiten nicht weniger Mut zeigen und entschlossen sind als die Spartaner mit ihrer totalitären Lebensform und dem harten militärischen Drill, dem sie die Jugend schon von frühester Kindheit an unterwerfen (II, 39). Freies Mannestum vermag in Not und Gefahr mehr als Militarismus und Kadavergehorsam.

Mag Thukydides den Gemeinsinn der Athener durch Perikies vielleicht zu ideal beurteilt und das Bild der vollkommenen Demokratie mit zu lichten Farben gemalt haben, unbezweifelbar bliebt die Tatsache, daß die athenische Bürgerschaft damals im allgemeinen mehr Gemeinschafts-und Verantwortungsgefühl gezeigt hat, als wir Modernen aufzubringen imstande sind. Obwohl die perikleische Demokratie liberale Züge trägt, muß man sich doch hüten, sie mit der liberalistischen Demokratie der Neuzeit zu vergleichen. Die Freiheit des attischen Bürgers ist im wesentlichen Freiheit zur Ausübung der Staatshoheit und zur verantwortlichen politischen Entscheidung, Freiheit im Staate, nicht Freiheit vom Staate. Für Perikies ist nicht das Individuum das Primäre, sondern er versteht nicht anders als Sokrates, Platon und Aristoteles den Menschen von vornherein als gemeinschaftsgebundenes Lebewesen. Die Polis ist die naturgegebene freie Gemeinschaftsform, der sich die Einzelperson freiwillig eingliedert. Die individualistische Denkweise des Liberalismus, die den einzelnen und seine unveräußerlichen Menschenrechte als Maßstab nimmt, ist im Grunde ungriechisch 12). Man kann also Perikies nur mit Einschränkung als Vater des liberalen Staatsgedankens der Neuzeit bezeichnen. Der antike Individualismus ist selbst in seiner äußersten Zuspitzung bei den Sophisten und Kynikern von der autonomen Ichhaftigkeit der Moderne noch weit entfernt.

Wenn auch die Staatsmänner trotz aller Geschichtsphilosophie bis heute nur wenig aus der Geschichte gelernt zu haben scheinen, dürfen wir doch bei der Betrachtung des perikleischen Staatsentwurfs auf die

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitate aus dem Sammelband: „Das Gymnasium und die neue Zeit". 1919, 108 f.

  2. Zum Beispiel: später: in den „Persern“ (472 a. Chr.) und einige Jahrzehnte seiner Schrift . über Luft, Wasser und Orts-lage*, 16,

  3. Vgl. Kurt von Fritz, Totalitarismus und Demokratie im alten Griechenland und Rom, Antike und Abendland, III, 1948, 47 ff.

  4. über dieses entscheidende Problem der politischen Macht und ihre Zähmung Vgl. auch H. Heß in der hat W. Jaeger, Antike 1934, 7 ff. „Pädagogischen Provinz", 1954, 77 ff.

  5. überzeugend nachgewiesen durch Hans Schaefer, Das Problem der Demokratie im klassischen Griechenland, Studium Generale, 1951, 497 ff.

  6. Zum folgenden vgl. Kurt Wo/zendorff, Staatsrecht und Naturrecht = Unters, zur deutschen Staats-und Rechtsgeschichte, H. 126, 1916, Carl Heyland,Das Widerstandsrecht des Volkes .. ., 1950, und Herbert von Obrigkeit und Widerstand, 1954.

  7. Näheres darüber in „Wahrheit und Lüge im ältesten Griechentum , 1935, 129 ff.

  8. Den Aristokraten Solon als „Begründer der attischen Demokratie" zu bezeichnen, wie es in vielen Geschichtsbüchern steht, hieße, ihm demokratische Interessen unterstellen, die er gär nicht verfolgt hat. Seine eigentliche Absicht war vielmehr, die unhaltbaren Zustände der Schuldknechtschaft zu beseitigen und die sozialen Spannungen zu mildern. Trotzdem hat er die attische Demokratie vorbereitet, nicht zuletzt auch dadurch, daß er den unteren Schichten das Recht der Teilnahme an Volksversammlung und Volksgericht erwirkte. Vgl. Schaefer a. O. 497.

  9. Vgl.den Vorspruch in Hesiods, „Werken und Tagen" mit Solon, frg. 3, 30 ff. (Diehl).

  10. Vgl. Schaefer a. O. 499 f.

  11. Das gilt auch für Herm. Zeitschrift 1954, 244 ff., die sich

  12. Ich würde deshalb nicht wie Pohlenz in seinem sonst sehr verdienstvollen Griechen", 1923, 31 f., Büchlein „Staatsgedanke und Staatslehre bei Perikies von „Liberalismus" sprechen.

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