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Wir streikten in Norilsk | APuZ 23/1956 | bpb.de

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APuZ 23/1956 Der Streik von Norilsk Wir streikten in Norilsk

Wir streikten in Norilsk

KARL HEINRICH

Norilsk ist für den Westen ein weithin unbekannter Begriff; nur auf den neuen geographischen Karten finden wir Norilsk als Stadt im polaren sibirischen Teil der UdSSR verzeichnet. Die Stadt Norilsk liegt auf der Halbinsel Taimyr etwa auf dem 68. östlichen Längengrad und 70. Breitengrad, also weit über 100 km nördlich des Polarkreises, nördlicher als Murmansk, Archangelsk und Workuta. Norilsk kann auf drei Wegen erreicht werden: 1. durch Flugverbindung; 2. über das nördliche Eismeer und der Flußmündung des Jenissei in das nördliche Eismeer (Hafen Ust-Port) und 3. über Omsk, Nowo-Sibirsk, Krasnojarsk und von da aus auf dem Wasserwege 2200 km den Jenissei abwärts bis zum Hafen Dudinka. Norilsk liegt 120 km ostwärts von Dudinka.

Nadi einer Expedition durch den Rußlanddeutschen Otto Schmiedecke wurde das Gebiet vor erst ungefähr 25 Jahren erschlossen. Unmittelbar danach begann der Ausbau, der nach 1945 im besonderen Maße intensiviert wurde. Für die Machthaber der Sowjetunion bedeutet das Gebiet von Norilsk ein beinahe unerschöpfliches Reservoir an Bodenschätzen. Es ist deshalb zu einem der größten Gefangenengebiete geworden. Darüber hinaus ist Norilsk das Grab Tausender ehemaliger Gefangener geworden. 195 3 war es der Schauplatz eines der größten Sklavenaufstände, durchgeführt von Angehörigen der dort wirklich „vereinten Nationen“. Norilsk vereinigt wie kein zweiter Punkt der Erde in einem Durchmesser von nur 10 km eine kaum vorstellbare Anhäufung von Bodenschätzen mit hohem prozentualem Gehalt an Metall. Der Häufigkeit des Vorkommens nach haben wir dort Kobalt-Nickel, Platin, Gold, Kupfer, Eisenerze, Kohle, Gips und andere wertvolle mineralische Stoffe. Nach dem Ausbau dieses Industriezentrums, dem die Machthaber der Sowjetunion ihre ganze Aufmerksamkeit und „Fürsorge“ zuteil werden ließen, ist Norilsk industriell vom übrigen Mutterland vollkommen unabhängig. Ein schwieriges Problem bedeutet allerdings die dort Versorgung der arbeitenden Menschen, die durch die polaren Bedingungen von Norilsk (Tundragebiet; die Taigagrenze liegt zwischen 200 und km südlich) ausschließlich vom Festlande aus mit Lebensmitteln und anderen Bedarfsartikeln beliefert werden müssen. Die zweite Schwierigkeit war, gerade auf Grund der verheerenden klimatischen Bedingungen, genügend freie Arbeitskräfte zu bekommen. Bei dem Unwillen jedes freien Sowjetbürgers, freiwillig in dieses Gebiet als Arbeiter zu gehen, blieb jede Propaganda, wie Versprechung von Polarzulagen, doppelten Löhnen und dergleichen so gut wie ergebnislos. Das dritte Problem ist die Frage des Transportes. Der Jenissei ist nur knapp vier Monate im Jahre schiffbar; während dieser Zeit muß auf diesem Wege die gesamte Versorgung von Norilsk bewältigt werden. Andererseits sind die geförderten, aufgestapelten Bodenschätze abzutransportieren. Besondere Schwierigkeiten verursacht das restlose Fehlen von Holz. Während dieser vier Monate werden Tausende von Holz-stämmen den Jenissei abwärts bis Dudinka geflößt. Die beiden ersten Probleme löste die Regierung auf einfache Art und Weise, indem sie, besonders nach 1945, jährlich Tausende von Strafgefangenen in dieses Gebiet beförderte, wobei die Gefangenen in den Laderäumen von umgebauten Schleppern schlimmer als Vieh und Stüdegut 15— 25 Tage unterwegs waren.

Nachstehende Zahlenangaben erhielt ich von einem im Laboratorium der Stadt beschäftigten Ingenieur. Sie zeigen wohl am deutlichsten, welche katastrophalen klimatischen Bedingungen im Raum Norilsk, verbunden mit ungenügender Verpflegung, auf den Gefangenen lasteten. Die Zahlen durften nie bekannt gegeben werden, und wohl nur wenige der dort Ansässigen und selbst NKWD-Angehörige kennen diese genauen Werte.

Der in Norilsk herrschende günstigste Luftdruck beträgt 685 mm (normal 760 mm). Bei den häufigen Schneestürmen (Purga), besonders zwischen November bis April, wechselte manchmal mehrmals täglich der Druck zwischen 68 5 mm und 580 mm. Der Sauerstoffgehalt der Luft beträgt 15, 5 — 16°/o. Nüchterne Zahlen, hinter denen sich der schleichende Tod verbirgt! Diese Tatsache bedingt, daß jeder zweite Mensch herzkrank ist und viele, selbst jüngere Menschen, einen Blutdruck bis zu 260 haben.

Im Gegensatz zu früheren Jahren — bis 1949 — ist die Sterblichkeitsziffer bei den Gefangenen jetzt fast normal: die Masse der Gefangenen ist zwischen 20 und 50 Jahre alt, also im widerstandsfähigsten Alter. Außerdem versucht die sowjetische Regierung, durch höhere Lebensmittelsätze die Ausbeutung der Gefangenen möglichst lange zu gewährleisten.

Praktisch bedeutet die Verbannung nach Norilsk einen langsamen, aber absolut sicheren Untergang. Die NKWD hat genau ausgewählt, wer als Strafgefangener nach Norilsk kommt. Diese Auslese der politisch Aktivsten war nicht zuletzt ein Grund auch dafür, daß das Gros der Gefangenen überhaupt einen Streik hat durchführen können.

Norilsk ist eines der Sperrgebiete der SU wie z. B. auch Ostpreussen, und kann von Freien nur mit besonderer Genehmigung betreten werden.

195 3 wurde die breitspurige Bahn vom Hafen Dudinka bis zur Stadt Norilsk als Endpunkt fertiggestellt. Der größte Teil der sogenannten freien Bevölkerung setzt sich aus ehemaligen Gefangenen zusammen, die von einer dünnen Schicht der NKWD-,, Aristokratie“ regiert werden. Der oberste Chef des Norilsker Gebietes ist ein General, der in seinem Bereich als ungekrönter Kaiser gilt. Das Strafgebiet Norilsk gehört zum zweiten Regime-der SU. Teil der nach oder Gor-Lagerbezirk Der größte dort verbrachten Gefangenen wurde aus politischen Gründen verurteilt und hatte grundsätzlich Strafen von 10 bis 25 Jahren und lebenslänglich. Nach Strafverbüßung mußte der ehemalige Gefangene im Gebiet Norilsk angesiedelt werden. • Ich selbst war mehrere Jahre im Strafgebiet Norilsk in einem der Staatsregime-Lager. Sie unterscheiden sich lediglich in der Art der Arbeitsplätze. Der größte Teil der Gefangenen war im Bergbau eingesetzt. Die Gliederung der Regime-Lager war folgende: R. -Lager 1: ca. 20 km von der Stadt entfernt (2000 Gefangene); Lager 2: 30 km westlich der Stadt (3500 Gefangene); Lager 3: in der Nähe der Stadt in Richtung des Steinbruches Norilsk ca. 3000 Gefangene, die ohne Ausnahme zu hohen Katorgastrafen (Zuchthaus) verurteilt waren. Lager 4 u. 5: in unmittelbarer Nähe der Stadt mit 3000 bzw. 5000 Gefangenen; Lager 6: in unmittelbarer Nähe des 5. Lagers mit ca. 3000 Frauen; außerdem das Straflager Kallarkon 20 km westlich der Stadt ca. 1000 Gefangene. Darüber hinaus befinden sich von Dudinka bis Norilsk und in unmittelbarer Umgebung der Stadt ca. 20 Lager mit leichterem Regime, die kriminell Verurteilte und leichte politische Fälle als Insassen hatten.

Der Hauptprozentsatz in der Lagern 1, 2, 3 u. 6 waren Angehörige der Ukraine, in den Lagern 4, 5 Angehörige der baltischen Länder, in geringerem Prozentsatz Nationalrussen. Gleichmäßig waren auf die Lager die Angehörigen sämtlicher Nationen verteilt. An erster Stelle Polen, Ungarn, Chinesen, Japaner, Koreaner, Deutsche und darüber hinaus vereinzelt Angehörige aus den vorderen Orientstaaten und aus den westeuropäischen Ländern. Nach dem Prozentsatz der einzelnen Nationalitäten innerhalb der Lagerbelegschaft richtete sich ander. Dort, wo Ukrainer in der Überzahl waren, lag selbstverständlich auch die Initiative in der internen Lagerführung in den Händen der Ukrainer, im anderen Falle bei den Angehörigen der baltischen Länder. Die Zusammensetzung der sozialen Herkunft der einzelnen Strafgefangenen war in allen Regimelagern gleich, die Intelligenz-schicht umfaßte ungefähr 15%. Die Masse der Gefangenen waren Kriegsteilnehmer.

An nichtsowjetischen Staatsangehörigen waren in den Norilsker Regimelagern etwa:

120 Polen 80 Ungarn 80 Chinesen 80 Japaner 80 Deutsche 15 Österreicher 100 Koreaner 20 Tschechen 30 Rumänen 15 Bulgaren 7 Franzosen Belgier u. Spanier 30 Iraner, Iraker u. Türken.

neben etwa 200 russ. Emigranten aus der Mandschurei.

Gedacht werden muß hier der Hunderte im Jahre 1940 nach Norilsk verschleppten lettischen, litauischen und estnischen Offiziere, die durch Unterernährung, Krankheit und Liquidierung bis auf einige wenige im ewig gefrorenen Boden von Norilsk ruhen. Sie waren diejenigen, die hauptsächlich mit dem Aufbau der Baracken für die heute im Norilsker Raum bestehenden Lager verwandt wurden. Was für die Polen Katyn bedeutet, bedeutet für die Balten Norilsk.

Die Regimelager von Norilsk arbeiten auf folgenden Arbeitsstellen:

1. Lager: Erzschacht, Koks-Chemiewerk;

2. Lager: Kohlenschacht, ein geringer Teil zum Häuserbau;

3. Lager: Steinbruch, Zementfabrik, Kalkwerk, Ziegelei, Häuserbau und Kobaltwerk;

4. Lager: Stadtbau, Kupferwerk und Zementfabrik;

5. Lager: Stadtbau, Kupferwerk und Ziegelei;

6. (Frauenlager): Straßenbau, Häuserbau, ca. 100 Frauen in der Nähstube der Stadt;

Straflager Kallarkon: Steinbruch.

Die politischen Ziele der Opposition Bis zum Jahre 1952 wurde das Leben der Gefangenen vom Hunger bestimmt. Nur wenige Gefangene beschäftigten sich aktiv mit dem Problem der Politik und den Möglichkeiten, wirksam gegen das Lager-Regime einerseits und das bolschewistische Regime andererseits vorzugehen. Die wiederholt durchgeführten Sabotageakte auf den Arbeitsplätzen wurden durch geschickte Ausnutzung der Gefangenen, durch Zahlung des Arbeitslohnes in Form von Essen und zusätzlichem Essen, von selbst eingestellt. Die einzige Möglichkeit der politischen Aktivisten war eine enge Kontaktaufnahme und Vertiefung der Verbindungen der einzelnen Nationen untereinander. Dazu trafen sich regelmäßig die Vertrauensleute der einzelnen Nationen — ich war von 1952 bis 1954 in meinem Lager der Vertrauensmann der Deutschen Gruppe — und besprachen genau die Möglichkeiten, die einzelnen Gefangenen in ihrer ablehnenden Haltung dem sowjetischen Regime gegenüber zu stärken und eine systematische politische Schulung der Lagerbelegschaft durchzuführen.

Nirgends mehr als gerade in diesen politischen Lagern wurden Nachrichten gehört, weitergegeben und diskutiert, wohl . nirgends mehr Bücher gelesen und politisiert. Günstig war es, in den Reihen der Gefangenen erfahrene Leute aus Politik, Wirtschaft, Industrie, Landwirtschaft, Kultur und Armee zu haben. Durch den engen Kontakt mit den Freien waren wir über alle wichtigen Meldungen und auch interne Anordnungen informiert. Der Kontakt zu dem Bewachungspersonal wurde von Jahr zu Jahr besser, es handelte sich hauptsächlich um Strafversetzte, die sich uns gegenüber nur dadurch unterschieden, daß sie auf der anderen Seite des Stacheldrahtes wohnten. Die Freien waren dort so unfrei, daß sie zum Besuch der Stadt eine besondere Genehmigung haben mußten. In den regelmäßigen Besprechungen der Vertrauensleute der einzelnen Nationen wurde vor allen Dingen die Frage erörtert, wie man sich nach den furchtbaren Massenerschießungen politischer Gefangener von 1941 im Falle eines Krieges verhalten könne und müsse. Denn zu diesem Zeitpunkte sah jeder Gefangene die Möglichkeit, wieder frei zu werden, nur in einem Konflikt zwischen der Sowjetunion und der westlichen Welt. Eine neue Situation brachte im Mai 1952 die Beseitigung des Hungers. Von diesem Zeitpunkt an verdienten die Gefangenen für ihre Arbeit monatlich einige Rubel und konnten zumindest genügend Brot kaufen. Jetzt war es möglich, das Verhältnis der politisch denkenden Gefangenen untereinander zu kräftigen und zu beeinflussen. Sehr skeptisch standen insbesondere die einheimischen Gefangenen wie auch der Großteil der Freien den Möglichkeiten eines inneren Aufstandes gegenüber. Sehr kritisch und klar wurden Errungenschaften wie Nachteile der bolschewistischen Diktatur erörtert und analysiert. Allgemein anerkannte man die Industrialisierung des Landes, die Beseitigung des Analphabetentums, die Förderung der Begabten und andere sozialistische Einrichtungen. Andererseits wünschte man ganz klar die Beseitigung der Diktatur, war sich aber darüber im klaren, daß dieses nur mit Hilfe von außen geschehen könne. Die politischen Ziele der einheimisch arbeitenden Gruppen und kleinen Organisationen, speziell natürlich in den politischen Lagern, kann man kurz zusammenfassen in nachfolgenden Punkten:

1. Bildung einer Volksregierung auf Grund freier und geheimer Wahlen. 2. Garantie der persönlichen Freiheit für jeden Staatsbürger, der Rede-und Pressefreiheit.

3. Abschaffung der Geheimpolizei und restlose Abrüstung.

3. Schaffung einer wirklichen Friedensproduktion.

5. Öffnung der Grenzen und wirtschaftliche, kulturelle und freundschaftliche Beziehungen zu den Völkern des Westens.

6. Eine Entkollektievierung der Landwirtschaft.

7. Die restlose Liquidierung des bolschewistischen Ideengutes.

8. Die Unabhängigkeit der gewaltsam von der Sowjetunion annektierten Länder.

Die oppositionellen sowjetischen Kräfte sind sich dabei allerdings im klaren, daß die Durchführung und Erreichung dieser Ziele nur mit Hilfe des Westens erreicht werden kann, wobei sie allerdings gewisse kapitalistische Anschauungen gegen den Sozialismus ablehnen.

Sie befürchten, daß der Westen mit einer kapitalistischen Zielsetzung mehr gegen sie als für sie arbeitet und nicht dem ehrlichen Wollen der oppositionellen Kräfte entgegenkommt, denn sowohl die Vertreter der Intelligenz, der Arbeiterschaft und der Jugend betonen neben der nationalen Opposition ihre sozialistischen Ideen um so mehr, als viele politische Gefangene während des Krieges außerhalb der Grenzen der Sowjetunion neben den Errungenschaften auch die Nachteile des Westens kennengelernt haben.

So wie diese prinzipiellen Fragen von den politisch aktiven Gefangenen sehr kritisch und nüchtern erfaßt wurden, so hatten sie auch die lügen-hafte Politik des Kreml durchschaut, und alle beruhigenden Gerüchte über eine bevorstehende Amnestie für politische Häftlinge wurden so aufgefaßt, wie sie in Wirklichkeit waren: Beruhigungspillen gegen die zunehmende Unlust und Unzufriedenheit der Gefangenen.

In Erkenntnis der scheinbar aussichtslosen Lage wurde die Opposition verstärkt und ein passiver Widerstand der Lagerführung gegenüber organisiert.

Nur mit eigenen Mitteln konnte man den Tschekisten beikommen, und geschickt verstand man es, Leute der Opposition als Mitarbeiter (Spitzel) den Operativoffizieren zuzuschieben. So war man über gewisse Maßnahmen und das besondere Interesse der operativen Lagerabteilung der NKWD gut informiert.

Was die Aktivität der oppositionellen ausländischen Kräfte anbetrifft, so standen die Koreaner an erster Stelle, ihnen folgten die Polen, Tsche-chen, Ungarn, Rumänen und Deutschen. Die Japaner als bestdisziplinierte nationale Kraft verhielten sich sehr neutral, wenn sie auch aus ihrer antisowjetischen Einstellung keinen Hehl machten. Die aus der NKWD hervorgegangenen politischen Gefangenen waren in fast allen Fällen unzuverlässige Elemente; die Mandschuren zogen sich später in zunehmender Aussichtslosigkeit ihrer Opposition in die Passivität zurück.

Rebellion Nach dem Tode Stalins im Frühjahr 1953 glaubten Gefangene und Freie, daß diese günstige Situation vom Westen her ausgenutzt würde. Die Enttäuschung, insbesondere bei den Gefangenen, war mehr als groß. Zugleich verstärkte sich der Druck auf die Gefangenen: die Erkenntnis wuchs, das Schicksal der Gefangenen werde zumindest auf unbestimmte Zeit unverändert bleiben. Die Stimmung wurde von den aktiven illegalen Gruppen innerhalb der Lager dazu ausgenutzt, einerseits den Gefangenen vor Augen zu halten, daß sich nach dem Tode Stalins absolut nichts geändert und andererseits die Hoffnung auf den Westen sich als irrig erwiesen hatte.

Die Stimmung war derart geladen, daß es nur noch der Zündung bedurfte, um eine Rebellion auszulösen. Anfang Mai 1953 wurde auf Gefangene des 5. Lagers, die dort Verbindung über den Zaun hinweg mit dem Frauenlager und Freien ausgenommen hatten, widerrechtlich geschossen. Darüber hinaus wurde durch Provokation und Beschimpfung im 4. und 5. Lager die Stimmung der Gefangenen soweit gebracht, daß die Aktivisten dieser beiden Lager zum Streik aufriefen und jede weitere Arbeit verweigerten. Am nächsten Tage trat solidarisch das Frauenlager in einen vierzehntägigen Hungerstreik. Während der ersten Tage des Streikes der Lager 4, 5 und 6 wurden die Lagerinsassen mit den Forderungen der Streikführung bekannt gemacht. Über die Freien erfuhren die Lager 1, 2 und 3 vom Streik und den Forderungen der Streikenden und legten ebenfalls die Arbeit nieder. Schwierigkeiten ergaben sich daraus, daß der kleine Teil der Gefangenen, der auf guten Arbeitsplätzen beschäftigt war, befürchtete, diese günstigen Positionen zu verlieren; darüber hinaus befürchteten andere strenge Repressalien, und die NKWD ließ deutlichst durchblicken, daß alle Aufrührer empfindlich bestraft würden. Dem Streik schlossen sich ebenfalls drei der kriminellen Lager an, so daß dann Anfang Juni insgesamt 30 000 Gefangene nicht mehr zur Arbeit gingen. Die Verbindung zwischen den einzelnen Lagern wurde durch die mit den Streikenden sympathisierenden Freien auf das Beste durchgeführt und unterstützt. In den Lagern 3, 5 und 6 hatten die Streikenden die Lagerführung gezwungen, das Lager zu verlassen; sie gestatteten lediglich aus technischen Gründen dem Lager-chef nach vorheriger Anmeldung das Betreten des Lagers.

Wie schon oft schob man in einige Lager, wie in das 2. und 3. Regimelager, zur Unterstützung der NKWD kriminelle Typen (Blatnois), die mit Terror und Gewalt unter den politischen Gefangenen Verwirrung und Uneinigkeit stiften sollten.

Im 2. Regimelager wurde nach erfolgloser Vorsprache beim Lager-führer, die Blatnois sofort aus dem Lager zu entfernen, auf Beschluß des Streikkomitees die Liquidierung der Blatnois durchgeführt. Nächtlicherweise wurden sechs Blatnois erstochen, mit dem Erfolg, daß die übrigen fluchtartig das Lager räumten, während zwei Ukrainer freiwillig die Tat auf sich nahmen, um die anderen zu decken. Am folgenden Tage streikte das 2. Lager geschlossen.

Im 3. Regimelager brachen am 4. Juni die vom 5. und 4. Regime-lager in den Isolator dieses Lagers gebrachten Streikaktivisten aus. Das Lager wurde beschossen und fünf Gefangene getötet.

Daraufhin flohen Lagerführung und diensttuende Soldaten aus dem Lager, und die Gefangenen übernahmen selbst die Führung des Lagers. Alle Saboteure und Spitzel wurden auf Befehl des Streik-komitees im Isolator festgesetzt.

In den streikenden Lagern wurden Wachen aufgestellt, die insbesondere Küche, Krankenrevier und Verpflegungslager kontrollierten und das Lagertor besetzt hielten.

Regelmäßig wurden besonders im 3. und 4. Regimelager Versammlungen abgehalten, auf denen über die Ziele und Forderungen des Streikes gesprochen und diskutiert wurde. In zündenden Ansprachen vertraten hier die Streikführenden ihre Forderungen und erörteten die Möglichkeit, daß dieser Streik ein Signal für die übrigen Straflagergebiete der Sowjetunion sein könnte.

Die Eroberung des lebensnotwendigen, von Soldaten besetzten Elektrizitätswerkes oder der Norilsker Funkanlage, scheiterte am Fehlen von Handfeuerwaffen. Da man mit einem gewaltsamen Niederschlagen des Streikes rechnen mußte, wurden, besonders in den Lagern 3, 4, 5 und 6, Vorbereitungen für einen improvisierten bewaffneten Widerstand getroffen. So wurden Dolche, Wurfladungen und Benzinkanister bereitgestellt und Barrikaden errichtet. Ballons mit Flugblättern riefen die Bevölkerung der Stadt sowie die Soldaten zur Unterstützung auf, und machten sie mit den allgemeinen Forderungen der Streikenden vertraut. Diese Forderungen waren im allgemeinen: Sturz und Beseitigung der bolschewistischen Diktatur, unter Betonung der oben angeführten acht Punkte; im speziellen: Befreiung der politischen Häftlinge und Erleichterung in der Behandlung der Gefangenen, insbesondere Herabsetzung und Überprüfung der verhängten Strafen. Die streikenden Lager hatten schwarze Fahnen aufgezogen, um damit weit sichtbar den Streik mitzuteilen. Über den Rundfunk wurden die Streikenden wiederholt aufgefordert, sofort die Arbeit wieder aufzunehmen, es wurde sogar Straffreiheit für die Aktivisten des Streikes zugesichert. Alle Verhandlungen, die in den Lagern selbst mit den verschiedenen Kommissionen durchgeführt wurden, verliefen ergebnislos, da die Streikführung sämtlicher Lager nur mit einer ministeriellen Kommission aus Moskau verhandeln wollte. Diese Kommission wurde zugesagt. In der Zwischenzeit versuchten ein Generalstaatsanwalt und verschiedene Generale die Streikenden zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Allerdings verliefen sämtliche Versuche ohne Erfolg. Da die Regierung den dort stationierten Soldaten nicht traute, wurden mehrere militärische Einheiten Krasnojarsker Pioniere per Flugzeug in den Raum Norilsk geschafft und die Lager in mehreren Ketten umstellt. Das 4., 5. und 6. Lager wurde nacheinander im Juli . im Sturm von den Soldaten genommen. In der anschließenden Untersuchung wurden die Streikaktivisten heraussortiert und zunächst in einem geräumten Lager, das zum Straflager erklärt wurde, zusammengezogen. Das Lager 3 wurde am 4. August um 3 Uhr früh aufgefordert, binnen 15 Minuten das Lager zu räumen. Die Gefangenen lehnten das ab. Mit Waffengewalt wurde das Lager gesäubert, wobei wahllos auf die Gefangenen geschossen wurde. Der größte Teil der Gefangenen ging bei dem ungleichen Kampf dem Tode entgegen; im Lager 3 fielen 120 Gefangene, während weitere 200 zum Teil schwer verwundet wurden. Bei der Durchsiebung am Lagertor, die bis abends 18 Uhr dauerte, wurden etwa 500 herausgenommen. Außerhalb des Lagers wurden noch von den Soldaten beim Spießrutenlaufen etwa 50 Mann mit Bajonetten und Knüppeln totgeschlagen.

Der Verlauf des Streiks Im einzelnen verlief der Streik wie folgt:

3. Regimelager: Beginn des Streikes am 4. Juni. Am 17. Juni Vorbereitungen für einen bewaffneten Widerstand. 300 „Schwache“ überließ man aus dem Lager der NKWD. Die am Lagertor mehrfach durchgeführten Verhandlungen zwischen Streikführern und Generalen verliefen ergebnislos, da die Generale keine konkreten Zusagen machen konnten. Trotz zum Teil gröblicher Beschimpfung gegen die „bolschewistischen Blutsauger" geschah nichts.

Um den Streik zu brechen, wurde das Lager, das inzwischen von draußen verpflegt wurde, für drei Wochen auf Strafverpflegung (geringste Portionen) gesetzt. Mit Ballons und Drachen richtete man Notrufe an die Bevölkerung. Am 3. August umstellten 1000 Soldaten, die aus Krasnojarsk herangebracht worden waren, das Lager. Am 4. August, 3 Uhr früh, erfolgte über Lautsprecher die Aufforderung zur Räumung des Lagers. Die Gefangenen besetzten alle wichtigen Stellen des Lagers und folgten der Aufforderung nicht. Mit Gewalt und Beschuß wurde das Lagertor aufgebrochen und das Lager von allen Seiten gestürmt. Zehn bzw. acht Tage vorher säuberte man das 4. und 5. Regimelager auf gleiche Weise. Bilanz: etwa 50 Tote. Im 1. Regimelager zur gleichen Zeit Säuberung, 10 Tote. Im 2. Regimelager wurde der Streik bereits drei Wochen eher unblutig beendet, da das Lager, 30 km von der Stadt abgelegen, infolge falscher Nachrichtenübermittlung glaubte, daß die übrigen Lager ebenfalls den Streik beendet hätten. Außerdem hatte man dort durch die schon nach 14 Tagen durchgeführten Erleichterungen zunächst die Begeisterung für den Streik geschickt gebrochen. Als über die Freien später vom weiteren Streik der anderen Lager berichtet wurde, waren aus dem Lager aber bereits etwa 80 der aktivsten Gefangenen herausgeholt. So war es hier nicht mehr möglich, die führerlose Masse der Gefangenen zu erneutem Streik zu bewegen.

Das 6. Regimefrauenlager begann den Streik sofort im Anschluß an den Streik des 5. Regimelagers. Außer den etwa 2600 Ukrainerinnen, die bis auf wenige Ausnahmen sehr passiv in ihrer politischen Einstellung waren, befanden sich nur noch etwa 200 Russinnen, 150 Baltinnen, 30 Polinnen, 6 Deutsche, 2 Japanerinnen und einzelne Vertreterinnen anderer Nationen im Lager.

Hier hatte die Streikführung wohl die schwierigste Aufgabe zu bewältigen, denn gerade die einfachen Ukrainerinnen waren schon so an die Arbeit gewöhnt und abgestumpft, daß wohl gerade der geschlossene Streik des Frauenlagers der größte Erfolg der Streikführung ist.

Nach vierzehntägigem Hungerstreik, wobei die wenige im Lager befindliche Verpflegung besonders den Invalidinnen und etwa 150 werdenden und stillenden Müttern verausgabt wurde, wurde das Lager von draußen verpflegt. 200 Frauen, die ihre gute Arbeit nicht verlieren wollten oder unsichere Elemente waren, verließen unter Beschimpfung und Drohungen das Lager und wurden von der NKWD außerhalb des Lagers notdürftig untergebracht.

Während des Hungerstreiks wurden ungezählte Frauen auf der Lager-straße ohnmächtig, bekamen vom Arzt Traubenzuckerspritzen, wurden künstlich ernährt und hungerten weiter. Wegen der ukrainischen Majorität des Lagers mußten die Aktivisten des Streikes Ukrainerinnen sein. Die tatsächliche Streikleitung (Baltinnen und Deutsche) blieb im Hintergrund und orientierte die Aktivisten. Um ein plötzliches Zuschließen der Baracken zu verhindern, blieb jeweils die Hälfte der Lagerbelegschaft Tag und Nacht auf der Straße. Eingeteilte Kommandos kontrollierten Küche, Telefonzentrale und Krankenrevier. Nachdem die unzuverlässigen Elemente das Lager verlassen hatten, wurde die Verwaltung aufgefordert, das Lager ebenfalls zu verlassen. Mit Erlaubnis der Aktivistinnen durfte der Lagerleiter aus verwaltungstechnischen Gründen das Lager von Fall zu Fall betreten. Nach Ankündigung der geforderten Moskauer Kommission wurde die Verpflegung angenommen. Die Forderungen der Streikenden waren dem Frauenlager vom Lager 5 aus durch Flaggensignale bekanntgegeben worden, genau wie ihnen dann die Zusicherungen der Regierung über die Erleichterungen für die Gefangenen Anfang Juli ebenso übermittelt wurden.

Man nahm die Arbeit wieder auf. Entgegen der Zusicherung, daß keinerlei Repressalien auf Grund des Streikes durchgeführt würden, wurde eine Estin aus der Streikleitung und zwei weitere Aktivistinnen auf der Arbeitsstelle verhaftet. Daraufhin brach der Streik erneut aus. Auf Grund der Erfahrungen des ersten Streikes wurde die Verpflegung angenommen. Auf den Dächern der Baracken wurden schwarze Fahnen gehißt und an die Starkstromleitung angeschlossen. Zur Verteidigung wurden Steine, Glas und Barrikaden bereitgestellt. Am 10. Juli erfuhren die Frauen, daß Soldaten von Krasnojarsk angekommen waren. Die meisten einheimischen Soldaten hatten eine Lagerfrau, teils mit Kindern, und konnten wegen Unzuverlässigkeit nicht eingesetzt werden. Am 11. Juli wurden die beiden Lagertore und Auffahrtsstraßen durch bewaffnete Soldaten besetzt. Am Abend forderte man die Frauen auf, das Lager zu verlassen. Die Antwort war ein Toben und Schreien auf Seiten der Frauen, während die Zivilisten auf der anderen Seite des Zaunes von der Stadt aus offenkundig gegen die Soldaten schimpften und tobten. Das ging so bis morgens vier Uhr. Während der ganzen Nacht wurden die Frauen über Lautsprecher zum Verlassen des Lagers aufgefordert. Um 4. 30 Uhr drangen Feuerwehrleute mit offenen Beilen und Soldaten mit Knüppeln in das Lager ein und trieben die Frauen zum Lager hinaus, wo sie von den Soldaten in Empfang genommen wurden. Vor einem am Lagertor aufgebauten Tisch sortierten NKWD und Spitzel die Gefangenen.

Ein Teil der Aktivistinnen wurde sofort ins Gefängnis Norilsk oder in ein Straflager, ein Teil in das Stammlager zurückgeführt. Die Todesopfer betrugen rund 30 Frauen, 80 schwerverletzte Frauen erhielten zunächst keine ärztliche Hilfe. '

Die Säuberung der leichten Regimelager ging schneller vonstatten, da man gerade diesen geringer bestraften und meist kriminellen Gefangenen leichter entgegenkam.

Ein für den Streik ungünstiger Faktor war die Tatsache, daß Ende Mai die ersten Ausländer zum Heimtransport aufgerufen wurden. Selbstverständlich glaubten die zurückbleibenden Ausländer, durch aktive Streikbeteiligung sich die Chance eines eventuellen Heimtransportes zu verscherzen. Aus diesem Grunde waren viele Ausländer teilweise unsicher geworden, sie verhielten sich neutral. Des Streikes wegen transportierte man die herausgezogenen Ausländer sehr rasch aus dem Norilsker Gebiet ab. Auch bei den einheimischen Oppositionellen machte diese bis dahin unmöglich erscheinende Tatsache ziemlichen Eindruck. Schien sich nach dem Tode Stalins doch eine gewisse Kursänderung anzubahnen? Daß dies ein Trugschluß war, sahen wohl die meisten nach kurzer Zeit ein.

Der Erfolg des Streiks

Der größte Erfolg des Streikes ist neben den sofort durchgeführten Erleichterungen für die Gefangenen vor allem die Tatsache, daß überhaupt ein Streik organisiert und durchgeführt wurde; denn bis zu diesem Zeitpunkt hielt man die Möglichkeit eines aktiven Widerstandes inerhalb der Sowjetunion seitens der Gefangenen für unmöglich. Die streikenden Gefangenen begriffen, welche Macht sie darstellen und welche Gefahr jeder Streik für die sowjetische Regierung bedeutet. Aufschlußreich war ferner die Reaktion von Regierung, Bevölkerung und Soldaten. Nach dieser bestandenen ersten Feuerprobe wurden die Gefangenen in ihrem Wollen und Handeln gestärkt und traten allen Anordnungen und Machenschaften der Tschekisten bewußter und kritischer entgegen. Darüber hinaus erkannten die Gefangenen klar, daß es sich die sowjetische Regierung nicht leisten kann, einfach rücksichtslos die Streikenden niederzuschießen, wenn Industrieproduktion und allgemeine Situation der Zwangsarbeitslager nicht empfindlich gestört werden sollen.

Neben dieser moralisch ungeheuren Stärkung der Gefangenen war als besonderer Erfolg des Streikes die deutlich erkennbare Unsicherheit der Regierung als interessant und wichtig zu verzeichnen. Die Unerfahrenheit der Streikenden war für die Regierung günstig; der Streik in Norilsk konnte, wie in Workuta und Karaganda, lokalisiert und schließlich erstickt werden. Auch die fehlende Hilfe von außen trug dazu bei, den Streik nicht zu einem Generalstreik aller Gefangenen werden zu lassen.

Die sowjetische Regierung sorgte selbst dafür, daß nach kurzer Zeit in allen Lagern der Sowjetunion die Einzelheiten des Streiks bekannt wurden, denn die Aktivisten des Streiks wurden aus dem Raum Norilsk herausgenommen und zunächst auf Straflager und Gefängnisse in alle Teile der Sowjetunion verteilt, später in die allgemeinen Lager der Sowjetunion eingewiesen. Hier hatten nun die Aktivisten des Streikes mit den in den anderen Lagern arbeitenden Oppositionsgruppen nicht nur Gelegenheit, Verbindung aufzunehmen, sondern vor allem die Möglichkeit, über den Streik selbst, mit seinen Erfolgen und Fehlern zu berichten. Dadurch wurde der Kreis der um den Streik Wissenden vergrößert und der Keim für eine künftige Entwicklung gelegt, in der die Strafgefangenen eine große Rolle spielen werden. Nicht zu unterschätzen ist die propagandistische Wirkung, die der Streik auf die Freien, insbesondere die freien oppositionellen Kräfte, hatte.

Nicht minder wichtig ist die Tatsache, daß die örtlichen Bewachungsmannschaften fast ohne Ausnahme als unzuverlässig nicht gegen die Gefangenen eingesetzt werden konnten.

Im Strafgebiet Taischet Nachdem ich im Sommer 1954 mit den übrigen 311 nichtsowjetischen Staatsangehörigen von Norilsk in das Strafgebiet Taischet überführt wurde, hatte ich dort wiederholt Gelegenheit, mit den mir vom Norilsker Streik her bekannten Aktivisten, die über Straflager und Gefängnisse in allgemeine Lager z. T. auch nach Taischet gelangt waren, über die Auswirkungen unseres und der anderen Streiks zu sprechen. Dabei wurden Erfolge und Fehler der Streiks und die Art der zukünftigen illegalen Arbeit sehr kritisch erörtert; in allen Fällen konnte ich vergleichsweise zu früher noch größere Bereitschaft zum Widerstand gegen das bolschewistische Regime feststellen.

Oft wurden auch Fragen gestellt: „Weiß die übrige Welt von unserem Streik?" „Kennt sie unser Wollen?“ „Unterstützt sie wenigstens propagandistisch unseren Kampf?“ und, „Wird sie uns einmal helfen, die Freiheit zu erringen?“ Aus der Freiheit des Westens muß ich leider sagen: Ein Glück, daß ich den dort Verbliebenen nicht heute die Antwort zu geben brauche.

Wie der illegale Kampf, gestärkt durch die Streikerfolge von 1953, 1954 und 195 5 intensiviert weitergeführt wurde, erlebte ich, teilweise selbst organisatorisch tätig bei ein-bis mehrtägigen Streiks und Protestkundgebungen in verschiedenen Lagern des Taischeter Strafgebietes. Auch hier wurden Fehler gemacht, vieles nicht erreicht, aber doch auch Erfolge errungen.

Alle inzwischen seitens der Regierung an politische Häftlinge gemachten Konzessionen mußten von den Gefangenen Stüde für Stück förmlich erobert werden, während den kriminell bestraften Gefangenen im gleichen Zeitpunkt wesentlich großzügigere Zugeständnisse gemacht wurden. Die Regierung zeigte deutlich, auf wessen Seite sie steht, und daß „eine Krähe der anderen keine Auge aushackt". Die unmittelbaren Erfolge der noch während des Streikes in Norilsk von der Regierung gemachten Konzessionen, kurze Zeit später in Workuta und teilweise erst Monate später in allen Regimelagern der Sowjetunion bekannt-gegeben, genügte den Gefangenen nicht, denn trotzdem wurde in Norilsk in den meisten Lagern noch wochenlang weitergestreikt. Die Gefangenen waren nicht gewillt, nur diese Erleichterungen zu erkämpfen, sondern sie verfolgten weitaus höhere Ziele. Und die Regierung gab nach, in einer Reihe zeitlich aufeinanderfolgender Konzessionen. Sie war sich im klaren, daß sie mit Gewalt nur weitere Unruhe schaffen würde und ließ sich die Streiks eine Warnung sein.

Nach Beginn des Streikes in Norilsk, bei dem 30 000 Gefangene die Arbeit niedergelegt hatten, wurde nach 8, teilweise 14 Tagen Streik, auf Befehl der obersten Regierung mit sofortiger Wirkung bekannt-gegeben: 1. Die Staatsregimelager sind aufgelöst und tragen ab sofort den Charakter der allgemeinen Arbeitslager mit ihren spezifischen Bedingungen. 2. Die Gefangenen werden nachts nicht mehr in den Wohnbaracken eingeschlossen.

3. Die Gitter von den Fenstern sind zu entfernen.

4. Die auf den Bekleidungsstücken der Gefangenen angebrachten Nummern sind zu entfernen.

(In Norilsk erhielten ab 1945 die eintreffenden Gefangenentransporte in die Regimelager nach den Buchstaben des russischen Alphabetes die Nummern A-001 bis A-999, dann B-001 bis B-999 usw.

Die ausländischen Staatsangehörigen erhielten bis zum Jahre 1950 den Buchstaben O, beginnend mit O-001. Ab 1952 wurden keine Ausländer mehr nach Norilsk transportiert.)

5. An Stelle von zwei Briefen jährlich dürfen die Einheimischen monatlich einen Brief schreiben.

6. Bei guter Führung dürfen die Gefangenen einmal jährlich den Besuch ihrer Angehörigen empfangen. (Mit dem Bau eines Besuchs-häuschens neben den Wachen wurde in den Lagern sofort begonnen.) 7. Bei Übererfüllung der hundertprozentigen Norm werden bis zu 130 Prozent 1 Tag für 2, über 130 Prozent 1 Tag für 3 verbüßte Straftage gerechnet.

8. Von dem verdienten Geld können monatlich 300 Rubel empfangen werden (früher 100 Rubel).

9. An Stelle von 4 Filmen monatlich werden 8 Filme gezeigt. (Die Bezahlung dr zusätzlichen 4 Spielfilme übernahm die Farbik-bzw.

Schachtleitung.)

10. Verbot des Schimpfens für Aufsichtspersonal und Gefangene.

11. Das Recht der schriftlichen Beschwerde an die obersten Partei-und Regierungsstellen. Antwort erfolgt auf jeden Fall. Bei Abgabe der Beschwerde Quittung der die Beschwerde annehmenden Dienststelle. 12. Die besten Arbeiter erhalten jährlich bis zu 3 Wochen arbeitsfreie Erholungszeit im Lager.

Daneben wurde mit dem Ausbau von Sportplätzen begonnen, Sport-geräte beschafft, die Gefangenen konnten sowjetische Zeitungen abonnieren; Lehrgänge für russische Sprache, für Maschinisten, Traktoristen und Spezialschachtarbeiter wurden organisiert. Bei den kulturellen Veranstaltungen durften zum ersten Male Bilder von Lenin und Stalin aufgehängt werden und an den Nationalfeiertagen, wie 1. Mai und 8. November wurden keine Gefangenen mehr isoliert. Diese Isolierung erfolgte regelmäßig, um eventuelle Sabotageakte zu verhindern; sie umfaßte in den Norilsker Lagern zwischen 60— 100 Gefangene je Lager. Neue Bekleidung wurde ausgegeben. Diese Maßnahmen bedeuteten für den Augenblick eine sehr fühlbare Erleichterung für die Gefangenen, wenn auch in den Karteien die Gefangenen weiter mit ihrer Nummer geführt wurden, wenn auch nach wie vor die Baracken überbelegt waren und 300 Rubel nicht ausreihten. (Nur bis zu einem Viertel und teilweise ein Zehntel der Lagerbelegshaft verdiente 300 Rubel.)

Auh die Besuhe in das Sperrgebiet von Norilsk waren der weiten Reise und anderer begreifliher Gründe wegen ebenso illusorisch wie das Shimpfen zur sowjetishen Mentalität und Erziehung gehört.

Trotzdem fühlten die Gefangenen eine Verminderung des auf ihnen lastenden Druckes; sie hatten den ersten sihtbaren Erfolg ihrer Forderungen durh den Streik und begannen die illegale Opposition zu verstärken; sie bekamen leihter Kontakt zu den Freien, besonders den freien Arbeitskräften und ein besseres Verhältnis zu ihren Wahmannshaften.

Erleichterungen Im Sommer 1954 wurden wir ausländishen Gefangenen, wie bereits erwähnt, aus dem Strafgebiet Norilsk abtransportiert. Für die Zurückbleibenden bedeutete das eine neue moralishe Belastung Aus der natürlihen Opposition der Ausländer dem kommunistishen Regime gegenüber waren die Ausländer für den Widerstand der Freien wie der Gefangenen ein sehr wihtiger Faktor gewesen. Sie waren ehte Vertreter der anderen, besseren, freien Welt; solange sie im Lande waren gab es Regierungen, die sih für die Ausländer und deren Verbleib, also auh zwangsläufig für die Lager interessierten, sie waren zum Teil politish geshult, sie waren aber, allgemein betrahtet, vor allem zuverlässiger als viele Einheimishe, denen durh die bolshewistishe Erziehung oftmals Begriffe wie Ehrlihkeit, Ehre, Anstand, Ahtung der Persönlihkeit, Kameradshaft, Glauben und Liebe, verlorengegangen waren. Andererseits sah die sowjetishe Opposition die Möglihkeit, nachdem die ersten Meldungen über die erfolgte Rückkehr der 1953 verabshiedeten Ausländer in die Lager gelangten, daß weitere Ausländer als Sprahrohr ihrer gemeinsamen Ziele zur Entlassung kommen könnten. Weiter positiv und stärkend für die Opposition wirkte sih die erste Postverbindung der Ausländer im Frühjahr 1954 und die danah über das Rote Kreuz eingeleitete Paketbetreuung aus, die auf Gefangene wie Freie den größten Eindruck mähte.

Im Sommer 1954 erfolgten auf Grund der Nachwirkungen der Streiks und der weiteren offenen Unzufriedenheit der politishen Gefangenen, die sih immer wieder in Meetings und Vorsprahen bei Lagerkommission äußerte, folgende Erleihterungen:

Durh offizielle Bekanntgabe seitens der SU-Regierung werden 1. die Gefangenen je nah ihrer Führung und Arbeitsfreudigkeit auf folgende neugebildete Lager aufgeteilt:

a) Lager mit ganz leihtem Regime, d. h. Lager ohne Bewahung.

Lediglih ein verwaltungstechnischer Führungsstab ist vorhanden. Die Gefangenen gehen zu ihren Arbeitsplätzen ohne Begleitung und erhalten einen Ausweis, mit dem sie frei das Lagertor passieren können.

Sie erhalten ihr verdientes Geld ganz ausbezahlt und entrichten lediglih dem Lager die Unkosten für Unterbringung, Bekleidung und Verwaltung. Sie beköstigen sih selbst durh Kaufen der Mahlzeiten in der freien Lagerkühe.

Bei dieser Lagerart überwiegen zu 95°/0 die kriminellen Elemente, alle Gefangenen haben lediglih noh Strafen bis zu 3 Jahren.

b) Lager mit leihtem Regime, d. h. die Gefangenen werden aus bewahten Lagern von unbewaffneten Soldaten zur Arbeit geleitet; ein Teil der Gefangenen mit geringen Strafen geht wie im Falle a) zur Arbeit.

c) Lager mit strengem Regime: Die bewahten Gefangenen werden von bewaffnetem AufsicKtspersonal geshlossen zur Arbeit geführt.

d) Straflager bzw. Gefängnis: hier werden für bestimmte Zeit (1 Monat bis 2 Jahre) diejenigen Gefangenen isoliert, die sih im Lager strafbar gemäht haben.

Ebenso k a n n ein Gefangener bei Verstoß gegen die Anordnungen der Lagerverwaltung vom Lager a nah b oder b nah c, wie bei guter Führung umgekehrt, überwiesen werden. 2. Allen Jugendlichen, die bei ihrer Straftat unter 18 Jahre alt waren, k a n n bei guter Führung ganz oder bis zu zwei Drittel die Strafe erlassen werden. Diese Amnestie traf aber für die, die bestimmte politische Paragraphen hatten, nicht zu.

3. Werdende Mütter oder Frauen, die zu Hause Kleinkinder hatten, konnten bei guter Führung zur Entlassung kommen.

4. Die Postverbindung von Lager zu Lager wurde erlaubt.

5. Bei guter Führung kann der Gefangene Besuch bis zu 1 Woche erhalten; er bekommt arbetsfrei und kann mit im Besuchshaus wohnen.

1955 erfolgte eine Amnestie für die Gefangenen, die wegen Kriegs-vergehen (d. h. Gefangenschaft, Landesverrat nach dem § 58 la und § 58 Ib) bestraft wurden, wie z. T. auch wegen krimineller Vergehen im Lager sassen.

Jeder Kenner sowjetischer Verhältnisse weiß aber auch, daß die 1945/46 nach § 58 la und b Verurteilten (das Höchstmaß war um diese Zeit neben der Todesstrafe 10 Jahre) sowieso bereits ihre Strafe beendet hatten oder unmittelbar vor der Beendigung der Strafzeit standen. Die Amnestie war praktisch nur ein geschickter Propagandatrick für die Öffentlichkeit.

Grundsätzlich nicht unter diese Vergünstigungen fallen die nach §§ 58/4 Angehörige und Mitarbeiter des Antikomintern, 58/6 Spionage, 58/8 Terror und 58/10 antisow. Propaganda Bestraften.

Weiterhin wurde erlaubt, in allen Sprachen Post zu schreiben und zu empfangen; das ist besonders für die einzelnen Nationen der SU wichtig, die von diesem Zeitpunkt an erstmalig in ihrer Heimatsprache Briefwechsel führen konnten. Im Frühjahr 195 5 wurde bekannt-gegeben, daß ab sofort der Gefangene selbst für Bekleidung und Essen aufzukommen habe. Dafür erhält der Gefangene sein verdientes Geld (bei Abzug der allgemeinen Lager-und Gefangenenunkosten) voll ausbezahlt. Gleichzeitig übertrug man die innere Lagerverwaltung vermehrt in die Hände der Gefangenen; selbst ein Kameradschaftsgericht wurde in allen Lagern auf direkten Befehl'aus Moskau zur Aburteilung von Vergehen und schlechter Arbeit oder Sabotage und Verstößen gegen die Lagerverwaltung organisiert und eingerichtet. Auf Grund unserer Erfahrungen und der guten illegalen Arbeit unter den Gefangenen wurde bei offener Ablehnung dieses Ansinnens trotz aller Manöver, Drohungen und Versprechungen seitens der politischen Offiziere und Lagerarbeiter in unserem Lager kein Lagergericht gegründet, denn dies und alle zuletzt aufgeführten Erleichterungen erkannten die politischen Gefangenen als ein raffiniert ausgeklügeltes Mittel zur Hebung der Arbeitsmoral und zur Ablenkung der unzufriedenen Gefangenen.

Gerichtsprozeß in Norilsk Als unmittelbares Nachspiel zum Streik in Norilsk wirft der im Frühjahr begonnene und im Juni 1954 beendete Gerichtsprozeß in Norilsk ein bezeichnendes Licht auf die innere Politik, die Gewissenslosigkeit und zugleich teuflische Brutalität der bolschewistischen Regierung. Ob der Prozeß an sich oder seine Urteile als ein Erfolg zu werten sind, sei dahingestellt, Tatsache ist, daß der bis zu diesem Zeitpunkt oberste Chef von Norilsk, Generalmajor Smirnow, einige politische und Lagerverwaltungsoffiziere zum Tode bzw. hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Einige der Rädelsführer (unter ihnen Ukrainer, Russen, Weißrussen, Letten, Litauer, ein Tscherkesse und ein Deutscher) wurden im gleichen Prozeß als Zeugen verwandt und zugleich als Angeklagte zu 1 — 2 Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz vor dem Prozeß hatten einige Tschekisten Selbstmord begangen. Von den angeklagten Gefangenen wurde etwa die Hälfte verurteilt. Die verurteilten politischen Gefangenen waren zum größten Teil Angehörige der Intelligenzschicht, ihre zivilen Berufe waren Bauingenieure, Akademiker, Offiziere, der Tscherkesse entstammte einem Fürstengeschlecht.

Um den Streik in seinen politischen Auswirkungen auf die eigenen Parteidienststellen, die militärischen Organe, die beim Niederknüppeln des Streiks angesetzt waren, die breite Masse der Freien und die übrigen Gefangenen der sowj. Lager abschwächen, erschoß bzw.degradierte und verurteilte man eine Anzahl von verantwortlichen Offizieren unter dem Vorwande, sie hätten es an richtiger Beaufsichtigung den Gefangenen gegenüber fehlen lassen, die Befehle Moskaus seien von der Lagerverwaltung falsch ausgelegt worden, sie habe eigenmächtig gehandelt, ja Sabotage am bolschewistischen Regime getrieben.

„Nie wäre es zu einem Streik gekommen, hätten diese Offiziere korrekt nach den Anweisungen Moskaus gehandelt", war der Tenor dieser Prozesse, in denen sich die ganze Schwäche des Regimes abschließend offenbarte.

Fussnoten

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