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Als Häftling in Dachau . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau | APuZ 8/1956 | bpb.de

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APuZ 8/1956 Als Häftling in Dachau . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau

Als Häftling in Dachau . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau

Edgar Kupfer-koberwitz

1. Fortsetzung

Ich habe Glück

Plantage Am nächsten Morgen wachte ich müde auf. Es war sechs Uhr. Alles um mich her schien so trostlos, das grelle Licht, die Strohsäcke, die hastenden Menschen, die harten, roh klingenden Stimmen. Nebellust strömte von außen herein. Es regnete noch immer.

Ich stand auf. Das Jagen begann, das Rennen in den Waschraum, das Hasten nach einem freien Tisch, dann der Bettenbau.

Die Zeit war rar, alles rannte und jagte. So fing der Tag an, jeder Tag in Dachau.

Ob ich heute wieder auf die Plantage ziehen mußte, in den Regen?

Als einer der letzten schlüpfte ich aus dem Block. Draußen im Vorraum zog ich meine neuen Schuhe an. Ein Lichtblick wenigstens. Sie waren fest, drückten nicht, waren trocken.

Ich sah Schäffer, den ehemaligen Rittmeister. Er hielt mich an:

„Na, wie geht es Dir?“

„Danke, naß.“

Er lachte:

„Kann ich mir denken, aber daran gewöhnt man sich, wir alle haben uns daran gewöhnen müssen. Es ist nicht einmal so schlimm. Später denkt man sich nichts mehr dabei.

Der „Bär" brummte.

Sofort drängte sich alles zusammen. Es wurde durcheinander gelaufen, angetreten, Reihen wurden gebildet.

Der Regen begann heftiger zu strömen.

Wieder'sangen wir ein Lied:

„Steig idt den Berg hinan, das wacht wir Freude, ..."

Unsere Füße tapsten durch die Regenlachen. Auf der Lagerstraße mischte sich unser Gesang in den der anderen marschierenden Kolonnen.

Wenn jemand in diesem Augenblick am Lager vorbei ging, so würde er hinter der Mauer den frischen, frohen Morgengesang der Häftlinge hören. Wer singt, dem kann es doch eigentlich nicht schlecht gehen.

Auf dem Appellplatz war es wie immer. Wir standen eine Stunde lang im strömenden Regen, mußten viele Male die Mützen abnehmen und uns den geschorenen Kopf vollregnen lassen.

Als das große Durcheinanderlaufen“ begann, fand ich leicht die große Kolonne der fast 2000 Mann „Plantage“ und auch meine Abteilung. Endlich maschierten wir los. Der Regen wurde schwächer, feiner, aber noch durchdringender.

Mittags war Karl da und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter:

„Nur den Kopf nicht hängen lassen, alter Schwede, s’wird schon schief gehen. Komm, nimm eine Prise, und da hast Du eine Zigarette. Aber naß bist Du gar nicht schlecht. Na, wart nur, der Toni schaut Dir schon nach einem anderen Kommando. Er hat mir was gesagt, ich glaube, er hat was für Dich in petto.“

Am Nachmittag hatte der Regen aufgehört. Der Himmel war zu sehen.

Ein friedlicher Abend Es wurde Abend. Dachauer Sonnenuntergang, nicht wie auf meinem Ischia, die Farben waren stärker, härter. Der Himmel war hier rot und violett und grünlich.

Schrödter erschien und holte mich ab.

Ich freute mich auf diesen Bummel auf der Lagerstraße. Die schlanken Pappeln rechts und links hoben ihre hohen Köpfe zwischen den leuchtenden, elektrischen Lampen und dem auf-und abflutenden Leben der Lagerstraße. Bald waren wir, so auf-und abschreitend, in das schönste Gespräch vertieft.

Schrödter erzählte. Welch seltsames Leben rollte vor mir auf. Ein musikalisches Wunderkind, dann eine Lehre in einem Bankhaus. Der Vater erzog ihn zum Spekulieren. Er tat cs mit Erfolg. Die Gewinne wurden immer größer. Als verhältnismäßig junger Mann ist er schon reich, ist Besitzer von Bergwerken, von einer Mine, hat seine Segel-jachten, Autos, Pferde, ein Einkommen von 80 000 Mark monatlich. Er sieht viel, lebt auf großem Fuß, beginnt wieder alles zu verlieren, die geschlossene Ehe geht in die Brüche. Er stürzt sich in neue Abenteuer, ergreift alle möglichen Unternehmungen, teils mit Erfolg. Dann erlebt er den Weltkrieg, widmet sich den sozialen Problemen, wird Kommunist, gründet eine revolutionäre Zeitung, findet immer mehr zu sich selber und findet schließlich GOTT, erlebt das, was so schwer auszusprechen und zu beschreiben ist. Er wird ein einfacher, kindlich gläubiger „Christ“, keiner der irgendeiner Kirche oder Sekte angehört, nein, einer der nur ganz still und einfach den Worten Christi folgt: „Liebe Deinen Nächsten."

Er ist ein Kommunist geblieben, aber als Christ, der von sich aus teilt, was er besitzt. Etwas gegen den Kommunismus zu sagen, ist im Lager gefährlich. Der kommunistische Gedanke ist die Religion der meisten politischen Häftlinge, und sie führen die heimliche Regierung im Lager.

Schrödter hat einen schweren Stand, aber er kümmert sich nicht darum. In ihm wurzelt ein unerschütterliches Gottvertrauen und ein Glaube an die Macht des Guten, so daß er sich trotz allem Schrecklichen um ihn her nicht fürchtet.

Wir verabschieden uns wie alte Bekannte, und ich gebe ihm fest und froh die Hand.

Ich stehe noch vor der Tür und sehe seine weißen Haare leuchten.

Ich gehe zu Bett, froh und glücklich. Ich habe wieder einmal mit einem Menschen gesprochen, mit einem, der seinen eigenen Weg ging. Wer weiß, ob es nicht seinen großen Sinn hat, daß ich nach Dachau kam.. Vielleicht werde ich noch mehr Menschen finden, vielleicht habe ich selbst noch Aufgaben hier.

Ich fühle mich innerlich stark und gar nicht verlassen.

Ein Tag ist nicht wie der andere, und ein Abend ist nicht dem anderen gleich.

Toni kleidet mich ein Ja, ein Tag ist nicht wie der andere.

Am anderen Morgen war ich müde, wie zerschlagen. Mir war alles zu viel: Das Aufwachen, die harten Stimmen, das Hetzen und Jagen, alles, alles, selbst das Marschieren und Singen, das Stehen auf dem Appellplatz, alles ging mir auf die Nerven. Und dann stand dräuend die Plantage vor mir.

In unserer Block-Formation, unweit von mir, stand einer, der Anfälle bekam. Er zitterte am ganzen Körper, es schüttelte ihn, so heftig, daß es wie gemacht aussah.

„Haltet mich“, bat er, „haltet mich!“

Aber es fand sich keiner, der ihn stützen wollte. Ich ging hin, ihm zu helfen, aber die Kameraden hielten mich zurück:

„Bleib hier. Er markiert bloß, er will nicht ausrücken, wir kennen das, laß ihn nur.“ -

„Aber, wenn er wirklich krank ist? Er ist ja weiß im Gesicht und bebt an allen Gliedern.“

„Viel zu heftig, als daß es echt wäre.“

„Da, jetzt ist er zu Boden gestürzt, wie er sich krümmt!“

Sie traten interessiert näher, betrachteten ihn mit Kennermiene:

„Hör bloß auf mit Deinen Krämpfen, das kannst Du Deiner Großmutter vormachen. Los, steh auf!"

Er verdrehte statt aller Antwort die Augen und atmete schwer. Da trat der Blockälteste zu ihm:

„Mensch, mach, steh auf! Gleich wird der Blockführer kommen, der tritt Dich in den Arsch. Los, steh auf!“

Aber die Glieder des Gestürzten verkrampften sich nur noch mehr.

„Aber, vielleicht ist er doch krank“, wagte ich noch einmal zu sagen.

Gustl Dillmann, der Blockälteste, sah mich an, zuckte die Achseln und meinte:

„Man kann nie wissen. Aber wir haben ihn schon zweimal ins Revier gebracht, es fehlt ihm nichts, er markiert bloß, sagen sie, er will sich drücken.“

Da kam schon der Blockführer:

„Was ist da los?“

Er stieß den Liegenden mit dem Fuße an:

„Los, Du Saukopf, steh auf, laß Deine Fisimatenten."

Der am Boden lag ruhig, mit geschlossenen Augen, er rang nach Luft. Da brüllte der Blockführer:

„Los! Steh auf. Du Sau!"

Lind er trat ihn mit dem Stiefel in die Seite.

Das Gesicht des bleichen Mannes verzerrte, seine Hände verkrampften sich. Aber er stand nicht auf. Seine Hände lösten sich, wurden ganz schlaff, der Kopf fiel zur Seite. Der Blockführer berührte ihn mit der Stiefelspitze, hob das Gesicht etwas hoch. Die Augen waren halb geöffnet.

„Schafft ihn halt ins Revier, die werden schon mit ihm fertig werden. Wenn ihm aber nichts fehlt, dann kriegt der Sauhund eine Meldung und fünfundzwanzig auf den Arsch. Soll sie halt verrecken, die Sau!“

Dann ging er, und der Blockälteste rief sein Kommando. Alles stand wie aus Stein gehauen. Der SS-Mann zählte ab.

Als er fort war und das Kommando „Rührt Euch" gegeben war, sagte Harry:

„So ein Hund, so eine Kanaille, so ein Komödiant! Das hätte er mal in Flossenbürg machen sollen. Da liegt er jetzt und lacht sich heimlich ins Fäustchen, daß er doch gesiegt hat. Na, der soll sein Wunder erleben, ich werde ihn selber ins Revier bringen und sagen, daß sie ihn gleich unter die kalte Dusche stecken, so wie er ist."

Der am Boden aber lag da, gab keinen Laut von sich.

Toni kam zu mir:

„Du, Kupfer, heute brauchst Du nicht zur Plantage. Ich habe was für Dich, ein gutes Kommando, „WB", Du kannst Dich freuen, wir müssen aber vorher noch Deine Kleider auf der Kammer tauschen. In den Klamotten kannst Du unmöglich gehen. Na, das werden wir schon machen.“

Lind er klopfte mir freundlich auf die Schulter:

„Also, wenn der Appell vorüber ist, bleib hier bei mir stehen, wir gehen dann gleich in die Kammer zusammen. Und den jungen Kerl da nehmen wir mit ins Revier.“

Dabei deutet er auf den Liegenden.

Harry hatte alles gehört:

„Was sagst Du, „WB“ was soll er denn da tun?"

Toni zuckte die Schultern:

„Ich weiß noch nicht recht, als Schreiber, glaube ich."

Und er wandte sich an mich:

„Du kannst doch Schreibmaschine schreiben?"

„Ja", sagte ich.

Harry war erbost:

„So, drei Tage ist der jetzt im Lager und kriegt so einen Posten zugeschanzt, zu dem man sonst mindestens drei Jahre im Lager sein mußte, um ihn zu bekommen. Und heute noch laufen viele herum, die fünf Jahre im Lager sind und allen Dreck mitgemacht haben, und schieben Schubkarren und haben keine Schreiberposten."

Toni sah etwas betreten drein:'

„Aber alle eignen sich doch nicht zum Schreiber. Und die, die schon so lange im Lager sind, wissen Bescheid und können sich selber helfen. Und traurig genug, wenn sie nach so langer Zeit noch kein Kommando haben, das gut ist. Wenn einer ein anständiger Kerl ist, so hat er auch Kameraden im Laufe der Zeit gefunden, die ihm weiterhelfen.''

Harrys Augen wurden noch grüner:

„Diese Herren wissen überhaupt nicht mehr, was Lager ist, sowieso ist Dachau ein Sanatorium geworden. Ich versteh Euch nicht. Was würde es dem da schaden, wenn er erst einmal, wie wir alle, eine Weile im Laufschritt Schubkarren schieben würde?“

Toni beruhigte:

„Aber so sei doch froh, Harry, daß sich die Zeiten geändert haben, daß es die Neuen nicht mehr so schlimm haben wie wir.“

Das Kommando: „Mützen ab!“ ertönte. Das Flüstern verstummte. Dann hieß es:

„Arbeitskommandos formieren!“

Alles löste sich auf, durcheinanderrennend, wie immer.

Wir traten zu dem am Boden Liegenden. Harry stieß ihn mit dem Fuße an.

„Steh schon auf!" schrie Harry. „Meinst Du wohl, wir wollen Dich auch noch spazieren tragen! Hast ja erreicht was Du wolltest, der Appell ist vorbei, brauchst heute nicht ausrücken. Aber jetzt geht’s ins Revier, los!"

Toni drängte ihn weg:

„Laß mich mal sehen."

Er beugte sich über den Simulanten, sah ihm ins Gesicht, faßte den Arm, fühlte den Puls. Dann drehte er das Gesicht zu sich her und öffnete ein wenig das Augenlid. Der Kopf fiel wieder zur Seite. Gustl Dillmann, der Blöckälteste, war zu uns getreten.

„Na, was ist mit ihm, will er nicht dufstehen?"

Toni richtete sich auf.

Harry sagte:

„Keine Umstände, ich werd ihm schon Beine machen.“

Der Blockälteste hörte nicht auf ihn. Er sah Toni an:

„Na, was ist?“

„Er ist tot.“

Toni war sehr einsilbig an diesem Morgen, als wir zur Kammer gingen, meine Kleider zu tauschen. Endlich sagte er:

„Man weiß doch nie, wie sehr man einem Menschen unrecht tun kann. Ich habe auch geglaubt, daß er simuliert.“

Wir gingen auf die Kammer und traten in einen großen Raum, in dessen Hintergrund Regale waren. Ich mußte mich ausziehen und bekam einen tadellosen Anzug und einen Mantel. Die alten Kleider gab ich ab.

Es war wie in einem Kleidergeschäft, alles lag nach Größen geordnet in den Regalen.

Als wir die „Kammer" verließen, hatte ich alles neu, sogar eine neue runde Mütze.

Ich schaute um mich. Auf dem Appellplatz ging eine Kolonne von etwa fünfunddreißig Mann, sie'trugen einen langen Schlauch, der an einem Hydranten angeschlossen war. Dieser Schlauch hatte eine gelöcherte Röhre als Schlußstück, und mit ihr besprengte sie den Appell-platz. Ich fragte Toni:

„Warum macht man das so? Warum nimmt man nicht einen Spritzwagen?“ Toni schüttelte den Kopf:

„Weil es zu vernünftig wäre. Menschen gibt es hier im Überfluß. Also nimmt man dreißig oder fünfzig. Sie müssen dann den ganzen Tag langsam herumgehen und den Schlauch halten und sind der brennenden Sonne ausgesetzt. Im Winter, an den Sonntag-Vormittagen, wenn es geschneit hat und wir frei haben, müssen wir den Schnee wegräumen. Da muß der ganze Schnee, der hier im Lager gefallen ist, auf unseren Tischplatten forttransportiert werden.

Über den Platz lief eilig ein Mann. Er trug eine Binde um den Arm und schien sehr beschäftigt.

Toni war meinen Blicken gefolgt:

„Das ist der Lagerälteste, der Scherer Schorsch."

„Was ist das, Lagerältester?"

„Er ist für alles im Lager verantwortlich, das heißt, die SS macht ihn für alles verantwortlich. Alles, was Du hier siehst, ist von uns Häftlingen aufgebaut worden, die ganze Organisation, das ganze System der Blocks, des Personals, wie Stubenältesten, Blockältesten. Früher standen hier nur alte Wellblechbaracken, in die es hereinregnete. Ordnung herrschte nicht. Es ist eine Riesenarbeit die 12 OOO Menschen hier richtig nach Namen und Nummer zu erfassen, genau zu wissen, wo jeder arbeitet, auf welchem Block, auf welcher Stube er ist, wann er geboren ist, was von Beruf. Stell Dir vor, wie viele täglich sterben, wie viele in ein anderes Lager auf Transport gehen, wie viele täglich neu ankommen. Und all das und noch mehr ist ganz genau erfaßt, so genau, daß, wenn beim Appell einer fehlt, man in ganz kurzer Zeit sagen kann, wer es ist, wo er arbeitet, auf welchem Block er lebt und was sonst seine Personalien sind. Der Appell muß stets haargenau stimmen, haargenau, auf den Mann. Und wenn es nicht stimmt, so stehen wir stundenlang auf dem Appellplatz, dürfen uns nicht fortbewegen.

Aber der Scherer Schorsch, der für das alles verantwortlich ist, für tausend Dinge, der ist ein feiner Kerl. Und stell’ Dir vor, er ist Dachauer, nur wenige Meter von hier ist er zu Hause.“

Ich habe Glück Wir waren an der Schreibstube angelangt. Als wir in die Baracke eintraten, wurde Toni freundlichst begrüßt:

„Ah, Toni, Du bringst den Neuen, der in die „WB“ als Schreiber gehen soll. Gut, gut, er soll heute, nach dem Antreten vielleicht, auf mich warten, oder besser noch, er soll gleich in die Schreibstube kommen, ich nehme ihn dann mit.“

Der es sagte, war ein junger Mensch, der mir schon aufgefallen war, der Meiler Hans.

Er sah auf die Uhr:

„Oder weißt Du was? Ich kann ihn auch gleich selber hinüberbringen, es ist noch Zeit, und ich habe drüben sowieso gerade was zu erledigen.“

Dann fragte er mich:

„Also, Du bist perfekter Maschinenschreiber und Stenotypist?“

Ich war wie aus allen Wolken gefallen:

„Nein“ sagte ich, „ich schreibe wohl etwas Maschine.“

„Schnell?“ unterbrach er mich.

„Ziemlich.“

„Gut, was willst Du mehr?“

„Aber ich stenografiere gar nicht.“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung:

„Ach was, das brauchen die auch nicht. Die Hauptsache, Du kannst schreiben, und wenn Dich einer fragt, so bist Du eben ein perfekter Schreiber, verstanden?“

„Aber ..." „Ach Quatsch, kein Aber. Es wird schon gehen. Komm.“

Meiler Hans machte unheimlich schnelle, große Schritte. Ich kam kaum mit. Bald hatten wir den Platz überschritten und waren vorn am Tor.

„Mütze herunter, Haltung annehmen.“ Flüsterte er mir zu.

Dann ging er ans Gitter, die Mütze in der Hand, stand stramm und rief.

„Zwei Häftlinge bitten gehorsamst, in die Wirtschaftsbetriebe geführt zu werden.“

Im Fenster des Wachlokals wurde ein Kopf sichtbar, ein paar böse Augen schielten nach uns:

„Ach, der Meiler Hans, was willst Du denn?"

„Ich muß hier den Schreiber in die „WB" bringen und sonst noch etwas regeln. Die in der „WB" brauchen ihn dringend, deshalb kann er nicht bis nach dem Appell warten."

„Gut," hieß es. Dann rief er in die Stube hinter sich: „Ein Mann ans Tor!" Zugleich drückte er auf einen Knopf. Die eingeschnittene kleine Türe in dem großen schweren Eisengitter surrte. Meiler Hans drückte dagegen, sie öffnete sich, ihre schöne Inschrift drehte sich mit der Türe in den Angeln:

ARBEIT MACHT FREI !

AIs wir durch die Pforte traten, kam zu gleicher Zeit von der anderen Seite ein SS-Mann.

„Los“, sagte er.

Er trug kein Gewehr, hatte nur den Revolver umgeschnallt.

Wir gingen.

Meiler neben mir sagte:

„Es sind nur wenige Schritte. Gleich da drüben. Es ist außerhalb des elektrischen Zaunes, aber noch innerhalb des Lagerbereichs, sogar innerhalb des zweiten Zaunes. Du mußt keine Angst haben. Die Kameraden, dort wo Du jetzt hinkommst, werden Dir schon helfen, daß alles klappt. Hast Schwein, daß Du so einen guten Posten gleich so am Anfang kriegst. Hoffentlich kannst Du auf dem Platze bleiben.“ Wir gingen unter Pappeln entlang. Links lagen die schönen Anlagen in ihrem Blumenflor, die den Eingang zum inneren Tor des Lagers schmückten. Rechts floß das kleine Wasser. Dann begannen zur Linken niedere, weißgetünchte Gebäude. Es sah aus wie eine Fabrik Würde das mein neues Tätigkeitsfeld sein?

Wir traten durch ein Stacheldrahttor, das von einem SS-Mann bewacht war, kamen auf einen kleinen Fabrikhof, gingen durch eine kleine Türe und durch verschiedene Räume und Hallen, in denen Häftlinge arbeiteten. Maschinen summten. Überall sah ich Holz, Holz und nichts als Holz. Ich fragte meinen Begleiter:

„Was heißt eigentlich , WB'?“

„Wirtschafts-Betriebe. Sie fertigen hier alles mögliche an, Betten und Schränke, Särge und Stühle.“

Hobelmaschinen surrten, geschäftige Häftlinge rannten herum. Da und dort sah ich einen Zivilarbeiter mit langen Haaren und weißer Armbinde, dann wieder einen SS-Mann in Uniform, den Revolver umgeschnallt, die Hand an dem Koppel.

Wir gingen zur einer Glastüre, neben der ein Schalter war. Ich las darüber das Wort: Magazin.

Als wir die Türe hinter uns geschlossen hatten, drang der Lärm der Fabrikation nur noch gedämpft herein. Es war ein sehr großer Raum, der von oben sein Licht erhielt. Etwa zwölf Menschen arbeiteten darin. Riesige Regale standen an den Wänden, voll mit allen möglichen Geräten, Hobeln, Äxten, Hämmern, Stemmeisen. Es war alles in reich-liehen Masse vorhanden, was zum Handwerkszeug eines Schreiners gehört. Auch sonst schien alles vertreten zu sein: Beschläge, Schrauben, Schlösser, Scharniere, Draht.

In einem Winkel waren einige Schreibtische zusammengestellt, und ich erblickte eine Schreibmaschine. Wie steuerten auf diesen Platz der Schreibtische zu. Ich fühlte, wie alle Augen auf uns blickten.

„He, Kipfmüller! Hier bring ich Dir Deinen Neuen für die Schreibmaschine.“ Ein kleiner, rötlich-blonder Häftling sprang von einem der Schreibtische auf. ’Er hatte heftige Bewegungen und sprach schnell und viel.

Kipfmüller war der Chef des Ganzen und mochte etwa dreißig Jahre alt sein.

„Also, Du bist der Neue? Maschine kannst Du ja schreiben, nicht wahr? Da ist die Maschine, aber im Augenblick wird sie gebraucht. Na, vorderhand kannst Du ja mal unserem Magazineur etwas helfen. Es wird Dir schon bei uns gefallen. Schau Dich halt ein wenig um, Arbeit gibt's immer."

Ich schaute mich um, alle betrachteten mich neugierig, aber freundlich. Ein junger Mann mit intelligentem Gesicht ergriff als erster das Wort:

„Ein fideles Gefängnis, was? Na, aber für Lagerverhältnisse ein sehr sicheres und behagliches, das wirst Du auch noch herausfinden. Übrigens, ich heiße Steidle, Ottmar, und ich hoffe, wir werden uns vertragen.“

Er stand dabei auf, ganz wie ein wohlerzogener Mensch und reichte mir die Hand. Ich nannte ihm meinen Namen. Einer der anderen kam und streckte mir seine Hand hin:

„Und ich heiße Opel, brauchst aber bloß Willi zu mir sagen.“

Ich schlug gern in die so offen und freundlich dargebotene Hand ein.

„Wie ist denn Dein Name?"

„Ich heiße Edgar.“

„Wenn Du mal was brauchst, dann sagst Du es halt. Im KZ muß man einander helfen.“

Er trollte sich in seinem Winkel.

Die übrigen Mitglieder des Magazins waren zurückhaltender, bis aufeinen Polen. Er schlug sich auf die Schenkel, daß es nur so knallte:

„Da muß ich mich doch auch vorstellen!“

„Ich heiße Chmielnick und bin Eisenhändler von Beruf und jetzt Schutzhäftling, verflucht noch einmal. Ja, jetzt Schutzhäftling. Manchmal will mir das gar nicht recht in den Kopf, aber, verflucht nochmal, es ist eben so. Ich bin Schutzhäftling wie Du auch und dazu Herrscher aller Beschläge. Hier ist mein Reich, und diese Leiter ist mein Thron.“

Dabei machte er eine große Bewegung. „Aber, verflucht noch einmal, jetzt muß ich weiterzählen, meine Schlösser: . linksschließend, mit zweifachen Nutenbart'. Ja, so heißen die. Ja, so ist das Leben. Und draußen, .. . aber reden wir nicht davon.“

Lind er begann wieder auf seine Leiter zu klettern, dann einen Stoß Schlösser auf den Tisch zu werfen und sie zu zählen, ganz als hätte er nie mit mir gesprochen.

Der Vormittag verging für mich wie im Fluge. Ich wurde durch den Betrieb geführt. Man gab mir einen provisorischen Platz.

Unter den Eindrücken meiner neuen Umgebung war mir die Zeit im Magazin schnell vergangen. Plötzlich sah ich, daß sich verstohlen alle zum Aufbruch bereit machten. Der eine putzte heimlich die Schuhe, der andere legte seine Mütze und Jacke zurecht, die Wasserleitung war belegt, alles wusch sich die Hände. Und da kamen auch schon Menschen, die ich vorher nicht gesehen hatte. Ottmar, der junge Mediziner, belehrte mich, sie kämen aus dem Keller, wo ein Teil des Magazins untergebracht sei, Farben und Öle, sowie das Elektromaterial.

Vor allem fiel mir ein Mann auf. Bei jeder Bewegung, die er tat. sah man, daß er sich draußen nur in bester Gesellschaft bewegt haben mußte. So etwas ist angeboren. Es ist wie mit einem Rennpferde, man mag es vor die elendeste Mühlfuhre spannen, ihm das erbärmlichste Geschirr umlegen, durch die Bewegung, ja, schon durch sein Aussehen wird es seine hochgezüchtete Rasse verraten.

Er stellte sich mir vor.

„Boris Fulda."

Wir wechselten einige freundliche Worte.

Als er sich einen Augenblick entfernte, kam einer der anderen und flüsterte mir zu:

„Vorsicht mit dem, der ist nicht echt, vor dem kann man nichts reden, wahrscheinlich ein Spitzel.“

Ein schrilles Glockenzeichen ertönte. Es war das Signal, die Arbeit niederzulegen, erst beim zweiten Zeichen durfte man gehen. Jeder zog sich nun aus, bürstete sich. Es war Arbeitsschluß. Beim zweiten Glocken-signal verließen wir den Raum.

Wir gingen durch die stilliegenden Maschinensäle. Der Lärm hatte aufgehört.

Alles drängte in den kleinen Hof hinaus. Dort standen schon Hunderte, in Reih und Glied. Fünferreihen natürlich, wie sich das gehört.

Capos liefen auf und ab, gaben das Stichwort für das zu singende Lied, schreien:

„Lore, Lore, Lore, Lore, schöne Mädchen gibt es überall!“

Wir sangen aus Leibeskräften, marschierten die Fabrikanlage entlang, links war das Gitter, wir sahen den Appellhof und die dort marschierenden heimkehrenden Gruppen.

Wir näherten uns dem Tore. Das Kommando „Mützen ab" ertönte.

„Vorsicht", sagte Ottmar leise, „gut durchs Tor marschieren, dort passen sie immer besonders auf. Gib acht, daß Du nicht auffällst.“

Ich hörte, wie von vorn der Capo am Schalterfenster des breiten Tores meldete:

„WB 780 Häftlinge von der Arbeit zurück ins Lager.“

Erst nachdem der letzte Häftling das Tor passiert hatte, und wir in einiger Entfernung waren, kam das Kommando:

„Mützen auf!"

Wir marschierten singend weiter:

„Lore, Lore, Lore, Lore, ..."

Andere Gruppen marschierten vor uns.

Bis in die Lagerstraße marschierten wir gemeinsam, dann kam das Kommando:

„Wegtreten!“

Wir lösten uns auf. Ottmar und Boris verabschiedeten sich von mir.

„Bis heute Nachmittag!"

Auf Wiedersehen!"

Mein Block war gleich einer der ersten links. Auf der Blockstraße traf ich Schrödter. Er winkte mir freundlich zu: „Schau, schon ein Kommando?"

Und er gab mir die Hand, warm und herzlich.

Ich trat in den Vorraum, zog meine Schuhe aus und stellte sie zu den anderen, die in vielen Reihen den Boden des Vorraumes schmückten. Dann trat ich ein.

Das gewohnte Bild: Eine Reihe Häftlinge mit Schüsseln und Tellern, vor ihnen zwei dampfende Kessel mit Essen und Kartoffeln. Toni gab Kartoffeln auf die Teller, Gustel, der Blockälteste, schöpfte das Essen aus. Einige saßen schon an den Tischen.

Ich war flink am Schrank, hing meine Jacke und Mütze hinein, dann nahm ich mein Geschirr und stellte mich an.

Als ich zu Tisch kam, saßen schon alle.

Briefe wurden verteilt.

Manche trüben Züge hellten sich auf und begannen zu leuchten. Es war das erste Mal, daß ich etwas wie Freude im Gesicht von Kameraden sah.

Wie sie nach den Briefen griffen! Und die Gesichter, als sie zu lesen begannen! Das Essen war vergessen.

Sonst ging alles wie immer: kaum gegessen, mußte schon wieder gereinigt werden.

Ich ging ein wenig auf und ab. Nirgends ein Platz, ein Fleckchen, um sich zu setzen. Überall Häftlinge in gestreiften Anzügen, stehend und gehend, rauchend, allein oder zu mehreren. Überall Häftlinge, Tausende.

Ich stand hinter der Baracke und schaute hinaus auf den massiven, hohen Wachtturm. Zwei SS-Männer in Stahlhelm standen dort hinter den Scheiben. Drohend sah der Lauf eines großen Maschinengewehres durch die Öffnung.

Jemand von meiner Stube gesellte sich zu mir:

„Ja, da staunst Du, gelt? Und die Hunde schießen, die spaßen nicht. Einmal haben sie geschossen, als zwei im Scherz gerauft haben. Einer von den beiden war gleich tot. Daß man mit so ein paar Männern und dem Draht 12 OOO Mann gefangen halten kann? Aber es ist Wahnsinn, zu fliehen, selbst wenn es gelingen würde. Sie bringen ja doch alle zurück."

Der Bär brummte.

Ich bin leichtfertig Wieder die Fünferreihen, wieder ein Lied, wieder der Marsch auf den Appellplatz, wieder das Stillstehen, wieder das Durcheinanderrennen. Ich mußte die Stelle finden, wo die „WB" antrat.

Ich erkannte einige Gesichter wieder, dort war auch Ottmar.

Gegenüber von uns, an der anderen Seite des Tores standen einige Häftlinge. Einer von ihnen hatte eine riesige Mohrrübe im Munde stecken.

Ottmar stieß mich an:

„Siehst Du? Lauter Verbrecher. Wer auf irgendeiner Untat ertappt wird, muß am Tore stehen. Der da hat wohl Hunger gehabt und eine gelbe Rübe gestohlen.“

Jedes Mal, wenn irgendein SS-Mann vobeikam, mußten sie strammstehen. Die Mütze hatten sie in der Hand.

Ich fragte Ottmar leise:

„Was geschieht mit ihnen?"

„Sie warten da, stundenlang natürlich, bis sie zur Vernehmung gerufen werden, ob es schneit, ob es regnet oder die Sonne brennt, das ist ganz gleich."

Das Kommando zum Abmarsch kam. Wir marschierten durch das Tor, die Pappeln entlang. Im Fabrikhof löste sich der Zug wieder auf. Wir gingen an unsere Arbeitsplätze.

Der Nachmittag verfloß schon langsamer. Was ich zu schreiben hatte, waren Listen, dicke, unendlich dicke, nie endenwollende Inventurlisten mit mir seltsam erscheinenden Fachnamen und Zahlen, nichts als Zahlen.

Lange währte dieser Nachmittag, schier endlos.

Tipp, tipp, tapp, machte ich auf der Schreibmaschine, Stunden und und wieder Stunden, sie schienen aus Gummi zu sein, so dehnten sie sich. Aber dann ertönte doch das Glockenzeichen. Endlich erlöst! Nur der Appell lag vor uns. Aber eines war wenigstens gut, es regnete nicht.

Dann war wieder alles wie am Mittag, Antreten, Abzählen, Marschieren, Singen, das Gehen durch das Tor und dann Auflösen und das Antreten beim Block.

Hölderlin: Über die Deutschen Appell ...

Ich stand wieder hinten. Jemand neben mir erzählte von dem ehemaligen österreichischen KZ Wöhlersdorf. Es klang wie ein Märchen. Die Häftlinge brauchten nichts zu arbeiten, bekamen von überall unheimlich viel Pakete geschickt, etwas, was in Dachau ganz undenkbar war, hatten ihren Tennisplatz, konnten sich etwas kochen, kein Mensch tat ihnen ein Leid. Sie schimpften weidlich, fühlten sich als Märtyrer und wurden auch von denen draußen so empfunden ... Als das Lager dann aufgelöst wurde, steckte man die Baracken in Brand. Ein solches Denkmal der Kulturschande sollte nicht weiter bestehen.

Der, welcher das alles erzählte, ein Österreicher, wies auf einen Mann, der bei einem anderen Block stand:

„Da kannst Du ihn sehen, da steht der ehemalige Kommandant von Wöhlersdorf, der ist jetzt auch hier, als einfacher Schutzhäftling, der Freiherr von Stilfried, aber ein anständiger Kerl. Einmal, als er einem Besuch vorgestellt wurde, wurde er gefragt: ‘na, wo war es besser? Hier oder in Wöhlersdorf?'Er antwortete prompt: In Wöhlersdorf.'Dafür hat er dann nachher, als der Besuch fort war, gleich seine fünfundzwanzig auf den Arsch gekriegt. Manche sagen sogar, er hat mehr gekriegt, aber ich war nicht dabei. Zu Anfang, als er hier ins Lager kam, wollten sie ihn fertigmachen. Aber der Stilfried, der ließ sich nicht fertigmachen. Was haben sie dem schon alles für Kommandos gegeben, aber der ist zäh. Polizeimajor war sein Rang, er ist noch gar nicht so alt, vierzig mag er heute sein.“

Unwillkürlich blickte ich hinüber. Ich sah einen schlanken Mann von sportlicher Erscheinung. Er fiel unter den anderen nicht auf. Was für Existenzen mochten hier unter all diesen Menschen sein.

Am Abend hatte ich Gelegenheit, die Kantinenverteilung zu sehen. An einem der Tische saß der Kantineur. Er war nach dem Abendbrot gekommen, gerade als Toni die neuen Socken ausgeben wollte und hatte eine Liste der Kontoinhaber vor sich liegen und allerei Herrlichkeiten: Seifenpulver und Zigaretten, Gläser mit Joghurt, Marmelade, Nagel-scheren, Schnupftabak, Briefpapier, ja sogar einige Tüten mit Haferflocken. Toni rief energisch zum Sockentausch.

Ich brachte es fertig, noch eine Viertelstunde für mich frei zu haben. Welch ein Genuß. Wie gerne hätte ich jetzt eine Zigarette geraucht oder eine Pfeife. Ich begriff, wie bitter es für die sein mußte, die kein Konto besaßen, wenn sie zusehen mußten, wie die anderen schlemmten, rauchten und es sich gutgehen ließen.

Ich schlenderte auf und ab.

Karl kam mir entgegen:

„Weißt Du, ich hab so einen Zorn. S’ ist aber auch wahr, da haben die einen alles und die anderen nichts und die, die was haben, geben nichts her, kein bißdien, oder sie wollen, daß man ihnen denDackel macht, ihnen die Schuhe putzt, das Geschirr wäscht, das Bett baut, oder sowas, nur weil sie's haben und die anderen nicht. Und da meinen sie, sie könnten hier auch noch die großen Herren spielen, wie draußen. . Kamerad', . Kamerad', mir wird schon ganz schlecht, wenn ich das Wort nur höre. Mußt Dich nicht beleidigt fühlen, weißt Du, ich mein nicht Dich, Du hast ja auch selber nichts. Aber weißt Du, wenn man solange eingesperrt ist und sieht, wie die Leute sind, so neidisch, und so selbstsüchtig, s'ist grad zum Kotzen. Und das wollen Politische sein! Aber mich können sie alle. Wenn ich nur wüßt, wo ich jetzt Zigaretten herkriegen könnt. Neben einem fressen sie fünf Gläser Joghurt und schmieren sich die Marmelade fingerdick aufs Brot, und man sitzt da, immer daneben und darf bloß zugucken. Wenn man da keinen Zorn kriegen soll! Egoisten sind das in meinen Augen, was verstehen denn die davon, wie's einem Proletarierums Herz ist. Für was die bloß eingesperrt sind?"

Es gab im Lager „Geldempfänger" und „Nicht-Geldempfänger", „Kameraden", welche Geld geschickt erhielten und sehr viele, die von zu Hause nichts empfingen, entweder, weil sie keine Angehörigen hatten, die sich um sie kümmerten, oder weil ihre Angehörigen selbst in so großer Armut lebten, daß sie von ihnen nichts geschickt haben wollten. Der größte Teil der „Geldempfänger" behielt alles für sich, verbrauchte das empfangene Geld, ohne den anderen Kameraden davon zu geben, einige rühmliche Ausnahmen abgerechnet. Aber es gab „Kameraden", die ihrem ärmeren Spindgenossen den Vorschlag machten, daß sie für ihn in der Kantine dies oder das mit kaufen würden, wenn er ihnen dafür täglich ihr Bett „baue" oder ihre Schuhe oder den Spind putze oder das Geschirr für sie spüle. Sie ließen sich von ihren Kameraden bedienen, für das wenige Geld was sie ihnen gaben, für die 5 oder 10 Mark im Monat.

Ein Kamerad kam vorbei, sah Karl bei mir stehen:

„Na, Karl, wie geht’s? Willst Du eine rauchen?"

Und er hielt ihm eine Zigarettenschachtel hin. Karl strahlte über das ganze Gesicht und nahm sich eine Zigarette:

„Dank Dir schön", sagte er. Und dann, zu mir gewandt: „Siehst Du, Edgar, es gibt halt doch noch anständige Kerle. Servus Edgar.“

Und er trollte mit dem anderen davon.

Lange war ich nicht allein. Schrödter hatte mich unter den vielen anderen erspäht. Er ging gerade vorbei, ein Buch in der Hand.

„Feierabend?" fragte er.

Noch bevor ich ihm antworten konnte, blieben meine Augen an einem Menschen haften, der mit wachsfahlem Gesichte unweit vorbeiging. Er schwankte, machte noch einen Schritt, taumelte und stürzte, stürzte mitten auf eine der Rasenflächen vor der Stirnwand eines Blockes und lag stöhnend und zuckend vor dem Blumenbeet.

Noch hielt ich Schrödters Hand. Ich ließ sie los:

„Dort, der Mann, man muß ihm helfen!“

Schrödter hielt mich am Arm fest:

„Was willst Du tun? Laß ihn liegen, es ist ein Sterbender, störe ihn nicht, Du kannst ihm ja doch nicht helfen."

Ich sah ihn verständnislos an:

„Wieso können wir ihm nicht helfen? Wir können ihn aufheben, forttragen, ihn fragen, was ihm fehlt, ihn vielleicht ins Revier bringen. Das ist doch unsere Menschenpflicht. Vielleicht hat er auch noch einen letzten Wunsch."

Schrödter lächelte nachsichtig.

„Rege Dich nicht auf, er ist schon gar nicht mehr bei Bewußtsein, wir kennen das. Aber wenn Du auch wolltest, Du darfst nicht hingehen, Du darfst ihn nicht anfassen, ihn wegtragen, ihm helfen, --------es ist —-----verboten. Machst Du es dennoch, erhältst Du nur eine Meldung und statt etwas gut zu machen, kann es Dir geschehen, daß Du Zeuge wirst, wie man ihn tritt und schlägt, damit er aufstehen soll. Läßt Du ihn aber ruhig liegen und kümmerst Dich nicht darum, kann es sein, daß sie ihn nicht gleich sehen und ihn also ruhig liegen lassen, so kann er dann in Frieden sterben. Ich rate Dir gut, gehe nicht hin, Du nützt ihm nicht. Du schadest ihm eher, und Dich selbst bringst Du unnötig in Gefahr. Schau weg, ich sage Dir: schau weg, wenn Du einen sterben siehst, schau weg. Helfen kannst Du keinem der hier zu sterben beginnt und so ist es besser für Dich, und für ihn, Du siehst es nicht. Komm!“

Er faßte mich fester am Arm, drehte mich herum und schritt mit mir in die entgegengesetzte Richtung.

„Bitte, sieh Dich nicht um. Wenn Du nicht gleich und schnell vergessen lernst, kannst Du das Lager nicht überleben, dann mußt Du zugrundegehen, dann frißt Didi das Geschehen um Dich her auf, Du mußt verrückt werden oder tiefsinnig.“

Ich wies auf das Buch in seiner Hand.

„Was hast Du da für ein Buch?“

„Es ist Hölderlin, der Hyperion."

Er blätterte in dem Buche:

„Es ist gut, daß wir jetzt eine Lagerbücherei haben. Es sind doch manche guten Bücher darunter."

„Wieso, ist es denn eigentlich gestattet?"

„Alles Reklame. Eine Revision, das heißt, ein . Besuch’ kommt, man zeigt die Lagerbibliothek: . Bitte, hier die Bibliothek der Häftlinge, viele tausend Bände, drei Bibliothekare, Sie sehen, den Häftlingen fehlt nichts. Wir tun, was wir können, zuviel vielleicht. ’ So ungefähr wird es vorgeführt. Und außerdem: Häftlinge, die lesen, sind wie Kinder, die man irgendwie beschäftigt, sie stellen in der Zeit sonst nichts an. Aber hier lies."

Ich nahm und las die Stelle, die mir sein Finger wies: „So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Ödipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing und schöne Seelen ihm begegneten.

Wie anders ging es mir/Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft noch barbarischer geworden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes das, mein Bellarmin, waren meine Tröster.

Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen. Handwerker, siehst Du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen, ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande verrinnt?

Es ist auf Erden alles unvollkommen, es ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlassenen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unver-. dorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit ihren plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihens, die göttliche Natur, nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähen, der Kraft und Adel in ein menschliches Tun und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.

Wehe dem Fremden, der aus Liebe wandert und zu solchem Volke kommt, und dreifach wehe dem, der so wie ich, von großem Schmerz getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kommt! Genug! Du kennst mich, wirst es gut aufnehmen. Ich sprach in Deinem Vamen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind und bleiben, die wie ich dort gelitten.“

Hyperion, von Friedrich Hölderlin — Seite 181.

Ich klappte das Buch-zu. Es war mehr als zuviel, was ich gelesen hatte.

Ich gab Schrödter das Buch zurück. Er nickte:

„Es ist so geblieben, wie es war, die Deutschen haben in diesen fast hundert Jahren nichts dazugelernt, eher könnte man sagen, es sei schlimmer geworden.“

„Glaubst Du denn wirklich, daß er recht hat? Gibt es nicht auch andere Deutsche und ein anderes Deutschland?"

Der Bär brummte, unsere Zeit war abgelaufen, wir gaben uns die Hand.

Unsere Zivilisation ist groß, unstreitbar, aber unsere Kultur ...?

Im Schlafraum ging es laut zu, gescherzt wurde und gelacht.

Waren wir wirklich alle Barbaren?

Goldene Zeit

Ottmar erzählt Die Tage vergingen nun ziemlich gleichmäßig.

Ich lebte dahin in meinem Kommando, von dem man mir gesagt hatte, es bedeute fast eine Lebensversicherung. Selbst die Erinnerung an den Regentag auf der Plantage begann zu verblassen. Ich saß in einem angenehmen Raum, unter Dach und Fach.

Ottmar der Mediziner erzählte mir seine Geschichte.

Er sprach von dem einzigen Menschen, den er noch hatte, von seiner Mutter Ich sah diese Frau vor mir, die für Mann und Sohn bangte, weil beide sich politisch betätigten. Ihr Mann war der Heimwehrführer Steidle. Ich sah sie. wie sie traurig zu beiden sagte: „Laßt die unselige Politik es bringt uns allen doch nur Unglück, schon jetzt hat sie euch mir entfremdet." Und dann die Verhaftung. Vater und Sohn kamen ins Lager, nach Buchenwald. Die beiden hatten ein gutes Kommando. Eines Tages wurde Ottmar gerufen. Er kam nach Dachau.

Drei Wochen war er hier, bis er erfuhr, daß man seinen Vater erschossen hatte Und dann erzählte er vom Bunker, wie er in der finsteren Zelle saß, wie man ihn verhörte, wie man ihm Geständnisse zu erspressen versuchte und wie er eines Tages vor Himmler geführt wurde, den berüchtigten Chef der SS, und wie der sagte, als er ihn von unten bis oben betrachtote .. Also, so sieht der Vogel aus."

Eines seiner Erlebnisse ist mir im Gedächtnis haften geblieben: Eine Auspeitschung. Auch das war im Bunker. Wie sie den Häftling auf den Bock schnallten, ihm die Hosen herunterstreiften, einem Manne, der schwach und krank war, und wie sie erbarmungslos auf das arme Fleisch losschlugen. Die Schreie, die er mit jedem der Doppelschläge ausstieß. Denn sie schlugen, wie immer, zu zweit, von jeder Seite ein SS-Mann. Lind wie die Schreie nach dem achtunddreißigsten Doppelschlag verstummten, wie sie sahen, daß er tot war. und wie sie weiterschlugeh, bis die fünfzig Doppelschläge voll waren, aus Genauigkeit und präziser Diensterfüllung, oder . . . aus Freude am Schlagen?“

Als er es erzählte, war er sehr ernst:

„Ich würde es für Hysterie halten, wenn es ein anderer mir erzählen würde, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Sie sahen, daß er tot war. sie untersuchten ihn darauf hin, aber sie schlugen weiter, schlugen eine Leiche. Aber es wird der Tag kommen, wo all das bezahlt wird, all das Grausame, alle die Qual, an der sie sich weideten, Tag für Tag. Lind dann wird man ihre Frauen und Kinder nicht schonen, nicht das Kind im Mutterleib.“

„Willst Du Didi rächen?"

„Ich werde mich rächen. Ich kann nicht weiter leben, bis ich meinen Vater nicht gerächt habe “

„Und warum sieht man das alles mit an, warum hilft keiner, warum opfert sich keiner, vor allem, wenn man weiß, daß man so oder so sterben muß?"

„Weil es nicht geht. Der eine, der etwas tut, ist erledigt. Tausend Tode bereiten sie ihm, nicht einen Aber die anderen alle, die dabei sind, müßten mitleiden. Sie würden unglaubliche Folgen auf sich nehmen müssen. Zum Beispiel so eine Nacht lang das ganze Lager auf dem Appellplatz stehen lassen oder sonst die Leute schinden und bei der Arbeit tothetzen, nicht einzelne, wie das täglich geschieht, nein, viele, viele, fünfzig oder hundert Menschen kostet so etwas den sicheren Tod. vielleicht auch ein paar hundert. Warum also? Vielleicht unterbleibt es auch aus Trägheit. Ich weiß, daß man einmal Franzosen etwas vom KZ erzählte. Man erzählte ihnen die Geschichte eines Häftlings, der in einer Hundehütte schlafen mußte, an eine Kette gebunden, wie ein Hund. Man zwang ihn, auf allen Vieren zu kriechen und, sowie einer von der SS kam, herauszukriechen und zu bellen. Die Franzosen fragten:

Lind der Mann? Tat er es? ’ Siehst Du, das ist die Frage: tat er es? Warum tat er es? Aus Feigheit natürlich. Jeder sucht sein Leben zu retten. Morgen vielleicht, . .. Morgen .. . wer weiß, . . . und so sterben sie dahin und werden erschlagen und zu Tode geschunden, bis sie dann keine Kraft mehr haben. Die Helden scheinen rar geworden zu sein.

Zwar, ich habe Menschen gesehen, die die Schaufel wegwarfen, sich eine Zigarette anzündeten und so über die verbotene Linie gingen über die . Postenkette', lachend, die Hände in den Hosentaschen, dann knallte es. Sie lagen da und rührten sich nicht mehr. Nie wurden sie gehindert, das zu tun. Solchen Mut habe ich oft gesehen, aber daß einmal einer vorher einen SS-Mann umgebracht hätte, das sah ich nie.

Einmal, auf dem Abort, — nur eine Stange und dahinter die tiefe Jauche-Grube, — ist mir folgendes passiert:

Ich sitze da, neben mir lauter Juden. Kommt so ein Blockführer und schreit: . Sitzen die Kerle hier und scheißen wie die Reiher!'Lind er stipst einen jeden gegen die Brust, so daß sie alle, einer nach dem anderen hintenüber in die Grube fallen, in den Dreck. Natürlich versanken sie über und über darin. Ab und zu, ist auch einer darin erstickt. Als er zu mir kam, schrie ich: . Halt, bin‘kein Jude!“ Diese Frechheit rettete mich. Er stutzte und stipste meinen Nebenmann hintüber. Mir geschah nichts. Siehst Du, das ist auch Feigheit. Aber ich denke, lieber erkläre ich mich einmal feierlich zum Arier, obwohl das den Juden gegenüber unkameradschaftlich war. Aber so ist der Mensch. Ich will doch leben, ich will die noch überleben, ich will mich doch rächen.“

Auch sonst geschah einiges. Es gab dauernd Krach wegen Fulda. Ich begriff nicht recht warum. Eines Tages wurde er vom Keller abgelöst und kam herauf zu uns. Seine neue Beschäftigung war nun. Schrauben zu zählen, Tausende und aber Tausende, damit die Inventur stimmen würde. Einmal verzählte er sich.

Ottmar sagte zu mir:

„Hast Du gesehen, wie der Kipfmüller tobte? Sie wollen alle den Boris herausekeln. Er ist für sie ein zaristischer Russe. Seine Geschichte kennen sie nicht, sie wissen nur, daß er Weißrusse ist und das ist für sie ein Feind des Kommunismus. Seine Eltern hatten eine große Zeitung in Moskau und waren sehr reich. Ein Teil seiner Vorfahren war aus England gekommen, ganz früher aus Deutschland. Man sagt, sie besaßen ein Vermögen von vielen Millionen. Seine Mutter hatte einen kleinen Teil des väterlichen Erbes in der Schweiz. So konnten sie Ruß-land verlassen und kamen nach Deutschland, ich glaube 1918 oder ! 92O. Er war damals siebzehn Jahre alt, also kein Weißrusse, wie sie denken. Er ist ein sehr gebildeter Mensch, belesen, kultiviert, spricht perfekt englisch, französisch, deutsch, auch etwas italienisch, spanisch und gut schwedisch und polnisch. Sie werden versuchen, ihn zu erledigen. Du wirst es sehen und erleben.“

Lind Ottmar hatte recht. Nach drei Tagen gab es wieder einen fürchterlichen Krach. Kipf tobte, holte den Hauptscharführer, malte in glühenden Farben die schreckliche Schuld des Unglücklichen. Er hatte sich um einige Schrauben verzählt, bei einigen tausend . . . Sofort wurde er „abgestellt", das Dachauer Wort für entlassen. Er mußte noch froh sein, daß er nicht eine Meldung wegen Faulheit erhielt, aber der Hauptscharführer war kein Menschenfresser. 1 Boris war sehr traurig. Er sah elend aus, wie eine verkümmerte Pflanze. Er schien siel, die Ungerechtigkeit der Behandlung sehr zu Herzen zu nehmen Ottmar und ich gaben ihm stumm die Hand. Die anderen betrachteten ihn mit feindlicher Genugtuung: ein geschlagener Feind. Selbst der sonst so nette Willi, der Opel, kam zu mir und sagte:

„Sind wir froh, daß wir ihn los sind. Jetzt kann man wenigstens wieder das Maul aufmachen. Jetzt braucht man sich nicht mehr zu fürchten.“

Von dem Gesichtspunkte Opels aus war es ja ganz verständlich Sie hatten Angst, daß Boris ein Spitzel sein könne, aber da taten sie dem armen Boris bitter unrecht, der war alles andere. Des öfteren hatte ich mit ihm gesprochen, über Dichter und andere Dinge, die uns beide intererssierten. Stets hatte er ein feines, tiefes Verständnis bekundet und ein überaus zartes, empfängliches Gemüt. Was mußte dieser Mensch hier im Lager leiden und gelitten haben! Ich bangte für ihn, Ottmar ebenso. Was würde nun sein Schicksal sein? Wenn er ein schlechtes Kommando bekam, lebte er vielleicht bald nicht mehr.

Ottmar sprach einmal mit mir über die ganze Angelegenheit und berichtete über die Politik im Lager.

„Die Politik ist die eigentliche Religion des Lagers, wie draußen ist sie gespalten, in verschiedene Bekenntnisse, die einander bekämpfen. Dachau ist ein politisches Lager. In Lagern, wo die Grünen und Schwarzen vorherrschen, ist das anders, da kümmert man sich nicht viel um die Politik, mehr um Organisieren und Essen. Aber hier, alles Politik, Politik und wieder Politik. Manchmal hängt es einem schon zum Halse heraus, denn ein jeder spricht klüger als der andere, und jeder weiß alles besser als der andere, die hören förmlich das Gras wachsen. Sie sehen schon alle ihr Bild in Erz gegossen und sich selbst von Ruhmeswolkcn umnebelt als hoher Funktionär oder als Stütze irgend eines Monarchen, ordenbedeckt, es ist zum Lachen Wer nicht ihrer Anschauung ist, ist gegen sie, basta. Die Sozialdemokraten sind verpönt, weil sie „weder, noch" waren. Und was sich hier alles Kommunist schimpft, nur weil es praktisch ist, nur weil man vielleicht Arbeiter ist und so ein besseres Fortkommen innerhalb des Lagers findet. Das hindert sie aber nicht, zuerst an sich selbst zu denken, dem Schwachen in die Fresse zu hauen und die Umwelt zu tyrannisieren, wo sie nur können. Es gibt nur einige Wenige, die abseits stehen, die ihre eigene Meinung haben. Die Hoffnung der Kommunisten im Lager ist Rußland. Das kommunistische Element ist mit unlauteren Elementen durchsetzt, mit Leuten, die vielleicht einmal Flugzettel ausgetragen haben und sich heute als Funktionär ausgeben. Oft sind es sogar ehemalige Nationalsozialisten, die hier im Lager unter falscher Flagge segeln. Du wirst auch Kommunisten treffen, wirkliche Idealisten, die in ihrer Art bewunderungswürdig sind.“

So vergingen die Tage.

Eines Mittags, nach der Arbeit, traten wir wie gewöhnlich an, marschierten durchs Tor, alles wie immer. Kaum aber hatten wir das Tor passiert, so erschien der Rapportführer und gab das Kommando:

„Links schwenken!"

Wir marschierten auf dem Appellplatz auf und mußten halten. Was hatte das zu bedeuten?

Plötzlich waren fünf oder sechs SS-Männer da. Wir mußten alle linksum machen, standen statt in kurzen Fünferreihen, hintereinander in fünf langen Reihen. Wir mußten uns ausrichten, dann trat die erste Reihe vor, etwa drei Schritte.

„Taschen ausleeren!" schrie der Rapportführer.

Ich war in der zweiten Reihe. In der Reihe vor mir kam unruhige Bewegung. Jeder nahm, was er in den Taschen hatte, heraus und legte es in seine Mütze, die wiederum mußte er sich vor die Füße legen. Die Taschen wurden herausgezogen, mit dem Futter nach außen. Ich bemerkte angstvolle Blicke, zittrige Hände. Dazwischen schrie wieder der Rapportführer:

„Wollt ihr machen, ihr Hunde, wird's bald!"

Jemand neben mir flüsterte:

„Ich sehe schwarz. Gerade heute müssen sie filzen."

Die SS-Männer tasteten jeden Mann ab. Keine Stelle blieb unberührt selbst die Nähte, die Zipfel der Jacken, alles wurde abgetastet und befühlt. Die Beine mußten gespreizt, die Arme hochgehoben werden.

Als man vor mir zu filzen begann, gab es gleich Krach:

„Was Du Drecksau, einen Bleistift hast Du einstecken?"

„Brauche ich zur Arbeit, Herr Blockführer.“

„Jetzt ist Freizeit, Saukopf!"

Lind schon schallten zwei Ohrfeigen.

„Vortreten!“

Der Häftling trat einen Schritt vor.

Der SS-Mann ging zum nächsten.

„Leer die Mütze aus!"

Der Häftling tat es. Sein Taschentuch fiel heraus. „Hast Du sonst nichts einstecken?"

„Nein, Herr Blockführer!“

Der SS-Mann begann ihn abzufühlen. An einer der Nähte stutzte er, fühlte wieder, drehte die Naht um und zog einen Zigarettenstummel heraus.

„Willst Du noch einmal lügen, Du Drecksau? He? Rauchen während der Arbeitszeit, was?“

Und er schlug ihm die Faust ins Gesicht, daß das Blut aus der Nase schoß. Dann zog er ein Notizbuch aus der Tasche:

„Name ... Nummer ... Block ... geboren ..

Der Häftling antwortete und wischte sich mit dem Handrücken das Blut ab. Da schlug der SS-Mann ihn wieder ins Gesicht:

„Willst Du stillstehen, wenn ich mit Dir rede!"

„Jawohl, Herr Blockführer!"

„Hau ab!“

Der Häftling trat einen Schritt vor. Der SS-Mann gab ihm einen Tritt. Dann ging er zum nächsten.

Zwei, drei, fertigte er ab, ohne etwas zu finden. Dann aber spürte er etwas im Ärmel eines Häftlings. Ein Stück Draht kam zum Vorschein.

„Was soll der Draht?“

Der Häftling schwieg betreten. Schon knallten zwei Ohrfeigen in sein Gesicht:

„Willst Du reden? He? — Was soll der Draht? Wo hast Du ihn her?“

„Organisiert."

„So organisiert. Wofür?“

Wieder schwieg der Häftling.

„Ob Du redest, Sau, verfluchte?"

Und der SS-Marrn begann ihn zu treten und zu schlagen. Der Rapportführer kam vorbei und sah es. Er fuhr den SS-Mann an:

„Mensch, mach doch nicht solange herum, die anderen sind schon fertig. Schreib die Sau auf. Der wird schon singen, wenn er am Baum hängt."

Seine Personalien wurden ausgeschrieben.

Dann mußte die ganze erste Reihe wieder einige Schritte vortreten. Nun kam die Reihe daran, in der ich stand. Auch wir mußten drei Schritte vortreten, so daß wir frei standen und die Kameraden hinter uns nichts abnehmen konnten. Wieder begann das gleiche Schauspiel.

Durch diese „Filzerei“ verloren wir die Flälfte unserer Mittagspause. Als wir auf den Block kamen, hatten die anderen schon gegessen und spülten ihre Schüssel. Es reichte gerade noch, ein paar Löffel Suppe zu nehmen, Kartoffeln zu schälen war schon unmöglich. Schnell das Geschirr waschen und abtrocknen!

Am Nachmittag, in einem günstigen Augenblick, sprach ich mit Ottmar über die Ereignisse. Ottmar lachte:

„O, das ist gar nichts Besonderes, das kann Dir jeden Tag passieren, daß Du über die Lagerstraße gehst, ein SS-Mann Dich anhält und filzt. Oft weiß man von irgend welchen Organisationen, auf deutsch davon, daß irgendwo etwas geklaut wurde, dann wird einfach ein ganzes Kommando gefilzt. Oft auch ist es so, daß zu wenig „Vernehmungen" sind, das. heißt, zu wenig Verfehlungen gemeldet werden. Dann filzt man wieder, sei es ein Kommando, sei es einen Block Man tut das, um die Lagerdisziplin aufrechtzuerhalten, und . . . aus Sadismus und Haß gegen die Häftlinge. Sie weiden sich an unserer Angst und unserer Qual, und sie können wieder schlagen und hängen, wie sie wollen. Wegen so eines Zigarettenstummels bekommst Du zuerst eine Meldung, dann darfst Du eine bange Zeit verbringen, bis Du „Vernehmung“ hast, und dann mußt Du wieder einige Wochen warten und täglich bangen, was wohl mit Dir geschehen möge, denn bei der Vernehmung fragen sie Dich nichts als: Haben Sie das und das getan?“ Sagst Du ja, heißt es: , Raus! ‘ Sagst Du nein, und es ist ein leichterer Fall, heißt es auch: , Raus! ‘ Aber mit einem Fußtritt. Lind dann eines Tages sagt man Dir, daß Du zum Arzt mußt. Wenn Du dann ins Revier kommst, wirst Du dem SS-Arzt vorgestellt und mußt ihm Deinen Arsch zeigen. Die SS tut nämlich alles nur ganz ordnungsgemäß. Der SS-Arzt sieht also keinen Arsch an, konstatiert, ob er fähig ist, die Fünfundzwanzig auszuhalten und schickt Dich wieder weg. Aber Du brauchst keine Angst zu haben, daß er Dich vielleicht für unfähig erklärt, ihm macht selbst ein Arsch, der nur Haut und Knochen ist, keinen Eindruck, er erklärt ihn trotz allem für fähig, die Fünfundzwanzig zu erhalten, selbst wenn Du als halbe Leiche zu ihm kommst. Dann wartest Du wieder eine Ewigkeit, bis man Dir eines Tages vor dem Appell sagt: „Heute rückst Du nicht aus, heute kriegst Du den Arsch voll“, oder „Heute hast Du Baum.“ Das weiß man erst so im letzten Augenblick.“

„Was wird nun mit dem sein, der den Draht versteckt hatte?“

„Es kann ihm allerhand blühen. Wenn er nicht eine gute Ausrede findet, sehe ich schwarz für ihn.“

„Was werden sie mit ihm machen?“

„Sehr einfach, er wird Vernehmung haben. Fällt das, was er sagt, nicht zu ihrer Zufriedenheit aus, oder denken sie, er könnte noch mehr aussagen, so hängen sie ihn erst einmal an den Baum, bis er „singt". Stell Dir vor, so mit den Armen nach rückwärts gefesselt, wirst Du an den Händen aufgehängt, an Ketten, die um die Handgelenke gehen. Wenn Du einmal ins Bad kommst, wirst Du zwischen den Tragpfeilern die eingezogenen Querbalken sehen, an denen die Ketten befestigt werden. Man kann dort fünfzehn Mann zu gleicher Zeit an den Baum hängen. Stell Dir diese Schmerzen vor! Wer kein guter, geübter Turner ist, der glaubt, daß ihm die Sehnen zerreißen, daß ihm die Arm-und Handgelenke auskugeln, und das kommt auch oft genug vor. Es sind Höllenqualen! Das ganze Körpergewicht hängt an den nach rückwärts gebogenen Armen. Und die Scheusale stehen vor Dir, lachen zu Deinen Schmerzen, fragen Dich, ob Du nun gestehen willst, schlagen Dich ins Gesicht, ziehen und zerren an Deinem Körper. Wenn Du schweigst, schaukeln sie Dich und oft peitschen sie auch zu gleicher Zeit. Wenn Du einschläfst, das heißt in Ohnmacht fällst, so weckt Dich ein Faustschlag ins Gesicht auf. Wenn Du stöhnst, trifft Dich auch ein Schlag. Es fängt schon mit einem herrlichen Gefühl an. wenn Du auf dem Schemel stehst, die Arme nach hinten gefesselt und die Ketten oben angehängt, und der SS-Mann oder der Häftling gibt Dir unversehens einen Stoß, daß Du vom Tritt taumelst, und er zieht Dir den Tritt fort, und Du hängst in der Luft. Deine Sehnen drohen durch den Sturz zu zerreißen. Und welch ein großes Gewicht der menschliche Körper hat! Ja, und dann, dann, wenn sie Dich genug gequält haben, dann lassen sie Dich eine, auch zwei Stunden lang hängen, schaukeln Dich wohl freundlicherweise ab und zu, und wenn sie. nicht genug erfahren, so wiederholen sie es einige Stunden später, der ganze Zauber beginnt dann von neuem. Wir haben Menschen hier gehabt, denen haben sie die Handgelenke gebrochen, so sehr haben sie sich noch an die Gelenke gehängt, an ihnen gezogen Na und dann, dann erst diktieren sie Dir Deine Strafe. Da bekommst Du dann nach ein paar Wochen Deine fünfzig auf den Arsch, eigentlich also hundert, denn sie schlagen ja doppelt. Wenn die Exekution vorbei ist. dann anschließend in den Bunker, ins Lagergefängnis. Dort bleibst Du vierzig Tage in Einzelhaft, meist in einer Dunkelzelle, darfst Dich nur nachts legen. Im Winter ist es außerdem meist schön kalt und Du hast nur eine dünne Decke. Alle vier Tage erhälst Du einmal ein warmes Essen, also in vierzig Tagen zehn Essen. Kannst Du Dir vorstellen, wie so ein Mensch ausschaut, wenn er herauskommt, nach all den Strapazen, die er schon vorher im Lager auszuhälten hatte? Oft kommt es vor, daß die im Bunker auch während der Bunkerzeit noch einige Male die Bastonade erhalten. Es gibt viele, die wohl in den Bunker kommen, ihn aber lebend nicht verlassen. Man spricht in Dachau von den drei bösen „B": Bock, — Baum, -Bunker. Na und dann, wer herauskommt, der kommt meist anschließend in die Strafkompanie, in die „Isolierung", das bedeutet mit zwei Drittel Gewißheit den Tod.“

„Und das alles wegen eines Stückchens Draht?“

„Ja, oder wegen sonst etwas. Außerdem, bei diesen Folter-Verhören kommt immer noch etwas heraus. Der Gefolterte sagt, woher er den Draht hat, wer ihn ihm gegeben hat. Der wird auch geholt und gefoltert, sagt vielleicht ein Wort zuviel und muß noch mehr sagen. Und so zieht das weite Kreise. Das fürchten alle. Daher die eiserne Disziplin. O, die haben herrliche Mittel! Wenn Du bedenkst, daß der Baum aber nicht nur zu solchen Verhören angewandt wird, nein, er zählt als ganz normale, kleine Lagerstrafe. Wenn Du zum Beispiel den oberen Knopf Deiner Jacke nicht zu hast, oder wenn Deine Schuhe nicht tadellos geputzt im Regal stehen, oder wenn ein Tropfen Kaffee noch an Deinem Geschirr hängt, oder wenn Dein Bett nicht tadellos gebaut ist, . . . alles das und tausend andere „Wenn“ kosten Dich sofort eine Meldung und anschließend eine Stunde Baum. Dabei ist das „an den Baum hängen“ so gefährlich, daß man einen Menschen nie mehr als zwei Stunden aufhängen kann, ohne Gefahr zu laufen, daß er stirbt.

Ja, in Dachau ist täglich etwas los, aber man merkt nach außen hin nicht viel davon, es wird alles sehr dezent gemacht. Das Bad ist nachher wieder schön aufgeräumt und sieht aus, wie jedes Bad aussieht. Und die Querbalken zwischen den Pfeilern, die fallen niemanden auf, die sehen aus, als gehörten sie zur Baukonstruktion. Lind wenn Besuch kommt, so ist sowieso alles abgeblasen, alle Schlägerei und Hängerei unterbleibt, alles sieht freundlich aus und heiter. Wer je entlassen wird, muß vorher einen Wisch unterschreiben, daß er keinerlei Aussagen über das, was er im KZ sah oder hörte, machen wird. Und wer es dennoch tut ... nun, der ist gleich wieder hier. Du hast ja Zweitmalige gesehen, die mit dem Balken, das heißt mit dem roten Streifen über dem roten Dreieck. Viele von ihnen sind aus solchen Gründen wieder hier. Früher kamen sie alle gleich in die Isolierung.“

„Du sagtest, daß auch Häftlinge bei diesen Dingen helfen. Oder habe ich Dich falsch verstanden?“

Er sah mich an, sein Gesicht war ganz bleich:

„Nein, Du hast ganz recht verstanden. Im Bunker hinten sind einige Häftlinge beschäftigt. Sie müssen natürlich sehr verschwiegen sein und . . . alles tun, was man ihnen sagt. Ihr Capo sozusagen ist der alte Bernhard, er trägt den roten Winkel, ein Politischer . . . Der und die anderen machen diese Arbeiten alle, binden die Kameraden, hängen sie auf, schaukeln sie, stoßen sie von dem Tritt, so daß der SS nichts zu tun übrig bleibt, als ab und zu einen Schlag ins Gesicht auszuteilen, oder Schläge mit dem Ochsenziemer, oder einen Tritt mit dem genagelten Stiefel auf den wehrlosen gequälten Körper. Diese Häftlinge sind die Henkersknechte von Dachau. Aber es geht ihnen gut dabei. Sie esssen das gute Essen der SS und haben es auch sonst recht gut. Freilich, sie wissen nach einiger Zeit zu viel, und man weiß nicht, ob es immer wahr ist, wenn es heißt, daß einer von ihnen entlassen wurde. Was den alten Bernhard betrifft, der ist schon lange dabei. Was der alles auf dem Gewissen hat, ist nicht zu sagen. Außerdem geht von ihm das Gerücht, er sei eigentlich schon entlassen, aber er fürchtet sich heim-zugehen und habe gebeten, hierbleiben zu dürfen. Glaube mir, so sehr einer seine Freiheit liebt und sein Leben, aber wenn ein Entlassener draußen dem Bernhard in der Freiheit begegnen würde, er würde ihn erschlagen wie ein Ungeziefer, ganz gleich, was für Folgen es hätte. Dabei erscheint er Dir, wenn Du ihn über den Appellplatz gehen siehst, wie ein freundlicher älterer Mann. Er geht etwas vorgebeugt, lächelt ab und zu diesem oder jenem zu und winkt. Er tut, als sei er der Beschützer der Elenden im Bunker und ein lieber, guter Häftlingsvater. Viele von den Alten stehen gut mit ihm, aber bloß aus Berechnung, denn er kann im Bunker viel machen, und oft ist es möglich, durch ihn den einen oder den anderen wertvollen Kameraden so vor dem sicheren Tode zu erretten, indem man recht freundlich zu Bernhard ist. Er gibt dann in Ausnahmefällen dem oder jenem heimlich einmal Essen oder bindet die Ketten so, daß sie nicht zu sehr schmerzen. Aber das alles wiegt nicht auf, was er schon mit Wollust Grausames hier in Dachau getan hat. Wenn Du ihn siehst, den Alten mit dem schwarzen Hund, dann erinnere Dich, es ist Bernhard, der Henker von Dachau.

Hier, wo jetzt die „WB“ sind, war früher der alte Bunker, so hat man mir erzählt. Damals wurde noch im Freien an den Baum gehängt, und man schaukelte nicht selber, man jagte Hunde. Die Hunde sprangen bellend hoch, schnappten nach den Unglücklichen und zerrten an ihnen.“

Später, viel später erst hörte ich von einem Augenzeugen das gleiche erzählen.

Ottmar schien Vertrauen zu mir zu haben. Auch die anderen sprachen ganz frei mit mir. Man sprach nur, wenn man Vertrauen hatte, und wenn der, dem man etwas erzählte, „dicht" hielt, wie es in der Dachauer Sprache hieß.

Die Dachauer Sprache war auch so ein Kapitel. Es schien, als schäme sich jeder Hintern zu sagen, man sagte Arsch, das war sozusagen standesgemäß für einen ordentlichen Häftling, gleich welcher sozialen Stufe er draußen angehörte. Ebenso wurde das Wort Scheiße geradezu als Lieblingsausdruck verwendet. Alles, was nichts taugte, war einfach: Scheiße. Mund war völlig unbekannt, nur das Wort Maul wurde verwendet Bei der SS waren die beliebtesten Worte: Blöder Hund. Dreck-sau und Saukopf. Wenn jemand die Augen und Ohren aufhielt, in allen Dingen gewandt war, war er „auf Draht“ — wenn man etwas stahl, so war es „organisiert". Wenn jemand aus dem Kommando gejagt wurde oder sonstwie dort nicht mehr arbeitete, so wurde er „abgestellt", nicht entlassen, wenn man über irgend etwas gefragt wurde, so hatte man „Vernehmung“, allerdings nur, wenn man deswegen extra in das „Jourhaus" gerufen wurde Es starb keiner, nein, man „verreckte“ oder „ging ein“, oder es hieß: „er ist durch den Kamin gegangen". Essen und Trinken gab es auch nicht, nur „Fressen und Sausen".

Der erste Sonntag Samstagsnachmittags und sonntags wurde in Dachau nicht gearbeitet, es sei denn, ein Kommando hätte besonders dringende Sachen zu tun gehabt.

Am Samstag-Nachmittag ging ein großes Geputze los. Spind, alles, Kleider, Schuhe Man erhielt Schmirgelpapier vom Stubenältesten. Alle Bretter mußten aus dem Schrank genommen werden, und ganz weiß geschmirgelt ohne Flecken erst durften sie wieder hineingelegt werden. Genau so mußten wir die Innenwände mit Schmirgelpapier bearbeiten. Kein Schein von einem Flecken durfte sichtbar sein. Alle Edeen wurden ausgestaubt und das Geschirr nachgesehen!

Am Abend dieses Samstags hatte unser Block Pech. Wir sangen beim Abmarsch vom Appellplatz nicht gut oder richtig genug. Der Rapportführer ließ den Blockältesten rufen. Er schrie ihn an und gab die Order, daß der gesamte Block sofort eine Stunde lang exerzieren müsse.

Wir bogen nicht auf die Lagerstraße ein, sondern maschierten auf dem Appellplatz und ganz exakt mußte marschiert werden, die Reihen mußten wie bei einer Parade aussehen und singen mußten wir, daß es nur so schmetterte.

Eine Stunde ist lang, vor allen Dingen, wenn es eine Freistunde ist, die man so verbringen muß.

Der Rapportführer stand an seinem Fenster im „Jourhaus“, sah uns zu, riß ab un: zu das Fenster auf und brüllte etwas herunter, wenn ihm das Lied nicht gut genug klang, oder irgendeiner nicht exakt genug beim Schwenken marschierte.

„Ihr Hunde, ich laß Euch noch eine Stunde länger marschieren, wenn’s nicht gleich klappt!“

Dann schmiß er das Fenster wieder zu.

Aber auch diese Stunde ging vorüber.

Der Sonntag kam. Wir wurden eine Stunde später geweckt. Man hatte direkt das Gefühl, ganz ausgeschlafen zu sein und dazu noch das wunderbare Bewußtsein: „Ein freier Tag“.

Wie friedlich und schön es heute beim Morgenkaffee zuging. Man spürte es direkt wie jeder den Sonntag genoß und sich Zeit ließ.

Dann maschierten wir zum Morgenappell. Der Appell dauerte verhältnismäßig kurze Zeit. Wir marschierten wieder auf den Block zurück, begaben uns in die Stube.

Unsere ganze Stube machte einen friedlicheren Eindruck.

Plötzlich ertönte der Ruf:

„Alles antreten zum Baden!“

In der Stube begann sofort jeder seinen Spind zu öffnen, sein Handtuch und seine Sandseife zu nehmen. Vor dem Blöde trat man in geordneten Reihen an.

Das Kommando ertönte:

„Im Gleichschritt -marsch!“

Die wohlgeordneten Reihen setzten sich in Bewegung. Wir marschierten ins Bad. Jede Woche einmal, gewöhnlich am Sonntag, wurde in Dachau gebadet.

Wie wohlig sich alle dehnten, wie genießerisch sie sich den warmen Wasserstrahlen darboten.

Da wir einer der größten Blocks waren, durften wir lange baden. Als wir wieder in die Kleider schlüpften, fühlte ich mich wohlig und gestärkt.

Dann wurde zum Antreten gerufen. Wieder formten wir geordnete Reihen, wieder marschierten wir im Gleichschritt stramm und militärisch zurück.

Es schien mir. jeder von uns sei jetzt besserer Laune.

Als wir auf den Block zurückkamen und wegtreten durften, begaben sich die meisten in den Block, ein Teil aber zog es vor, einen Mergenspaziergang auf der Lagerstraße zu machen und da vielleicht bekannte Kameraden zu treffen.

So wie der Sonntag angefangen hatte, so verfloß er, harmonisch und ohne erregende Zwischenfälle. — Aber als sich der Tag senkte, als der graue Montag und die graue Woche wieder vor aller Gemüter zu stehen begann, da ergoß sich etwas, wie ein bitteres Gefühl, wie ein beklemmendes Ahnen in die Gemüter. Das Vorgefühl des Unerbittlichen das nun wieder von uns Besitz ergriff. Wenn wir uns jetzt schlafen legten, so würde morgen uns wiede • dieses Unerbittliche wecken, unnachsichtlich früh, und es würde etwas wie ein Grauen an unseren Betten stehen, nichts auf da: wir uns freuen konnten, ein dumpfes Grauen.

Und so wurde der späte Sonntagabend schal und öd.

Ein langer Appell Im Kommando ging alles seinen alten Gang, ich hatte viel Arbeit, diese Mammutlisten zu schreiben, 33 OOO verschiedene Artikel, ihre Benennung, Kennummer und Menge. Die Eintönigkeit des Lagerlebens umfing mich, ein gefährlicher Polyp, der schon manches Opfer gefordert hat. Denn nichts ist schrecklicher, als solch ein Leben. Immer das gleiche Essen, immer die gleichen gestreiften Kleider sehen, immer die gleichen grün gestrichenen Baracken, immer der gleiche Appell, immer das gleiche Bild auf den Blocks.

Aber auch an die Monotonie eines solchen Lebens gewöhnt sich der Mensch.

An einem Nachmittage erhob sich eine große Unruhe. Capos rannten hin und her, die SS sah noch grimmiger drein als sonst. Es hieß das ganze Kommando müsse sofort antreten. Und in der Tat, in wenigen Minuten standen wir im Fabrikhofe und wurden abgezählt. Keiner fehlte.

Aber im Lager fehlte einer. Der ganze Lagerbereich war in Alarmzustand. Die Kameraden, die schon lange im Lager waren, meinten, nun würden wir einrücken und auf dem Appellplatz stehen, bis sich der Fehlende gefunden hatte, und wenn es zwei Tage dauern würde. Aber das Wunder geschah. Nach einer Viertelstunde mußten wir wieder an die Arbeit.

Aber am Abend, als wir zum Appell einrückten, hieß es: „Sie haben ihn noch nicht, wir werden wohl heute nacht stehen müssen."

So war es auch. Der Appell war längst abgenommen, wir standen noch immer. Es verging eine halbe Stunde, eine Stunde. Immer noch standen wir auf dem Appellplatz.

Toni flüsterte mir zu, daß die SS am Nachmittage alle Blocks durchsucht hatte, die Betten, jeden Winkel, um zu sehen, ob der Entflohene sich vielleicht irgendwo verborgen halte.

Einer stand vor mir, der drehte sich ein wenig zurück und begann flüsternd zu erzählen:

„Du hättest früher nur dasein sollen, als wir so standen, im Winter, in Sachsenhausen und in den anderen Lagern. Bei zwanzig und bis zu dreißig Grad Kälte. Einer war durchgegangen, und oft krepierten in einer einzigen solchen Nacht achtzig Mann. Wir mußten stillstehen, nicht wie jetzt, wo wir uns wenigstens bewegen dürfen, wenn wir auch fast am gleichen Fleck stehen müssen. Wir durften uns nicht Bewegen, durften den sterbenden Kameraden nicht helfen, ihnen einen Mantel unterlegen, nichts. — . Die Hunde sollen verrecken!'— schrie die SS, und am Morgen lagen die Leichen überall herum.

So einen Kerl, der durchgeht, sollte man totschlagen, ohne Erbarmen. Erstens ist es aussichtslos, was er tut, und zweitens bringt er seine Kameraden nur in Gefahr.“

Es war kühl geworden, die Dunkelheit hatte sich tief gesenkt.

Da flammten plötzlich von den Dächern der angrenzenden Gebäude Scheinwerfer auf und tauchten 12 000 Häftlinge in grelles Licht. Die drehbaren Scheinwerfer auf den Wachttürmen kreisten und tasteten die Reihen ab, da und dort beobachtend. Die Wachen standen schußbereit an den Maschinengewehren. Auf dem Dache der Küche aber erstrahlte hell die weiße Inschrift:

ES GIBT EINEN WEG ZUR FREIHEIT seine Meilensteine heißten: Gehorsam — Ordnung — Ehrlichkeit — Nüchternheit — Fleiß — Sauberkeit — Opfersinn — Wahrhaftigkeit — Liebe zum Vaterland.

Toni berührte meinen Arm leicht:

„Sieh Dich einmal um, unauffällig, und schau nach links hinten. Siehst Du, da sind schon zwei umgekippt, ich glaube, es sind welche vom 22er Block, auf dem die Schwarzen liegen.“

Ich flüsterte zurück:

„Sag einmal, stimmt es, daß es auf anderen Blocks so schlecht ist. daß sie da so Hunger haben und geschlagen werden?"

Er sah mich von der Seite an:

„Ja, die Blocks sind alle sehr verschieden. Es liegt viel an den Block-und Stubenältesten, und manche Blödes werden besonders schlecht behandelt, zum Teil weil sie irgendwie einmal aufgefallen sind, oder weil der Blockführer, der SS-Mann also, besonders scharf ist. Auf den Blocks, wo die Schwarzen und die Grünen sind, ist es besonders schlimm."

„Ja, und schlagen die Stubenältesten da wirklich?"

„Ja, sie schlagen wirklich. Es gibt Kameraden, die das Schlagen ganz in Ordnung finden, — leider."

Die Uhr zeigte Mitternacht. Wir froren alle. Harry knurrte:

„Wenn man wenigstens einen Zug machen könnte, nur so einen kleinen Zug aus einer Zigarette.“

Da kam der Befehl zum Abmarschieren.

Alle fragten:

„Haben sie ihn denn?"

„Sie müssen ihn ja haben, sonst würden wir doch nicht abrücken“, war die Antwort.

Und die Kolonnen bewegten sich marschierend im grellen Lichte der Scheinwerfer.

„Ein Lied!"

Jeder Blockälteste schrie es. Da begannen wir zu singen:

„Steig ich den Berg hinan, das wacht wir Freude .. — Und es machte uns diesmal wirklich Freude, wir waren froh, das Ganze hinter uns zu haben. Es war alles kurz und schmerzlos abgelaufen, -----nach Dachauer Begriffen.

Jeder war froh, wieder auf den Block zu kommen.

Post-Vernehmung Am nächste Morgen, gerade als ich mir die Schuhe anzog, um aus dem Block zu gehen, suchte mich der Blockschreiber:

„Kupfer, 21 711? Du bleibst heute nach dem Appell stehen, Du rückst nicht mit Deinem Kommando aus, Du hast Postvernehmung.“

„Was muß ich da machen?"

„Nur stehen bleiben. Das andere wird sich schon finden. Ich komme dann und hole Dich ab. Es haben noch zwei von unserem Blöde Vernehmung, also daß Du Bescheid weißt.“

Vor dem Jourhaus warteten schon Häftlinge von anderen Blocks, die auch Postvernehmung hatten. Wir stellten uns zu ihnen.

Da standen wir nun, die Mützen in der Hand und warteten. Die Zeit verstrich langsam, eine Viertelstunde, wieder eine Viertelstunde und wieder eine.

Endlich kam ein Häftling mit einer Dolmetscherbinde am Arm, verlas unsere Namen, sah nach, ob alle da waren und gab dann den Befehl zum Abmarsch.

Wir gingen durch das Gittertor.

Der uns begleitende Häftling meldetet an dem kleinen Fenster:

„Fünfzehn Häftlinge zur Post-Vernehmung.“

Wir kamen in einen Raum, in dem ein großer Schalter war, durch den man in den Nebenraum schauen konnte. An der gegenüber liegenden Wand nahmen wir Aufstellung, stramm natürlich.

Ich konnte gerade durch den geöffneten Schalter sehen. Dahinter war ein saalähnlicher großer Raum mit vielen Tischen. SS-Männer studierten eifrig Briefe oder sortierten. Ich sah, daß es sowohl eingehende Briefe von außen waren, als auch Häftlingsbriefe, auf denen die ungestempelte Marke klebte. Ab und zu kam ein SS-Angehöriger, nannte seinen Namen, bekam seine Post ausgehändigt oder Zeitungen.

Wir standen da, an der Mauer aufgereiht und warteten.

Endlich erschien ein SS-Mann am Schalter und begann Namen aufzurufen.

Der erste, den er rief, hatte etwas zu unterschreiben, dann konnte er wieder zurücktreten. Dann kam der zweite an die Reihe.

Es war ein Mann in mittleren Jahren, dessen Haare schneeweiß waren. Etwas zögernd trat er zum Schalter. Der SS-Mann fuhr ihn an, nachdem er ihn nach Namen und Nummer gefragt hatte und sich durch einen Blick auf den Rock von der Richtigkeit der Nummer überzeugte:

„Hier ist ein Brief für Sie gekommen. Er ist nicht beanstandet worden. Aber eine Photographie lag darin. Wissen Sie nicht, daß es verboten ist, Photographien zu erhalten?"

„Doch Herr Hauptscharführer.“

„Warum lassen Sie sich dann welche schicken?“

„Ich habe nicht darum geschrieben, Herr Hauptscharführer."

„Das kennen wir, das sagt jeder. Da es das erste Mal ist, will ich es durchgehen lassen."

Dann hob er seine Stimme drohend:

„Das nächste Mal erhalten Sie eine Strafe, verstanden?“

„Jawohl, Herr Hauptscharführer.“

„Schreiben Sie das Ihrer Frau. Und jetzt dürfen Sie das Bild ansehen, aber nur fünf Minuten, verstanden?“

„Jawohl, Herr Hauptscharführer.“

„Also los, ab, marsch!“

Er reichte dem Häftling eine kleine Photographie. Der Mann nahm sie, trat zurück und stellte sich neben mich. Unwillkürlich lehnte er sich an die Wand zurück.

Er hielt das Bild in beiden Händen und starrte darauf. Seine Augen wurden größer und bekamen einen sanften Schimmer, sie füllten sich mit Tränen. Seine Lippen bewegten sich. Mit dem Ärmel seiner gestreiften Jacke fuhr er sich über die Augen.

Und wie ein Mensch in einer großen Freude nicht allein bleiben kann, wie er sie teilen, mit-teilen muß, irgend einem, weil sie für ihn zu groß ist, weil sie ihn überwältigt, so wandte er sich an mich.

Seine feuchten Augen blickten mich mit Tränen wehmütig und glücklich zugleich an:

„Mein Kind", flüstert er, „mein Kind, ich habe es nie gesehen, es wat noch nicht geboren, als ich verhaftet wurde. Jetzt ist es fünf Jahre alt, Und meine Frau ..

Seine Augen füllten sich von neuem mit Tränen, er wies mir das Bild, ohne es aus den Händen zu lassen. Ich betrachtete gerührt die Photographie. Auf ihr war eine schöne elegante Frau zu sehen, die ein kleines Mädchen mit dem Arm fest umschlungen hielt.

Der Hauptscharführer rief seinen Namen und seine Nummer. Das Bild in den Händen erzitterte.

„Wird es noch nicht bald!" schnarrte die schrille harte Stimme: „Die fünf Minuten sind längst um." Der Häftling ging wie ein Traumwandler zum Schalter, noch das Bild in beiden Händen, als könne er sich nicht davon losreißen.

„Das Bild kommt jetzt zu den Effekten, verstanden?"

Der Häftling nickte nur.

Ein alter Mann mit einem großen gelben Judenstern auf der Brust, wurde an den Schalter gerufen. Auch bei ihm handelte es sich um eine Photographie.

„Sie an, der Itzig, der alte Isidor Kohn hat auch eine Photographie!"

Der alte Mann reckte seine Hand aus.

„Willst Du die Pfoten wegnehmen, Du dreckiges Judenaas! Das könnte Dir passen. Nein, die kriegst Du nicht zu sehen, mit Euch Brut darf man kein Erbarmen haben, Ihr habt ja auch keins gehabt, habt nur von Wucher und Schwindel gelebt! Willst Du Deine dreckigen Pfoten wegtun. Du altes Schwein!"

Ich sah wie der alte Mann zitterte:

„Herr Hauptscharführer, meine Tochter . . . einmal noch möchte ich ihr Bild sehen, einmal noch, dann will ich gern sterben.“

Der SS-Mann lachte:

„So, einmal noch willste sehen ihr Bild? Wird sich nix werde aus das Geschäft“, höhnte der Scharführer. „Da siehst Du's ja von weitem."

„Erbarmen Sie sich, ich bin ein alter Mann, ich bin ein Vater.“

„Eine alte Judensau bist Du.“

„Ich will gerne sterben, wenn ich nur das Bild noch einmal gesehen habe. Ich werde sowieso nicht lange mehr leben.“

„Da hast Du recht, häng Dich auf, je eher, je besser, verreck Du nur. Das Bild von Deinem Judenbankert brauchst Du dann auch nicht mehr zu sehen, Deine Sara siehst Du dann eben später, im Himmel!“

Und er zerriß die Photographie vor den Augen des Alten in kleine Fetzen und warf sie in seinen Papierkorb.

Der alte Mann zitterte an ganzen Leib und trat weg. Ich sah, wie er in die Tasche griff, sein Taschentuch herausnahm und es in den Mund steckte. Er biß darauf, um nicht zu schluchzen.

Der nächste Häftling erhielt eine Brille ausgehändigt die in einem Futteral wohl verwahrt die Reise im Briefe gemacht hatte. Er hatte gar keine Schwierigkeiten damit. Seltsam, was hier alles gestattet und was verboten war. Wer sollte sich da zurecht finden?

Mein Name und meine Nummer wurden aufgerufen. Jetzt war ich an der Reihe. Was würde mit mir sein? Warum wurde ich nicht am Schalter abgefertigt?

Ich trat in die offene Tür. Es war ein heller Raum mit spiegelnden Fußboden, auf dem Läufer lagen, und mit vielen Blattpflanzen, die vor den Fenstern und auf dem Schreibtisch standen. An diesem Schreibtisch saß ein SS-Mann. Ich sah, daß er ein Chargierter war. Er hob den Kopf, sah mich an. Ich stand mitten im Raum. Er donnerte mich an:

„Was fällt Ihnen ein, hier so einfach herein zu kommen!"

„Idi bin gerufen worden.“

„Wissen Sie nicht was man sagt, wenn man einen Raum betritt, in dem sich ein SS-Offizier befindet?“

„Nein."

Er brüllte:

„Ich bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen, sagt man.“

Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen?

Da schrie er wieder:

„Na, wird's bald? Los!“

„Ich bitte gehorsamtst, eintreten zu dürfen."

„Was!“ schrie er, „das sagt man nicht hier, das sagt man draußen an der Tür. Los, raus, raus sag ich, und dann hereinkommen wie es sich gehört!“

Ich machte kehrt und ging zur Tür hinaus. Dann drehte ich mich wieder um:

„Ich bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen.“

„Ich, wer ist ich? Schutzhäftling soundso, Nummer soundso, bittet gehorsamst, eintreten zu dürfen. Los!"

Also sagte ich mein Sprüchlein her:

„Schutzhäftling Edgar Kupfer, Nummer 21 711, bittet gehorsamst, eintreten zu dürfen."

„Vortreten!“

Er betrachtete die Nummer auf meiner Brust. Dann erst entfaltete er einen Brief und sah hinein:

„Kennen Sie eine Elisabeth de Veer?"

„Ja."

„Ist diese Dame mit Ihnen verwandt?“

„Nein.“

„Ist es Ihre Braut?“

„Nein“

„Zum Teufel, wie kommt sie dann dazu. Ihnen zu schreiben?“

„Wir sind befreundet.“

„So befreundet? Wie alt ist sie denn?“

„Siebenundvierzig Jahre.“

„So, und da haben Sie ein Verhältnis mit Ihr? Wie alt sind Sie denn?“

„Vierunddreißig Jahre.“

„Und da schämen Sie sich nicht, mit einer dreizehn Jahre älteren Frau ein Verhältnis zu haben?“

„Ich habe ja kein Verhältnis mit ihr.“

„Wieso schreibt sie Ihnen dann Briefe? Warum ist sie dann so besorgt um Ihre Person?“

Irgendwie war es mir über, diese frivole Art des Fragens. So sagte ich ruhig, aber bestimmt:

„Ich habe nicht mit allen meinen Bekannten ein sexuelles Verhältnis.“

Er sprang hinter seinem Tisch auf:

„Halten Sie Ihr Maul! Wenn Sie frech werden wollen, mache ich Ihnen eine Meldung, verstehen Sie, dann lasse ich Sie in den Bunker abführen!“

Ich blieb ruhig stehen, sah ihn dabei an, weder furchtsam, noch herausfordernd, nur fest und ruhig.

Er beruhigte sich und setzte sich wieder. Kurz und schnodderig sprach er jetzt zu mir, ohne mich anzusehen, er blickte vielmehr sehr interessiert in den Brief und ab und zu in ein Schreiben.

„Ist die Dame Ausländerin?“

„Nein, sie trägt nur diesen altflämischen Namen.“

„Was ist Sie von Beruf?“

„Musikpädagogin.“

„Gut, Ihre Angaben stimmen Die Gestapo Berlin hat dasselbe bei ihren Ermittlungen erfahren. Schreiben Sie sofort einen Brief an sie. daß es Ihnen '-erboten ist, von dritten Personen Post zu empfangen. Und hier fragt sie auch, ob man Ihnen Pakete schicken darf. Teilen Sie ihr mit, daß dies unmöglich ist. Und schreiben Sie ihr, daß sie sich nicht unterstehen solle, noch einmal zu schreiben. Tut sie es aber doch, haben Sie allein die Folgen zu tragen, am eigenen Leibe."

„Jawohl.“

„Gut, wegtreten!"

Ich verließ den Raum.

Als wir draußen waren, fragte mich der Dolmetscher:

„Was wollte der Chef der Postzensurstelle von Dir?"

Ich klärte ihn auf.

„Du hast Glück gehabt," meinte der Dolmetscher, „er war eben gut aufgelegt."

Wieder gingen wir durchs Tor. Der Dolmetscher meldete:

„Fünfzehn Häftlinge von der Postvernehmung zurück.“

Das Gitter ging auf, wir passierten das Tor, marschierten über den Appellplatz und bogen in die Lagerstraße ein.

Das improvisierte Kabarett Und wieder verging eine Woche.

Es war erstaunlich, selbst die zähflüssigen ewigkeitslangen Tage von Dachau quollen unaufhörlich, füllten dennoch mit ihrer abgelaufenen Zeit die Schale einer Woche. Wie lange war ich in Dachau? Es war bald nicht mehr wahr, vor langer, langer Zeit schon war ich gekommen.

Nach menschlicher Rechnung aber waren erst dreizehn Tage verflossen. Es war Sonntag abend.

Nebel hüllte meist die Abende ein, die Luft war feucht und die elektrischen Lampen gaben nur trübes, eingenebeltes Licht.

Ich saß an diesem Abend auf der Stube, alles war wie immer. Da kam Schrödter herein. Als er mich am Tische entdeckt hatte, kam er direkt auf mich zu:

„Edgar, ich wollte Dich einladen, zu uns auf die Stube zu kommen, da ist heute Abend was los, sie machen einen improvisierten bunten Abend. Die Bude ist schon ganz voller Menschen. Eigentlich ist es verboten, daß man auf eine andere Stube geht, aber . . . pfeif drauf! Es wird schon schief gehen.“

„Aber wenn . .

„Ach was, zuviel Angst darf man nicht haben. Weißt Du, es wird vielleicht ganz nett werden. Sie haben ein paar Instrumente mitgebracht, Guitarren, Mandolinen, eine Ziehharmonika. Man hört ja so wenig Musik."

„Ja, und die Instrumente, wo haben sie die her?“

„Instrumente sind gestattet im Lager, man darf sie sich schicken lassen. Das ist auch so ein Dreh. Wenn Besuch kommt: . Bitte sehen Sie, unsere Häftlinge haben Instrumente, wer will, kann musizieren.'Das macht alles einen glänzenden Eindruck, streut Sand in die Augen.“

Wir gingen hinaus, in die nebelige Luft, den Block entlang. Dumpf und düster hockten die verdunkelten Baracken im Nebel, auf der Lager-straße liefen, schattengleich, einige Spaziergänger.

Die Stube war voller Menschen, alle Hocker waren besetzt, überall standen noch Menschen, an Spinde und Wände gelehnt. Die Tische waren dicht umlagert, auf vielen Hockern saßen die Kameraden zu zweit, jeder auf einer Hälfte.

Wir schlängelten uns mühsam zu Schrödters Tisch.

Neben uns saß ein Mann in mittleren Jahren, ein Buchverleger aus Stuttgart, dem er mich vorstellte.

Es entstand mit einem Male eine Stille. Aller Augen richteten sich nach rechts, nach der Tür zum Schlafzimmer.

Jetzt erst sah ich dort eine improvisierte Bühne.

Die Musik legte los und spielte einen flotten Walzer.

Es tat wohl, Musik zu hören, hier in Dachau, die Klänge eines Walzers.

Aber die Gesichter, die Gesichter!

Alle blickten in eine Richtung, alle schauten zur Musik hin. Sie vergaßen sich für eine Weile, sie gehörten wieder sich, ihren Gedanken, ihren Erinnerungen.

Ich blickte der Reihe nach mich um.

Da stand einer und war ganz Ohr, man sah, er war nur in die Musik versunken. Vor ihm saß einer, der hielt den Kopf in die Hände gestützt, seine Augen wurden immer größer, immer glänzender und schwerer, der Kopf sank tiefer in die Hände hinein, bis er in ihnen verborgen ruhte und das Gesicht verdeckt war. Einer hatte die Augen geschlossen, und doch, man sah auf dem Gesichte die Schatten, die wie Wolken bei diesen Klängen über seine Seele huschten. Lind all die Gesichter, die ich rings betrachtete. Welcher Pinsel war da am Werk und welcher Meißel grub? All die verborgenen Falten aus Kummer und Entbehrung traten plötzlich zu Tage, die hinter einer straffen Miene sonst wohlverborgen lagen. All die Qual und das Leiden zitterte über diese Züge, hingen sich wie Tropfen an die nach unten gezogenen Mundwinkel, ebbten ab und auf in den Wellenlinien der Stirnfalten. Enttäuschung entblätterte sich, wie Blütenblätter einer welken Rose, aus den müden, welkschlaffen Zügen, die sich gehen ließen, diese blassen Gesichtszüge, deren Welken erschütternd wirkte. Und die Augen glühten da auf, Augen, aus denen Entschluß sprach oder Verbitterung, Haß. Und andere Augen sanken ein, erloschen mehr und mehr im Erinnern an gestorbenes Glück.

Lind die Brust, wie die Brust all dieser Männer seltsam hoch und tief gehend atmete, nicht hastig, nicht nervös, nein, in hohen Wellen, wie ein stürmisches Meer. Und dieses ironisches Lächeln um manchen Mund, dieses Lächeln, das an nichts mehr glaubte, das nichts mehr ersehnte, nur den Tag der Freiheit, aber ohne Hoffnung, einen Tag, der ein anderes Grau bergen würde, ein neues, anderes zu ertragendes, das Grau des Fremdseins in einer fremden Welt, das Grau des Nicht-mehr-zugehörig-seins, das Grau des Alleinseins in einer der eigenen Seele gleichgültig gewordenen Welt. Und diese anderen Augen, voller Erinnerungen. Alle die vielen entglittenen Feste tanzten in manchem Auge, und es gab Augen, denen sah man es an, daß in ihnen nur ein Bild stand, ein einziges: das Heim, die Frau, das Kind.

Bei den Göttern, der Maler, der es vermöchte, dieses Bild zu malen, das ich da sah, der müßte stark sein.

Der Walzer klang aus. Ein Atmen ging durch den Raum. Die entspannten Züge strafften sich wieder, die eingesunkenen, vornübergebeugten Körper richteten sich auf, die glänzenden Augen nahmen eine nichtssagende Tönung an.

Alle waren sich darin einig, zu tun, als sei nichts geschehen. Man klatschte, sagte ein paar anerkennende Worte zu seinem Nachbarn, irgend etwas Belangloses, aber den Traum des Herzens und der Seele verschwieg man. Man war wieder der, der man sein mußte oder wollte, nicht der, der man sich sehnte zu sein, nicht der, der man einmal war.

Ein schönes Musikstück leitete den zweiten Teil der Darbietungen ein.

Ein untersetzter Mann trat vor die Tische. Ein Pole, wie ich später hörte, ein ehemaliger Theaterdirektor. Er hieß Imiela Wojtaszek und muß ein berühmtes Ballett besessen haben, mit dem er auch in Amerika Tourneen gab. Seine Figur war fest und gedrungen, atmete Kraft und Energie.

Er sang zuerst eine Arie, man hörte den ehemaligen Sänger. Diese Stimme mußte einst viel Beifall geerntet haben, auch heute noch machte es Freude, diesem kraftvollen klaren Tone zu lauschen. Dann, nach viel Beifall und einigen Zugaben, sang er das Lied vom Moorsoldaten: „Wir sind die Moorsoldaten und zielten mit dem Spaten ins Moor, ins Moor . . .

Woltin das Auge blicket, Moor und Heide ringsumher, Vogelsang uns nicht erquicket, Eichen stehen kahl und leer.

Hier auf dieser öden Heide ist das Lager aufgebaut, wo wir fern von jeder Freude hinter Stacheldrahtverhau.

Morgens ziehen die Kolonnen in das Moor zur Arbeit hin, graben in dem Brand der Sonnen, doch zur Heimat steht der Sinn.

Auf und nieder geht der Posten, keiner, keiner kommt hindurch, Flucht wird nur das Leben kosten, vierfach ist umzäunt die Burg. Heimwärts, heimwärts steht das Sehnen, zu den Eltern, Weib und Kind,manche Brust die Seufzer dehnen, weil wir hier gefangen sind.

Doch wir wollen niemals klagen, ewig kann kein Winter sein, einstmals werden froh wir sagen: Heimat, du bist wieder mein!

Dann zieh’n die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor, ins Moor."

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er zuletzt eine Gitarre nahm, sich auf den Tisch setzte, sich selbst begleitete. Lind bei der letzten Strophe schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, daß es knallte, und er schrie mehr als er sang, wie ein freiheitsdurstiges Tier, so wild, so lodernd:

„Dann zieh’n die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor, ins Moor!“

Und alle stimmten ein. Es lag eine wilde Entschlossenheit in dem Gesang.

Die letzten Töne waren noch nicht verklungen, da wurde die Türe aufgerissen:

„Aufhören! Seid Ihr denn verrückt? Das hört man ja weit und breit, wenn Ihr so gröhlt."

Der Gesang verstummte, Hocker wurden gerückt. Der Stubenälteste rief:

„Schluß machen, nach Hause gehen, aufräumen!"

Im Nu leerte sich der Raum, erhielt sein altes Gesicht wieder. Selbst die Spinde standen wie durch Zauberei wieder an ihrem alten Platz.

Im Ohre noch die letzte eindruckvolle Strophe ging ich zu Bett: „Dann zieh'n die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor, ins Moor.“ ----------Nächtliche Theaterprobe Am anderen Tage sprach man im Lager viel von dem bunten Abend auf Block 12, Stube 4.

Es war am nächsten Abend, auf der Stube.

Ich stand gerade bei Toni, als Max Turner, der stets gebügelt aussehende Blockschreiber zu uns trat.

„Du, Kupfer, ich hätte was für Dich, da könntest Du Dich betätigen. Du bist doch Schriftsteller?"

„Ja. Und?"

„Also paß auf. Die Sache vom Sonntagabend wollen wir ganz groß aufziehen, als ein Lagerkabarett. Was Du gesehen hast, ist noch gar nichts; wir haben ja solche Kanonen im Lager, Berufs-Conferenciers und weiß der Teufel was alles. Mit der Lagerleitung haben wir schon gesprochen, die wird es wohl gestatten. Wo man es aufführen soll, wissen wir noch nicht, aber das werden sie schon bestimmen. Ich habe mir auch schon einen Namen ausgedacht: „Kakadu" soll das Ganze heißen, das sagt gar nichts und erinnert doch an draußen und alle sind gespannt, wenn sie den Namen nur hören. Wir werden uns natürlich die besten Kräfte heraussuchen. Aber wir müssen gleich mit Proben beginnen. Heute abend schon gehts los, wir gehen auf Blöde 19. Ich habe nun gedacht. Du kannst doch sicherlich gut vorlesen. Willst Du es übernehmen?"

Ich war über dieses Angebot etwas erstaunt.

„Also, willst Du oder willst Du nicht?“

„Ja, wenn Ihr keinen Besseren habt. Aber ich weiß nicht, ob Ihr überhaupt mit mir zufrieden sein werdet."

„Du wirst es schon machen. Hier habe ich das Buch, sieh Dir die Gedichte durch und suche Dir etwas heraus, was Du eben für geeignet hältst und dann komme zur Probe auf Block 19, um acht Uhr. Dort rufst Du einfach: . Blockschreiber! ’ und sagst, daß Du bestellt bist. Es ist nämlich ein Block, der zur Zeit leer ist, und sie lassen sonst niemanden herein. Die anderen kommen auch fast alle hin."

„Gut , sagte ich, nahm das Buch setzte mich an den Tisch und begann darin zu blättern und zu lesen.

Um acht Uhr, wie verabredet, stand ich vor Block 19. Der Zugang zur Blockstraße war durch ein Drahtgitter versperrt.

„Blockschreiber 19! Blockschreiber 19!"

Eine Tür öffnete sich, jemand trat heraus, kam dann die Blockstraße entlang und öffnete die Pforte im Drahtgitter.

„Komm nur herein,“ sagte er, „Du willst sicher zur Probe.“ „Ja."

„Es sind schon welche da."

Er führte mich auf die zweite Stube. Sie war leer, ein Läufer aus Sackleinwand lag über dem glänzenden Fußboden:

„Du brauchst Dir die Schuhe nicht auszuziehen," meinte er.

Wir gingen in den Schlafraum. Da standen nur an der Türwand Betten, auf der gegenüberliegenden Seite waren Strohsäcke aufgestapelt, sonst war der große Raum leer. In der Mitte hatte man einen Tisch als Podium aufgestellt. Die Fenster waren verdunkelt.

Im Raume befanden sich schon mehrere Personen. Max Turner lief lebendig von einem zum anderen, besprach, gestikulierte. Er ordnete die Reihenfolge an.

Ich setzte mich auf eines der Betten. Da kam jemand und setzte sich neben mich. Es war der polnische Theatermann.

Ein Wort ergab das andere. Bald waren wir mitten im Erzählen. Er erzählte vom Lager Mauthausen:

„Es war furchtbar. Daß es solche Menschen gibt, ich hätte es nie gedacht. Häftlinge, wie wir, quälten und töteten einander, nur um bei der SS gut angeschrieben zu sein, oft aber auch aus purer Freude am Quälen. / Es war grausig, unter diesen Menschen zu leben, lauter Grüne, also Berufsverbrecher. Sicherlich, es gibt ganz anständige, harmlose Menschen unter ihnen, aber ich muß Dir sagen, sowie ich den grünen Winkel sehe, steigt großer Haß und Abscheu in mir auf. Ich kann mir nicht helfen, es ist so, ich kann nichts dagegen tun.

Es ist seltsam, jeder Mensch entwickelt der Umwelt, das heißt den Bedürfnissen entsprechend, seine Fähigkeiten, viel Kriminelles auch, das er vielleicht unter normalen Verhältnissen stets versteckte, abdrosselte, da es ihm zu gefährlich war und nicht nützlich. Nun aber ist plötzlich eine andere Situation geschaffen: alles, was gut und schön war und förderlich auf der Lebensbahn, ist plötzlich etwas Veraltetes, etwas, das man verlacht, etwas, das hindert statt fördert. Das, was früher aber als abscheulich, als unmöglich galt, und den Lebensweg verdarb, es ist nun das Rettende, das Bewunderte, das, was man will, das, was sich durchsetzt, was Erfolg verspricht, einen erträglichen Tag und die Rettung des Lebens, was mindestens ermöglicht, sich über Wasser zu halten. Ist es da ein Wunder, daß die sanftesten Menschen hier brutal werden, daß die dunklen Seiten unseres Wesens sich in dieser Hölle entfalten, herausgelockt und herausgefordert von allen ringsum und beklatscht und belohnt, von diesen Teufeln, die um uns sind und die sich SS-Mann oder auch Kamerad nennen.

Alles im Leben ist Anfang. Ist erst einmal der Anfang auf diesem Wege gemacht, so geht es weiter, ganz leicht und läßt sich unschwer bis zu den natürlichen Grenzen steigern. Lind so wird dann aus einem braven Bürger ein Sadist, einer unserer Mitteufel.“

Er sah mich forschend an:

„Das wirst Du nicht verstehen, aber wenn Du länger im Lager bist, dann wirst Du begreifen, was ich meine. Aber ich will Dir eine Geschichte erzählen:

Es war in Mauthausen. Nach dem Appell wurde der Bock aufgestellt. Ein alter Mann erhielt fünfzig Stockschläge, warum, weiß ich nicht mehr, ich glaube, er hatte aus Hunger Brot gestohlen. Zwei SS-Männer begannen unbarmherzig auf ihn einzuschlagen, sie sprangen bei jedem Schlage hoch vom Boden auf. Ich höre noch, wie die Ochsenziemer durch die Luft zischten, wie sie auf das wehrlose Fleisch niederklatschten, ein unheimliches Geräusch, und ich höre noch die markerschütternden Schreie des Geschlagenen, Schreie, bei denen es mir schlecht wurde, mir, der ich selber Tag für Tag geschlagen und getreten wurde.

Lind da geschah das Unerhörte, Unfaßliche: Ein kleiner Vogel kam geflogen. Ich hatte vorher nie einen solchen Vogel gesehen. Er flatterte über der Stelle der Exekution, flatterte, kreiste und schrie, schrie wie im Zorn, — wie ein Vogel sich gebärdet, flattert und schreit, dem man sein Junges raubt. Er flog ziemlich niedrig, sein Geschrei klang über den weiten Platz. Wir alle hielten den Atem an, uns standen die Haare zu Berge.

Was war das für ein Vogel? Woher nahm dieses klein? Tier den Mut, so niedrig zu fliegen, ein Vogel, ein sonst so scheues Tier? Woher nahm er das Gefühl, so schrill zu schreien, so klagend, so anklagend? Wieso flog er nicht in ruhigen Kreisen, wieso flatterte er zornig über dieser Szene?

Er hatte solch einen Lärm gemacht, es war so ungewöhnlich, was geschah, daß selbst die rohen SS-Männer zu schlagen aufhörten. Furcht, wie vor dem Übernatürlichen, hatte sie befallen, so daß ihnen ihre Schläger herabsanken.

Der Vogel kreiste noch immer und zeterte.

Der SS-Offizier, der dabei stand, schrie: „Was hört Ihr auf, Ihr Feiglinge, wollt Ihr schlagen?! Wollt Ihr Euch vor einem Vogel fürchten?"

Er riß dabei seinen Revolver aus der Tasche und feuerte auf das kleine Tier. Aber er traf es nicht.

Wieder sausten die Schläge, wieder zerrissen die Schreie des Gequälten die Luft.

Der Vogel aber hatte sich nicht verscheuchen lassen. Wie ein Vogel der Rache flatterte er noch immer über der Bastonade, seine Stimme klang schriller und unheimlicher als die des Geschlagenen.

Wieder schoß der Offizier nach dem Vogel, blind vor Wut und wieder traf er ihn nicht. Da schoß er zum dritten Male, aber der Vogel kreischte nur um so wilder, flatterte um so schauerlicher.

Die Schläge klatschten weiter auf den wehrlosen Körper. Erst beim letzten Schlag schwang sich der Vogel hoch in die Luft. Er stieß vorher noch einen seltsamen Ruf aus, dann verschwand er.

Ich habe gesehen, wie man Menschen neben mir totschlug und -trat. Das alles hat mich nicht so schaudern gemacht wie diese Szene mit dem kleinen Vogel, der nicht leiden wollte, daß man einen armen, wehrlosen Menschen so barbarisch züchtigte.

Aber der Offizier, siehst Du, das ist die SS. Eine Stimme vom Himmel könnte kommen, ein Engel selbst, sie würden nicht hören. Sie würden nicht von ihrer Grausamkeit lassen. Welch eine schlechte und schuldbewußte Seele gehört dazu, blind-wütend nach dem kleinen Vogel zu schießen, der mit gellender Stimme das Gewissen rief, der die Grausamkeit anklagte.

Die Geschichte klingt ganz unglaublich, aber ich habe sie ja nicht allein erlebt, daß ich mir das einbilden könnte daß es ein Wahngebilde von mir war, ein Traum vielleicht. Zwei-oder dreitausend Menschen standen auf dem Platze, und ich glaube keiner von ihnen hatte in seinem Leben vorher schon Ähnliches erlebt. Ich nehme es Dir nicht übel, wenn Du es mir nicht glaubst, aber ich sage die Wahrheit.“

Ein junger Pole hatte sich zu uns gesetzt. Sein Gesicht war während Wojtaszeks Worten düster geworden. Er sah mich groß und ernst an:

„Du kannst ihm ruhig glauben, es ist so, wie er es erzählt hat, ich würde es wohl selbst nie glauben, wäre ich nicht dabeigewesen und hätte alles mit angesehen und erlebt."

Die Probe war inzwischen zu Ende gegangen. Max mahnte zum Aufbruch: „Es ist schon spät, wir müssen jetzt gehen. Die Posten sind verständigt."

Wir traten hinaus ins Freie, gingen die Blockstraße vor und durch die Pforte im Drahtgitter.

Unsere kleine Gruppe marschierte in geschlossener Kolonne. Mitten auf der Lagerstraße hielten wir dann, jeder ging auf seinen Block. Vom Ende des Appellplatzes her kam eine andere Kolonne marschiert, das einrückende Spätarbeiterkommando.

Max und ich waren die einzigen von unserem Block. Sterne über uns, die breite schweigende Allee um uns, dazwischen wieder der Kegel eines kreisenden Scheinwerfers, von einem der Türme aus, der alles in gespenstisch grell-weißes Licht hüllte, und dann immer, wieder, in der Ferne, am elektrisch geladenen Zaun, die kleinen roten Glühlämpchen, die den Eindruck eines Gartenfestes erweckten. Welche Kontraste, welche Vermischung der entgegengesetzten Pole! Oben ewige Weite und Freiheit, Sterne, Symbol alles Erhabenen, unten ein Pferch für 12 000 geknechtete Menschen, dumpfe, niedrige Baracken, umgeben von einem Drahtverhau. Und dazwischen wuchsen schlanke Bäume, rauschend in den Himmel hinein, wagten bunte Blumen an den Stirnseiten der Baracken zu blühen, als sei hier ein Garten. Die roten Lämpchen blinkten wie zu einem Fest.

Ich sah auf zu dem Himmel, der sich hoch wölbte, unendlich frei und majestätisch. Ich sah die Sterne und dachte, wieviele Seufzer aus aller Welt bei ihrem Anblick wohl hinaufgesandt wurden, Seufzer auch für die 12 000 Männer, die hier auf ihren harten Strohsäcken schliefen, Männer ohne Frauen, ohne jede Liebe, ohne jede Hand, die sie zärtlich streichelte, ohne jeden lieben Mund, der ihnen ein gutes Wort sagte. * .

Es waren wieder teils graue, teils schöne Tage, sehr kühl, morgens fast kalt. Dicker Reif lag überall, die letzten Schwalben waren bereits fortgezogen. Tag um Tag verging, es geschah nichts Besonderes, außer den kleinen Dramen, die ich dann und wann sah und erlebte, kleine erschütternde Ausschnitte aus dem großen Film „Dachau", dessen Regisseur die SS mit ihrem Hilfsstab von Capos, Block-und Stubenältesten war.

Wir sind hier wie lebendig Begrabene, wir sind Tote, die Nachricht geben, die Briefe schreiben aus dem jenseitigen Leben, Briefe allerdings, die kontrolliert werden, in denen wir nicht sagen können, wie es uns ums Herz ist.

Der Trommler Es war ein Abend, wie alle Abende. Wir standen auf dem Appellplatz zum Zählappcll. Ein Flüstern lief durch die 12 000 Männer:

„Sie haben ihn wieder, wir werden gleich ein Schauspiel haben.“

Eine nervöse Stimmung lag über allen.

„Wen haben sie denn?“ fragte ich meinen Nebenmann.

„Nun, den, der letzthin durchgegangen ist. Zwei Wochen ungefähr hat er sich draußen gehalten, dann haben sie ihn doch erwischt. Ich sage es ja immer, es ist eine Dummheit durchzugehen."

„Weiß man es denn so sicher, daß sie ihn haben?"

„Freilich, Du wirst ihn dann schon selber sehen, wenn sie ihn hereinbringen zur . Auszahlung“."

„Was heißt das, Auszahlung?"

„Der kriegt natürlich seine Fünfzig, das kannst Du Dir doch denken. Siehst Du denn nicht, daß da vorn, vor der Küche der Bock steht?"

„Ja, soll da$denn vor uns allen geschehen?“

„Freilich, als abschreckendes Beispiel natürlich. Wenn der Zählappell vorbei ist, muß alles Stehenbleiben, und dann wirst Du ja das Schauspiel selber erleben. Hast Du noch nie gesehen, wenn einer fünfundzwanzig kriegt? Nein? Na, dann sei froh.“

Der Zählappell wurde diesmal sehr rasch abgenommen, es war erstaunlich, wie schnell das gehen konnte, wenn man wollte. Wir standen und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Plötzlich durchlief eine große Unruhewelle die Reihen. Hälse wurden gereckt, ein Flüstern lief von einem zum anderen:

Er kommt ..."

Trommelschläge ertönten, dumpf und seltsam schaurig. Auf dem weiten Appellplatz war Grabesstille.

In diese Stille hinein klang eine häßlich schreiende Stimme: „Willst Du laufen. Du Vogel, und trommeln!“

Dumpf tönten die Trommelwirbel, düster, wie zu einer Totenfeier.

Wieder redeten sich die Hälse. Der neben mir flüsterte: „Ich sehe ihn, er kommt jetzt hier herunter, jetzt ist er noch oben beim Tor, sie haben ihn ja gerade erst hereingebracht."

Der Trommelschlag kam immer näher, dumpf, Unheil verkündend. Jetzt war er vor unseren Reihen.

Ich sah einen Mann in Häftlingskleidern. Er mochte Mitte oder Ende der Zwanzig sein. Sein Gesicht war sehr bleich, fast weiß, eingefallen und elend sah er aus. Ein großes Plakat schwebte über ihm, es war an eine Stange genagelt. Diese Stange war an seinem Rücken festgebunden mit Stricken, die über Brust und Rücken liefen. Vor sich her trug er eine riesige Trommel, auf die er schlagen mußte. Hinter ihm her lief ein SS-Mann, trat ihn von Zeit zu Zeit und schrie:

„Willst Du laufen, du Hund! Willst Du trommeln, Du Vogel!“ Und er jagte ihn vor sich her.

Das Plakat schwankte über dem Trommler. In großen Lettern stand darauf:

ICH BIN WIEDER DA!

Was mochte in diesem armen, geflohenen, gehetzten Menschen vorgehen, der, nun wieder gefangen, so schimpflich seinen Kameraden vorgeführt wurde? Was mochte er für schwere, bittere Zeit auf der Flucht erlebt haben und dann die Wiederergreifung und die Einlieferung hier. Welche Schläge mochte er schon erhalten haben, bis er jetzt hier zur Trommel kam?

Dumpf klangen die Wirbel, düster und unheimlich, lächerlich schwankte das Plakat über dem Gefangenen, und wie ein böser Clown rannte der SS-Mann hinter ihm her, ihn immer wieder tretend.

Ich blickte mich um, betrachtete die Gesichter um mich her. Fast alle waren sie ernst, sehr ernst sogar, viele hatten einen finsteren, wütenden Ausdruck, manch einer sah weg oder sah zu Boden.

Aber da lachte einer:

„Wie blöd er sich anstellt beim Trommeln!"

Und er lachte.

Der, der neben ihm stand, sagte mit unterdrückter, halblauter Stimme:

„Und wie blöd Du bist. Ist das Eure Kameradschaft, daß Ihr einen armen Teufel, den sie zum Bock schleppen, auch noch auslacht? Pfui Teufel noch einmal! Na, vielleicht, hoffentlich, blüht es Dir selber einmal, dann kannst Du ja auch lachen."

Der andere war empört:

„Ich weiß gar nicht, was Du willst? Ich werde doch noch lachen dürfen? Warum hat sich der Trottel fangen lassen? Was kann ich dafür? Hab ich damals wegen ihm die halbe Nacht auf dem Appellplatz stehen müssen und frieren, so werde ich jetzt auch lachen dürfen.“

Der erste zuckte nur verächtlich mit den Achseln und wandte sich ab.

Der Trommler war vorbeigegangen. Die riesige Trommel schwankte vor ihm her.

Als das Ende der Front erreicht war, kehrte er um.

Das Plakat wankte, der SS-Mann hüpfte tretend hinterher und die Hände des Gefangenen sanken in müdem Rhythmus nieder.

Jetzt war er zur Mitte der Front zurückgekehrt. Die Trommel wurde ihm abgenommen, die Stricke des Schildes von seiner Brust losgebunden.

Stille trat ein.

Er wurde zum Bock geführt. Es sah aus, als führe man einen Menschen zum Schafott.

Der Bock stand vor der Küche. Zwei rohe SS-Henkersknechte hatten ihre Röcke ausgezogen, ihre Hemdsärmel hochgekrempelt und erwarteten ihr Opfer. Vor ihnen stand groß und breit das Ungetüm, der Bock.

Der Gefangene ging einige Schritte vorwärts.

Es herrschte Totenstille.

Wankte er nicht? Nein, er hatte sich nur gebückt.

Jetzt machte er wieder einige Schritte vorwärts, die beiden Schläger bogen ihre Ochsenziemer, wie in Wollust, sie sahen aus wie zwei rohe, blutgierige Metzgergesellen.

Da plötzlich stürzte der Gefangene nieder.

Mehr war nicht zu sehen. SS-Männer liefen hin, verdeckten die Aussicht.

Ein Häftling raste plötzlich über den Platz, gegen die Baracken zu.

Was war geschehen? Warum jagten sie ihn nicht mit Tritten hoch? War er so entkräftet, daß es nicht mehr ging?

Unruhe durchlief die 12 OOO Männer. Was war geschehen?

Man kam vom Revier her, brachte eine Tragbahre.

Zu gleicher Zeit kam der Befehl zum Abmarsch. Der Bock stand unbenützt vor der Küche. Warum?

Dieses „Warum“ war in unser aller Köpfen, als wir abmarschierten, singend natürlich.

Niemand wußte, was geschehen war. Selbst die in den vordersten Reihen hatten nicht viel mehr gesehen als ich. Später erst erfuhr ich den Grund durch einen Kameraden aus dem Revier.

Als der Gefangene zum Bock geführt wurde, hatte er sich gebückt, das lose hängende, halb abgetretene Hufeisen seines Absatzes abgelöst und sich dann in seiner Verzweiflung mit ihm die Halsschlagader durch-rissen. Er hatte es vorgezogen, zu sterben.

Heute sind fast drei Jahre darüber vergangen, aber diese Szene werde ich nicht vergessen und den Ton der Trommel noch weniger, er wird in meiner Erinnerung bleiben, solange ich lebe.

Toni will mich sprechen Am andern Tag, ich glaube, an einem Sonntag, war ich schon früh zu Bett gegangen. Es ging fröhlich zu, das Wetter war schön gewesen, der Tag ohne Arbeit verbracht, man war ausgeruht und daher übermütig. Einer erzählte einen Witz, ein anderer rief jemandem ein Scherzwort zu.

Ich lag schon im Bett, da kam Kramer, der Spanienkämpfer, zu mir:

„Du, komm nochmal heraus zum Toni, er muß Dir was Wichtiges sagen."

Draußen in der Stube traf ich Toni und Kramer in Tonis Stuben-ältesten-Ecke. Beide machten ernste Gesichter.

Toni sah mich eine Weile an:

„Eigentlich darf ich es Dir nicht sagen, Du darfst es erst morgen früh erfahren, weißt Du, sie haben Angst, daß einer sonst einen Fluchtversuch machen könnte, aber so dumm wirst Du ja nicht sein, und wie ich Dich kenne, wirst Du Dich auch nicht aufhängen deswegen. Du hast nämlich Pech gehabt. Du und Kramer, Ihr kommt morgen in die Isolierung, jetzt, nach drei Wochen. Bei Kramer ist es sogar schon länger her. Wir dachten, Ihr wäret über den Berg, es tut mir leid um Euch. Wir werden natürlich den Kameraden in der Isolierung Bescheid sagen, daß Ihr es wenigstens erträglich habt. Aber immerhin, es ist schwer genug, es ist sicherlich das Schwerste, was einem in Dachau passieren kann, außer dem Bunker. Aber Ihr müßt es halt auf Euch nehmen und stark sein. Vielleicht bleibt Ihr auch nicht lange drin. Man weiß das nie. Und es haben schon so viele vor Euch durchgemacht, und manche haben es auch überlebt. Heute ist es ja sowieso nicht mehr so schlimm, wie es einmal war, und wir werden schon aufpassen auf Euch, soweit wir halt können.“

Weder Kramer noch ich waren erschüttert. Eine neue Dachauer Phase würde beginnen. Wir waren fast neugierig darauf. Ein Wechsel in dem Grau der Häftlingstage, in diesem Einerlei, das könnte uns recht sein.

Warum nur alle so ernste Gesichter machten, wenn sie von der Isolierung sprachen?

Wir nahmen es mehr auf die leichte Schulter. Am nächsten Morgen würden wir sehen. Fast erschien dieser Morgen ersehnenswert, der endlich mit einer neuen Daseinsphase die Lagermonotonie durchbrechen würde.

Welch ein Glück, daß der Mensch seine Zukunft nicht kennt.

Fussnoten

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