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Gültige Lehren des Liberalismus | APuZ 17/1956 | bpb.de

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APuZ 17/1956 Kommunistische Ideologie und christlische Philosophie Gültige Lehren des Liberalismus

Gültige Lehren des Liberalismus

Franz Böhm

Wir wissen, daß sich christliche Kreise den furchtbaren Ausbruch des Bösen im Nationalsozialismus überwiegend mit dem Zerfall des Glaubenslebens erklären und diesen Zerfall des Glaubenslebens wiederum auf die philosophi-shen Systeme der Aufklärungszeit mit ihrem Glauben an die Güte der menschlichen Natur, an die Vernunft, an den Fortschritt zurückzuführen. Daher sei eine Rüdekehr zum Glauben der einzige wirksame Schutz gegen eine Wiederkehr politischer Katastrophen nationalsozialistischer oder kommunistischer Prägung.

Das enthält einen zutreffenden Kern, er-schöpft aber die Problematik weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Eine solche einseitige Deutung birgt vielmehr die Gefahr, daß durch sie eine der — gerade für uns Deutshe — wichtigsten Lehren verdunkelt wird, die uns die nationalsozialistische Katastrophe erteilt.

\ Angenommen, der Nationalsozialismus habe das Böse schlechthin gewollt: Das würde keineswegs erklären, warum ihm das auch gelungen ist. Denn die Menschen — auch die gottlosen — sind zwar Sünder, aber, von Ausnahmen abgeshen, keine Teufel. Würden die Nationalsozialisten nichts anderes gepredigt haben als dies: Laßt uns endlich einmal mit dieser vermaledeiten Humanität Schluß machen und unsere grausamen Gelüste austoben — so würden sie nie und nimmer die politische Macht erobert haben. Diese Macht haben sie mit einer ganz anderen Parole erobert, mit folgender nämlich: Laß’, uns den liberalen Verfassungsstaat mit seinen Grundrechten, seiner Gewaltentrennung, seinem Parlamentarismus und seinem Parteienwesen, der keinerlei regierungsfähige politische Autorität aufkommen läßt, zerstören und statt dessen die stärkste Konzentration politischer Gewalt herstellen, die sich mit den Mitteln einer raffinierten Propaganda, des Terrors und der Rasanz aktivistischen Regierens zustandebringen läßt, damit im politischen Raum endlich einmal wieder gehandelt werden kann, anstatt bloß gekuh-handelt. Diese Parole war es, die der NSDAP ihre große Popularität eingebracht hat. Wäre es Hitler nicht gelungen, im März 1933 die Weimarer Verfassung aufzuheben und eine totalitäre Gewaltkonzentration zu schaffen, dann würde sich das Böse in Saalschlachten, Straßenkämpfen, ein paar Ladenplünderungen, Lynchjustizen und Fehmemorden erschöpft haben. Wir würden nichts von dem erlebt haben, was wir nur als Folge schrankenloser Gewalt-konzentration erleben konnten.

Lassen wir den Blick in frühere Jahrhunderte zurückgehen, so finden wir christliche Obrigkeiten, die durch Inquisition, Hexenverfolgung und Judenpogrome mit ihren Folterkammern und Scheiterhaufen grauenvolle Verbrechen begangen haben. Damals gab es noch keine humanitären Heilslehren säkularer Provenienz; das Volk und die Fürsten nebst ihren Helfern waren durchaus kirchengläubig. Auch diese Verbrechen wären ohne politische Gewaltkonzentration nicht möglich gewesen.

Es ist eine spezifisch politische Einsicht, die das politische Großverbrechen erklärt. Sie lautet, auf einen kurzen Nenner gebracht, mit den Worten von Lord Acton: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut". Wer Macht besitzt, kann Böses mit verzehnfachter, vertausendfachter Breitenwirkung tun — nicht weil er böser ist als andere Leute, sondern weil er das Böse, was er tut, mit Hebelwirkung tun kann. Und er ist ständig versucht, Böses zu tun, weil der Kampf um die Erhaltung der Macht ein Haifischgewerbe ist, für das die Gesetze des Machiavelli gelten. Dabei verstrickt er Tausende, vielleicht Millionen von Menschen, die andernfalls relativ harmlos ihrem Alltags-Tagewerk und ihren kleinen Alltagssünden gefrönt haben würden, in seine Riesengrausamkeiten und Verbrechen. Alle diese Versuchungen nesteln sich an den Machtbesitz.

Die Erkenntnis der Gefahren einer Macht-konzentration ist die Grunderkenntnis der liberalen Staats-und Gesellschaftslehre; und die Forderung, die Konzentration von Macht im Staat und in der Gesellschaft zu minimalisieren, den Staat nach Möglichkeit als einen Gesetzes-und Richterstaat zu errichten — gemäß dem Wort von Aristoteles: „Gesetze sollen herrschen und nicht Menschen“ — ist das liberale Grund-postulat. Diese Einsicht und dieses Postulat sind ganz unabhängig von dem philosophischen Überbau, den die liberale Lehre im 18. Jahrhundert erfahren hat; sie haben auch nichts mit bestimmten Parteien zu tun, sie haben vielmehr Anhänger in allen nichttotalitären Parteien, bei uns also heute in der CDU, der FDP, der SPD, der DP und dem BHE; unser ganzes Grundgesetz ist auf diesem Gedanken aufgebaut.

Die Annahme, daß der Glaubenszerfall und Gas Überhandnehmen weltlicher Heilslehren für das „Dritte Reich“ und seine Schrecken allein verantwortlich wären, leistet nun dem bei uns Deutschen leider _ weitverbreiteten Vorurteil Vorschub: Das nationalsozialistische Programm sei im Grunde, in seinem Kern ganz richtig und vernünftig gewesen und die Katastrophe rühre nur daher, daß dieses Programm in falsche Hände geraten und in einer glaubenslosen Zeit verwirklicht worden sei. In der Hand einer echten politischen Elite und in einem Volk von Christen könne sich ein straffes, auf disziplinierter Subordination und konzentrierter Regie-rungsgewalt beruhendes System segensreich auswirken. — Das aber würde bedeuten, daß wir aus der Katastrophe politisch nicht das mindeste gelernt haben, daß wir in unserem verbohrten deutschen Eigensinn und unserer Einsichtslosigkeit verharren. Das Wort von Pestalozzi, daß „Fürsten, die Tyrannen sein können, es aber nicht sind, entweder Engel oder Schatten sind", und daß „für den Freiheits-und Bürgersinn nichts gefährlicher ist, als eine Abfolge guter Könige", wäre umsonst gesprochen, die Entwicklung seit der Magna Charta umsonst geschehen. Die Errichtung einer unbeschränkten Macht ist das gleiche, wie wenn man Schmude auf die Straße streut: So gewiß, wie der au! die Straße gestreute Schmuck gestohlen wird — auch wenn der christliche Glaube beim Volk hoch in Ehren steht—, so gewiß wird eine unbeschränkte Macht mißbraucht; „der Anspruch der Tyrannei ist nicht Bosheit, sondern Menschennatur", um nochmals mit Pestalozzi zu sprechen.

Wir können das besonders deutlich am Bolschewismus studieren, bei dem die staatliche Macht nicht — wie beim Nationalsozialismus — aus prinzipieller Machtvergötzung konzentriert worden ist, sondern deshalb, weil nach bolschewistischer Überzeugung die soziale Frage (Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft) nur mit Hilfe vollständiger Machtkonzentration und nur auf diktatorischem Wege gelöst werden kann. Hier ist das Programm, das Ziel der Intention nach durchaus menschenfreundlich. Aber das Mittel frißt den Zweck auf und setzt sich mit seinem furchtbaren Gesetz allein durch. Audi christliche Obrigkeiten haben, wie gesagt, in frommen Zeiten nicht weniger schrecklich gehaust, sobald sie über eine geballte, konzentrierte, unkontrollierte Gewalt verfügten. Und wenn das damals vielleicht nicht ganz so schlimm gewesen sein sollte, so war das sicher mehr in der Primitivität der damals zu Gebote stehenden technischen Möglichkeiten der Gewaltausübung als in christlichen Gewissenshemmungen begründet. Iwan der Schreckliche war ein frommer Christ und hat sich selbst für einen unwürdigen Sünder gehalten und vor dem Gericht gezittert; aber er hat mit beträchtlichem theoretischen Scharfsinn eine Idee der „absolutesten" Monarchie entfaltet, sie verwirklicht, soweit er konnte, und ist der Eigengesetzlichkeit dieser Idee erlegen wie jeder, der an sie glaubt und das Zeug in sich hat, sie in die Tat umzusetzen. Daß der Bolschewismus dem Nationalsozialismus gleichen würde wie ein Ei dem andern, war ihm nicht an der Wiege gesungen; aber die Gewalt frißt ihre Kinder auf, was auch immer sie wünschen, wollen und bekennen mögen.

Für das Verhältnis zwischen Gewalt und hoch-gestecktem Ziel gilt genau das gleiche, was Shakespeare seinen Hamlet von dem Verhältnis zwischen Schönheit und Tugend sagen läßt (es sei hier der ganze Dialog zitiert): „Ophelia: Was meint Eure Hoheit? , Daß, wenn Ihr tugendhaft und Hantlet:

schön seid, Eure Tugend keinen Verkehr mit Eurer Schönheit pflegen darf.

Ophelia: Könnte Schönheit wohl besseren Umgang haben, mein Prinz, als mit der Tugend?

Hantlet: Ja freilich: denn die Macht der Schönheit wird eher die Tugend in eine Kupplerin verwandeln, als die Kraft der Tugend die Schönheit sich ähnlich machen kann. Dies war ehedem paradox, aber nun bestätigt es die Zeit."

Dies aber ist es, was wir Deutschen in unserer Verehrung für eine starke Regierungsgewalt durchaus nicht glauben wollen. Wenn bei uns ein starker Mann sagt: „Gebt mir vier Jahre Zeit" — dann werden aus diesen vier Jahren so viele Jahre, bis der Mann alles bis auf die letzte Straßenbrücke zugrundegerichtet hat. Wenn aber ein Politiker, der sich für eine freiheitliche Verfassung einsetzt, das gleiche sagen würde, so kämen unsere Landsleute doch schon nach zwei Monaten gelaufen mit ganzen Säcken voll Beschwerden darüber, was sich da alles unter der Ägide dieser sogenannten Freiheit an Mißlichem zugetragen habe.

Mir scheint, wir sollten der Lehre, die uns das nationalsozialistische Erlebnis erteilt, nicht ausweichen. Eben zu diesem Ausweichen aber verführen uns die These, daß eine moralische Um-besinnung als solche und allein ausreiche, eine Wiederkehr des Schrecklichen abzuwenden, und das törichte Polemisieren gegen alles sogenannte Liberale. Das zeitlos Bleibende liberalen Gedankengutes, wie es im 18. und 19. Jahrhundert erarbeitet worden ist — namentlich der Grundsatz der Gewalten-und Machtverteilung und der wirksamen Kontrolle der Machtausübung — ist gerade für uns Deutsche ebenso verpflichtend wie die Rückbesinnung auf die glaubensmäßigen Bindungen jeder verantwortlichen Lebensführung im Dasein des Einzelnen wie der Gemeinschaft.

Fussnoten

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