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Vor zwanzig Jahren | APuZ 11/1956 | bpb.de

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APuZ 11/1956 Vor zwanzig Jahren

Vor zwanzig Jahren

Max Braubach

Der Aufsatz gibt einen Vortrag wieder, den der Verfasser vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen hielt. Er wird in erweiterter Fassung unter Beigabe eines größeren wissenschaftlichen Apparats als Heft 54 der Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft, Abt. Geisteswissenschaften im Westdeutschen Verlag, Köln und Opladen, erscheinen.

Der Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone am Rhein im März 1936

Am 7. März 1936 rückten deutsche Truppenabteilungen in die rheinischen Gebiete im Westen des Reiches ein, die gemäß den Bestimmungen des Friedens von Versailles und auch gemäß den von Deutschland mit den Westmächten im Locarno-Vertrag von 1925 getroffenen Vereinbarungen entmilitarisiert sein sollten. Da weder sofort eine Gegenaktion erfolgte, noch die in London zusammengetretenen Delegierten der Si-gnatarmächnte von Locarno und des Völkerbundes über papierne Proteste und unerfüllt bleibende Forderungen hinausgelangten, war das in Deutschland fast allenthalben lebhaft begrüßte, aber auch in weiten Kreisen des Auslandes als unabwendbar hingenommene oder sogar gebilligte Ergebnis die tatsächliche Herstellung der vollen Souveränität des Reiches über sein gesamtes Territorium bis unmittelbar an die Grenzen Frankreichs, Luxemburg, Belgiens und Hollands. Die Aufmerksamkeit der Welt wurde bald durch andere Ereignisse, durch die Auseinandersetzungen um Abessinien und um Spanien gefesselt, und was dann vollends seit Beginn des Jahres 1938 durch das scharfe Ausgreifen Hitlers gegen Osten geschah, mochte bei manchen Zeitgenossen jene Frühlingsüberraschung von 1936 in Vergessenheit geraten lassen: war sie nicht ein belangloses Ereignis im Vergleich mit dem Anschluß Österreichs an das Reich, mit der Sudetenkrise und ihrer überraschenden Lösung in München, weiter dann mit der Zertrümmerung der Rest-Tschechei und endlich der die Kriegskatastrophe auslösenden dramatischen Entwicklung des deutsch-polnischen Gegensatzes. Und doch haben kluge Beobachter schon damals wie erst recht später in jenen Vorgängen des März 1936 den entscheidenden Einschnitt für die verhängnisvolle Richtung erkennen wollen, die Europas Weg nahm: man hat von dem Relais, der Station gesprochen, wo die Schicksalsreiter die Pferde wechselten, von dem eigentlichen Wendepunkt in der Geschichte Europas zwischen den beiden Weltkriegen, von dem grundlegenden Umschwung in den Machtverhältnissen und der politischen Einstellung, mit dem die Möglichkeit einer wirklichen Verständigung verschüttet und nur noch die Wahl zwischen der Anerkennung der Hegemonie Hitlerdeutschlands und dem Krieg gegeben war. Wenn man von außerdeutscher Seite vor allem darauf hinwies, daß damals von Seiten der Westmächte die letzte Gelegenheit versäumt worden sei, den deutschen Aufstiegs-und Expansionsplänen ohne ernstliche kriegerische Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten und so die Politik des Rechtsbruchs und der brutalen Gewalt gewissermaßen im Keime zu ersticken, so haben Weggenossen Hitlers selbst davon gesprochen, daß der leichte Erfolg eines Unternehmens, das, von vielen widerraten, ihn selbst zeitweise in Zweifel und Angst um den Ausgang gestürzt hatte, in ihm erst die Hybris des auf seine Intuition und sein Glück vertrauenden Abenteurers zum Durchbruch gebracht habe, die ihn zum politischen Desperado und zum Würfelspieler in der Völkerpolitik machte.

Es ist für den Historiker nicht leicht, zu diesen Themen Stellung zu nehmen, denn schon bei dem Versuch, durch eine Klarlegung der Vorgänge selbst, der Entschlüsse, die damals gefaßt wurden, und ihrer Auswirkung, die Grundlage für ihre Beurteilung zu schaffen, stößt er auf nicht geringe Schwierigkeiten. Die großen Quellenpublikationen zur Außenpolitik der Mächte zwischen den beiden Weltkriegen enthalten durchweg beisher das Material der Jahre 1935/36 noch nicht, man ist also im wesentlichen auf gelegentlich, etwa bei den Nachkriegsprozessen bekanntgewordene Akten oder Niederschriften und auf die späteren Aussagen oder Mitteilungen mehr oder weniger beteiligter und mehr oder weniger zuverlässiger Mitspieler und Beobachter angewiesen. Immerhin wird man sagen können, daß für die Reaktion, die durch die überraschende deutsche Aktion in den Hauptstädten der Westmächte ausgelöst wurde, für die Beratungen, Absichten und Maßnahmen in Paris und London doch eine solche Fülle von Äußerungen und Erklärungen vorliegt, daß man ein verhältnismäßig klares Bild der zu dem tatsächlichen Nichthandeln, führenden Motive und Zusammenhänge gewinnt. Das gleiche gilt aber keineswegs für die deutsche Seite, hier bedarf es sorgfältiger kritischer Analysierung und Untersuchung des sehr lückenhaften bis heute bekanntgewordenen Quellenmaterials, um zu einer einigermaßen gesicherten Feststellung auch nur des. zeitlichen Gangs der Dinge zu gelangen.

Die Stresafront Darüber dürfte auch ohne jeden eindeutigen Quellenbeleg kein Zweifel bestehen, daß in Hitlers außenpolitischem Programm von vornherein baldmöglichste Beseitigung der Artikel des Versailler Vertrags und der entsprechenden Festsetzungen von Locarno über die Entmilitarisierung der deutschen Grenzlande im Westen figurierte. Die Frage war für ihn nur, wann Deutschland genügend erstarkt war und die allgemeine politische Lage sich so günstig gestaltet hatte, daß entsprechende Forderungen mit Aussicht auf Erfolg gestellt werden konnten. Für die Erstarkung Deutschlands war eine erste wichtige Grundlage im März 1935 durch die überraschend erfolgte Verkündigung der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht geschaffen worden, seitdem lief die schon vorher eingeleitete Aufrüstung in vollen Touren, doch mußte es immerhin längere Zeit dauern, bis die bisherige Reichswehr zu einer Wehrmacht ausgestaltet war, die sich mit der französischen Armee messen konnte. Lind jene erste deutliche Verletzung der Bestimmungen von Versailles war zwar von den Siegermächten von einst nicht geahndet worden, hatte aber zunächst zur Bildung der sogenannten Stresafront aus Frankreich, England und Italien gegen das Dritte Reich geführt. Wenn beschwichtigende Erklärungen Hitlers, daß es ihm nur auf die Beseitigung unwürdiger, durch das Versailler Diktat dem deutschen Volke auferlegten Fesseln ankomme, er aber entschlossen sei, freiwillig übernommene Verpflich-tungen zu halten, die Erregung über sein Vorgehen wohl nur in geringem Maße beseitigen konnten, so trat seit dem Sommer 193 5 indessen aus anderen Gründen eine ganz erhebliche Verbesserung der internationalen Situation für Deutschland ein. Schon daß die englische Regierung sich bereit fand, um der Begrenzung der deutschen Seeaufrüstung willen ein Flottenabkommen mit dem eben noch wegen der Einführung der Wehrpflicht vom Völkerbund verurteilten Hitler zu schließen, bedeutete eine Auflockerung der Gemeinschaft von Stresa, die dann vollends durch den am 5. Oktober beginnenden Angriff Mussolinis auf Abessinien zerrissen wurde. Die von England dirigierte Sanktionspolitik gegen Italien ließ den darüber höchst ergrimmten Duce, der noch aus Anlaß des nationalsozialistischen Putschversuchs in Österreich 1934 eine drohende Haltung gegen das Reich eingenommen hatte, den Gedanken einer Annäherung an den anderen Diktator fassen, während zugleich der Druck, der durch die Einigkeit des Westens bisher auf Deutschland gelastet hatte, auch durch Zerwürfnisse zwischen London und Paris über die gegenüber Italien zu treffenden Maßnahmen gelockert wurde. Wenn im Osten durch den schon im Januar 1934 mit Polen abgeschlossenen Nichtangriffspakt ein nicht unfreundliches Verhältnis zu dem nächsten Nachbar Deutschlands hergestellt worden war, so bestand freilich gewiß keine Sicherheit, ob die polnische Regierung bei einem Konflikt im Westen nicht doch sich an das alte Bündnis mit Frankreich halten werde.

Der Auflösung der Stresafront stand zudem eine nach der deutschen Wehrpflichterklärung zu einem vorläufigen Abschluß gebrachte engere Verständigung zwischen Frankreich und der Sowjetunion ge-

genüber: im Mai 193 5 war zwischen beiden ein Vertrag über gegenseitige Hilfeleistung unterzeichnet worden, der durch eine Abmachung Rußlands mit der Frankreich Tschechoslowakei verbündeten ergänzt wurde. Immerhin gab es nicht nur in England, sondern auch in Frankreich selbst Kreise, die diese Bindung an das vielfach für weit gefährlicher als das nationalsozialistische Deutschland gehaltene bolschewistische Rußland mißbilligten; eine Vorlage des Vertrags an die Volksvertretung in Paris zur Ratifikation fand zunächst nicht statt, und so mochte man in Berlin hoffen, daß dies Blatt Papier keine Rechtskraft erhalten werde. Im ganzen konnte man wohl zu dem Schluß kommen, daß die internationale Lage sich in einer Bewegung befand, die dem Dritten Reich einige Chancen bot, und man konnte weiter in Rechnung stellen, daß im Westen, vor allem in England, angesichts des Konflikts mit Italien und der durch das Anwachsen einer Volksfrontbewegung in Spanien bestärkten Besorgnis vor einem Vordringen des Bolschewismus die Neigung zu einer Verständigung mit Hitler im Ansteigen war. Trotzdem mußte es als fraglich, ja als unwahrscheinlich gelten, daß eine Forderung auf die Beseitigung der Entmilitarisierungsbestimmungen für die rheinischen Lande Aussicht auf Annahme hatte. Wenn Frankreich in ihnen die wichtigste Grundlage für die eigene Sicherung sah, so mußten rechtliche und politische Überlegungen die übrigen Signatarmächte und den Völkerbund an dessen Seite führen.

War die Aktion von langer Hand vorbereitet?

Wir wissen nicht, ob Hitler jemals daran gedacht hat, die Aufhebung jener Bestimmungen von Versailles und Locarno auf diplomatischem Wege, also durch Vorstellungen und Verhandlungen, zu erreichen. Wahrscheinlich ist er von vornherein der Überzeugung gewesen, daß er dabei den zu erwartenden Widerspruch niemals überwinden werde, und so hat er wohl schon früh die Schaffung eines fait accompli, einer einfachen Annullierung durch die Tat ins Auge gefaßt, wobei er mit der Wirkung der dadurch hervorgerufenen Verwirrung rechnete. Daß er diesen Coup seit dem Frühjahr 1935 planmäßig vorbereitet habe, hat die Anklagebehörde in dem Nürnberger Nachkriegsprozeß gegen seine Paladine unter Berufung auf einen Geheimbefehl des Reichswehrministers Blomberg vom 2. Mai 1935 und den Bericht über die Sitzung eines Arbeitsausschusses des Reichsverteidigungsrates von 26. Juni 193 5 behauptet, doch in beiden Dokumenten ist, wie einwandfrei nachgewiesen werden kann, von etwas ganz anderem die Rede. Auch daß nach den nach Paris weitergegebenen Beobachtungen des französischen Generalkonsuls in Köln, Dobler, im Laufe des Jahres 1935 in der entmilitarisierten Zone gewisse Vorbereitungen für eine künftige Unterbringung von Truppen getroffen und in Versammlungen und Presseäußerungen auf die Notwendigkeit der Herstellung voller Souveränität für Deutschland hingewiesen wurde, kann als Beweis für feste Absichten Hitlers nicht gelten: natürlich hat man in der Heeresleitung die erwünschte Möglichkeit einer baldigen Lösung der Rheinlandfrage schon in Betracht gezogen, und daß diese Lösung einmal kommen würde, davon war man in breiten Kreisen des deutschen Volkes überzeugt, wie dies denn auch der damalige Kölner Regierungspräsident Diels gegenüber Dobler ganz offen zum Ausdruck brachte. Daß dabei aber auch innerhalb der Behörden, von denen jene vorbereitenden Maßnahmen ausgingen, nicht an eine plötzliche Aktion gedacht wurde, zeigt eine Äußerung des Generals von Reichenau in der erwähnten Ausschußsitzung, daß Frankreich nur auf den Augenblick warte, wo Deutschland einen neuen selbständigen Schritt gegen die Verträge tue, um seinerseits mobilzumachen, alles aber daran liege, keine derartigen Tatsachen zu schaffen, um die Zeit für Deutschland wirken zu lassen. Und es liegt kein Anlaß vor, an der Aufrichtigkeit der übereinstimmenden Aussagen von Mitgliedern der Regierung, des Auswärtigen Amtes und des Heeres zu zweifeln, daß Hitler mit dem Entschluß zum Einmarsch in das Rheinland ganz überraschend erst kurze Zeit vor seiner Durchführung hervorgetreten ist — von dem genauen Termin wird gleich noch die Rede sein.

Wenn so die Versicherung Görings in Nürnberg, die Aktion sei nicht von langer Hand vorbereitet worden, wohl zutrifft, so wird man dagegen seine und anderer Vertrauter Hitlers Behauptung, daß es ein Vertrags-bruch der Gegenseite gewesen sei, der ihn zum Handeln bestimmte, daß die offizielle Version, mit der dann vor der Welt dies Handeln gerechtfertigt wurde, richtig war, nicht ohne weiteres für glaubwürdig halten können. In jenem französisch-russischen Pakt, so erklärte man von deutscher Seite, liege eine Verletzung der von Frankreich in Locarno übernommenen Verpflichtungen vor. Es soll hier nicht untersucht werden, ob dies richtig ist, denn auch wenn es der Fäll war, konnte damit ein einseitiges Abgehen Deutschlands von seinen Verpflichtungen ohne Zustimmung der Signatarmächte von Locarno völkerrechtlich gewiß nicht gerechtfertigt werden. Sicher war jener Pakt Hitler unangenehm, und er mußte wünschen, daß er nicht verwirklicht wurde. Aber man gewinnt doch den Eindruck, daß er ihm dann ein willkommener Vorwand war, um einem eine rechtliche Begründung er oder Unternehmen zu geben, das früher später doch durchzuführen gewillt war. Möglich immerhin, daß die Vorgänge um den Pakt den Zeitpunkt bestimmt haben, daß sie in ihm, weil sie ihm eine unter Umständen auch außerhalb Deutschlands wirkende Handhabe gaben, die bestehende Rechtslage in Zweifel zu ziehen, aus dem Plan den Entschluß, jetzt und so vorzugehen, werden ließen. Noch mögen die Klausel in dem feierlichen Bekenntnis zu den von Deutschland freiwillig übernommenen Verpflichtungen in seiner Rede vom 21. Mai 193 5, daß sie natürlich nur solange gelten könnten, als auch die anderen den Pakt hielten, und die unmittelbar darauf erfolgende Erklärung der Reichsregierung über die Unvereinbarkeit des kurz vorher unterzeichneten französisch-russischen Vertrags mit Locarno ohne den Hintergedanken einer künftigen Rechtfertigung eigener Aktion entstanden sein, und es ist nicht ausgeschlossen, daß erst die nach langem Zögern erfolgende Ankündigung der Vorlage des Pakts an die französische Kammer durch die Regierung Laval vom 16. Januar und die durch die neue Regierung Sarraut-Flandin am 11. Februar 1936 tatsächlich erfolgende Vorlage Hitlers Entschluß ausgelöst haben, die mit der Zustimmung der französischen Volksvertretung vollzogene Ratifikation mit dem überraschenden Vormarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone zu beantworten.

Der Zeitpunkt des Entschlusses Läßt sich der Zeitpunkt dieses Entschlusses genauer bestimmen? Ganz allgemein haben die Angeklagten in Nürnberg von einem jener plötzlichen Entschlüsse Hitlers gesprochen, die innerhalb weniger Tage ausgeführt werden sollten, und der General Jodl, der selbst von der Absicht erst am 1. oder 2. März erfahren haben will, glaubte daraus die Folgerung ziehen zu können, daß früher auch keine Entscheidung beim Führer selbst gefallen war. Göring nannte immerhin einen Zeitraum von 2 bis 3 Wochen zwischen Beschluß und Ausführung, und ebenso erinnern sich Angehörige des Auswärtigen Amtes, wie der Dolmetscher Paul Schmidt, etwa 2 bis 3 Wochen vor dem Einmarsch von dem Vorhaben gehört zu haben. Wir können indessen auf Grund der Angaben des damaligen Wehrmachtadjutanten Hitlers, des Obersten Hoßbach, den Termin noch weiter vorverlegen, nämlich auf den Anfang des Monats Februar 1936, denn Hoßbach ist der Plan während des Aufenthalts in Bayern aus Anlaß der Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen bekannt geworden, die am 6. Februar in Anwesenheit Hitlers eröffnet worden war und bis zum 15. Februar dauerte. Schon als Hitler seinen bayerischen Aufenthalt unterbrach, um an den Beisetzungsfeierlichkeiten für den ermordeten Landesgruppenleiter Gustloff in Schwerin am 12. Februar teilzunehmcn, stand nach Hoßbachs Mitteilungen der Beschluß zur Vorbereitung der Aktion fest, von dem während eines kurzen Erscheinens des Führers auf der Rückfahrt in Berlin am gleichen Tage eine Reihe von Persönlichkeiten, darunter der Chef der Heeresleitung, General v. Fritsch, und nach der Rückkehr nach Bayern weitere wie Blomberg unterrichtet wurden. Aus den etwas verworrenen rückblickenden Aufzeichnungen Ribbentrops im Nürnberger Gefängnis, nach denen er aus dem Hotel „Vier Jahreszeiten" in München mit Hitler über den Gedanken telephoniert habe, gleichzeitig mit dem Einmarsch die Rüdekehr Deutschlands in den Völkerbund anzubieten, läßt sich wenigstens schließen, daß damals, entweder vor oder nach der Schwerinreise, der modus procedendi zur Debatte stand. Wenn wir dann aus dem Zeugnis von Erich Kordt entnehmen, daß Ribbentrop nach seinem Wiedereintreffen in Berlin am 15. Februar die Herren seines außenpoliti-

schen Sonderamtes mit Fragen über Locarno und den Völkerbund überschüttete, so hat nach Hoßbach Hitler noch in München selbst außen-politische Vorbereitungen getroffen, indem er auf dem Luftwege den Botschafter in Rom, Ulrich von Hassell kommen ließ und nach einer ihn sehr befriedigenden Unterredung in seiner Privatwohnung am 14. Februar sofort wieder zurücksandte, offenbar um nun Mussolini seine Bereitschaft zur Unterstützung in der Abessinienfrage anzubieten. Soviel dürfte aus allem als gesichert geschlossen werden, daß Hitler jedenfalls schon vor dem 11. Februar, dem Tag der Vorlage des russischen Pakts in der französichen Kammer, sich intensiv mit dem Einmarsch ins Rheinland beschäftigt hat und daß er spätestens unmittelbar danach die ersten Schritte zur Durchführung tat.

Daß es Hitler allein gewesen ist, auf den der Entschluß, durch einen Gewaltakt die ganze Frage zu lösen, zurückgeht, daran kann kein Zweifel sein. Schon in jenem Stadium der Entwicklung der Diktatur war es für seine Berater kaum möglich, ihm in den Arm zu fallen. Aber wäre dazu in diesem Fall überhaupt der Wille oder Wunsch vorhanden gewesen? Bei den nationalsozialistischen Parteigenossen, die sein Vertrauen besaßen und wichtige Posten des Regierungsapparats fand einnahmen, er rückhaltlose Zustimmung. Männer wie Göring und Goebbels haben ihn sicher eher ermutigt als gewarnt, und Ribbentrop hat noch in Nürnberg für sich in Anspruch genommen, den Führer dahin beraten zu haben, daß man sich in England mit der Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit im Rheinland wohl abfinden werde. Wie aber stand es mit Auswärtigem Amt und Heeresleitung, die damals doch noch keineswegs als völlig gleichgeschaltet gelten konnten? Die sorgenvolle, ja ablehnende Stimmung, mit der man hier wie dort dem Plan gegenüberstand und die eigene Verantwortung abzulehnen suchte, scheint aus halb scherz-, halb ernsthaften Bemerkungen hervorzugehen, mit denen nach den Angaben des Finanzministers Schwerin-Krosigk in dessen Anwesenheit der Generalstabschef Bede und der Staatssekretär im Außenministerium Bülow dann den vollzogenen Einmarsch kommentierten:

der vorwurfsvollen Frage des Soldaten: „Was macht Ihr für Sachen?" begegnete der Diplomat mit der Gegenfrage: „Sind wir in das Rheinland einmarschiert oder Ihr?“ Dabei ist nun freilich festzustellen, daß man in der Zielsetzung mit Hitler auch in der Wilhelm-und in der Bendlerstraße übereinstimmte und nur die Methode Bedenken erregte und daß diese Bedenken nicht aus der Rechtssphäre stammten, sondern ihren Grund in der Angst vor Gegenmaßnahmen hatten, denen gegenüber man Deutschlands Widerstandskraft in keiner Weise für ausreichend hielt. Zudem bestand aber selbst in der Verwerfung der Methode in beiden Ämtern keine Einigkeit. Gerade der maßgebende Mann des Auswärtigen Amts, der einzige, der unmittelbaren Zutritt zu Hitler hatte und von diesem, wenn auch wohl verhältnismäßig spät zu Rat gezogen wurde, der Reichsaußenminister von Neurath, der sicherlich früher oder auch später oft versucht hat, zum mäßigen und zu bremsen, hat in diesem Fall anscheinend eher zugeredet als abgeraten. Nach seinen eigenen Aussagen und denen seiner Mitarbeiter hat er einmal der These von den Bruch des Locarno-Vertrags durch den französisch-russischen Pakt und dem daraus für Deutschland sich ergebenden Recht zu Wiederherstellung der vollen deutschen Wehrhoheit entschieden zugestimmt und war er weiter von der Unausweichlichkeit dieser, wie er es bezeichnete, dynamischen Entwicklung und davon überzeugt, daß ein bewaffnetes Einschreiten der Westmächte nicht erfolgen werde. Dem hat dann auch, wie wir noch sehen werden, sein Verhalten während der Aktion entsprochen. Weit bedenklicher sind offenbar die Militärs gewesen. Von Fritsch bekundet Hossbach, daß er vom Standpunkt der Landesverteidigung die Einbeziehung der Rheinlande in die Militärhoheit als Notwendigkeit ansah und daher Hitlers Absichten nicht grundsätzlich ablehnte, dabei aber auf das Risiko des Krieges hinwies, das nicht eingegangen werden dürfte. Blomberg war sicherlich derselben Meinung, und wenn dieser ganz auf Hitler eingeschworene Mann auch es kaum gewagt haben wird, scharfe Warnungen auszusprechen, so zeigt doch der hohe Grad von Nervosität, den man bei ihm in jenen Wochen bemerkte, wie unbehaglich und unsicher er sich fühlte. Hinsichtlich der Stimmung der Offiziere in der Bendlerstraße hat Jodl bekundet, daß es ihnen so unheimlich zumute war wie dem Spieler, der sein ganzes Vermögen im Roulette auf Rot oder Schwarz setzt. Wenn der damalige Chef der Operationsabteilung Manstein ganz allgemein betont, daß von militärischer Seite jedenfalls die Besetzung nicht gefordert worden sei. so scheint der Ton eines Schreibens, das nach den Ereignissen ein anderes einflußreiches Mitglied des Generalstabs Heinrich von Stülpnagel an den ihm befreundeten Londoner Militärattache Geyr von Schweppenburg richtete, doch darüber hinaus eine Mißbilligung anzuzeigen, die sich gegen das gesamte Regime richtete, das auch hier wieder einmal seine ganze Unbedenklichkeit und damit Gefährlichkeit für Deutschland enthüllt hatte: „Ich ahnte", so heißt es da, „natürlich nichts von dem, was geschehen ist, bis ich in allerletzter Minute unterrichtet wurde. Aber ich fühlte seit Wochen daß etwas in der Luft läge, was wir Soldaten nicht erfahren sollten."

Wie sich auch aus diesem Brief ergibt, ist es zunächst nur ein ganz kleiner Kreis gewesen, der in den Plan eingeweiht wurde. Gerade in der völligen Überraschung der Welt sah Hitler nicht mit Unrecht eine wesentliehe Vorbedingung für den Erfolg, deshalb galt es, für Geheimhaltung zu sorgen und die Bewegungen erst im letzten Augenblick anlaufen zu daraus lassen, mochten sich auch Schwierigkeiten bei dem Vollzug ergeben. Von vornherein bestand wohl die Absicht, die Verwirrung auf der Gegenseite dadurch zu erhöhen, daß der Schlag, genau wie im Vorjahr bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht, an einem Samstag erfolgte, an dem angesichts der üblichen Wochenendsruhe in den meisten politischen Zentren, vor allen in Staaten mit demokratisch-parlamentarischer Verfassung, die führenden Männer sich zerstreut hatten und es Mühe machte, sie wieder zu sammeln, so daß zum mindestens über den Sonntag Zeit gewonnen war. Im übrigen hing der Termin von dem Eintreten des vorgesehenen Rechtfertigungsgrundes, der Ratifikation des Russenpaktes durch die Abgeordnetenkammer in Paris, ab. Wieder läßt cs sich nicht beweisen, daß das am 21. Februar veröffentlichte deutsche Kommunique, das erneut die Unvereinbarkeit des Paktes mit dem Locarnovertrag erklärte, und der beredte Appell zur Verständigung mit Deutschland, den Hitler am gleichen Tage in einem dem französischen Journalisten Bertrand de Jouvenel gewährten Interview an die Franzosen richtete, nur ein vorbereitendes taktisches Manöver waren: Neurath hat das Gegenteil behauptet, und ihm mögen diese Schritte in der Tat als ein letzter Versuch gegolten haben, die Ratifizierung und damit auch die deutsche Aktion zu verhindern. Ob aber auch Hitler? Merkwürdigerweise ist Jouverels Bericht erst am 28. Februar im Paris-Midi veröffentlicht worden, am Tage zuvor aber hatte die Versammlung im Palais Bourbon mit großer Mehrheit dem Pakt ihre Sanktion gegeben. Von deutscher Seite hat man behauptet, daß man in Paris durch Verzögerung der Bekanntgabe eine Wirkung der Warnungen und Angebote Hitlers auf die Abgeordneten habe verhindern wollen, im Grunde aber kam sie der deutschen Führung als ein neues Argument, um die Gegenseite vor der öffentlichen Meinung ins Unrecht zu setzen, kaum ungelegen. Zunächst geschah nach dem Ratifikationsbeschluß, der übrigens erst am 12. März mit der Zustimmung des Senats volle Gültigkeit erhielt, nichts. Neurath hat immerhin in einer Unterredung mit dem amerikanischen Botschafter Dodd am 29. Februar nachdrücklich auf die Notwendigkeit der Aufhebung der Entmilitarisierung hingewiesen und im weiteren Verlauf des Gesprächs zu Dodds Überraschung als mögliche Gegenleistung die Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund erwähnt, jedenfalls aber den Eindruck erweckt, daß nur ein friedliches Aushandeln erwogen werde. Und als Hitler am 2. März den französischen Botschafter Francois-Poncet empfing, der im Auftrag seiner Regierung um eine nähere Erläuterung der in dem Interview gemachten’ Ausführungen bat, erging er sich zwar in heftigen Vorwürfen und allgemeinen Tiraden, vom Rheinland aber sprach er kein Wort.

Und doch war es wohl schon am 28. entschieden, daß der nächste Samstag, der 7. März, der Tag X oder Z sein sollte. Anscheinend sind die für Entwurf und Ausstellung der Befehle zuständigen militärischen Stellen am 1. oder 2. März dazu aufgefordert worden: nur einen Nachmittag, so berichtet Manstein, habe er dazu Zeit gehabt. Von diesen Befehlen ist uns im Wortlaut die vom 2. März datierte grundlegende Weisung Blombergs an die Oberbefehlshaber von Heer, Marine und Luftwaffe über die überraschende und gleichzeitige Verlegung von Teilen des Heeres und der Luftwaffe in Standorte der entmilitarisierten Zone bekannt. Es sollten danach Teile vorwiegend des VI., IX. und V. Armeekorps in ständige Standorte am Rhein und ostwärts, außerdem je ein Infanteriebataillon nach Aachen, Trier und Saarbrücken, ferner je ein Jagdgeschwader in die Gegend von Köln und Koblenz sowie Flakartillerie in die Nähe der wichtigsten Rheinübergänge verlegt werden, wobei eine erste Staffel am 2. Tage 12 Uhr, die zweite 24 Stunden später an Ort und Stelle einzutreffen hatten. Um, wie es hieß, den friedensmäßigen Charakter der Aktion zu wahren, waren militärische Sicherungsund Vorausmaßnahmen ohne ausdrücklichen Befehl nicht zu treffen. Späterer Entscheidung blieb auch vorbehalten, was geschehen sollte, falls die übrigen Signatarmächte des Locarnopaktes mit militärischen Vorbereitungen den Marsch der deutschen Truppen beantworten sollten, doch war hier immerhin gesagt, daß im Falle feindlicher Grenzverletzungen in offensiver Absicht den Aufmarsch-und Kampfanweisungen entsprechend zu verfahren sei. Daß man eine solche Entwicklung natürlich keineswegs wünschte, zeigen die uns gleichfalls vorliegenden Anweisungen Blombergs an den Oberbefehlshaber der Marine und die entsprechenden Befehle des Admirals Raeder, die erst am 6. März ergingen. Da war gefordert, daß man sich zwar gedanklich auf etwa erforderliche Sicherheitsmaßnahmen einzustellen, nach außen aber alles zu unterbleiben habe, was auf eine militärische Vorbereitung für einen Konfliktsfall hindeuten würde, und es wurde gewarnt, durch Feiern oder eine zur Schau getragene Kriegsbegeisterung dem Auslande ein falsches Bild von den Absichten des Führers zu übermitteln und dadurch die friedliche Aktion zu erschweren. Im übrigen war die Überführung von U-Booten von Kiel nach Wilhelmshaven angeordnet, die Entscheidung über das Auslegen einer U-Boot-Aufklärungslinie aber vorbehalten und für die Luftaufklärung ein Überschreiten der Linie Texel-Doggerbank erst vom 2. Tage Mittags an gestattet. Schon an dieser Stelle sei vermerkt, daß die Vorbereitungen wie dann auch die Aktion am 7. März in militärischer Beziehung planmäßig durchgeführt wurden. Insgesamt scheinen rund 30 000 Mann in Bewegung gesetzt worden zu sein, wozu ein Eisenbahn-transport von etwa 90 Zügen notwendig war Bis zu den Bataillons-und Artilleriekommandeuren aufwärts hat man in der Truppe bis zum Morgen des Einmarsches an Übung oder Probealarm geglaubt.

Die Situation in Berlin Doch zurück nach Berlin. Daß seit der Festlegung des Termins in den eingeweihten Kreisen, Hitler eingeschlossen, eine nicht geringe Aufregung herrschte, wird uns von den verschiedensten Seiten bezeugt. Schon bei jenem Empfang des französischen Botschafters am 2. März fielen diesem die ungewöhnliche Nervosität, Unruhe und Ungeduld Hitlers auf. Am 5. und 6. März stellten dann auswärtige Beobachter durchweg eine Erregung bei ihren deutschen Gesprächspartnern fest, die auf ein unmittelbar bevorstehendes bedeutendes Ereignis hinwies: den 6. März bezeichnet der amerikanische Journalist Shirer in seinem Tagebuch als einen Tag der wildesten Gerüchte, während der Botschafter Dodd von häufigen Beratungen des Diktators mit seinen Getreuen und einer allgemeinen beträchtlichen Aufregung erfuhr. Sie wuchs, als bekannt wurde, daß der Reichstag für den Mittag des nächsten Tages einberufen sei und die Botschafter Englands, Frankreichs, Italiens und Belgiens für den Vormittag in das Auswärtige Amt geladen seien. Noch scheint erstaunlicherweise der Pressechef des Amts Dr. Aschmann auf eine Anfrage Shirers kategorisch die Absicht eines Einmarsches in die entmilitarisierte Zone mit der Bemerkung dementiert zu haben, daß dies ja den Krieg bedeuten würde.'Der folgende Tag, der 7. März, aber zerstörte alle Illusionen. Das Memorandum, das Neurath um 10 Uhr den Botschaftern übergab, teilte unter Berufung auf die Verletzung von Locarno durch den französisch-russischen Pakt den im Gang befindlichen Einmarsch mit und entwickelte zugleich das Programm für eine neue Verständigung: Bildung einer entmilitarisierten Zone auf beiden Seiten, Nichtangriffspakt mit Frankreich und Belgien, eventuell auch mit Holland, Luftpakt und endlich Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund, da Deutschland nach Erreichung seiner Gleichberechtigung und Wiederherstellung seiner vollen Souveränität über das gesamte Reichsgebiet den Hauptgrund für den seinerseitigen Austritt als behoben betrachte. Um 12 Llhr folgte in der Krolloper die Rede Hitlers, die eine wortreiche Rechtfertigung der Aktion mit Beteuerungen der deutschen Entschlossenheit zur Wahrung des Friedens verband und mit der Auflösung des Reichstags und der Festsetzung von Neuwahlen auf den 29. März endete. Natürlich zeigte die den Reichstag bildende Gefolgschaft die vorgeschriebene Begeisterung. Aber war man wirklich so entschlossen und sicher, wie man sich den Anschein gab? Daß man im Rheinland selbst die Soldaten herzlich begrüßte, ist nur zu verständlich, aber nach dem Augenzeugenbericht des französischen Generalkonsuls in Köln machte sich in der Bevölkerung doch eine tiefe Beunruhigung geltend: in Bonn soll der zu den Aufnahmen für die Wochenschau eingesetzte Kinooperateur beim Einmarsch die Menge erst aufgefordert haben, Hurra zu rufen. Und in Berlin sah Shirer bei der Reichstagssitzung manche Gesichter umwölkt, das Blombergs weiß wie ein Hemd. Dagegen schien man allgemein am nächsten Tag dem 8. März, schon zuversichtlicher, als die Prominenz des Dritten Reichs sich erneut zu der für diesen Sonntag angesetzten alljährlichen Heldengedenkfeier in der Staatsoper versammelte, bei der Blomberg in seiner Rede die Versicherung gab daß man zwar keinen Offensivkrieg wünsche, einen Defensivkrieg aber nicht fürchte.

Was ist in jenen Tagen hinter den Kulissen in Berlin vor sich gegangen? In den bekannten Memoiren von Hans Bernd Gisevius ist die Behauptung aufgestellt worden, daß Hitler kurz nach der Proklamation des Einmarsches einen Nervenzusammenbruch gehabt und in einem Weinkrampf drauf und dran gewesen sei, die bereits marschierenden Kolonnen zurüdezurufen. Hier, aber auch in anderen rückblickenden Betrachtungen von Zeitgenossen wird berichtet, daß auf beunruhigende Nachrichten über die Haltung der Westmächte vor allem Blomberg den Abbruch des Unternehmens angeraten und Hitler nur durch Neurath zur Ablehnung dieses Vorschlags bestimmt worden sei, der mit seiner dickfälligen schwäbischen Ruhe erklärt habe: „Jetzt sind mer drinne und bleibet drinne." Sicher ist an diesen Mitteilungen etwas Richtiges. Das ergibt sich auch aus dem Wortlaut eines Schreibens des General-stabschefs General Beck an den Militärattache in London Geyr v. Schwep-penburg, dem man auf Grund eines gleich zu behandelnden warnenden Telegramms rügend die Mahnung zukommen ließ, auch in schwierigen politischen Lagen die Nerven zu behalten»„Meine persönliche Ansicht“, so kommentierte Beck den entsprechenden Erlaß Blombergs, „ist die, daß nicht Sie Ihre Nerven verloren haben, sondern ganz andere Leute“. Es ist freilich fraglich, ob sich diese Bemerkung auch auf Hitler persönlich bezicht. Gewiß dürfte sein, daß er bei diesem ersten, gegen außen gerichteten Schlag noch nicht so unbekümmert und selbstsicher war, wie bei den Gewalttaten seit 1938. Selbst hat er später verschiedentlich erzählt, daß die 48 Stunden nach dem Einmarsch im Rheinland die aufregendste Zeitspanne in seinem Leben gewesen seien. Aus den uns bisher bekanntgewordenen Quellen können wir schließen, daß es zum mindesten zweimal zu Krisen gekommen ist, die ernsthafte Erörterungen über Gegenbefehle an die Truppen herbeiführten. Die erste Krise fällt schon auf den 5. März. An diesem Tage wurde Hoßbach plötzlich in die Reichskanzlei berufen, wo er Hitler in erregtem Gespräch mit Rippentrop traf. Nach Hinweis auf Nachrichten, die auf mutmaßliche Schritte der Westmächte schließen ließen, fragte Hitler, ob die Ausführung der militärischen Bewegung noch angehalten werden könne bzw. bis zu welchem Zeitpunkt er sich spätestens entscheiden müsse, um sie noch anzuhalten.

Hoßbach bejahte die erste Frage, während er die Beantwortung der zweiten von Rückfragen abhängig machte. Der Vorgang erinnert an den Nachmittag des 25. August 1939, an dem Hitler auf Grund von Nachrichten aus Rom und London den bereits erteilten Befehl zum Einmarsch in Polen noch einmal rückgängig machte. An jenem 5. März 1936 hat er sich jedoch anscheinend rasch wieder beruhigt und den Befehl aufrechterhalten. Eine zweite Krise ist dann nach erfolgtem Einrücken festzustellen, und zwar scheint sie ausgelöst worden zu sein durch Meldungen aus Paris über scharfe Reaktion auf das deutsche Vorgehen und über militärische Vorbereitungen. Hier muß es nun vor allem Blomberg gewesen sein, der dringend riet, für den Fall eines Ultimatums die sofortige Zurückziehung der auf das linke Rheinufer nach Aachen, Trier und Saarbrücken vorgeschobenen Truppen anzubieten. Es hat auch den Anschein, als ob jene Bataillone angewiesen worden waren, bei einer französischen Gegenaktion jeden Kampf zu vermeiden und den Rückmarsch anzutreten. Blomberg muß dann noch einmal in Aufregung versetzt worden sein durch ein Telegramm der drei Wehrmachtsattaches Geyr, Wassner und Weninger in London mit der Warnung, daß, wie sie aus Äußerungen der englischen Politiker schloßen, die Lage sehr ernst sei und es 50 zu 50 stehe, ob es zum'Krieg komme oder nicht. Wenn Hitler selbst am 7. und 8. März noch überaus nervös geschwankt zu haben scheint, so dürfte er indessen zu dem Zeitpunkt der Vorlage jenes Telegramms von dem Erfolg seines Vorgehens schon überzeugt gewesen sein:

Generale verächtliche Äußerungen über die schwachen Nerven der und scharfe Bemerkungen über unerhörte Beeinflußungsversuche der Wehrmaditsattaches, denen Blomberg dann auch prompt die schon Rüge zukommen ließ, sind uns überliefert. Und in der Tat sah er ja seinen Entschluß und sein schließliches Festhalten gerechtfertigt, behielt er gegenüber allen Bedenken und Warnungen recht. Denn die befürchtete militärische Gegenaktion blieb aus, man begnügte sich mit Protesten und papiernen Beschlüssen, deren Ausführung in Konferenzen und Verhandlungen versandete. Das war die andere Seite jener März-ereignisse, und sie ist für die Entwicklung der Dinge nicht weniger be-deutungs-und verhängnisvoll gewesen als Hitlers Wagemut: schon am Abend des 7. März hat der Amerikaner Shierer es als das wichtigste Moment dieses Tages bezeichnet, daß die französische Armee sich nicht rührte. Ihm war dies, wie er hinzufügte, völlig unverständlich.

Die Lage in Paris Wie ist dies Verhalten zu erklären? Wir müssen unseren Blick nun von Berlin nach Paris und London wenden und festzustellen versuchen, welche Erwägungen man dort angestellt hat. Zunächst erhebt sich die Frage, ob man sich von dem deutschen Vorgehen wirklich hat überraschen lassen und von Hitlers Absichten vorher nichts geahnt hat. Man mußte längst etwas ahnen, denn seit dem Frühjahr 1935 waren nach Paris von den verschiedensten Seiten immer wieder Warnungen gelangt, daß Hitlers nächstes Ziel die Beseitigung des Rheinlandstatuts sei. Das hatte nicht nur der Generalkonsul in Köln Dobler immer wieder behauptet, auch der polnische Außenminister Beck hatte nach einem eigenen Besuch bei Hitler zu dem Warschauer Botschafter Frankreichs Noel geäußert, daß er zwar nicht wisse, was Hitler vorbereite, er aber sicher annehme, daß nun cie Reihe an den Locarnoabrechnungen und der rheinischen Zone sei. Dazu mußten dann ja auch Hitlers eigene wiederholte Behauptungen über die Unvereinbarkeit des russischen Paktes mit Locarno stutzig machen. Sowohl Noel als vor allem auch Francois-Poncet haben schon gegen Ende des Jahres 1935 in Paris die Frage gestellt, was man zu tun gedenke, wenn Hitler zur Tat schreite, und beide haben damit die Mahnung verknüpft, ihm durch offene Erklärungen und Verhandlungen zuvorzukommen, wobei übrigens Fran-

ois-Poncet bereit gewesen wäre, einige deutsche Garnisonen gegen feierlichen Verzicht auf jede Befestigungsanlage in der entmilitarisierten Zone zuzugestehen. Statt auf diese Anregungen einzugehen, gab man sich indessen in Paris der Illusion hin, daß Hitler es nicht wagen werde, die vereinigten Westmächte zu brüskieren. Die seit dem 24. Januar 1936 im Amt befindliche Regierung Sarraut-Flandin glaubte sich immerhin des Beistandes Englands erneut versichern zu sollen. Bei Gelegenheit der Beerdigung König Georgs V. erhielt jedoch Flandin bei entsprechenden Fragen an die englischen Staatsmänner die ausweichende Antwort, daß an den Rheinlanden in erster Linie Frankreich interessiert sei und England sich erst entscheiden könne, wenn man wisse, wie Frankreich auf ein deutsches Vorgehen reagieren werde. In Paris haben im Laufe des Februar darauf im Kriegsministerium Konferenzen stattgefunden, die jedoch keine Klarheit brachten: von militärischer Seite wurde darauf hingewiesen, daß für Gegenmaßnahmen die in der rein defensiv gedachten Maginot-Linie stehenden Truppen nicht ausreichten, dafür vielmehr Einberufungen der Reserve nötig seien. Der Ministerrat aber fand den merkwürdigen Ausweg, im Mitteilungen sowohl an die eigenen Botschafter als auch an England zu erklären, daß man eine Verletzung des Locarnovertrages nicht dulden und — den Völkerbund anrufen werde: im Grunde war damit schon der Gedanke sofortiger eigener Aktion aufgegeben.'Aber entscheidend für die ganze unzulängliche Einstellung auf das, was kommen konnte, war eben jene Illusion, daß Hitler sich einer juristisch-moralischen Verurteilung und einer daraus erwachsenden Kol-lektivaktion aussetzen werde.

Diese Illusion zerstob am Morgen des 7. März. Wir registrieren in möglichster Kürze den chronologischen Ablauf der Ereignisse in Paris. Am 7. März Vormittags erste Konferenz von Ministern und Wehrmachts-spitzen im Innenministerium, wobei die Minister Sarraut, Paul-Boncour, Mandel für sofortiges Handeln unter gleichzeitiger Anrufung des Völker-bundes eintraten, andere dagegen vorherige Verhandlungen mit England forderten und der Generalstabschef Gamelin für eine Aktion Einberufungen verlangte und sich hinsichtlich eines Erfolges nicht allzu optimistisch äußerte: man werde zu Beginn wohl das Übergewicht haben, bei längerer Dauer eines Krieges es hinsichtlich der Zahl und der aber industriellen Kapazität verlieren. Es wurde kein Beschluß gefaßt, doch läßt Paul-Boncours Äußerung zu Gamelin beim Abschied, er hoffe ihn bald in Mainz zu sehen, erkennen, daß man eine rasche und feste Reaktion noch für möglich hielt. — 18 Uhr neue Beratung im Außenministerium am Quai d'Orsay mit Ausführungen des Kriegsministers Maurin und der Vertreter von Marine und Luftwaffe über die Notwendigkeit von Mobilmachungsmaßnahmen vor militärischem Handeln; Ergebnis war der Beschluß sofortigen Appells an den Völkerbund und der vollen Besetzung der Maginot-Linie. — 8. März: Vormittags Conseil ohne die Militärs: wenn hier zwar die Unannehmbarkeit jenes von Deutschland gleichzeitig mit dem Einmarsch veröffentlichten Siebenpunkteprogramms festgestellt wurde, so wurde zugleich die Abneigung der für die drei Wehrmachtteile zuständigen Minister Maurin, Pietri und Deat gegen selbständiges Vorgehen völlig deutlich, worauf der Außenminister Flandin mit der Äußerung: Also, ich sehe, daß nichts zu machen ist, der eigenen Resignation Ausdruck gab. Am Abend dieses Sonntags Rundfunkrede des Ministerpräsidenten Sarraut in verhältnismäßig scharfer Tonart: „Man hat uns vor die vollzogene Tatsache in ihrer brutalsten Form gestellt. Es gibt keine internationalen Beziehungen mehr, wenn diese Methode allgemein wird. Wir sind nicht bereit zuzulassen, daß Straßburg unter dem Feuer der deutschen Geschütze liegt.“ Weit wichtiger aber als diese Drohung war, daß auch der zweite Tag keinen Befehl an die Armee gebracht, die französische Regierung sich vielmehr darauf eingestellt hatte, nur auf Grund einer Entscheidung des Völkerbundes und mit Zustimmung der übrigen Signatarmächte zu handeln. Noch hat nach einer Sitzung der Kammer am 10. März mit erneuter Erklärung Sarrauts. daß Frankreich nicht unter der Herrschaft der Gewalt und der Verleugnung frei ausgetauschter Unterschriften verhandeln könne, Flandin den Kriegsminister aufgefordert, die Möglichkeit einer Besetzung deutschen Gebiets, etwa der Städte Saarbrücken und Kehl, gleichsam zur Pfandnahme zu prüfen. Am Abend traf man sich im Haues Sarrauts: bedenkliche Äußerungeri der Wehrmachtsminister und der militärischen Experten ließen die Befürworter energischer Aktion erneut resignieren und die von Gamelin entworfene und am 11. März von dem Kriegsminister präsentierte Note, die sich mit Plänen einer Besetzung des linken Saarufers von Saarbrücken bis Merzig oder nach Übereinkommen mit Luxemburg und Belgien einer Aufstellung entlang der Mosel-Sauer-Our--inie beschäftigte, hatte im Grunde nur akademische Bedeutung. Bezeichnenderweise war an die Spitze der Satz gestellt worden, daß jede Operation sich nur im Rahmen einer Völkerbundsaktion abspielen könne.

Wir brauchen uns hier mit der Frage der persönlichen Verantwortlichkeit für die französische in jenen Märztagen 1936, über die Passivität man sich nach dem Krieg in Untersuchungen und Memoiren der Beteiligten heftig auseinandergesetzt hat, nicht zu befassen. Wenn die Vorwürfe gegen die Militärs, daß sie sich für diesen Fall nicht vorgesehen und keinen Plan besessen hätten und in ihnen ein rein defensiver Geist jeden Willen zur Initiative und Improvisation erstickte, sicher nicht unberechtigt waren, so wirkte auf die Politiker die Rücksicht auf die bevorstehenden Neuwahlen, auf die öffentliche Meinung, die man nicht durch Mobilmachungsmaßnahmen oder gar durch die Aussicht auf einen Krieg erschrecken wollte. Sic waren seit dem ersten Weltkrieg zudem daran gewöhnt, die Sicherung der eigenen Macht in Bündnissystemen und Kollektivorganisationen zu sehen, damit aber auch das eigene Handeln von deren Funktionieren abhängig zu machen. Gerade in diesen Föderationen aber entsprachen der offensichtlichen Erschlaffung Frankreichs selbst eine bedenkliche Auflockerung des Gesamtsystems und die Unzuverlässigkeit oder Unwilligkeit der einzelnen Glieder, wenn es sich darum handelte, eigene Kräfte auf einem Wege einzusetzen, auf dem man möglicherweise in gefährliche Verwicklungen geraten konnte.

Churchill, Prediger in der Wüste Wenn wir zunächst den Osten Europas betrachten, in dem Frankreich auf Grund von mannigfachen Verträgen eine wohl noch umfassendere Barriere de l’Est aufgebaut zu haben glaubte, als sie einst das bourbonische Königstum in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit besessen hatte, so war die Haltung gerade derjenigen Macht, auf die es bei einer Aktion gegen Deutschland vor allem ankam, Polens, seit der Nichtangriffsverständigung mit dem Reich unsicher geworden. Zwar hat der seit dem Tode des Marschalls Pilsudski die polnische Außenpolitik dirigierende Oberst Beck am Nachmittag des 7. März dem französischen Botschafter Noel Versicherungen gegeben, daß Polen im Ernstfall seinen Verpflichtungen gegenüber Frankreich treu bleiben werde, aber das Mißtrauen, dem Noel schon in den folgenden Tagen gegen die Aufrichtigkeit des den Franzosen offentsichtlich wenig geneigten Ministers Ausdruck gab. war wohl berechtigt. Aus den veröffentlichten Niederschriften von Becks Unter-staatssekretär Szembek ergibt sich, daß man in Polen wenig Lust hatte, ausgerechnet für die Aufrechterhaltung des Locarno-Vertrages, der einst ohne jede Rücksicht auf die polnischen Intentionen abgeschlossen worden war, sich zu engagieren, daß in Diskussionen hierüber, die schon seit einem Besuch Görings in Polen in der zweiten Hälfte des Februars in Gang gekommen waren, das Vorliegen eines casus foederis gegenüber Frankreich bestritten wurde, und daß jene Beteuerung zu Noel von Beck in der festen Überzeugung gemacht wurde, daß Frankreich die polnische Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen werde, weil es des Westens, insbesondere Englands, nicht sicher sei, ohne dessen Unterstützung aber nichts riskieren werde. Auf die Haltung des Westens, der ja auch durch die Verletzung von Locarno wert mehr berührt wurde als der Osten, kam es in der Tat vor allem an, und hier haben nun die französischen Staatsmänner vom ersten Tage an seitens der übrigen'Mächte nicht nur keine Ermutigung zu einem Gegenstoß gefunden, sondern sie wurden geradezu davor gewarnt. Wenn Italien die Politik der Sanktionen in Gegensatz, zu Frankreich und England gebracht hatte und es keine Lust zeigte, den hierüber entstandenen Groll zu begraben und damit die Möglichkeit, durch Annäherung an das erstarkende Deutschland die eigene Position zu verstärken, zu verschütten, so gab die Erklärung des belgischen Ministerpräsidenten van Zeeland vom 11. März, daß die Staatsmänner in erster Linie alles tun müßten, um jedes Risiko eines Krieges zu vermeiden, nicht nur die vorherrschende Stimmung in dem durch das deutsche Vorgehen in seinen Rechten und Sicherungen doch ebenso wie Frankreich getroffenen kleinen Belgien, sondern vor allem auch in England wieder Man war in London zwar zunächst auch empört gewesen über den brüsken Vertragsbruch, aber in Presse und öffentlicher Meinung tröstete man sich rasch damit, daß die einseitigen Entmilitarisierungsbestimmungen von dem deutschen Volke doch auf die Dauer nicht ertragen worden wären und die Verteidigung oder gar Wiedereroberung dieser sowieso unhaltbaren Bastion einen Krieg nicht wert sei, man vielmehr die ganze Angelegenheit benutzen sollte, um mit Deutschland zu einer neuen, den Frieden sichernden Verständigung zu gelangen. Und das war, abgesehen von Churchill, der schon damals mit den Warnungen vor den Folgen dieser Resignation wie ein Prediger in der Wüste auch erschien, die Auffassung der Politiker, des Ministerpräsidenten Baldwin und seines präsumptiven Nachfolgers, des Schatzkanzlers Neville Chamberlain, ja mit gewissen Reserven auch des Außenministers. Eden. So waren schon am 7. und 8. März beschwörende Mahnungen nach Paris gegangen, nicht überstürzt zu Handlungen zu schreiten, zum mindesten vorher mit England zu konsultieren. Wenn die ranzosen, so hat Churchill ironisch die Haltung der beiden Mächte gekennzeichnet, zögerten, vorzugehen, so zögerten ihre britischen Verbündeten nicht, davon abzuraten. Im Unterhaus erklärte Eden am 9 März, daß der deutsche Schritt die internationale Lage erschwert habe und niemand ihn entschuldigen werde, daß aber erfreulicherweise kein Anlaß vorlieg.', in ihm eine Bedrohung zu sehen.

Die Sitzungen des Völkerkundrates Was konnte man angesichts dieser Stimmung und Auffassung von den Kollektivberatungen, auf die man nun alles abgestellt hatte, erwarten? Am 10. März haben '. ich zunächst die in Locarno beteiligten Mächte in Paris versammelt. Die Franzosen verbanden scharfe Reden gegen die Vertragsverletzung mit Forderungen -zu ihrer Ahndung, aber der beschwichtigende englische Standpunkt triumphierte: es sollte nichts geschehen vor dem Entschluß des Völkerbundsrates, der — auch das bezeichend — nicht in Paris, sondern in London tagen sollte. Vorher aber wollte man sich gleichsfalls in London über den einzuschlagenden Weg einigen. So eilten die Franzosen denn nunmehr in die englische Hauptstadt. und hier hat es Flandin an verwegenen Äußerungen und dringenden Appellen an die Verbündeten wieder nicht fehlen lassen, aber schließlieh hat er in einem, wie er später behauptete den französischen Forderungen gegenüber entschieden feindlichen Milieu die These einer militärischen oder auch andersartigen Sanktion fallen gelassen, um dafür einen Ersatz für Locarno durch eine engere auch militjrische Verhindung der Westmächte untereinander zu erhalten. Das Ergebnis zahlreicher Konferenzen, bei denen der Italiener sich mit der Rolle des Beobachters begnügte, während van Zeeland immer wieder neue Vermittlungsprojekte entwarf, war schließlich nach einer 6stündigen Nachtsitzung am 19. März eine Vereinbarung, wonach ohne Anerkennung der durch Deutschland eigenmächtig geschaffenen Situation England Verhandlungen mit Berlin einleiten und dabei als Vorbedingungen für eine Verständigung die deutsche Verpflichtung fordern sollte, die Kräfte in der rheinischen Zone nicht über 20 Bataillone und 12 Batterien zu erhöhen, kein Kriegsmaterial dorthin zu entsenden und vor allem jede Anlage von Befestigungen zu unterlassen. In einem Briefaustausch sagte England Frankreich zugleich eine Garantie gegen weitere deutsche Schritte zu. Inzwischen tagte schon seit dem 14. März der Völkerbundsrat: auch hier gab es Reden mit scharfen Anklagen gegen Deutschland, und es konnte nicht zweifelhaft sein, daß das Ergebnis die Feststellung der Verfehlung Deutschlands sein werde. Aber hatte dies nun noch viel zu bedeuten? Man hatte sofort Deutschland aufgefordert, einen Vertreter nach London zu entsenden. Schon war man dort über alle Ängste und Schwankungen hinaus, man ließ die Frage stellen, ob die volle Gleichberechtigung des deutschen Vertreters anerkannt und der von Deutschland vorgelegte Plan den Verhandlungen zugrundegelegt werde, und erst als der erste Punkt vom Generalsekretär des Völkerbundes positiv beantwortet worden war und hinsichtlich des zweiten Eden dem deutschen Botschafter Hoesch versichert hatte, daß nach Überzeugung der englischen Regierung die deutschen Vorschläge zu gegebener Zeit diskutiert werden müßten, hat man sich im deutschen Lager großzügig dazu verstanden, das Reich durch Ribbentrop vertreten zu lassen. So fand in seiner Gegenwart am 19. März im St. James-Palast die abschließende Sitzung des Völkerbundsrates statt. Natürlich hat Ribbentrop, dem am Vormittag das Wort erteilt wurde, auf der einen Seite unter Hinweis auf den französisch-russischen Pakt jede Verfehlung Deutschland bestritten und auf der anderen die Bedeutung des deutschen Angebots einer 25jährigen Friedensgarantie unterstrichen. Trotzdem gab der den Vorsitz führende Australier Bruce am Nachmittag als Resolution des Rats bekannt, daß Deutschland sich des Vertragsbruchs schuldig gemacht habe, wogegen Ribbentrop protestierte. Bei der Mitteilung des Beschlusses an die übrigen Signatarmächte von Locarno, denen damit gewissermaßen die juristische und moralische Unterstützung des Völkerbundes bei weiteren Schritten zugesichert wurde, verfehlte Bruce indessen nicht, auf die Notwendigkeit von Verhandlungen hinzuweisen und die bestimmte Erwartung einer Verständigung zum Ausdruck zu bringen. Das entsprach der allgemeinen Auffassung: niemand erwartete im Grunde mehr, daß den Worten noch Taten folgen würden.

Ein grundlegender und verhängnisvoller Fehler In der Tat ging alles aus wie das Hornberger Schießen. Jene zwischen England und Frankreich vereinbarten Forderungen der Locarnomächte, die Eden am 20. März Ribbentrop unterbreitete, lehnte Hitler am 24. März ab, da er auf der uneingeschränkten Wehrhoheit im Reichsgebiet bestehen müsse, zugleich aber kündigte er die Vorlage neuer umfassender Vorschläge für eine Verständigung für die Zeit nach der von ihm ja gleichzeitig mit dem Einmarsch angeordneten Volksabstimmung und Neuwahl an, die ihm am 29. März mit der angeblichen Zustimmung von 98, 8 °/o des deutschen Volks eine moralische Waffe in die Hand gab. Am 31. März flog Ribbentrop wieder nach London, wo er am folgenden Tag Eden ein neues aus 19 Punkten bestehendes Programm übergab, das aber im Grunde nur die Vorschläge des 7. März wiederholte und ergänzte. Was nutzte es, daß Frankreich in einer langen Denkschrift sich über die Notwendigkeit, dem internationalen Recht Geltung zu verschaffen, ausließ und die Restlocarnomächte am 10. April beschlossen, das Reich auf dem Wege über einen umfangreichen Fragebogen zu genauer Angabe seiner Pläne zu bewegen. Schon hatte sich das Interesse anderen Dingen zugewandt, Italien war offensichtlich nicht mehr bereit mitzumachen, in Frankreich trat nach den Neuwahlen wieder ein Regierungswechsel ein, und so konnte es Hitler wagen, den erst Anfang Mai nach Berlin übersandten Fragebogen überhaupt nicht mehr zu beantworten. So blieben auch die deutschen Angebote ein Stück Papier, und während im Reich die Aufrüstung unter Einbeziehung 'der Grenzlande im Westen energisch fortgeführt wurde, ist es zwischen England und der neuen Volksfrontregierung in Paris noch nicht einmal zu dem im März vorgesehenen engeren militärischen Zusammenschluß durch Generalstabsbesprechungen usw. gekommen. Im Grunde war all das, was seit Mitte März geschah, nur ein Nachhutsgeplänkel gewesen, die Entscheidung war in den ersten Tagen gefallen, als man sich nicht entschließen konnte, dem deutschen Einmarsch in die Rheinzone entgegenzutreten.

Bleiben wir zunächst, wenn wir zum Abschluß daran gehen, Verlauf und Ergebnis jener Märzereignisse zusammenfassend zu betrachten und zu würdigen, bei den Westmächten. Es haben, wie wir sahen, sehr ehrenwerte und gewichtige Gründe ihre mangelnde Aktivität bestimmt: vor allem die Abneigung gegen Konflikte, die den Frieden und die eigene Ruhe stören konnten, die Einsicht, daß zwar gewiß nicht für die Methode des deutschen Vorgehens, wohl aber für das Objekt, um das es ging, vom Standpunkt des gerade im Westen vertretenen Selbstbestimmungsrechts der Völker Gründe der Rechtfertigung aufgeführt werden konnten, der Glaube, durch Nachgiebigkeit und Verständigung in diesem Fall den unruhigen Nachbar befriedigen und gewinnen zu können; wozu dann freilich auch mangelnde Übereinstimmung untereinander, innenpolitische Schwierigkeiten und Besorgnisse aller Art auf politischem, militärischem und wirtschaftlichem Gebiet kamen. Und doch war es ein grundlegender . und verhängnisvoller Fehler, gegenüber dem deutlichen Schlag gegen die aufgerichtete Ordnung und die eigene Sicherung, den Hitlers einseitiger und provozierender Schritt bedeutete, eine Schwäche zu zeigen, die zudem durch die bestehenden Machtverhältnisse keineswegs bedingt war. Denn was wäre geschehen, wenn die Franzosen am 7. oder 8. März den Beschluß gefaßt hätten, dem Vertragsbrecher mit militärischer Kraft entgegenzutreten? Daß sie trotz aller Bedenken von Ministern und Generalen, die sich in der Hauptsache ja auf den Umfang und die innenpolitische oder wirtschaftliche Auswirkung der zu treffenden Mobilmachungsmaßnahmen bezogen, dazu imstande gewesen wären, wird niemand bestreiten können. Wohl mit Recht aber hat der Generalsekretär am Quai d'Orsay St. Leger am Nachmittag des 7. März auf die ersten abmahnenden Ratschläge von London aus Gamelin gegenüber erklärt, daß, wenn man energisch vorgehe, Frankreichs Alliierte sich anschließen würden. Kam es wirklich zu einem Krieg, so konnte man auf die Unterstützung Englands und gewiß auch der östlichen Verbündeten rechnen. Aber wäre es denn überhaupt zu einem Krieg oder auch nur zu einem Kampf gekommen? Vorwurfsvoll hat Flandin selbst während seines Aufenthalts in London in engerem Kreise englischen Freunden entgegengehalten, daß die Deutscher! bei einem Einmarsch sich ohne einen Schuß abzufeuern zurückgezogen hätten. Daß die deutsche Wehrmacht damals in der Tat weder zu einer Verteidigung des linken Rheinufers, auf das man ja nur 3 Bataillone vorgeschoben hatte, noch auch zu einer erfolgreichen längeren Abwehr rechts-des Rheins in der Lage gewesen. wäre, dürfte sicher sein. Wir kennen ja bereits die pessimistische Einschätzung der Lage durch die deutschen Generale und die Nervosität Hitlers selbst. Es sind uns zudem aber von ihm und seinen Beratern Aussprüche aus späterer Zeit überliefert, in denen der Erfolg einer energischen Gegenaktion außer Frage gestellt . wird. „Wenn die Franzosen", so hat Hitler einmal geäußert, „damals ins Rheinland eingerückt wären, hätten wir uns mit Schimpf und Sdiande wieder zurückziehen müssen, denn die militärischen Kräfte, über die wir verfügten, hätten keineswegs auch nur zu einem mäßigen Widerstand ausgereicht.“ Lind Jodl hat noch vor dem Nürnberger Ge-richt bekundet, daß in jener Lage allein die französische armee de Couverture die eigenen Kräfte hinweggeblasen hätte.

Damit aber wird man zu dem Ergebnis kommen, daß die Nachbarn des Dritten Reichs damals die Chance hatten, ohne große Opfer die alte Ordnung zu sichern und weiteren Überraschungen einen Riegel vorzuschieben. Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob damit nicht das ganze Regime Hitlers in eine tödliche Krise geraten wäre. Wenn der Amerikaner Shirer voll Empörung über die Stupidität oder Paralyse, die Frankreich befallen habe, behauptete, daß Hitler, der alles auf eine Karte gesetzt habe, eine Demütigung, wie sie die Besetzung des linken Rheinufers durch die Franzosen bedeutete, nicht überlebt hätte, so war degegen Francois-Poncet der Ansicht, daß seine Macht in London doch schon zu gefestigt gewesen wäre, um nicht auch einen schweren Mißerfolg zu überstehen. Waren das mehr oder weniger Spekulationen, so kann jedenfalls als unmittelbare und weiterwirkende Folge des Nichteinschreitens der Westmächte für sie ein ganz erheblicher Verlust an Ansehen und eine Lockerung der Bündnisse und Ententen, auf die sie sich bisher in Europa gestüzt hatten, festgestellt werden. Wie wir sahen, hatten die Franzosen ihre Nachgiebigkeit sich von den Engländern mit einer stärkeren militärischen Verpflichtung bezahlen lassen wollen, die Vereinbarungen blieben indessen unausgeführt, woraus sich auf beiden Seiten Verstimmungen ergaben. Vor allem aber bei den kleineren Staaten im Osten hatte das Vertrauen auf die französische Stärke und Hilfe einen schweren Schlag erlitten: nach Flandins eigenen Äußerungen zu seinen englischen Freunden war die Allianz Frankreichs mit der kleinen Entente nun so gut wie wertlos geworden, da man in Polen, Tesche-

choslowakei, Jugoslawien, Rumänien im Falle einer deutschen Expansion mit wirksamer französischer Unterstützung nicht mehr rechnete. Daß solche Gedankengänge in der Tat wenigstens in Polen sich geltend machten und die Tendenz auf freundliche Haltung gegenüber Hitler verstärkten, lassen die Aufzeichnungen Noels und Szembeks deutlich erkennen.

Voraussetzung für den weiteren Aufstieg der deutschen Macht In all dem lag eine Voraussetzung für einen weiteren Aufstieg der deutschen Macht. Weit verhängnisvoller aber war etwas anderes, nämlich die Voraussetzung, die der unerhörte Erfolg im deutschen Lager für die Wendung von der Politik des Kampfes gegen Versailles zu einer rücksichtslosen Macht-und Eroberungspolitik schuf. Nicht als wenn das deutsche Volk als solches eine solche Wendung gewünscht oder auch nur für möglich gehalten hätte. In seiner Mehrheit sah man in dem Vorgang an sich die Erfüllung einer berechtigten Forderung, den glücklichen Abschluß eines friedlichen Feldzugs zur Beseitigung der Fesseln von Versailles, zur Wiederherstellung von Ehre und Unabhängigkeit des Reichs, und gewiß nicht Vorbedingung und Auftakt zu einer Expansion. Immerhin band der Erfolg die Massen stärker an den Führer, von dessen Genialität sie nunmehr überzeugt waren: zeigen uns doch die Aufzeichnungen Dodds und Shirers, welche Befriedigung, ja Begeisterung nach dem glücklichen Ablauf der Aktion auch manche Kreise in Deutschland erfüllte, die dem nationalsozialistischen Regime überaus skeptisch gegenüberstanden.

Was nun aber bedeutete die Erringung der Wehrhoheit am Rhein für Hitler selbst und welche Folgen ergaben sich aus den Erlebnissen und Erfahrungen jener Märztage für seine weitere Politik? Der Franzose Leger will aus London mit der Liberzeugung zurückgekehrt sein, daß gerade durch die Verhinderung des Konflikts der Krieg unvermeidlich geworden sei, und er hat später geäußert, daß weniger der Münchner Konferenz von 1938 als dieser ersten Nachgiebigkeit der Westmächte von 1936 die Verantwortung dafür zuzuschieben sei, daß Hitler alle Dämme überflutete und die Welt in die Katastrophe stieß. Er mag dabei einmal an das gedacht haben, was Hitler mit der Besetzung der Rheinlande erreichte. Ging es wirklich nur, wie man nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in weiten Kreisen Englands glaubte, um die Wiederherstellung eines nationalen Rechts, oder war die Inbesitznahme und die daran anschließende Befestigung der Grenzlande im Westen nicht die notwendige Sicherung, um Ausdehnungspläne gegen Osten durchführen zu können? Daß schon damals kluge Beobachter diese Absicht vermuteten, zeigt der Bericht des amerikanischen Botschafters in Berlin Dodd über Äußerungen, die ihm gegenüber am 9. März der Holländer Graf Limburg-Styrum, machte: Hitlers Politik ziele auf Annexionen in den Zonen vom Balkan bis zum Baltikum; wenn das Rheinland in seinem Sinne neutralisiert sei, könne Frankreich nicht eingreifen, falls Deutschland die Tschechoslowakei, Österreich, Litauen oder Estland annektiere. Nun besitzen wir zwar bisher keine direkten Beweise dafür, daß Hitler bereits die Rheinlandaktion im Rahmen derartiger Pläne sah und durchführte: offen hat er sich über den Willen zu rücksichtsloser Ausdehnung von Territorium und Macht erst anderthalb Jahre später in jener Ansprache an seine außenpolisehen und militärischen Berater vom 5. November 1937 geäußert, deren Inhalt uns durch das sogenannte Hossbach-Protokoll bekannt ist. Immerhin hat ein ihm so nahestehender Mann wie der General Jodl es bei seiner Vernehmung in Nürnberg als „natürlich unmöglich“ bezeichnet, „daß im Gehirn des Führers mit der Rheinlandbesetzung bereits der Gedanke verbunden war, das sei eine Voraussetzung, damit er später aktiv im Osten handeln könne“. Wenn dies in der Tat wahrscheinlich ist, so wird man aber zudem sicher als Wirkung dies allen Warnungen zum Trotz so großartig geglückten Coups die Verstärkung einer Hybris in diesem Menschen feststellen, die in ihm im Glauben an seinen Stern, an seine Unfehlbarkeit alle Bedenken und Besorgnisse vor der Verfolgung einer brutalen Politik des Auftrumpfens und der Überraschungen zwecks Errichtung der eigenen Macht über die Grenzen Deutschlands hinaus erstickte. Das ist es vor allem, was den März 19 36 zu einer so wichtigen Etappe in der Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs macht. Für Hitler hatten jene Tage den Beweis für die Ohnmacht des Völker-bundes und für die Schwäche der Westmächte geliefert, sie gaben ihm die Überzeugung, daß sie, wenn er nur energisch und rücksichtslos vorging, außer bei einem Angriff auf ihr eigenes Gebiet nie ihm in den Arm fallen würde. Zugleich aber sah er sich selbst gegenüber den Männern seiner eigenen Umgebung, vor allem gegenüber den Generalen bestätigt; sie, die ihm sorgenvoll abgeraten oder gar einen Einspruch gewagt hatten, betrachtete er seitdem mit Verachtung und wachsendem Mißtrauen. Seine Intuition, so soll er nach dem Zeugnis des Staatssekretärs Meissner erklärt haben, sei ein besserer Wegweiser als alle klugen Überlegungen und Argumentationen der ängstlichen Politiker, Diplomaten, Völkerbundjuristen und — so dürfen wir ergänzen — der militärischen Experten, er werde auch künftig nicht auf diese hören. Er hat in der Tat nicht mehr auf sie gehört, sondern ist nur noch den Antrieben des eigenen Ehrgeizes und Gefühls gefolgt, womit er dann schließlich sich und das Reich in die furchtbarste Katastrophe der deutschen Geschichte führte.

Fussnoten

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