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Als Häftling in Dachau . . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau | APuZ 7/1956 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1956 Als Häftling in Dachau . . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau

Als Häftling in Dachau . . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau

EDGAR KUPFER-KOBERWITZ

In dieser und den nächsten Ausgaben der Beilagen veröffentlicht die Bundeszentrale für Heimatdienst Teile eines Dokumentes wohl einmaliger Art. Ein Manuskript in Dachau geschrieben, 1945, vor nunmehr fast elf Jahren dort ausgegraben und seitdem in der Schweiz bei Freunden des Autors geborgen. Durch einen Dachauer Kameraden, Herrn Dr. Paul Collmer, Hauptgeschäftsführer des Zentralbüros des Evangelischen Hilfswerks, Stuttgart, wurde die Bundeszentrale für Heimatdienst auf die Existenz dieses Dokumentes aufmerksam gemacht. Dr. Collmers Vermittlung ist es zu danken, daß die Bundeszentrale für Heimatdienst das Recht der auszugsweisen ersten Veröffentlichung erwerben konnte. Folgende Teile werden in der Beilage veröffentlicht: Vorwort, „I. Akt, der erzählt, wie ich in Dachau ankam, was ich dort sah und in den ersten drei Monaten erlebte" und den „II. Akt, der erzählt, wie ich auf Transport nach Neuengamme ging und was sich dort alles zugetragen."

Abbildung 4

Das gesamte Manuskript wird demnächst im Verlage Vorwerk, Stuttgart, unter dem Titel „ALS HÄFTLING IN DACHAU" veröffentlicht werden.

Vorwort

Abbildung 1

Wie es möglich war, daß dieses Buch entstand

Abbildung 5

.. ....... geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau........... “ „Wie ist das möglich?“ wird man fragen.

Abbildung 6

Ja, wie war das möglich? — Viele Faktoren mußten zusammenwirken, dieses Wunder zu vollbringen.

Zwei Jahre lang lebte ich im Konzentrationslager, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, auch nur eine Seite zu schreiben, die unser Leben betraf. Ich hätte es nicht gewagt, durften wir doch von schriftlichen Dingen nur den letzten, von zu Hause erhaltenen, zensierten Brief im Spinde haben. Alle anderen Briefe mußten wir vernichten. Wohl durften wir für uns selbst ein wenig schreiben oder zeichnen, aber das alles mußte offen im Spind liegen, und war stets der Gefahr ausgesetzt, mißverstanden zu werden. Versteckt etwas schreiben konnte man auch nicht, da in der einzig freien Zeit stets zwanzig bis dreißig Augen am Tische waren, die beobachteten, was der andere tat. Wie leicht konnte darunter ein Verräterauge sein. Oder wie oft geschah es, daß unvermutet „Achtung!“ geschrien wurde und wir alle von unseren Sitzen hochfahren, strammstehen und alles liegen lassen mußten.

Lind ein Versteck? Man kann fast sagen, es gab kein Versteck, in das die SS nicht schaute oder wenigstens hätte schauen können. Wie oft kam es zu Durchsuchungen der Blocks und der Arbeitsstätten. Oft fanden sie viel, manches entging ihnen. Lind selbst wenn ein halbwegs sicheres Versteck gefunden worden wäre, wie schwierig, es unbemerkt zu erreichen und zu verlassen. Dazu kam, daß wir bald die Baracke wechseln mußten, bald die Arbeit.

Es hat Kameraden gegeben, Neulinge, Unerfahrene, die für sich selbst ganz harmlose Aufzeichnungen machten, Aufzeichnungen, die Lappalien betrafen, und die ihnen doch das Leben gekostet haben als die SS sie fand. Da und dort gelang es, Bruchstücke des Geschehens der Außenwelt zu übermitteln. Nie aber ist es gelungen, ein 'wirkliches Porträt des Konzentrationslagers anzufertigen.

Ich arbeitete im Betriebsbüro der kleinen Schraubenfabrik „Präzifix". Das Präzifix lag außerhalb des inneren Lagers, etwa 11/2 Kilometer von ihm entfernt, jedoch noch auf dem Boden des dritten Lagerbereiches, der ebenfalls noch mit einem Zaun umgeben war. Dieses Terrain war absolutes Lager und von außen nur durch die bewachten Tore erreichbar. Die Schraubenfabrik lag am Rande dieses Bereiches, der schmale Fluß Amper bildete die Grenze. Präzifix war ein kleines Lager im Lager, wiederum von einem Zaun, sechs Wachttürmen und elektrisch geladenem Stacheldraht umgeben. In diesem wohlbewachten Gehege befanden sich die Werkstätten und Büros. Später dann, nach der ersten Typhus-Epidemie, wurden auch unsere Schlafbaracken dort aufgestellt, so daß wir, die wir im Präzifix arbeiteten, von da an nun ganz in diesem kleinen Lager hausten und es nur selten verließen.

Ich arbeitete an einer unnötigen Kartothek, die man nach einem Jahre fortwarf, als man endlich einsah, was sie wert war. Meine Stellung war sonderbar: Zuerst für intelligent gehalten, dann, meinem merkwürdigen Benehmen zufolge als halbverrückt, nicht gut für ernste Arbeiten verwendbar erklärt, aber als Verfasser von Gelegenheitsgedichten »ehr gesucht, war ich nirgends unbeliebt, bei den Kameraden gern gesehen, von keinem gehaßt, der Hilfe eines jeden sicher. Im Betriebsbüro saß ich gewissermaßen im Kopfe des Unternehmens und hatte von vielen Dingen sofort Kenntnis, von denen die Kameraden nichts wußten.

Ein gewisse äußere Sicherheit kam hinzu: Das Betriebsbüro bewahrte kriegswichtige Dokumente auf über neuzufertigende Schrauben und andere Präzisionsteile. Diese Dokumente, Geheimschreiben der maßgebenden Stellen, Zeichnungen, deren Einsicht allen Nichtbeschäftigten untersagt war, lagerten in diesem Büro. Es gab eine Order von Berlin, die selbst der bewachenden SS den Einblick in die Papiere untersagte. Unter dem Vorwande der „Geheimproduktion" gelang es unserem Direktor später, die Posten aus den Werkstätten auf ihre Wachttürme zu verbannen, warf der Obermeister dutzendmal Posten und selbst höhere SS aus dem Büro. Die SS rächte sich durch nächtliche Visiten. Sie hatte dann eben auch Order, nach Verdächtigen zu suchen, nach Dokumenten oder Waffen. Es war ein dauernder Kampf: „Hie SS! — Hie Zivilverwaltung des Betriebes!"

Ich selbst zog die Konsequenzen und Vorteile aus diesem Zustand. Als Betriebsbüro hatten wir manchmal nachts bis 10 oder 11 Uhr zu arbeiten. Es war uns auch gestattet, unser Abendbrot am Arbeitsplatz einzunehmen.

Nun begann die Zeit meiner großen Mrbeit: Das Buch über Dachau.

Meinen Arbeitstisch hatte ich mir in einer halbdunklen Ecke gesucht, um mich herum eine ganze Burg aus Ordnern und Kästen und derartigen Büro-Utensilien aufgebaut.

Zwischen den Karthothek-und anderen Bogen lagen Gedichte, Aufzeichnungen und Notizen. Wenn es einmal dem Obermeister oder irgendeinem anderen gelang, mich zu überraschen, so fielen ihre Blicke auf die rasch zudeckenden Kartothekblätter oder — auf ein harmloses Gedicht, die harmlosen Sätze irgendeines Gedankenganges. — Sollte einmal ein Gedicht in die Hände der SS fallen, geschrieben während der Arbeit, so war das nicht so schlimm. Es gab Prügel, eine Meldung, die berühmten „Fünfundzwanzig".

Meine Aufzeichnungen aber waren schwer zu verbergen. Als es noch wenige waren, legte ich sie — wenn niemand im Raume war — auf die Gardinenstange oben. Später, als es mehr Blätter wurden, fand und erfand ich die unmöglichsten Verstecke, doch auch sie benutzte ich stets mit Bangen, denn die SS wa. mit allen Hunden gehetzt. Da ich das Büromaterial verwaltete, ließ ich dafür eine große Kassette anfertigen. In diese Kassette fügte ich ein Brett, das genau paßte und wie der Boden aussah. und baute dann wieder darüber Schachteln mit Federn, Bleistifte, Radiergummis und Lineale.

Oft fragten mich die Kameraden: „Kupfer, was schreibst Du denn soviel?“ -----„Einen Roman“, sagte ich dann. -------„Dürfen wir ihn auch lesen?“ -----„Ja, aber erst, wenn er fertig ist.“ -------»Zeig doch mal, was Du bis jetzt schon geschrieben hast.“ ------„Ihr könnt meine Handsdirift ja doch nicht lesen.“ -----„Aber Du kannst uns vorlesen." ------„Ja, aber unfertige Sachen grundsätzlich nicht.“ -------So mußten sie sich mit dem begnügen, was ich ihnen sonst von meinen harmlosen Arbeiten zu lesen gab.

Alles in allem schrieb ich fast zwei Jahre abends und nachts an meinem . Dachauer-Buch“. Die Kameraden ahnten nicht, daß es jeden Morgen 2 oder 3 Uhr, manchmal auch 4 Uhr war, wenn ich meine Arbeit beendete. Heimlich und unbemerkt schlüpfte ich aus dem Büro in die Baracke und legte mich schlafen. Am Morgen stand ich dann mit den anderen zusammen auf und niemand wußte, daß ich nur ganz wenige Stunden geschlafen hatte.

Das Manuskript hatte allmählich einen großen Umfang erreicht. Es bildete eine ständige Gefahr für mich. Ich besprach mich lange mit einem guten Kameraden, dem „Kröttle", Otto Höfer.

Otto Höfer hatte das Materiallager unter sich, das in einer Halle untergebracht war. In starken Fächern aus Holzbalken lagerten da viele Tonnen Stahlstäbe, jede Stange meist 31/2 bis 4 Meter lang. Das war der einzige Platz im Werk, der sicher war, überall wurde wieder umgestellt, anderes arrangiert, neu gebaut, nur dieses Lager blieb an seinem Ort, der Menge und Schwere des Materials wegen. Otto Höfer selbst war tausendprozentig sicher, verschwiegen, ein Kamerad, erprobt. Er war klein von Wuchs und besaß als einziger die Fähigkeit, zwischen den schmalen Fächern der Holzträger, die etwa 40 auf 30 Zentimeter groß waren, hindurchzukriechen. Jeder andere blieb bei einem solchen Unternehmen stecken, ohne vor oder zurück zu können. Nachdem alles vorbereitet war, brachte ich abends heimlich meine Manuskript-Pakete, verpackt in viele Lagen Ölpapier, wohl verschnürt, noch von kleinen Aluminiumfolien umgeben und mit Stoff umwickelt. Er vergrub sie heimlich im Hintergrund der Stellage, wo er den Zement-boden aufgemeißclt hatte. Die Stelle zementierte er zu. Dann schob er das Material wieder darüber. Die Manuskripte lagen nun im Boden, wohlverwahrt unter einer Zementdecke und belastet von vielen Tonnen Stahl, sie lagen wie in einem Tresor, selbst gegen Bomben gesichert.

Ich hatte Höfer gebeten, sie Hilda oder meiner Schwester zu bringen, falls ich sterben sollte. Außerdem als Dritter wußte Stanislaus Janezar (Stani) die Stelle und hatte den gleichen Auftrag, falls Höfer und ich sterben sollten. Und für den Fall, daß auch Stani nicht mehr am Leben sei. hatte ich ein Testament geschrieben und zu den Manuskripten gelegt.

Wie gut das Versteck unter den vielen Tonnen Eisenstahl gewählt war, zeigte sich erst später, als die SS, nach Waffen suchend, die Holzfußböden in den Baracken aufriß. Wenige Zeit danach wurde ich krank. Sechs Monate lang lag ich in unserem Hospital, dem „Revier“. Im letzten Augenblick noch war es mir möglich gewesen, meinem polnischen Kameraden Thadäus Swiderski zuzuflüstern, wo meine Arbeiten, an denen ich zur Zeit noch schrieb, lagen und ihn zu bitten, sie Höfer zu übergeben, der wisse, was damit zu beginnen sei. Swiderski, ein guter Kamerad, Patriot und anständiger Kerl, erledigte alles gewissenhaft. Es war mein Glück. Bei einer späteren Razzia der SS wurden meine Verstecke im Büro entdeckt, aber leer gefunden. Die Kameraden verrieten mich nicht.

Aber mit einem hatte ich nicht gerechnet, mit dem Grundwasser. Das Grundwasser war im Frühjahr gestiegen, hatte sogar teilweise den Zementboden des Materiallagers überschwemmt.

Als am 5. 5. 1945 im Beisein des Sonderbeauftragten des Hauptquartiers der 7. amerikanischen Armee, Mr. Walter Marek, Stanislaus Janezar und ich die Manuskripte ausgruben, schlug unser Herz in banger Erwartung: Hatte die Feuchtigkeit, das Wasser, alles zerstört? — Tausende unserer Kameraden waren tot, die damals, als wir es vergraben hatten, noch lebten. — War das Manuskript auch nicht mehr?.

Stani zog mit viel Mühe die Pakete ans Tageslicht, nachdem wir die Stahlstangen weggeräumt und er den Zement aufgehauen hatte. Die Stoff-hüllen fielen vermodert ab, das Ölpapier war zersetzt, auch die Silber-folien, — die Manuskripte selbst waren schwere, nasse Papierballen geworden.

Alles wurde geborgen. Die amerikanischen Befreier stellten mir Räume zur Verfügung, um das Manuskript zu retten. Ich baute eine Trocken-anlage, erhielt einen Sekretär zur Hilfe.

Das Manuskript war vorsorglich mit Tintenstift geschrieben. Einiges war lesbar, das meiste schien verloren. Einen Monat lang arbeitete Stani unermüdlich, trocknete die Blätter. Es erforderte viel Kunst und Geduld, und er hatte Erfolg. Nur wenige Seiten blieben gänzlich zerstört.

Der Hilfsbereitschaft der amerikanischen Offiziere des Hauptquartiers der 7. Armee, vor allem Mr. Thomas Emmet und seinem Stab, verdanke ich es, daß das Manuskript gerettet werden konnte.

Schloß Haus bei Regensburg, den 10. 7. 1945

Edgar Kupfer-Koberwitz Das Problem Dachau ist nicht nur ein deutsches Problem, es ist ein Problem der gesamten Menschheit, nämlick die Frage: Tier sein, oder Mensch werden.

Dachau, Lager-Stadt ohne Frauen, Stadt der 10000 Männer

Abbildung 2

Wie ich in Dachau ankam, was ich dort sah und in den ersten drei Monaten erlebte

Ankunft in Dachau 11. November 1940. Wir waren fünf Mann, mein Zellengenosse der junge Wilderer, zwei Männer in mittleren Jahren und der Mann mit dem künstlichen Bein.

Ich saß neben den Vieren auf der Bank, und wir warteten. Das Auto war noch nicht da. Mir zur Rechten schnallte der, den sie den Doktor genannt hatten, sein Bein an. Zur Linken saßen die anderen.

Da sagte der zur Linken halblaut zu mir:

»Sie fahren auch nach Dachau?"

„Ja, ich und der junge Mann dort", gab ich ebenso gedämpft zurück. Er nickte stumm. „Es ist kein schönes Gefühl, nicht wahr? Na, Sie werden ja sehen. Es ist nicht mehr so schlimm, wie es war, es ist vieles besser geworden.“

„Kennen Sie denn Dachau?"

Er lächelte bitter:

„Ich bin schon drei Jahre dort, und die beiden anderen hier sind auch im Lager. Ich und der neben mir, wir waren nur einige Tage nach München geschieht worden."

„Wie ist denn die Behandlung?“

„Wir dürfen nichts darüber sagen. Es ist auch unnötig. Sie werden das alles ja bald selber sehen. Was sind Sie eigentlich von Beruf?"

„Schriftsteller."

»Schriftsteller?"

Er blickte erstaunt und interessiert. Ich fügte schnell hinzu:

„Kein bekannter Mann, eine ganz unbekannte Größe." „Wenn einer ein Buch darüber schreiben könnte, ein richtiges Buch. Das wäre etwas, das ist die Sehnsucht von uns allen, damit die Welt es einmal erfährt, was es heißt: , Dachau“. Halt die Ohren offen und die Augen, Kamerad, vielleicht gelingt es Dir, vielleicht kommst Du durch und siehst die Freiheit wieder, und wenn Du alles gut in Dich ausgenommen hast, vielleicht kannst Du es dann schreiben, das Buch über Dachau.“

Ein junger SS-Soldat kam. Sofort sprangen die Drei von Dachau auf und standen stramm, die Hände an der Hosennaht, den Hut in der Hand, den Blick geradeaus gerichtet.

Der SS-Mann hatte tadellos gewichste Stiefel und eine gutsitzende Uniform, an seinem Gürtel saß eine Pistole. Er schätzte uns kalt ab, wie eine Ware.

„Fünf Mann. — Stimmt. — Los! Der Wagen wartet.“

Wir stiegen ein.

Die Türe wurde zugeschlagen. Der SS-Mann nahm in einem kleinen Verschlag hinten im Wagen Platz. Die Türe zu diesem Verschlag blieb offen.

Es war kalt, innerlich und äußerlich. Mir gegenüber saß mein Zellen-genosse, der junge Bursche. Er war sehr bleich und saß in sich zusammengesunken. Ich betrachtete die anderen. Jeder blickte vor sich hin.

Draußen glitten die letzten Straßenzüge Münchens vorbei. Jetzt fuhr der Wagen auf der Landstraße. Die eisigstille Luft griff auch langsam mir ans Herz, aber seltsam, nicht wie dumpfe Ahnung, sondern wie Schmerz um ein Schreckliches, das ich erlebte und in das ich hineingetragen wurde, Meter um Meter, von den rasch rollenden Rädern des Autos.

Dei vorher mit mir im Gefängnis gesprochen hatte, wechselte unauffällig den Platz und setzte sich neben mich.

„Wir werden gleich in Dachau sein. Dort nur immer, wenn eine Uniform in Sicht ist, stramm stehen und Mütze ab und klar und deutlich antworten.“

Dann war lange Zeit Schweigen, bis er meinen Arm leicht berührte:

„Das gehört alles schon zum Lager, es ist ein sehr großer, geradezu riesiger Raum, den es einnimmt. Da, das alles, die Häuser dort."

Ich blickte angestrengt hinaus. An dem kleinen Fenster, neben dem Posten, glitten Häuser vorbei, große und kleine, eine Mauer, ein Schornstein. Die Gebäude sahen aus wie überall, er mußte sich wohl täuschen, ich konnte an diesen Häusern nichts Besonderes oder Verdächtiges bemerken. Wir kamen durch ein großes Tor. Hinter uns ging ein Schlagbaum nieder. Lagerhäuser rechts und links, dann eine Biegung. Wir fuhren durch eine kleine Pappelallee.

Der Wagen hielt.

Wir kletterten hinaus und wurden vor ein niedriges Gebäude geführt. Vor uns floß, in einem Graben, ein etwa vier Meter breites Wasser. Auf der anderen Seite war Stacheldraht gespannt. Über das Wasser führte eine Brücke. Ein Gebäude war auf der gegenüberliegenden Seite, der Brücke vorgelagert, in seiner Mitte ein großes gähnendes Tor, über diesem Tor, aus dem Dache des Gebäudes ragend, ein viereckiger Turm, auf ihm standen Posten mit Stahlhelmen. Maschinengewehrläufe ragten aus der Windscheibe.

Mein Nachbar flüsterte mir zu:

„Der Draht ist elektrisch geladen. Siehst Du den großen freien Platz und dahinter die vielen niedrigen Baracken? Dort wohnen wir.“

Die fernen Baracken schimmerten grün herüber durch den Stacheldraht. Man sah selbst von weitem, alles war peinlich sauber gehalten, nicht das kleinste Stückchen Papier lag irgendwo. Aber über allem dräute etwas Unerbittliches, etwas Furchtbares, etwas Eiskaltes, das beängstigte. Ich hatte nie in meinem Leben vorher eine Umgebung so bedingungslos unerbittlich, gefährlich und feindlich empfunden.

Eine Kolonne im Marschschritt kam die kleine Pappelallee entlang. Sie sang irgend ein Lied. Direkt auf das Tor marschierte sie zu, ganz exakt im gleichen Schritt und schnurgerader Linie. Sie trugen dunkle gestreifte Anzüge und runde, schirmlose Mützen. Alle sahen seltsam bleich aus. Einige schielten interessiert zu uns herüber, aber keiner wagte den Kopf zu wenden. In der großen Toreinfahrt wurde ein schmiedeeisernes Gitter geöffnet. Der Trupp passierte die Brücke und das Tor, marschierte dann singend über den großen, freien Platz, der dahinterlag und verschwand zwischen den fernen Baracken. * Ein SS-Mann kam, sah uns verächtlich an:

„Könnt Ihr nicht Eure Knochen zusammenreißen, wenn ich komme, was?!“

Und schon schlug er dem jungen Burschen die Mütze vom Kopf:

„Du kannst wohl Deine Mütze nicht abnehmen, Drecksau!"

„Rechts um, marsch!“ kommandierte er.

Wir marschierten in das flache Gebäude. Innen mußten wir uns auf einem schmalen Gang an die Wand stellen und warten. Dann wurde einer nach dem anderen aufgerufen, zuerst die Drei, die schon früher hier gewesen waren. Jeder von ihnen öffnete die Tür, stand stramm und rief, den Hut in der Hand:

„Bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen."

Dann schloß sich die Türe.

Jeder hatte, bevor er eintrat, die Schuhe ausgezogen und vor der Türe stehen lassen. Auch uns war gesagt worden, daß wir barfuß oder in Strümpfen eintreten müßten.

Als die Drei, einer nach dem andern, wieder herauskamen, atmeten sie sichtlich auf. Der mit dem friedlichen Gesicht stellte sich wieder neben mich an die Wand:

„Du mußt das gleiche sagen, bevor Du eintrittst und wenn der drinnen Dich etwas fragt, so antwortest Du kurz und klar, sagst immer dazu: , Herr Hauptscharführer’, das ist sein Titel. Wenn Du das gut machst, ist es möglich, daß Dir nichts geschieht, daß sie Dich weder treten noch schlagen."

Vor mir wurde der junge Bursche hereingerufen. Kaum war er eingetreten, so hörte ich einen Schrei, die Türe öffnete sich, und er stürzte heraus. Hinter ihm stand ein SS-Mann und trat ihn mit dem genagelten Stiefel!

, Steh auf, Du Sau, und komm“ wieder herein, wie es sich gehört!“

Dann knallte er die Türe zu.

Die anderen sahen sich an. Einer flüsterte dem Burschen zu:

„Du hast doch gesehen, wie wir es machten. Klopfe wieder an, und wenn es . herein'ruft, so sagst Du: . Bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen.'Und stramm stehen und kurz antworten und Herr Hauptscharführer sagen.“

Ich sah, welchen Mut es dem jungen Menschen kostete, wieder anzuklopfen. Er hob den Knöchel wie ein Hypnotisierter.

Drinnen brüllte jemand: „Herein!“

Er öffnete die Türe und stotterte:

„Bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen."

„Rein!“, schrie es von innen.

Man hörte wieder schreien, hörte klatschende Geräusche, wieder eine brüllende Stimme, wieder Klatschen.

Nach einer Weile kam der Bursche heraus. Sein Gesicht war gerötet. Gleich darauf wurde ich gerufen.

Ich klopfte, öffnete die Türe, stand stramm:

„Bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen.“

Ich sagte es ruhig, aber laut.

„Mach', daß Du reinkommst!" war die Antwort.

Ich trat ein, schloß die Tür hinter mir und fand mich in einem Büro, einem uniformierten SS-Mann gegenüber, der seinem Aussehen nach ein Holzknecht hätte sein können. Ich blickte ihm ruhig und fest in die Augen. Das ertrug er nicht, er schaute zur Seite.

„Wann sind Sie geboren?“

Ich antwortete.

Er wandte sich zur Seite:

„Wo ist denn der Akt?“

Da erst sah ich, daß außer ihm noch zwei Menschen im Raume waren, zwei glattgeschorene Häftlinge in blauweiß gestreiften Drillichen.

Alles verlief reibungslos. Ich mußte nur Personalangaben machen. Zum Schluß sagte der Uniformierte: „Wegtreten!“

Ich ging zur Tür.

„Halt!" donnerte er hinter mir her:

„Kannst Du nicht wegtreten, wie es sich gehört?“

Was sollte ich aus diesen Worten machen? Aber mir blieb nicht lange Zeit zum Überlegen. Der SS-Mann trat bedrohlich nahe auf mich zu und stemmte die Hände in die Hüften.

Da rettete einer der beiden Häftlinge die Situation:

„Der Herr Hauptscharführer hat gesagt: . Wegtreten!', das heißt bei uns militärisch abtreten, rechts um und ab."

„Halts Maul, Du hast Dich gar nicht einzumischen!“ schrie der Hauptscharführer erbost.

Ich aber stand still, mähte links um und marschierte unbehelligt aus der Höhle des Löwen.

Draußen sahen mich die anderen besorgt an:

„Ist es gut gegangen?", flüsterte einer.

„Ja, ziemlich."

„Da kannst Du Gott danken. Sei froh."

Schon wurde eine andere Tür geöffnet. Ein junger SS-Mann trat heraus und musterte uns:

„Los, einer nach dem anderen eintreten, aber Schuhe aus!“

Mein Informator flüsterte mir zu:

„Das ist der vom Erkennungsdienst, der Photograph. Vorsicht, wenn Du auf dem Photographenstuhle sitzt, möglichst schnell wieder herunter gehen!"

„Warum?", fragte ich leise.

Aber ich erhielt keine Antwort mehr.

Nacheinander traten wir beim Photographen ein. Im Vorzimmer empfing uns ein freundlicher Häftling. Er ließ sich unsere Personalien nennen und trug sie in irgendein Formular ein. Dann hieß es wieder:

„Bitte gehorsamst, eintreten zu dürfen.“

Es sah aus wie in jedem photographischen Atelier, nur daß die beiden Photographen in SS-Uniform waren. Sic fragten kurz nach dem Namen und kommandierten:

„Los, rauf auf den Stuhl!“

Es war der übliche photographische Stuhl. Er ruhte auf einer Schiene und konnte vom Apparat aus gedreht werden.

Es wurden Photographien gemacht, eine Vorder-und zwei Seitenansichten. „Runter!" kommandierte dann der SS-Photograph.

Der, welcher vor mir photographiert wurde, sprang mit einem kleinen Sckrei vom Stuhl. Der SS-Photograph lachte.

Nun kam ich an die Reihe, auf den Stuhl. Als alle Seiten photographiert waren und das Kommando ertönte, war ich schon unten. Der SS-Photograph fluchte: „Verrückter Hund! — Willst Du warten, bis ich kommandiere?“

Draußen auf dem Gang flüsterte mir der junge Bursche zu:

„So eine Gemeinheit. Wie die das nur machen? In dem Stuhl muß eine Nadel sein. Als er schrie: , Los, runter!'stach mich im gleichen Augenblick eine Nadel in den Hintern. Haben Sie nicht gesehen, wie er gelacht hat!"

Der SS-Mann, der uns hierher geführt hatte, holte uns wieder ab. Zwei und zwei marschierten wir an dem Gebäude entlang, über die Brücke, mitten in das gähnende Tor hinein.

Der SS-Mann, der uns führte, rief:

„Fünf Zugänge ins Lager!“

Der Mann am Fenster schaute in ein Papier: „Tor auf!“ in dem großen Gitter eingeschnitten, befand sich eine kleine Pforte, sic sprang auf. Diese kleine Pforte war gerade groß genug, um einen Mann passieren zu lassen. Mit schmiedeeisernen Lettern trug sie als Verzierung die Inschrift: „ARBEIT MACHT FREI."

Das war ein tröstliches Motiv, eines, das zu allen möglichen Hoffnungen berechtigte. Denn wenn Arbeit frei machte, so mußte man eben arbeiten, tüchtig arbeiten, wer würde es nicht gerne tun, um wieder die Freiheit zu sehen?

Wir gingen einzeln durch das Tor und marschierten dann wieder, zwei und zwei, weiter. Vor uns breitete sich ein großer freier Platz aus, wie ein Kasernenhof, nur viel trostloser. Er mochte etwas über 200, vielleicht auch 300 Meter lang sein, seine Breite schätzte ich auf etwa 100 bis 150 Meter. Zu unserer Rechten lag ein riesiges weißes Gebäude in Hufeisen-form. Seine Länge mochte etwa 200 Meter betragen, die Tiefe seiner Flügel etwa 60 bis 80 Meter.

Neben mir ging der Mann mit dem künstlichen Bein. Er flüsterte:

„Da rechts ist das Wirtschaftsgebäude, in der Mitte die Küche, daneben das Bad, der Flügel unten die Kammer für Kleider, Wäsche und Schuhe, die Schusterei und Schneiderei. Der Flügel, in den wir jetzt gehen, enthält die Lagerwerkstätten und die Kleiderkammer für die privaten Häftlingskleider und Utensilien, auch die Zahlmeisterei ist darin.“

Er deutete auf die zwei Rasenflächen, die sich vor dem großen Wirtschaftsgebäude ausbreiteten, große Blumenrabatten zierten sie: „Sieht das nicht alles friedlich aus, harmlos und einladend? Muß man nicht direkt denken, es sei schön hier zu leben?“

Einige Treppen waren vor uns.

„Hut abnehmen“, flüsterte mein Nachbar.

Wir kamen durch einen Vorraum und dann in eine große lange Halle.

Viereckige Pfeiler trugen die Decke, sie befanden sich etwa in der Mitte des Raumes. Zwischen ihnen standen Tische, die so das Ganze in zwei Hälften teilten. Über den Tischen hingen Plakate: Von A—K, von K—P, usw., hinter diesen Barrieren einige Männer mit kahlgeschorenen Köpfen, gestreiften Anzügen und intelligenten Gesichtern.

Wieder wurden unsere Personalien ausgenommen. Im Hintergrund schrie ein SS-Mann:

„Vorwärts, schneller!“

Der SS-Mann, der uns gebracht hatte, kommandierte:

„Ausziehen, los, schnell! Die Kleider und Wäsche alles auf einen Haufen!“

Was hieß das?

Aber es war nicht viel Zeit zum Nachdenken.

Einer der alten Dachauer stieß mich an:

„Mach schnell, wenn Du nicht einen Tritt haben willst. Sei froh, daß wir so wenige sind. Wenn mehr kommen, dann gibt es immer Hiebe und Tritte.“

Also machte ich es wie sie, zog so schnell wie möglich meinen Mantel aus, breitete ihn auf den Boden, dann Jacke, Hose, Hemd, Unterwäsche, Strümpfe, Schuhe, alles dazu. Die Taschen mußten vorher geleert werden. Dann wurde alles zu einem Bündel zusammengeschnürt.

Einer der Geschorenen war hinter der Barriere hervorgetreten und schrieb die einzelnen Stücke auf. Die kleinen Sachen aus den Taschen mußten abgegeben werden, sie kamen in einen Beutel und wurden nicht extra ausgeschrieben. Geld durfte man behalten, bis zu dreißig Mark.

Ich gab das Medaillon ab, das meine Wirtin in Ischia mir zum Abschied gegeben hatte, eine Medaille des San Giovan Giuseppe della Croce, des Heiligen von Ischia, er sollte mich beschützen.

Der junge Bursche aus Österreich hatte wieder Pech gehabt. Er war nicht schnell genug mit seinen Sachen fertig geworden. Der SS-Mann trat dicht zu ihm heran:

„Glaubst Du, Du kannst hier schlafen? He?!“

Der Arme duckte sich und mühte sich, seine Sachen zusammenzuknoten. „Steh stramm, Mensch, wenn ich mit Dir rede!“

Der Bursche schaute erschreckt auf. Da traf auch schon ein kräftiger Tritt des SS-Mannes seinen nackten Körper, so daß er hinstürzte.

Der SS-Mann schrie:

„Willst Du vielleicht aufstehen, Du Drecksack! Willst Du jetzt stramm stehen? — He?!“

Der Bursche wich dem nächsten Tritt aus, richtete sich auf und stand stramm.

Wir waren alle pudelnackend. Nackend strammstehen, -es erschien mir wie ein schlechter Witz.

Ich betrachtete die Gesichter der anderen. Sie hatten gespannte Mienen, aber nichts an ihnen verriet, daß für sie die Szene ungewöhnlich war, sie schienen vielmehr derartige Auftritte als selbstverständlich zu nehmen, nur ihre Augen zeigten, daß sie alles genau verfolgten und selbst auf der Hut waren.

Der SS-Mann schien sich wieder beruhigt zu haben. Am Obershenkel des jungen Burschen sah man den Abdruck seiner schmutzigen Stiefel-sohle. „ . .. gestanden!" kommandierte er. — „Rechts um, ins Bad, los!"

Wir marschierten auf eine Wand zu, kamen an eine Tür, gingen durch sie in einen Maschinenraum, in dem peinlich saubere, ganz moderne Anlagen standen, dann in einen Vorraum. Da standen Hocker und vor ihnen kahlgeschorene Häftlinge mit Scheren und Haarschneidemaschinen in den Händen.

Wir mußten uns setzen. Sie schauten uns freundlich an. Einer trat zu mir: „Jetzt kommen Deine Haare herunter. Dahauer Frisur, glattgeschoren." Und er schnitt die Haare ab, dann tat die Maschine den Rest und sorgte für den vorshriftsmäßigen kahlen Kopf. Wurde es getan, uns zu „entehren“ oder aus Reinlichkeitsgründen?

Dann wurde die Tür zum Bad geöffnet. Es war ein etwa dreißig Meter langer und fünfzehn Meter breiter Raum. An der einen Seite nahmen Kleiderständer etwa drei Meter der Längsfront ein. Die andere Seite war frei. Hunderte von Brausen hingen von der Decke.

Wir wurden unter Einzelbrausen an der Wand abgeduscht, warm sogar. Dann bekam jeder ein Handtuch.

Auf einer Bank unter den Kleiderständern lag bündelweise unsere neue Kleidung. Ich kam als letzter. Es war nur noch ein Bündel da, ein Hemd, es ging mir niht weit über-den Nabel, eine dünne Unterhose, sie ging sogar bis unter die Knie, dafür aber umfaßte sie meinen Leib nur teilweise. Strümpfe, bei denen die Ferse des Strumpfes auf die Mitte der Sohle kam, und der gestreifte Anzug! Die Hose war zu kurz, ging bis eine Handbreit über die Knöhel und der Kittel shloß mit Mühe und Not unten, über der Brust war er aber niht zuzukriegen, seine Ärmel waren viel zu kurz und spannten in den Ellenbogen. Ih hatte zwei ver-shiedene Shuhe erwisht, einer paßte, der andere war eine Folter-kammer. Aber ih mußte hinein. Den Abshluß bildete die kreisrunde, gestreifte und schirmlose Mütze, ih konnte sie aber nur wie ein Krone tragen, so hoch oben saß sie, und boshafterweise ließ sic sich selbst mit, Gewalt niht weiten.

Staunend blickte ih an mir hinunter. Ih sah die anderen stehen, sie warteten auf mih. Wie unglückliche Clowns standen sie da. Ih begriff jetzt, daß man so etwas nicht mehr mit dem Worte Kleid, sondern mit dem Worte „Kluft“ bezeichnete.

Was mähte man hier aus den Menshen. Waren wir tatsählih durch den geshorenen Kopf und das gestreifte Gewand schort niht mehr wir? Waren wir shon dadurh in eine andere Kategorie von Menschen getreten, in die der „Häftlinge“? Äußerlih wenigstens konnte man uns kaum wiedererkennen. Wie würde es innerlich werden? Ob man uns da auh solh ein genormtes, gestreiftes Zeug würde anziehen können und uns allen den gleihen geshorenen Shädel geben: genormtes Denken? Shon fühlte ih mih niht mehr als Zivilist. Irgendjemand anderes war ih geworden, aber wer? Wer war ih —-----? Draußen das Leben schien fern, und weit, und lange schon vorbei. Es gab ein neues Leben und eine neue Welt für mich. Diese neue Welt hieß: Dachau, ein von Stacheldraht eingezäunter Fleck Erde. * Wir schritten über den großen Appellplatz des Lagers gegen die niederen, grünen Baracken zu. Eine wärmende Wintersonne strahlte vom Himmel, ab und zu aus den verdeckenden Wolken brechend. Ich blickte zurück zum Eingang. Auf dem Turm standen die Posten neben den schußbereiten Maschinengewehren, sie beobachteten unsere kleine Gruppe. Die elektrische Uhr am Turm zeigte etwas über zwölf Uhr. Genau dem Eingang gegenüber stand ein anderer Turm. Er war aus massivem Stein gebaut, sein oberstes Stockwerk war glasverkleidet. Auch von da spähten Augen und starrten Maschinengewehre. Er stand an der Ausgangslinie des Lagers, an ihm vorbei lief der hohe Stacheldraht, hinter ihm war eine etwa drei Meter hohe Mauer.

Wir gingen auf die erste Baracke zu. Dort mußten wir uns in einer Reihe aufstellen und warten. Der Mann neben mir begann leise zu reden: „Das alles, was Du hier siehst, haben wir aufgebaut. Früher war hier nur ödes Feld und Wald, und die halbverfallenen Baracken einer alten Fabrik. Sie sind längst abgetragen. Was das alles für Arbeit kostete, bis es soweit war, wie es heute ist. Sechs Jahre Arbeit und Schweiß und viel Blut. Alles mußte im Laufschritt getan werden. Bis über die Knöchel standen wir meist im Wasser, denn es ist alles Moor-grund. Da, hinter dem Zaune, hinter der Mauer, ist ein großes, freies Feld, sie nennen es die „Plantage". Das ist heute gutes Land und ganz eben. Alles haben wir getan, Bäume gefällt, Wurzeln herausgerissen, den Boden eben gemacht und Erde darauf gefahren. Oh, es hat Tote gekostet! Wenn Du einmal da heraus kommst, wirst Du ein großes, modernes Wirtschaftsgebäude stehen sehen. Auf dem gleichen Fleck fast war früher das Haus des Bauern, dem das Land gehörte, ein richtiges Bauernhaus. Er hatte zwei Töchter, die winkten uns immer herüber, wenn wir arbeiteten. Der Alte sollte den Grund an die SS verkaufen, aber er mochte nicht, er wollte sich nicht von der Scholle seiner Väter trennen. Da kam er eines Tages selber hier ins Lager. Hier ist er dann gestorben, was man so sterben heißt. Und die Töchter haben dann den Grund verkauft, was blieb ihnen anders übrig?"

Mein Nebenmann fuhr fort: „Ich habe Angst für mich, ich bin ein Zweitmaliger, gegen die sind sie besonders streng. Wenn ich nur nicht in die Isolierung komme.“

Isolierung . .., Zweitmaliger.. ., es waren alles neue Worte für mich, deren Sinn ich nicht kannte. „Idi war sechs Jahre lang hier eingesperrt. Vor einem Jahre wurde ich entlassen. Ein Jahr lang war ich in Freiheit. Wenn einer das zweite Mal hierher kommt, so wird er besonders scharf angefaßt. Früher bekam man gleich „fünfundzwanzig" und wurde in die Isolierung gesteckt, das ist die Strafkompanie. Da sind alle, die irgend etwas taten, was gegen die Regeln des Lagers verstößt und auch die, die schon mit besonders belastenden Akten ankommen, die Zweitmaligen und die Juden kamen auch alle hinein. Aber vielleicht hat sich das geändert, ich habe bis jetzt ja auch keine „fünfundzwanzig“ bekommen. Aber wer weiß, vielleicht kommt das noch.“ „Was ist denn das . fünfundzwanzig’?“

„Das sind Prügel. Wer sich das Kleinste zuschulden kommen läßt, bekommt fünfundzwanzig oder fünfzig auf den Arsch. Das ist eine der Lagerstrafen. Du staunst, es ist so, wie ich Dir sage. Man w rd über einen Bock gelegt, zwei SS-Männer stehen da und schlagen mit großen eingeweichten Ochsenziemern. Man muß selber mitzählen, verzählt man sich, fangen sie von vorne an. Wenn man einen Schlag zu hoch erwischt, in die Nieren, kann es das Leben kosten. Nachher muß man Kniebeugen machen, bis die anderen ihre Prügel alle gekriegt haben. Viele sind dann immer ganz aufgehauen, rohes Fleisch, sie werden mit Jod gepinselt, das tut gut, kann ich Dir sagen. Wenn es zu schlimm ist, kommen sie ins „Revier“, das ist das Lazarett hier. Sieh Dich nur vor, es kann jedem passieren.“

In dem Augenblick stieß mich von der anderen Seite mein Nebenmann an:

„Achtung, es kommt einer, Mütze ab."

Ich schaute auf. Ein SS-Mann kam vorbei. Wir rissen alle die Mützen vom Kopf und standen stramm. Er musterte uns, fragte einen:

„Zugänge?“

„Jawohl, Herr Blockführer!" antwortete der.

Da ging er weiter.

Gleich darauf wurden wir in die Baracke gerufen. Wir traten in eine kleine Schreibstube. Eine Barriere trennte uns von den Schreibern. Ich sah mich in dem Raume um. An den Wänden standen Regale, auf den Tischen große Kartothekkästen. Die Schreiber hatten geschorene Köpfe und gestreifte Kleider, lauter Häftlinge. Kein SS-Mann war anwesend.

Alle waren tätig, machten Eintragungen und blätterten in Kartotheken. Einige von ihnen aßen zwischendurch einen Löffel Essen aus einem großen Aluminiumnapf, dicke Erbsen. Das Essen sah gut aus, und reichlich schien es auch zu sein.

Einer der Schreiber schien meinen Blick gesehen zu haben. Er fragte lachend:

„Gelt, Ihr habt noch nichts zu Mittag gegessen?"

„Nein." „Da habt Ihr Pech gehabt, jetzt gibt’s nichts mehr, müßt halt warten bis zum Abendbrot."

Es wurden wieder Personalien ausgenommen, eine Kartothekkarte ausgefüllt. Wie oft noch würde es geschehen? Wieviele Karteien und Listen mochte dieses Dachau haben? An wievielen Orten und an wie-vielen Stellen des Reiches mochten meine Personalien überall aufliegen und überall in xfacher Ausführung? Als meine Kartothekkarte ausgestellt war, mit Geburtsdatum, Adresse, Beruf und allem, wie es sich gehört, erhielt ich meine Nummer: 21 711.

Im „Revier"

Wir marschierten los. Wieder ging es über den Appellplatz, aber diesmal an der Baracke entlang, dann bogen wir ein.

Vor uns lag eine etwa fünfundzwanzig Meter breite Straße, rechts und links waren Bäume, hohe, schlanke Pappeln, sie wuchsen aus Rasen-beeten, je zwei Pappeln vor der Stirnseite einer Baracke, und zwischen ihnen war jedesmal ein Blumenbeet; eine große, imposante Pappelallee von etwa 250 Meter Länge. Die Baracken weggedacht, machte sie den Eindruck einer Schloßallee.

Sie war menschenleer. Wir bogen rechts ein, in die Seitengasse. Hier war das „Revier".

Wieder hieß es Schuhe ausziehen. Vor der Tür stand ein Regal, dort wurden die Schuhe von einem Häftling auf Nummern gestellt. Jeder von uns bekam seine entsprechende Pappnummer ausgehändigt. Tadellos geregelt, fast wie in einer Theatergarderobe. Auf Strümpfen traten wir ein, und zwar durch eine richtige Flügeltür. Innen war ein Vorraum. Die Wände waren hell gestrichen, mehrere Türen bargen geheimnisvoll irgend welche Räume, auch diese Türen hell und freundlich lackiert, eine von ihnen war offen, ein endlos lang scheinender Gang lag dahinter. An den Wänden standen weiße Bänke. Wir durften uns setzen. Eine LIhr an der Wand zeigte 1/2 nach 1 Uhr. Wir warteten auf den „Oberpfleger“.

Weiß beschürzte Häftlinge liefen den Gang entlang. Die Flügeltür öffnete sich. Ich erschrak. Das gleiche Erschrecken sah ich auf den Gesichtern der anderen. Leichen wandelten herein, Totengerippe in schlotternden Häftlingskleidern, in hellen, gestreiften Drillichen. Nie in meinem Leben werde ich diesen Zug vergessen.

Sie kamen zwei und zwei, nicht geschritten, nein, geschlürft. Mühsam zogen sie ihre Beine nach, sie wankten, einer hielt sich am anderen. Ihre Köpfe glichen Totenköpfen, hautüberspannten Totenschädel, aus denen unheimlich groß und glänzend ihre Augen glühten. Fast ohne Geräusch kamen sie, barfuß auf dem kalten Steinboden. Sie atmeten schwer und sahen abwesend ins Leere, es war nicht einmal mehr ein Starren, ihre Augen glühten einfach, so wie Kohlen glühen, nur ohne das lebendige Flackern.

Einer der weiß beschürzten Häftlinge, rotbackig, robust und strotzend vor Gesundheit, brachte einen großen Kübel und stellte ihn in die Mitte des Raumes. Er streifte sich Gummihandschuhe über und nahm aus seiner Brusttasche eine Verbandschere. Laut und barsch wandte er sich an die schwankenden Gestalten: „Los! — Habt Ihr Eure Kleider noch nicht herunter!"

Dabei stieß er den ersten der Reihe an. Der taumelte und stürzte zu Boden.

Der neben dem Gestürzten gestanden hatte, zog sich wie geistesabwesend seine Jacke aus und streifte sein Hemd ab. Die hinter ihm Stehenden folgten schematisch seinem Beispiel. Es waren Bewegungen, wie die von anderen Wesen. Der zu Bogen Gestürzte erhob sich langsam. Nun hatten alle entblößte Oberkörper. Kein Fleisch war mehr auf den Körpern. Lederartige, leichenfarbene Haut bedeckte diese lebenden Skelette. Die Brust war nur noch ein Brustkorb hautüberspannter Rippen. Die Schulterblätter standen weit heraus, wie zwei verkümmerte Flügel, die Arme hingen, wie verdorrte Hölzer, schlaff herab, von einer Dünne, daß selbst der Oberarm leicht mit Daumen und Zeigefinger zu umfassen gewesen wäre. Kein Ansatz eines Muskels war mehr zu sehen, nur die Sehnen spannten sich schauerlich bei jeder Bewegung der Hände. Einige hatten sich ganz entkleidet. Ihre Beine waren seltsame schmale Stöcke, auf denen knochig die Beckenknochen ruhten. Manchem hing die Haut des Gesäßes wie ein Beutel verschrumpfter Elefantenhaut herab.

Wie konnten dies noch Menschen sein? Lebten sie wirklich, atmeten sie noch? Waren es Phantome?

Jeder von ihnen trug irgendeinen unförmigen Verband an der Hand, am Arm, oder um das ganze Bein. Ich sah auch welche, die standen auf Beinen, die rund und prall waren, wie Säulen, wie die Beine von Elefanten. Die Haut dieser Beine schimmerte bläulich. Sie waren gefüllt mit Wasser. Und auf diesen Beinkolossen ruhte das leichte, zerbrechliche Gerippe, so als hätte es keine Zugehörigkeit zu dem allem, als sei es darauf gestellt, wie eine Vase auf ein viel zu schweres massives Postament.

Der Pfleger zückte seine Schere gegen den ersten Verband, durchschnitt den Stoff:

„Rindvieh, halt den Arm über den Kübel!“ sagte er barsch.

Der Verband fiel in die Tonne. Ein halbverfaulter Totenarm lag bloß. Aus ihm floß stinkender Eiter. Der Pfleger nahm zwei Wattebausche aus Papierwatte und drückte den Eiterherd aus. Dicker Eiterbrei kam heraus, dunkel und stinkend. Der lebende Leichnam schwankte, seine Augen wurden noch glänzender, fast gläsern, mit dem gesunden Arm machte er eine große schmerzhafte Gebärde, aber kein Laut kam über seine Lippen. „Der Nächste!" sagte der Pfleger.

Da hob ihm schon einer mit aller Mühe sein dickverbundenes Bein hin.

„Stell’s gefälligst auf den Schemel hier!“

Das Gerippe machte eine große Anstrengung. Ich sah, wie sich alle seine Sehnen anspannten, selbst die Sehnen des Halses wurden angezerrt. Aber das Bein war nicht hoch zu brigen. Es glitt zurück. Die Arme baumelten schlaff herunter. Der Rippenbrustkorb hob und senkte sich keuchend. Da packte der Pfleger das Bein, stellte es mit einem Ruck auf den Schemel vor die Tonne. Es war kein liebevoller Griff, es war der Griff eines, der eine ihm lästige Arbeit ungern verrichtet. Wieder arbeitete die Schere, wieder fiel die Hülle. Das, was angeklebt war, wurde weggerissen. Ein Strom Eiter quoll hervor. „Halt’ doch Deine Flosse über die Tonne!" schrie der Pfleger.

So ging es weiter. Skelett um Skelett wankte heran. Nahm denn dieser Geisterzug gar kein Ende?

Gräßlicher Gestank erfüllte die Luft. Die Schere des Pflegers arbeitete, Eiter floß, Skelette wankten ins Verbandszimmer, neue kamen heran.

Da ertönte eine Stimme: „Achtung!“

Der Pfleger fuhr zusammen und stand stramm. Auch wir waren aufgefahren und standen stramm.

Ein SS-Mann trat durch die Flügeltür. Seine Schaftstiefel glänzten. Sein Gesicht war breit, gerötet und brutal. Er sah sich herrisch im Raume um. Es war totenstill. Seine Stimme war knarrend und militärisch:

„Schöner Gestank hier. Fenster auf! Ja, wird's bald? Fenster auf, habe ich gesagt!“

In den Pfleger kam Leben. Er warf einen Blick auf die nackten Skelette, als wollte er für sie um Schonung bitten, doch gewohnt zu gehorchen, eilte er zum Fenster und riß zwei Flügel auf.

Der SS-Mann trat näher. Eines der Skelette stand ihm im Wege. Er schrie es an:

„Willst Du mir vielleicht Platz machen, Du Sau! Denkst Du wohl, ich soll mich an Dir dreckig machen, altes Schwein! Hau ab, oder ich tret'Dich in den Arsch! Höchste Zeit, daß Du verreckst.“

Dann verschwand er mit krachenden Schritten im Gang.

Der Pfleger zückte die Schere. Es zog kalt zum Fenster herein. Wir setzten uns wieder. Ein anderer Pfleger trat in den Raum und kam zu unserer Bank. Er war noch jung und sah gesund und blühend aus. „Traurig, das hier. Sind welche vom letzten Transport, der aus Flossenbürg kam. Sehen alle so aus, ein großer Teil von ihnen ist schon eingegangen, lauter Leute mit sechsunddreißig bis fünfundvierzig Kilo, manche haben auch fünfzig. Ja, die haben scheußlich viel durchgemacht. Steinbruch und schlechtes Essen. Dachau ist halt Dachau. Von denen hier wird auch noch die Hälfte oder mehr durch den Kamin gehen.

Fast lauter Erfrierungen. Vielen wird man wohl noch die Glieder abnehmen müssen, — wenn es sich noch lohnt. Und die da, mit dem Wasser, das ist auch schon zu spät, die kommen ja doch nicht mehr durch. Freilich wir tun, was wir können, aber da hilft die beste Pflege nicht mehr.“

Ich schaute auf die armen Skelette. Was für Gefühle mußten diese Worte in ihnen auslösen. Aber nichts in ihren Gesichtern veränderte sich. Ihre Züge blieben unbewegt wie die von Toten. Es war als hätten sie nichts gehört oder nichts verstanden. Apathie hülte sie ein, wie Narkose. Sie waren wirklich nur noch sich bewegende Leichen.

Wir begannen uns zu entkleiden und saßen dann nackend auf der Bank. Wie kalt es zum Fenster hereinkam! Aber dann schämte ich midi meines Fröstelns neben diesen Skeletten.

Der Pfleger gab uns kurze Instruktionen:

„Also kurz antworten, nur was notwendig ist, das mag der Ober-pfleger gern. Und gleich Haltung annehmen wenn er kommt."

Kurz darauf öffnete sich die Flügeltüre, und ein Häftling in schneeweißer Schürze, tadellos kahlgeschorenem Kopf und glattgebügelten, gestreiften Häftlingshosen erschien. Er mochte Mitte der Dreißig sein, hatte einen feisten Nacken, auf dem ein runder, vollgegessener Kopf saß.

Er trat ein, wie ein sehr beschäftigter, kommandierender General und rief:

„Fenster zu! Wer hat die Fenster aufgerissen?" — Der Pfleger mit der Schere sagte sehr demütig:

„Ich, der Blockführer hat es befohlen.“ „Quatsch! Fenster zu! Sind das die Neuzugänge? Gut, los, rein in mein Büro."

Der Pfleger machte ihm dienstbeflissen die Tür auf. Er trat in ein kleines Büro. Wir folgten. Die Türe schloß sich hinter uns.

Der Wohlbeleibte nahm Platz. Der junge Pfleger reichte ihm einen Stoß Papiere. Wir standen stumm und nackend abseits.

Einzeln mußten wir vortreten, unsere Namen, Geburtsdaten, usw. nennen. Also wieder eine Kartei. Dann fragte er nach gehabten Krankheiten, beschaute und befühlte uns. Er war kurz und sehr energisch.

Der Mann mit der Prothese kam an die Reihe: „Ich habe jetzt in München eine neue Prothese bekommen, in der Klinik. Aber die ist noch zu neu, sie scheuert mich unten am Stumpen auf. Deshalb wollte ich bitten, ob ich eine Weile einen Stock tragen darf, bis die Narbe sich etwas beruhigt hat, denn . .

Der Oberpfleger unterbrach ihn:

„Du wirst die Prothese tragen, verstehst Du, alte Drecksau? Solche Empfindlichkeiten kannst Du bei uns nicht anbringen. Los, hau ab!“

Aber der andere gab die Partie noch nicht auf:

„Schau Dir die Stelle selber an. Ich als Arzt glaube . . .“

Da wurde der Dicke ganz wild, sein Gesicht war rot übergossen:

„Du als Arzt, was uns das schon interessiert, wenn so ein Mistvieh wie Du sagt: , lch als Arzt'. Zeig Deinen Stummel her!"

Er nahm den Stummel des amputierten Beines in die Hand, betrachtete ihn und drückte heftig und roh. Die Narbe sprang auf, eine leicht eitrige und blutige Flüssigkeit rann heraus, sehr wenig, wie es bei einer kleinen, nicht heilenden Wunde vorkommt.

Unter dem rohen Griff schrie der Mann auf. Das war zuviel für den Dicken. Er schlug den Mann mit voller Kraft rechts und links ins Gesicht, daß sich dessen Hände um die Tischkante krampften.

„Schreien willst Du auch noch, Du Sau, Du elende, bist Du noch nicht fort? Raus, oder ich trete Dich in den Arsch!" — Der Einbeinige hüpfte hinaus, seine Wangen brannten rotflammend von den erhaltenen Ohrfeigen.

Die Stimmung war nun schon verdorben. Der junge Bursche kam an die Reihe. Der Dicke fragte ihn etwas. Er antwortete:

„Ich habe Sie nicht verstanden.“ -Der Dicke schrie:

„Mensch, ich bin ein Häftling genau wie Du, zu mir sagt man nicht Sie, verstehst Du? Ich bin das gleiche Arschloch wie Du, wenn ich auch nicht so dämlich bin wie Du! Verstehst Du mich?"

Dann beruhigte er sich wieder, nahm die Personalien und Krankheiten auf, machte eine kurze Untersuchung, und wir konnten gehen. Nackend marschierten wir zur Türe hinaus.

Draußen auf der weißen Bank lagen unsere gestreiften Kleider. Der Raum war still, friedlich lächelten seine hellen Wände und seine freundlich gestrichenen Türen. Kein Kübel stand mehr da, nichts war zu sehen. Der Spuck war verflogen, die Skelette verschwunden. Hatte ich geträumt? Ein starker Geruch von Lysol lag in der Luft, das war alles. * Wir zogen uns an, gingen hinaus, nahmen unsere Schuhe in Empfang. Einer von uns, Meier, übernahm die Führung der kleinen Gruppe: „Habt Ihr Euch die Nummer Eures Blocks und der Stube gemerkt?“ Ich hatte natürlich alles vergessen. „Du kommst auf Block 12, Stube 1. Dort meldest Du Dich beim Block-ältesten und beim Blockschreiber. Du hast Glück gehabt, sie haben Dich auf einen guten Block gelegt, hast scheinbar einen guten Eindruck auf der Schreibstube gemacht."

Wir waren wieder in der großen Allee, der Lagerstraße. Es fiel mir auf, daß die ersten fünf Blocks auf der linken Seite mit Stacheldraht umzäumt waren. Ich fragte Meier:

„Warum ist hier auch Stacheldraht?“

Er sah nur flüchtig hin:

„Da wohnt die Werkmannschaft des Lagers, es sind die Baracken der SS. Der Draht ist elektrisch geladen.“

Er sah sich um, ob niemand in der Nähe war:

„Sie haben oft Zigaretten und Weißbrot herausgeworfen, an den Zaun hin. Wenn Neue aus Hunger und Gier versuchten sich das her-ausfischen, so blieben sie an dem Draht hängen. Die SS stand an den Fenstern und lachte. Wir haben mehr als einen Toten aus dem Draht geholt. Laß Dir gesagt sein: Kümmere Dich im Lager um gar nichts, was um Dich her vorgeht. Du kannst doch keinem helfen, Du bringst nur Dich in Gefahr, und das ist ganz unnötig.“

Wir waren an Block 12 angekommen, groß prangte seine Nummer an der Stirnseite. Meier nickte mit dem Kopf, die anderen grüßten auch, stumm mit den Blicken. „Also, mach's gut. — Wir sehen uns ja noch wieder", dann ging die kleine Gruppe weiter.

Toni — Block 12 Ich stand allein vor dem Blöde. Er lag da, nüchtern und gradlinig. Abweisend und fast beängstigend war seine harte Schmucklosigkeit. Die kleine Straße vor ihm war ebenso unerbittlich und öd. Ich trat bei der ersten Türe ein und kam in einen kleinen Vorraum, auch er war nüchtern, und sehr sauber. Vier Türen sahen mich an. Ich öffnete die zur rechten Hand.

Vor mir lag ein großer Raum, von etwa sieben auf zehn Meter. In der Mitte stand ein grüner Kachelofen, vor ihm ein Tisch. Mit dem Rücken zum Kachelofen saßen zwei Männer und schauten mich an:

„Nur herein", sagte der eine.

Ich wollte eintreten.

„Schuhe aus!" schrie der andere.

Ich bückte mich, die Schuhe auszuziehen. Da sah ich erst, daß der Holzfußboden spiegelblank war, er war auf Hochglanz poliert, wie das Parkett eines Salons.

„Stell nur Deine Schuhe vor die Türe", sagte der eine.

Folgsam tat ich, was er mir sagte, trat dann ein, ging auf Strümpfen zu dem Tisch.

„Ich soll hierher gehen, ich heiße Kupfer."

Die beiden am Tisch sahen sich an und lachten:

„So, Du heißt Kupfer und sollst hierher gehen, damit können wir aber gar nichts anfangen. Wer schickt Dich denn?"

„Die Schreibstube.“

„Ah, sicher bist Du heute erst zugegangen?"

„Ja, ich soll mich beim Blockältesten und beim Blockschreiber melden."

„Das bin ich und ich,“ sagten die beiden und lachten wieder.

Dann sagte der eine:

„Wir brauchen doch aber keinen Zugang, ist ja alles besetzt, bis auf ein Bett.“ Was er sagte, war wenig ermunternd. Ich antwortete kurz entschlossen: \ „Dann geh'ich halt wieder und such'mir ein anderes Quartier.“

Beide sahen mich verdutzt an, dann lachten sie aus vollem Halse. Der neben dem Blockältesten war von schmächtiger Gestalt, er blickte mich erheitert an:

„Scheinst ja ein lustiger Vogel zu sein, kannst schon bleiben. Komm'gleich mal her und gib mir Deine Personalien.“

Er nahm aus einem kleinen Kartothekkasten, der vor ihm stand, eine Karte und begann seine Fragen und Eintragungen. Wieder eine Kartothek! Ich sagte treu und brav alles her, was ein Europäer über seine Person wissen muß, um die Kartotheken der Behörden zufrieden zu stellen. Audi meine Nummer wollten sie wissen. Sie schien eine sehr große Rolle zu spielen.

Als das erledigt war, hieß es:

„So, jetzt melde Dich beim Stubenältesten.“

„Wo ist er denn?“

„Ich denke, er sitzt hinter Dir."

Ich schaute mich um. Tatsächlich, hinter mir an einem kleinen Tisch am Fenster, saß ein Mann und rechnete. Ein kleiner, blühender Blumen-stock stand auf seinem Tisch.

Ich ging über den spiegelglatten Boden zu ihmhin: „Ich soll mich bei Ihnen melden.“

Er sah auf. Freundliche Augen blickten mich an: „Du sollst Dich bei mir melden, aber ich heiße nicht . Sie', hier heißen wir alle , Du‘, wie Du auch.“

„Verzeihung.“ , „Du brauchst Didi nicht zu entschuldigen. Du wirst es schon nodi lernen zu allen , Du‘ zu sagen. In der ersten Zeit ist es auch mir schwer-gefallen.“

Dann ließ er sich von mir Name, Nummer und Personalien nennen. Auch er hatte eine kleine Kartothek von winzig kleinen Karten.

Dann stand er auf:

„Komm, ich werde Dir jetzt Dein Zeug geben.“

Er öffnete einen Schrank und entnahm ihm einen Aluminiumteller, eine Aluminiumschüssel, einen Löffel, ein Messer, eine Gabel, einen Aluminiumbecher, ein blaukariertes Handtuch, ein rotweißkariertes Geschirrtuch. Idi hielt den ganzen Segen in den Händen:

„Komm nur, jetzt zeige ich Dir Deinen Spind.“

Jetzt erst sah ich, daß an allen Wänden entlang dunkel gebeizte, flache Schränke standen, sie bildeten sozusagen eine Wandverkleidung. Wie eine Zierde standen auf ihnen, mit den Beinen nach oben, zwei Reihen hölzerner Hocker übereinander.

Er öffnete einen dieser Spinde. Helles Naturholz leuchtete mir entgegen, rein, fast weiß, wie frisch gehobelt. Es war ein sehr schmales Schrankinnere, vielleicht fünfzig Zentimeter breit und fünfzig Zentimeter tief, aber etwa zwei Meter hoch, mit zwei Fächern oben und einem unten.

Er zeigte mir, wo das Geschirr hinkam. Der Teller, das Messer, die Gabel, der Löffel wurden auf Leisten an das Türinnere gesteckt. Dort war schon eine zweite Garnitur aufgehängt. Der Schrank war also für zwei Personen berechnet. Auf die zwei oberen Bretter kamen die Schüsseln und der Becher. Auch von ihnen stand schon je ein Exemplar da. „In dieses Fach kommt das Brot, hier das Geschirr, unten bleibt es frei, da dürfen nur Zigaretten oder ähnliches hingelegt werden. Und das Geschirr immer so hineinstellen, so wie ich das jetzt mache. Hier in diesem kleinen Kasten, der an der Türe hängt, ist die Schuhbürste, die Auftrags-bürste, und da liegt die Seife. Das Wischtuch wird unter das Handtuch gehängt. Das Handtuch wird in drei Längsteile gefaltet, es muß immer so in tadellosen Falten hier vom Haken hängen, und daß kein noch so kleiner Fleck an das Holz kommt, sonst gibt es gleich eine Strafmeldung, wenn der Blockführer es sieht. Hier neben den Bürsten, unter der Seife, ist Schmirgelpapier. Sowie Du einen Fleck siehst, mußt Du ihn gleich wegputzen. Sonntags wird der Spind gründlich von unten bis oben geputzt, alles wird abgeschmirgelt. Das Geschirr muß auch ganz sauber sein. Schau, hier unter den Henkeln mußt Du stets durchfahren. Wenn da ein Tropflein Wasser zurückbleibt und der Blockführer klopft es heraus, gibt es eine Strafmeldung. Und immer sauber waschen und abtrocknen. Für einen einzigen Tropfen Kaffee, der noch am Geschirr sichtbar ist, kannst Du eine Stunde Baum bekommen." „Eine Stunde Baum? Was ist das?“

Vom Kachelofen her ertönte Lachen. Der kleine schlanke Block-schreiber sagte:

„Ein Lager-Genußmittel, eine Delikatesse.“

Der Stubenälteste sah mich ernst an: „Es ist eine Lagerstrafe, Du wirst noch früh genug davon hören. Komm'jetzt in den Schlafraum, daß ich Dir Dein Bett anweise.“

Er öffnete eine Tür.

Spiegelnder, dunkelgefärbter Fußboden glänzte uns entgegen. Der Raum stand voller Militärbetten, je drei übereinander. Die Maße des Schlafraumes mochten die gleichen sein wie die des Wohnraums.

Ein Bett war wie das andere. Sie glichen länglichen, weißüberzogenen Kartons. Und auf diesen Kartons lagen die Decken, eingehüllt in einen blaukarierten Überzug und ließen genau eine Handbreit das Weiße des Tuches rechts und links sehen. Am Kopfende gingen sie über in exakt viereckige Würfel, die Kopfpolster. War das ein Schlafsaal oder eine Bettparade, ein Schaustück, das kunstvoll mit vieler Mühe so gerichtet war?

Ich schüttelte den Kopf:

„Und in diesen Betten schlafen Menschen? Das ist doch nicht möglich?“

Er sah mich erstaunt an:

„Warum nicht? Es ist doch schön und sauber.“

Er führte mich zum vordersten Bett:

„Schau einmal über die ganze Reihe hinweg. Siehst Du etwas?" „Nein." „Sichst Du, die Kopfpolstcr sind alle gleich hoch, wenn Du durchschaust, siehst Du, daß sie haargenau ausgerichtet sind, keines steht auch nur einen halben Zentimeter vor oder zurück. Und betrachte Dir die Karos der Decken. Sie verlaufen alle schnurgerade nach unten, keines macht eine krumme Linie, und wenn Du darüber sichst, so stimmen sie auch alle wieder miteinander überein. Jedes Bett hat außerdem die gleiche Höhe. Wehe, wenn eines eine kleine Vertiefung aufzeigen würde oder Erhöhung! Das gibt sofort Strafmeldungen. Früher hatten wir Block-führer, die schossen mit der Pistole über die Betten, um zu sehen, ob sie gerade ausgerichtet waren. Siehst Du, wie schmal die Gänge dazwischen sind? Oben und unten wird morgens zuerst das Bett . gebaut', dann , baut'der in der Mitte sein Bett. Eigentlich soll das alles nur mit der Hand gemacht werden, aber wir haben Latten, wir nennen sie , Bett-bügel', die verstecken wir, und mit denen streichen wir die Decken gerade, da es sonst fast unmöglich ist, in den zehn Minuten, die man morgens Zeit hat, ein Bett zu bauen.“

Jetzt sah ich ihn entgeistert an: „In zehn Minuten?“ „Ja, morgen wirst Du auch Dein Bett so bauen. Komm', ich zeige es Dir jetzt, Du hast Glück, cs ist hinten in einer Ecke, da fällst Du nicht so auf. AIs ich nach Dachau kam, konnte ich auch zuerst kein Bett bauen, aber man lernt das. Mir schien es genau so unmöglich wie Dir jetzt. Aber es ist nicht so schlimm. Es ist wie alles hier: Bluff. Man hat das Ganze ersonnen, um uns zu quälen, es ist nichts als Schikane. Und oft kommen sie und reißen die Betten heraus, schmeißen die Decken und Leintücher überall herum. Es braucht bloß einer schlechter Laune zu sein oder etwas viel getrunken zu haben. Oder aber sie kommen und finden irgend ein Bett schlecht, dann wird die Nummer des Betreffenden ausgeschrieben, und er bekommt eine Meldung wegen schlechten Bettenbaues. Die Strafe dafür ist eine Stunde Baum.“

Wir gingen wieder in den Wohnraum.

Der Stubenälteste reichte mir ein Blatt Papier:

„Setz Dich her und schreibe Deinen Lebenslauf.“

Ich schüttelte den Kopf:

„Aber ich bitte Sie, meine ganze Vernehmung bei der Gestapo ist ja nichts anderes als mein Lebenslauf, der liegt nun sicher hier bei den Akten.“

Er lächelte nachsichtig:

„Du sollst , Du‘ zu mir sagen. Ich heiße Toni Fischer. Nenne mich einfach Toni, dann fällt es Dir vielleicht leichter. Und den Lebenslauf mußt Du doch schreiben, alle Zugänge müssen es tun, das machst Du einfach möglichst kurz.“

Ich begann zu schreiben und machte es sehr kurz und bündig.

Dann gab er mir zwei große, rote Stoffdreiecke, etwa zehn Zentimeter in der Länge und Nadel und Zwirn: „So, das nähst Du jetzt auf Deine Jacke und Hose auf, den einen Winkel links auf die Brust, so daß er oben etwa beim zweiten Knopfloch abschließt und von da nach unten verläuft. Aber genau in der Mitte der linken Seite und nicht schief. Der andere Winkel kommt auf das rechte Hosenbein, auch genau in die Mitte, die Spitze nach unten und der Beginn etwa eine Handbreit unter der Stelle, wo Deine Fingerspitzen bei herab-hängendem Arm aufhören. Aber ja nicht verkehrt herum annähen, sonst denkt man, Du seist von der Reichswehr.“

Ich betrachtete das Dreieck in meiner Hand:

„Was hat das eigentlich für eine Bedeutung, warum muß das sein? Den gestreiften Anzug verstehe ich, damit man als Häftling kenntlich gemacht ist, schon wegen der Fluchtmöglichkeit, ebenso das geschorene Haar, wahrscheinlich auch deswegen, und vielleicht auch aus hygienischen Gründen gedacht. Aber wozu der rote Winkel?“ „Das ist die Einteilung in Gruppen, sei froh, daß Du einen roten Winkel hast. Wer rot trägt, ist politischer Häftling. Ein rosa Winkel bedeutet: Homosexueller, ein schwarzer Winkel: Asozialer, ein grüner Winkel: Berufsverbrecher und ein lila Winkel: Bibelforscher. Die Juden tragen noch einen großen gelben Davidstern und darauf ihre Farbe. Wenn ein roter Winkel umgekehrt angenäht ist, so bedeutet das: Angehöriger der Wehrmacht. So kann man auf den ersten Blick sehen, zu welch einer Gruppe der Häftling gehört. Zum Zählappell muß alles angenäht und fertig sein, niemand darf ohne Nummer und Winkel herumlaufen.“

Er stand auf, nahm seine Mütze, zog seine Schuhe an und ging.

Nun saß ich allein an einem der großen Tische. Meine Jacke hatte ich ausgezogen und mühte mich nun, den Winkel ordnungsgemäß und akkurat anzunähen.

Der Blockälteste und der Schreiber sahen mir belustigt zu: „Du Max", — sagte der Blockälteste zum Schreiber, „das ist bestimmt ein gelernter Schneider.“

Der Schreiber lachte:

„Gustav, das verstehst Du nicht, das ist ein neues Stickmuster.“

Die beiden schienen sehr guter Laune zu sein.

„Woher kommst Du eigentlich?“

„Aus Innsbruck.“

„Also bist Du ein Österreicher?“

„Nein, ich war nur acht Wochen dort in Untersuchungshaft. Ich komme aus Süditalien.“

„Ah, da bist Du also heimgekehrt ins Reich?“

„Nein, ich bin heimgekehrt worden. Man hat mich von dort aus hierher transportiert.“

„Ja, aber wo lebst Du denn da?“

„Auf Ischia, das ist eine Insel bei Neapel.“

„Und wieso haben sie Dich verhaftet?“

„Das ist eine lange Geschichte. — Eigentlich weiß ich es selber nicht.“

Und ich begann in kurzen Zügen meine Geschichte zu erzählen. Dabei machte ich herrlich krumme Striche, zog dann meine Hose aus und begann an ihr das gleiche Kunstwerk. So verging die Zeit.

Der Stubenälteste kam zurück und legte mir zwei Streifen weißen Stoffes hin, auf sie waren schwarze Zahlen gedruckt, meine Gefangenen-nummer. „Hier hast Du Deine Nummern. Du mußt sie zwei Finger breit über dem Winkel annähen.“

„Wieso sind die Nummern so hoch?“

„Weil man fortlaufend zählt", sagte Toni, „aber sie sind noch nicht sehr alt, sie wurden vor 9 Monaten begonnen, als im Februar das Lager wieder aufgemacht wurde."

„Dann sind also jetzt 21 000 Häftlinge hier, das ist doch nicht gut möglich.“

„Nein, man kann aus den Nummern gar nichts ersehen. Viele sterben, ihre Nummern werden nicht ausgefüllt, das heißt, manchmal soll es doch der Fall sein, aber man weiß es nicht sicher. Dann gehen wieder große Transporte fort, oft viele hundert Mann, manchmal auch tausend und mehr. Es gibt keine Kontrolle. Wäre das nicht der Fall, so könnte man zu leicht feststellen, wieviel Tote wir haben, aber es ist besser, man weiß es nicht genau.“

Appell Draußen ertönte ein seltsames schnarrendes Geräusch, wie das Surren eines großen Wedcers, dessen Klöppel die Glocke nicht berührt. Alle sprangen auf, griffen nach ihren Mützen:

„Der Bär brummt! Es ist Antreten zum Zählappell.“

Ich zog meine Jacke an, setzte mir das seltsame Etwas auf, das eine Mütze sein sollte. Der Stubenälteste betrachtete mich kritisch: „Na, Du hast ja ein herrliches Gewand erwischt, aber Du wirst es nicht lange tragen, es wird bald bessere Anzüge geben, gestreifte Anzüge aus dickerem Winterstoff. Ich werde dafür sorgen, daß Du dann etwas Passendes bekommst. Vorderhand geht es ja so. Deine Nummer hast Du auch richtig angenäht, wenn auch mit Kreuzstich.“

Er deutete auf die Nummer auf meiner Brust:

„Das bist jetzt Du, diese Nummer, das ist jetzt eigentlich Dein Dachauer Name, eine Nummer, alles andere kommt erst in zweiter Linie.“

Wir gingen hinaus.

Vor dem Block hatten sich schon einige Männer in gestreiften Anzügen versammelt. Wir stellten uns in Reihen zu zehn Mann auf.

Ich hörte wie die anderen alle miteinander sprachen, ein rauher Ton, gemischt mit Kraftausdrücken, derben Redensarten und Flüchen.

Der Blockälteste gab das Kommando:

„Im . .. Gleich ... schritt... marsch!“

Militärisch exakt setzten wir uns in Bewegung, marschierten die Block-straße hinaus, auf die Lagerstraße, dann eine scharfe Wendung und geradeaus zum Appellplatz.

Auf dem riesigen Platz waren schon Gruppen von Menschen versammelt. Singend kamen andere Trupps zum Tore herein, oft nur wenige Mann, manchmal einige hundert. Auf Kommando hielten sie und verteilten sich dann auf verschiedene Stellen.

Wir standen ziemlich nahe dem Eingangstore, durch das ich gekommen war, mit dem Gesicht gegen das große hufeisenförmige Gebäude gerichtet. Unser kleiner Haufen wuchs ständig. Immer wieder kamen aus den verschiedensten Gruppen Männer in gestreiften Kleidern und reihten sich ein. Jeder schien seinen Platz zu kennen.

Stumm kamen die Männer, begrüßten einander durch Kopfnicken oder höchstens durch ein geflüstertes Wort. Alle standen in Reih und Glied. Nur hinter uns blieb ein breiter Streifen leer.

Seltsam beengend war dieser Anblick: Lauter graublau gestreifte Gestalten. Es war, als sei ein Heer von Pinguinen hier aufmarschiert, es schien mir unmöglich, einen vom anderen zu unterscheiden.

Neben mir ertönte ein scharfes: „Pst“. Gleich darauf stand der Block-älteste neben uns und kommandierte:

„Ach . . . tung! — Still. . . ge . . . standen!“

Bei dem Wort „Achtung“ richteten sich alle auf, nahmen Haltung an. Bei „Stillgestanden“ schlugen sie die Hacken zusammen, legten die Hände an die Hosennaht und blickten starr gerade aus.

Da ertönte ein neues Kommando:

„Mützen ... ab!"

Die rechte Hand aller flog bei „Mützen“ zum Kopf, bei „ab" rissen sie die Mützen vom Kopf.

Ohne den Kopf zu bewegen, schaute ich nach links, wo der Block-älteste stand. Auch er hatte das Kommando mitgemacht und seine Mütze abgenommen. Jetzt kam schnellen Schrittes ein junger SS-Mann auf ihn zu. Er mochte vielleicht dreiundzwanzig Jahre alt sein. Der Blockälteste stand stramm und meldete militärisch:

„Block 12 angetreten mit Belegschaft von 380 Häftlingen, dreizehn davon im Revier, sechs in Arbeit: zum Appell angetreten 361 Häftlinge!“

Dabei reichte er ihm ein Buch.

Der junge SS-Mann nahm es ihm aus der Hand, dann schritt er die Formation ab und zählte die Reihen, auf jede Reihe mit dem Finger deutend.

Plötzlich blieb er stehen und brüllte:

„Was ist denn das? Kannst Du vielleicht nicht auf Vordermann gehen? Ja, Du, Dich meine ich, komm mal her! Los, raus mit Dir Du Vogel! Na, wird’s bald?“

Alles stand weiter still und unbeweglich, man hörte kaum atmen. Der „Vogel" trat aus der Reihe zu dem SS-Mann hin. Als er vor ihm stand, schlug er die Hacken zusammen. Der SS-Mann fuhr ihn an:

„Glaubst Du, ich zähl’ wegen Dir fünfzigmal, he? .. . Mensch, sag’ was!“

Und schon knallte eine Ohrfeige ins Gesicht des Gefragten.

Der Blockälteste stand daneben und schien betreten:

„Huber, antworte doch dem Herrn Blockführer.“ Huber, der „Vogel“ blieb stumm. — Was sollte er auch sagen? Es war ja eine Fragestellung ohne jede Frage.

Der Blockführer schien wieder beruhigt:

„Mach, daß Du ins Glied kommst und das nächstemal stellst Du Dich richtig rein, oder es gibt eine Meldung."

„Jawohl, Herr Blockführer."

„Hau ab, Saukopf!" schrie der Blockführer.

Der „Vogel" machte eine genaue Wendung und trat ein. Der SS-Mann begann wieder zu zählen, lief die Reihen ab, sagte dann zu dem Blockältesten:

„Stimmt. Rühren lassen."

Dann nahm er die Meldung der Gruppe neben uns in Empfang. Wir standen noch stramm, bis der Blockälteste sein Kommando gab:

„Block 12! Mützen auf!"

Die Mützen flogen auf die Köpfe, die Hände sanken sofort wieder herab, ganz gleich wie die Mützen saßen. Dann kam das zweite Kommando: „Rührt... Euch!“

Ein Ruck, alle setzten den einen Fuß vor und standen in lässiger Haltung. Jetzt erst setzten sie sich ihre Mützen zurecht.

Ich blickte zur Seite. Die Gruppe neben uns bekam dieselben Befehle und wurde ebenso abgczählt. Bei: „Rührt Euch“ war hörbares Aufatmen.

Eine brüllende Stimme rechts hinter uns tönte über den Appellplatz:

„Du Aas, Du stinkendes, so kommst Du jetzt her? . . . Wo Du herkommst!?" Es war nicht die Stimme eines Menschen, es war die Stimme eines wütenden Tieres. In Raubtierschauen hatte ich ähnliche Töne gehört, ganz Bestie. Natürlich hatte ich mich sofort umgedreht. Ich sah einen SS-Offizier von vierschrötiger Gestalt, der trotz der Uniform bäuerlich'wirkte. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schrie auf einen Häftling ein, der vor ihm stand, die Mütze an der Hosennaht. Und dann trat er ihm mit seinen derben Stiefeln kräftig gegen die Schienbeine, wieder und wieder.

Der Getroffene schrie auf, bückte sich. Da erhielt er einen Faustschlag unter das Kinn, daß er hochgerissen wurde. Und wieder hob der Uniformierte seine Stiefel und trat dem Wimmernden gegen die Schienbeine.

„Du Hund, wo kommst Du jetzt her!?" brüllte der SS-Offizier, und sein Gesicht war rot vor Wut.

Mich berührte eine Hand, mein Nebenmann flüsterte mir zu:

„Nicht Dich umsehen, wir müssen geradeaus schauen. Wenn er sieht, daß Du Dich umdrehst, macht er es Dir genau so. Das ist Remmele, der Rapportführer, ein Schwabe."

Ich sah wieder gradeaus. Hinten klangen Schreie und das Fluchen und Brüllen des SS-Mannes.

Ich flüsterte meinem Nebenmann zu:

„Ist denn so etwas möglich? Was hat denn der Mann verbrochen?"

Ich sah wie das Gesicht des Gefragten sich zu einem Lächeln verzog, dann flüsterte er zurück:

„Das ist uns etwas ganz Alltägliches, so etwas geschieht im Lager hundertmal am Tage und noch ganz andere Dinge. — Ich weiß nicht, wen er da gerade hat, aber es ist sicherlich einer, der zu spät zum Appell gekommen ist, das heißt nur etwas zu spät, denn der Appell ist noch gar nicht überall abgenommen. Aber der Remmele tritt immer in die Schienbeine, das ist seine Spezialität. Lind die Arschtritte, die er austeilt! Früher war er Bäcker-oder Schneidergeselle, oder so was. Heute sind sie die großen Herrn hier, die Götter. Und wenn sie Dich zertreten, Du bist machtlos.“

Ich begriff das nicht. Wie konnte man nur solche Dinge ertragen?

Aus diesen Gedanken wurde ich hcrausgerissen. Man Nebenmann stieß mich an:

„Achtung! Es ist anscheinend doch schon abgezählt!“

Kaum hatte er es geflüstert, so ertönte über, den ganzen Platz hin eine laute, knarrende Stimme:

»Achtung!“

Wie ein Schlag ging es durch den ganzen Appellplatz. Da erklang auch schon das nächste Kommando:

„Still . . . gestanden!“

Ein Ruck ging durch alle Reihen.

„Müt. .. zen . . . ab!" — knarrte die Stimme.

Ein sausendes Geräusch tausender heruntergerissener Kopfbedeckungen und das Anklatschen der Mützen an tausenden Beinen waren zu hören. Gleich darauf hieß es:

„Au . . . gen . . . rechts!“

Alle Köpfe flogen nach dieser Richtung und blieben starr so.

Über dem Appellplatz lag absolute Ruhe. Ich sah nichts als die glattgeschorenen, weißlich schimmernden Schädel dieser Tausende von Menschen. Zu gleicher Zeit aber hörte ich wieder dieselbe knarrende Stimme, die das Kommando erteilt hatte:

„Zwölftausendsechshundertzweiunddreißig Häftlinge zum Appell angetreten, vierzehn Abgang durch Tod, ohne Neuigkeit.“

Nadi einer kleinen Ewigkeit kam das Kommando zum Rühren. Alles atmete auf. Die Mützen wurden aufgesetzt. Marschliedergesang ertönte. Jeder Block sang ein anderes Lied. Block um Block marschierte geschlossen ab. Bald kam auch für uns das Kommando:

„Marsch!"

Das Stichwort wurde gerufen:

„Steig ich den Berg hinan!“

Es flog dieses Wort durch die Reihen, dann marschierte unser Block an. 360 Mann begannen zu singen. „Steig ich den Berg hinan, das macht mir Freude, denn so ein Dirndelein, das war mir gut.

Sie hat zwei wunderschöne blaue Augen und einen Bubikopf, der steht ihr gut.“

Ich schaute neben mich, die Reihe entlang. Alle sangen es, auch ein alter Mann mit weißen Haaren:

„. . . sie hat zwei wunderschöne blaue Augen, und einen Bubikopf, der steht ihr gut . . ."

So marschierten wir über den Appellplatz und die Lagerstraße entlang. Wir marschierten singend in die Blockstraße ein, bis das Kommando ertönte:

„Block 12, halt!"

Alles stand still. Dann hieß es-kurz und schnell:

„Wegtreten!"

Der erste Abend Sofort löste sich die Marschkolonne auf, alles lief durcheinander. Viele drängten sich zu den Türen, es wurde laut gesprochen und gerufen, ein merkwürdiger Kontrast zu der Stille auf dem Appellplatz. Kameraden begrüßten einander, klopften sich auf die Schultern, lachten laut.

Ich trat mit der Menge in die Baracke. Die Schuhe wurden vor der Türe ausgezogen und in Reih und Glied aufgestellt. Lingeputzt durften sie nicht. in die Regale der Stube gestellt werden.

In der Stube brannte elektrisches Licht. Die Fenster wurden mit Verdunklungsrahmen verstellt. Die Risse, die im Laufe der Zeit hinein-gekommen sein mußten, waren mit buntem Papier zugeklebt.

Es herrschte reges Leben. Männer standen an den Spinden, entnahmen Schüsseln, Teller und Messer, andere saßen an Tischen, einer las sogar in einer Zeitung.

Neben dem Tische des Stubenältesten, vor der einen Fensterfront, am Eingang, standen drei blaue, große tonnenähnliche'Kübel mit Kaffee.

Die Bewohner der Stube bildeten eine Schlange, Mann hinter Mann und gingen an den Kesseln vorbei. Der Blockälteste stand hinter einem der Kübel, eine große Kelle in der Hand. Er schöpfte Kaffee aus. Jeder erhielt eine Kelle voll in seine Schüssel oder seinen Becher. Neben den Kesseln stand Toni, der Stubenälteste. Er hatte einen Tisch voller Brot vor sich. Jeder erhielt ein Stück Brot und ein Stück Wurst.

Alles ging reibungslos vor sich.

Um nicht ganz der letzte zu sein, ging ich zu meinem Spind, um meine Schüssel und meinen Teller zu nehmen. Die Schranktür war offen, ein junger Mann mit einem freundlichen, runden Gesicht stand davor. Wenn er lächelte, kamen mehrere Zahnlücken zum Vorschein. Er begrüßte mich freundlich:

„Ah, bist Du der Neue? Der Toni hat mir schon von Dir erzählt. Komm no und nimm Dei Schüssel und en Teller, mußt Dei Essen fassen. Und daß d’sweest, ich heess Karl."

„Ich heiße Kupfer“, sagte ich, „hoffentlich bist Du mit mir zufrieden.“

„Ja und Dein Vorname? Hier rufen wir uns alle beim Vornamen."

„Ich heiße Edgar."

„Also, Edgar, wir wollen gute Kameraden sein."

Und wieder schaute er mich treuherzig an:

„Jetzt mußt Du aber gehen und Dein Essen fassen."

Ich nahm Schüssel und Teller aus dem Spind und ging zu den Kesseln.

Toni gab mir mein Stüde Brot und Wurst, legte es mir auf den hingehaltenen Teller und nickte mir freundlich zu. Nun ging ich, mit dem Teller in der einen, der Schüssel in der anderen Hand, zu den Tischen. Aber alles war besetzt. Karl kam mir zu Hilfe:

„Komm nur her, hier bei uns ist noch ein Platz am Tisch."

Die anderen, die am Tische saßen, sahen flüchtig auf. Keiner sagte ein Wort.

Welch verschiedene Gesichter erblickte ich: Markante mit hohen Stirnen, wie Gelehrte, runde, fast stupide, die von wenig Gedankenkraft zeugten, dann wieder echte, harte Bauernschädel und knochige, feste, fast harte Arbeitergesichter mit klugen Augen. Über diesen Gesichtern lag etwas, daß sie sich alle ähneln ließ, wie eine Maske, wie eine Mischung: Etwas von einem Greise, etwas von einem Eunuchen, darunter die eigene Persönlichkeit. Allen diesen Antlitzen aber war eines gemein: ein großer Ernst, selbst wenn sie lachten, und ein pessimistischer Zug um den Mund, der von Ironie und Verbitterung zeugte.

Sie sahen gar nicht schlecht aus, diese Menschen, nicht unterernährt, einige waren sogar sonnenverbrannt und hatten gebräunte Gesichter. Auch der kahlgeschorene Kopf störte gar nicht, der Schädel kam so besser zur Geltung, und es schien dieses Geschorensein zu ihnen zu gehören. Hier war eine andere Welt und in dieser Welt trug man geschorene Köpfe. Es war selbstverständlich, so wie es draußen auch Moden gibt, so gehörte es hier ganz in den Rahmen.

Was mich aber erschütterte, waren die Blicke. Wenn Menschen so beim Essen sitzen und vor allem, wenn sie dabei reden, so vergessen sie für gewöhnlich die Umgebung, und ihre Gedanken schweifen fern oder beschäftigen sich mit ihren gegenwärtigen Problemen. Das Gesicht eines Menschen spiegelt dann meist in diesen Augenblicken sehr getreu seine innere Verfassung wider, denn er hat vergessen, daß noch andere Menschen da sind, denen gegenüber er sich zusammennehmen muß. Seine Maske des Sichbeherrschens hat sich gelockert, zur Seite geschoben, das Gesicht der Seele wird sichtbar.

Und nun sah ich diese Gesichter der Seele, sah diese Augen, die weit fort waren, sah diese bitter sich senkenden Mundwinkel und die schlaff-gewordenen, leiddurchfurchten Züge. Wo ich auch hinsah, an jedem Tisch saßen einige so ohne Masken. Ein unnennbares Leid stieg aus ihren Blicken, umschwebte ihre Züge, dunstete um die ganze Gestalt, die gebeugt, wie unter allzu schwerer Last dasaß, essend, ohne es recht inne zu werden. Viele von ihnen hatten Gesichter, deren Alter nicht zu nennen war. Was hatte das Lager aus ihnen gemacht! Unnennbares Elend ging von ihnen aus. Ich kannte den Grund dieses Elends nicht, aber ich fühlte ihn, ich las ihn, er stand überall in klaren Runen ihres Ausdrucks geschrieben.

Was mußten diese Menschen gelitten haben! Wie konnte man so grausam sein, ihnen alle Freude zu nehmen. Ja, alle Freude, ich wußte es beim Anblick dieser Gesichter. So konnten nur Menschen blicken, denen nichts mehr geblieben war, das sie erfreuen konnte, nichts.

Im Gefängnis hatte ich traurige Gesichter gesehen, sehr traurige sogar. Diese hier aber, das waren Menschen ohne Hoffnung. Nur ein Hoffnungsloser konnte so aussehen. Trotz der eisernen Härte, die bei allen ausgeprägt war, drang dieses Hoffnungslose durch. Man sah, es waren Menschen, die sich sehr zu beherrschen wußten. Aber mich täuschte nicht ihr markantes Kinn, nicht ihre gestrafften Muskeln. Diese Menschen litten, litten Unsägliches. Was es war, ich konnte es nicht ergründen. Später erst begriff ich es: Es waren Menschen, denen man alles geraubt hatte, alles, selbst die Zukunft.

Ich sah, wie einige eine Zeitung entfalteten und zu lesen begannen. Also war es gestattet, Zeitungen zu lesen. Merkwürdig, im KZ gab es Zeitungen, im Gefängnis nicht. Es schien hier überhaupt in mancher Beziehung besser zu sein als im Gefängnis.

Auch diese zeitungslesenden Köpfe betrachtete ich. Trotz der gespannten Aufmerksamkeit, mit der sie die Zeilen verfolgten, sah ich das Leid, das Verhärmte darin, das Enttäuschte und eine innere Apathie. Diese Menschen hatten alle mit dem Leben abgeschlossen, es gab für sie nur noch eine Welt, die gegenwärtige: Dachau. Die andere. Welt, von der sie hörten, von der sie in den Zeitungen lasen, war für sie eine Sage geworden, ein fernes Erinnern, wie vielleicht Verstorbene es haben mochten, als abgeschiedene Geister. Sie waren dem allem fern, sie waren gestorben, begraben, ihr Geisterreich war hier, war Dachau, ein Reich jenseits der Grenzen der Menschlichkeit, ein Reich mit eigenen Gesetzen, das Reich der lebendig Begrabenen, das Reich der Gestorbenen und doch noch Lebenden, das Reich hinter dem Stacheldraht.

Plötzlich wurde mir die Helle der elektrischen Lampen bewußt. Karl schaute mich aufmerksam an: „Was sinnierst Du denn? Gelt, es gefällt Dir nicht bei uns. Mußt Dir nichts draus machen, wir sind ja alle eingesperrt. Freilich, die ersten Tage, da ist’s halt besonders schwer. Aber das vergeht. Da sind noch ganz andere da wie Du, die nehmen es auch nicht mehr krumm, daß sie da sind, die haben sich auch dran gewöhnt. Siehst Du den da drüben mit der Brille, den Alten, der Zeitung liest? Ja, der da. Das ist Schmitz, der ehemalige Bürgermeister von Wien. Weißt Du, was der jetzt macht? Kartoffelschälen in der Küche. Schau Dir nur mal seine Hände an. Na, wirst es schon noch sehen. Und der da, der mit dem anderen da diskutiert, das ist der Schäffer, der war draußen Rittmeister, und der, mit dem er spricht, war ein österreichischer Staatsrat. Und solcher haben wir noch mehr, einen ganzen Haufen, Du glaubst es gar nicht. Vor Dir ist einer mit mir im Spind gewesen, Fürst von Hohenberg heißt er, das ist ein Großneffe vom Kaiser Franz Joseph gewesen, und sein Bruder war auch da.“

Jetzt mischte sich einer vom Tisch ein: „Aber ein feiner Kerl war’s und sein Bruder auch, Kameraden durch und durch. Da kannst Du im ganzen Lager fragen, von denen wird Dir keiner was Schlechtes sagen. Daß sie Fürsten waren und steinreich, das haben sie gar nie herausgekehrt, sie waren gerade so wie wir armen Proleten, haben nicht geglaubt, daß sie was Besseres sind, wie so manche von den „Herren“, die heute mit dem Schubkarren spazieren fahren. Ja, da gibt’s allerhand Leute, solche Schreiberseelen, die glauben, weil sie mal einen weißen Stehkragen getragen haben, seien sie heute noch etwas Besseres. Was ein echter Kerl ist, der macht sowas nicht.“

Ich sah den Sprecher an. Er schien noch gar nicht alt zu sein. So fragte ich ihn: „Bist Du schon lange im Lager?“

„Wie man’s nimmt, achtundfünfzig Monate." Das waren also vier Jahre und zehn Monate. Karl sah mein Erstaunen: „Ja, da bist Du platt,“ sagte er. „Aber das ist noch gar nichts, wir haben welche, die sind schon seit dem Jahre 193 3 da.“

„Wie lange bist Du denn hier?“ fragte ich ihn.

„Noch nicht lange, vorigen Monat waren es drei Jahre."

„Was? Und das ist noch nicht lange?"

Er schüttelte den Kopf: „Mensch, was denkst Du denn, wenn hier einer ein Jahr ist, das ist noch gar nichts, da ist er noch ganz neugebacken. Wart es nur erst einmal ab. Eines steht fest: Die Zeit vergeht hier sehr schnell. Bis daß Du recht rumschaust, ist ein Tag weg, futsch, und mit einem Jahr ist es das gleiche. Aber sag mal, hast Du die Schuhe schon geputzt und Deine Schüssel gewaschen? Ja, dann mußt Du machen, nachher ist keine Zeit mehr dazu, nachher heißt es: . Zimmerdienst!', dann muß alles in die Betten, und hier und im Waschraum und auf dem Abort wird geputzt. Nimm nur gleich die Bürste aus dem Spind. Aber Achtung, daß Du keine Flecken in den Spind machst, sonst ist der Teufel los."

Ich nahm also mein Geschirr und die Schuhbürste und ging schnell in den Waschraum. Er war etwa drei bis vier Meter breit und etwa fünf Meter lang. In der Mitte standen zwei große, runde, weiße Becken mit einem säulenartigen Aufbau in der Mitte. Links, an der Wand entlang, auf dem Boden, standen dicht aneinander viereckige braune Tonkästen von etwa einem halben Meter Durchmesser. Über jedem dieser Terrakottakästen war ein gewöhnlicher Wasserhahn. Es gab etwa sieben solche Behälter und Wasserhähne. Eine Reihe von Männern war damit beschäftigt, unter dem fließenden Wasser ihre Schüsseln und ihr übriges Geschirr zu waschen. Andere wuschen ihre Schuhe. Einer putzte sich die Zähne, neben ihm wusch sich ein anderer die Füße, und einen Schritt weiter war jemand mit dem Waschen seines Taschentuches beschäftigt.

Die Männer um mich herum schienen alle zum größten Teile Arbeiter zu sein. Ich hatte gedacht, in Dachau hauptsächlich Intellektuelle anzutreffen, aber ich sah bald ein, daß ich mich darin gründlich getäuscht hatte. Es war, als hätte man wahllos das ganze Volk hier zusammengepfercht, die Intellektuellen waren ziemlich dünn gesät.

Draußen vor der Türe standen Männer und rauchten, andere unterhielten sich oder putzten ihre Schuhe, wie ich es tat.

Später erst erfuhr ich, daß das Rauchen im Block verboten war. Rauchen war nur in der Freizeit erlaubt. Selbst im Vorraume war das Rauchen verboten und hatte unweigerlich eine Strafmeldung zur Folge, ebenso wenn einer es wagte, im Abort oder Waschraum zu rauchen. Selbst bei strömendem Regen: wer rauchen wollte, mußte es auf der Straße tun. Ebenso war es mit der Kleidung. Vor dem Block durfte niemand auch nur einen Knopf offen tragen. Wer mit ungeflickten Kleidern oder zerrissenen Schuhen herumlief, erhielt sofort eine Strafmeldung. Kleine Schäden mußte man selbst ausbessern, bei größeren tauschte man das Kleidungsstück in der Kammer.

Die draußen Stehenden rauchten ruhig weiter. Man nahm Notiz von dem Neuling, ohne es jedoch viel merken zu lassen.

Gegen „Neue" war immer eine gewisse Ablehnung vorhanden. Man beobachtete den Neuen erst lange, wie er sich benahm, dann erst wurde er ausgenommen oder abgelehnt. Diese Männer sprachen überhaupt nicht viel, einige derbe Scherzworte, eine knappe Frage, eine knappe Antwort, ganz selten, daß einmal einer erzählte.

An diesen Abend hatte ich den Eindruck, unter Trappern irgendeiner Siedlung im wilden Westen zu sein. So hatte man sie beschrieben, diese Männer, die wortkarg waren und Schweres erlebten und lebten. Ich selber aber kam mir wie das eben zugereiste „Greenhorn“ vor.

Karl und ich pilgerten wieder in die Stube.

Zuerst hatte ich ein wenig Mühe, mein Bett zu finden. An der Stirnseite der Bettreihe waren kleine Täfelchen angebracht, auf denen Namen und Nummer des Bettinhabers standen.

Um mich her begannen sich die Betten zu bevölkern. In das Bett daneben legte sich einer seufzend nieder.

„Aha, also ist das Bett wieder belegt. — Na, hoffentlich bleibst Du da.

Alle, die bisher in dem Bett lagen, sind in die Isolierung gekommen. Vielleicht brichst Du die Kette.“

„Nette Aussichten", sagte ich. „Brauchst es nicht tragisch zu nehmen“, meinte er, „es muß ja nicht sein, daß Du hineinkommst, in die Strafkompanie. Wenn Du nach drei Wochen noch hier liegst, kannst Du rechnen, daß Du hier bleibst. Wie-viele Male werden wir noch so ins Bett gehen? Na, für Dich ist es ja erst die erste Nacht.“ „Wie lange bist Du denn schon hier?“

„Zwei Jahre und sechs Monate. Wenn man schon so einige hundert Male ins Bett gegangen ist, sieht immer noch kein Ende vor sich und denkt dabei an Frau und Kind, ohne zu wissen, ob man sie je wieder-sieht, ob man je wieder heraus kommt! Jeder Zuchthäusler weiß, wann seine Strafe abgelaufen ist, nur wir wissen es nicht. Freilich, ab und zu wird einer entlassen. Manchen Tag keiner, dann wieder mal zwei, auch mal acht, aber was ist das unter 12 OOO? Sie sagen im Scherz, die Gestapo hat in Berlin einen Papageien, welchen Schutzhaftbefehl der herauszieht, der Mann wird entlassen. Tatsache ist, daß bisher noch niemand dahinter kam, nach welchen Gesichtspunkten die Entlassungen vorgenommen werden, oft gehen schwere Fälle in Freiheit und leichte bleiben. Viele haben gehofft, als der Krieg ausbrach, das würde die Freiheit bringen, aber es war auch Scheiße. Jetzt hoffen sie alle, daß das Kriegsende die Freiheit bringt, aber es wird gerade wieder so sein. Am sichersten ist die Entlassung durch den Kamin.“ „Was ist das?“

„Nun, durch den Schornstein des Krematoriums, da gehen täglich viele in Freiheit.“ „Na, wieviele denn?“

Er sah zu mir hinüber:

„Ja, glaubst Du denn, daß ich Dir das auf die Nase binden würde, wenn ich es wüßte? Ich kenne Dich ja noch gar nicht."

Da hatte ich also meine erste Abfuhr:

„In Dachau darf man über vieles nicht reden, erstens gibt's zu viele Ohren, zweitens ist es verboten, über diese Dinge zu reden."

Draußen ertönte wieder das merkwürdige Surren, von dem Toni gesagt hatte: „Der Bär brummt.“ Es war die allgemein übliche Bezeichnung für das Surren des großen Signals, das an zwei oder drei Blödes angebracht war.

Kaum hatte der Bär gebrummt, so kam Leben in den Schlafsaal.

Betten wurden aufgedeckt, Menschen kletterten überall herum, Scherzworte wurden gerufen.

Nach etwa zwanzig Minuten brummte der Bär zum zweiten Male. Die Tür vom Wohnraum wurde geöffnet, Toni erschien:

„Licht aus, der Bär brummt!“ rief er.

Sofort verlöschte das Licht.

Eines der Fenster wurde geöffnet. Es trat Ruhe im Raum ein, da und dort hörte man nur noch leises Sprechen, bis auch das verstummte. • Ich lag wach und verwunderte mich über den seltsamen Weg, den ich gegangen war, von Ischia bis hierher. Ich erinnerte mich an all das, was ich heute erlebt hatte und dachte an meine Lieben.

Dann schlief ich ein.

Es ist etwas Wunderbares um den Schlaf, wir vergessen und werden gestärkt. Wäre er nicht eine solche Naturnotwendigkeit, ein solch mächtiges Naturgesetz, sicherlich würde man ihn den Elenden und Armen nicht gestatten. Denn der Schlaf des Reichen ist wie der Schlaf des Armen. Ihre Träume mögen nur verschieden sein.

Ich war kein Gefangener mehr, kein Häftling in Dachau, ich war nur noch ein schlafender Mensch.

Der erste Tag

Abbildung 3

Bettenbau und Morgenappell Von grellem Licht und Stimmengewirr wachte ich auf. Mit einem Schlag erfaßte mein Bewußtsein die Umwelt: Ich war in Dachau. Es war der erste Morgen, der erste Morgen, den ich hier erlebte.

Im Nu war ich auf, nahm meine Decken und verschwand im Wohnraum. Männer standen vor den geöffneten Spinden, zogen ihre Kleider an, andere kamen herein, mit nassen, nacktem Oberkörper und trockneten sich ab, wieder andere legten auf den Tischen ihre Decken zusammen. Ich schaute nach einem freien Tisch aus. Endlich fand ich einen. Nach langem Ringen lag die Decke aufgerollt vor mir. Ich rannte in den Schlafraum, um mein Bett zu machen.

Ein Häftling stand auf meinem Schemel und baute sein Bett. Als ich mich hinzwängte, sagte er gereizt:

'„Du kannst doch warten, bis ich fertig bin! Zwei haben hier keinen Platz. Geh lieber Dich anziehen und waschen.“

Im Waschraum wimmelte es von halbnackten Menschen, die sich prustend an den zwei großen Becken wuschen. Wasser lief aus kleinen Brausen, je sieben Hähne an jedem Becken.

Ich zog das Hemd aus und wartete bis ein Platz frei war. Alles wusch sich in größter Hast. Mich fror erbärmlich.

Im Schlafsaal war es still, nur ganz vereinzelt baute irgendwo einer noch an seinem Bett. Ich hatte nun Platz genug, niemand störte mich, und ich begann meine Arbeit des Bettenbaues.

Bis ich allein den Strohsack halbwegs in Form gebracht hatte, das allein war schon gar nicht leicht. Er hatte nämlich über Nacht in der Mitte eine tiefe Mulde erhalten, seine Seitenfront hatte sich weit nach außen gerundet. Aber ganz platt sollte er oben sein, wie ein Brett und an den Seiten gerade und nicht rund. Ich bildete mir ein, es sei gelungen. Ich hatte mit der Hand in den Schlitz in der Mitte gelangt und das Stroh zurechtgezupft, dann die Außenseite des Strohsacks zurechtgedrückt, und nun legte ich die unbezogene Decke auf. Hurra, ich hatte sie richtig zusammengelegt, sie schnitt genau ab! Und nun das Leintuch darüber.

Schrecken! Das Leintuch war ja viel zu groß, in der Länge wie in der Breite, also mußte ich es etwas einfalten. Ich arbeitete wie ein Wilder, schlug das Leintuch ein, steckte es vom unter den Strohsack, strich es mit vieler Mühe oben glatt und bewunderte dann selbst meinen Erfolg.

Nun das Kopfteil hingebaut! Aber da wollten die Karos des Bezuges nicht, wie ich wollte, sie liefen einfach krumm und quer durcheinander. Ich versuchte mich jedoch erfolgreich als ihr Dompteur, und siehe da, ich brachte es zuwege, daß die Reihen nicht mehr krumm waren, dafür liefen sie schräg, aber das nahm ich nicht so tragisch.

Jetzt das Letzte, die bezogene Decke, vorsichtig über dem Ganzen aufrollen, genau in der Mitte.

Es gelang. Die Decke lag, ihre Karos amüsierten sich, durch das Aufrollen entfesselt, in lustigen Zickzackläufen, da gab es Reihen, die waren eine Weile sichtbar, dann wieder versteckten sie sich, liefen unter die Decke.

Ich war wie vernichtet. Sollte denn meine ganze Mühe umsonst sein? Mit beschwichtigender Hand streichelte ich über die Decke, versuchte die entlaufenen Karos zurückzuholen, es gelang. Aber während ich das tat, hatten sich andere den unbeobachteten Augenblick zunutze gemacht und liefen nun, zu eigenwilligen Linien entfesselt, durcheinander. Ich streichelte und zupfte solange, bis alles halbwegs geradezulaufen schien. Doch dabei hatte das Volk der Fältchen sich wieder erhoben und bedeckte in tückischem Aufruhr die Oberfläche. Ich mußte da also auch wieder mit ordnender, beschwichtigender Hand eingreifen, bis endlich jeder Aufruhr unterdrückt schien. Der Kampf gegen diese Rebellen alle hatte jedoch seine Spuren zurückgelassen, für das zarte Gemüt des Strohsackes war es zuviel gewesen, er hatte sich, tief bedrückt, an verschiedenen Stellen gesenkt und bildete kleinere und größere seenartige Mulden, denen die darauf liegende Decke folgte.

Ich stand auf meinem Schemel, zerknirscht, wie ein Herrscher, der sein Reich durch tückische Naturgewalten umgestaltet sieht. Was tun? Wieder streicheln? Ja, ich tat es, drückte da und dort etwas herunter, aber das Ganze blieb doch eine liebliche Hügellandschaft, es gab da keine gigantischen Berge und Schluchten, aber sanfte Täler und Höhen. Zum Überfluß erblickte ich auch noch die Kante, die Außenseite des Strohsacks; sie war rund, wie ein Katzenbuckel, und sollte doch kantig sein, und glatt, wie ein bespannter Karton, mit einer messerscharfen Kante oben und unten sollte das Leintuch ganz genau auf dem Holz des Bettgestelles aufliegen.

Wieder kneteten meine Finger, aber das Resultat war erbärmlich, es war Zerstörung, nicht Aufbau.

Plötzlich hörte ich ein Lachen hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich in Tonis freundliches Gesicht. Er schüttelte lächelnd den Kopf:

„Wirst nicht fertig mit dem Bett? Ja. das ist zu Anfang gar nicht so leicht, es will gelernt sein. Früher hat man es uns oft tagelang bauen lassen, zur Strafe, wenn es nicht so war, wie es sein sollte. Was Du da gebaut hast ist ja eine richtige Mausefalle.“

Toni trat an mein Bett, betrachtete die ganze Sachlage, wie ein fähiger Feldherr, ein Schlachtfeld, dann griff er energisch unter den Strohsack, hob da und dort einige Stellen hoch, buchtete sie aus, schlug mit der flachen Hand die Außenseite des Strohsacks, dann zog er mit dem Bügel noch ein paar Linien über das Kopfteil.

Prüfend betrachtete er sein Werk:

„Nimm Deinen Hocker mit herein, Du mußt in Zukunft sehen, daß Du schneller fertig wirst. Jetzt ist es zu spät zum Kaffeetrinken.. Mit der Zeit kriegst Du es schon raus. Am Anfang wirst Du kaum recht zum Essen kommen. Aber das geht allen so.“

Im Schlafraum waren inzwischen Männer mit Kehren beschäftigt, andere krochen unter den Betten herum und schafften mit Handfegern den Staub vor. Im Wohnraum dasselbe Bild: Die Tische waren zur Seite gerückt, der Boden wurde gefegt und gebohnert, die Spinde abgestaubt.

Toni legte mir die Hand auf die Schulter:

„Und nun mach Dich fertig, bring den Spind in Ordnung und geh hinaus, es wird gleich Appell sein.“

Ich sah in den Spind. Alles war tadellos am Platz.

Es dauerte lange, bis ich meine Schuhe fand, ich zog sie an und ging hinaus.

Auf der Lagerstraße war ein Auf und Ab, wie auf einer Kurpromenade, nur daß die Menschen einen anderen Schritt hatten, einen schweren, gehemmten, nur daß die Gesichter etwas seltsam Erloschenes in ihrem Ausdruck zeigten. Keiner von ihnen allen hatte eine Hand in der Tasche. Keiner sprach ein lautes Wort.

Diese Gesichter ähnelten alle irgendwie mehr einem Ding als einem Menschen. Freilich, später sah ich, daß ein Häftling wirklich nichts anderes war als ein lebendes Ding, allerdings ein ganz wertloses, eines, dem weniger Bedeutung beigemessen wurde als einer Schachtel voll Streichhölzer oder einem Stück Holz. Auffallend war auch, daß sie alle etwas gebückt gingen, selbst die, welche mit scheinbar aufrechtem Gang einher-kamen. 1 In dem Grau des Morgens, im Lichte der Scheinwerfer hatte das Ganze etwas Unheimliches, Geisterhaftes an sich: die aufragenden, von elektrischem Licht durchstrahlten, schlanken Pappeln, die grauen Spaziergänger, die mit schweren, müden Schritten einherwandelten, in ihren nebelfarbigen Kleidern und ihren unpersönlich gewordenen Gesichtern, das fast Lautlose der ganzen Szenerie, diese gestenlosen, halblaut gesprochenen Worte. Es war, als hätten die Schatten der Unterwelt ein Zusammentreffen im Morgennebel, ein Fest, in der letzten Stunde, bevor die Sonne aufging.

In diese graue Sinfonie hinein ertönte das graue Rattern des großen Weckers, das Brummen des unsichtbaren „Bären“.

So wie bei einem Hexensabatt die Hexen beim ersten Sonnenstrahl auseinanderstieben, so stoben die grauen Gestalten auseinander. Es war, als schlüpfe das Heer der grauen Schatten zurück in seine Gräber, als sauge die Erde diesen fester geformten Nebel in ihre Schlupfwinkel und Höhlen auf.

Wie durch Zauber war plötzlich die ganze Lagerstraße leer. Ich stand allein da, die Scheinwerfer brannten, durchfluteten die schlanken Pappeln. In der funkelten Luft hingen Nebelfetzen.

Ich ging zurück.

Da sah ich, gespenstig aneinander gedrängt, in jeder Blockgasse eine graue Menschenmasse stehen, geformt wie ein unförmig dicker Wurm, wie ein Lindwurm der Sage.

Geballt und gedrungen stand sie da, vor jedem Block.

Nun begann auch ich zu hasten.

Kaum stand ich in meiner Gruppe, so ertönte der Befehl zum Abmarsch.

Toni war neben mir und einige andere, die ich auch gestern schon gesehen hatte. Neben mir, auf der anderen Seite marschierte ein Mann, er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, die anderen nannten ihn Wagner.

Er sah mich nicht unfreundlich, aber streng an und sagte halblaut:

„Wo kommst denn Du so spät her"?

„Ich war auf der Lagerstraße."

„Du bist gut. Beim Appell hat alles hier zu sein. Laß Dich nicht erwischen!"

Toni schielte mich von der Seite freundlich an. Da begannen auch schon alle zu singen:

„Steig ich den Berg hinan, das macht mir Freude, denn so ein Dirndelein, das war mir gut.

Sie hat zwei wunderschöne blaue Augen und einen Bubikopf, der steht ihr gut.“

Wir schwenkten in der Lagerstraße ein, hinter uns und neben uns marschierten andere Formationen, exakt in Schritt und Tritt, genau in Reih und Glied.

Dumpf 'stampften und schlürften die Füße der Tausenden von Häftlingen über die Erde.

Auf dem Appellplatz schwenkten wir an unseren alten Standort. Von dem Dache des großen hufeisenförmigen Gebäudes vor uns strahlten Scheinwerfer ihr grelles Licht, ebenso von den Dächern der Baracken hinter uns. Sie erhellten den Appellplatz, drangen durch den grauen Nebel, der alles einhüllte.

Dann ertönte das Kommando:

. Stillgestanden . .. richtet Euch!'Schnurgerade mußte man sich wieder aufstellen. „Blöde 12 . . . Stillgestanden! — Mützen ab!“

Ein Blockführer kam und zählte ab. Dann hieß es wieder: „Mützen auf . . ., Rührt Euch!“

Wagner wandte sich zu mir: „Scheußlich ist das, jeden Morgen das gleiche, jeden Abend. Oft stehen wir 11/2 Stunden hier nutzlos herum. Geht irgendeiner mit drei Sternen vorbei, so müssen 12 OOO Mann die Mützen abnehmen, bis der Herr außer Sicht ist. Es ist zum . . ."

Er vollendete den Satz nicht, schon hieß es: „Mützen ab!"

Es dauerte eine geraume Weile, bis das Kommando kam: „Mützen auf! .,. Rührt Euch!"

Wagner wandte sich mir zu. Auf seinem Gesicht erschien ein ironisches Lächeln: „Sagte ich es nicht? Und so geht das oft x-mal hintereinander." „Ja, und wenn es regnet?" fragte ich naiv.

Da wandte sich der, der neben ihm stand um und sagte: „Dann kommt der Blockführer und bringt Dir einen Regenschirm, weil Du es bist.“

Wagner drehte sich zu ihm:

„Sei doch nicht gleich so gehäßig, Harry Habel. Die ganze Zeit stehst Du stumm da, wie ein Fisch, wenn Du aber das Maul aufmachst, dann nur um eine Bosheit zu sagen.“

Harry bekam kleine, böse Augen:

„Ich weiß gar nicht, was Ihr alle mit dem Neuzugang habt. Kaum ist er einen Tag da, schon sprecht Ihr mit ihm, als sei er einer von den Alten. Wenn ich aber mal mit Euch reden will, höre ich kein vernünftiges Wort."

Wagner gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter:

„Er ist eben nicht so kratzbürstig wie Du. Bei Dir fängt natürlich der Mensch erst an, wenn er schon mindestens drei oder fünf Jahre Häftling ist, wir sind eben liberaler.“

Harry wandte sich ab mit einem starren, übelnehmenden Gesicht.

Die Sicht war mittlerweise besser geworden, der Nebel hatte sich etwas gehoben.

Wagner deutete mit einer Geste seines Kopfes auf das Dach:

„Hast Du das schon gelesen?"

Ich folgte seiner Bewegung, sah, daß auf das Rot des Daches in großen, weißen Lettern weithin sichtbar Worte aufgemalt'standen:

ES GIBT EINEN WEG ZUR FREIHEIT.

SEINE MEILENSTEINE HEISSEN:

GEHORSAM, ORDNUNG, EHRLICHKEIT, NÜCHTERNHEIT, FLEISS, SAUBERKEIT, OPFERSINN, WAHRHAFTIGKEIT, LIEBE ZUM VATERLAND Wagner schaute mich erwartungsvoll an:

„Na, was sagst Du nun?"

„Das klingt ja recht verheißungsvoll.“

Er lachte bitter:

„Präg Dir nur die goldenen Worte gut ein. Nüchternheit wird Dir besonders schwerfallen, da es keinen Alkohol gibt. Wahrhaftigkeit wirst Du am besten von der SS lernen und die Ehrlichkeit dazu. Alle übrigen Tugenden werden sie Dir schon mit dem Prügel oder mit dem Stiefel beibringen, und so lernst Du am Schlüsse die Liebe zum Vaterland.“ „Wie lange bist Du eigentlich schon im Lager?“ fragte ich ihn.

„Zweieinhalb Jahre. Aber mir langt es.“

Toni unterbrach ihn:

„Du, Kupfer, wenn jetzt der Appell vorbei ist, dann heißt es: . Arbeitskommando formieren!'. Dann gehst Du dahinten hin, wo die Uneingeteilten stehen und wenn Du da keine Verwendung findest, so kommst Du auf den Block zurück. Wenn Dich jemand aufhält und fragt, wo Du hinwillst, so sagst Du, Du bist auf Block 12 zum Stubenältesten bestellt. Du seist Neuzugang, und der Stubenälteste würde Dich brauchen. Verstanden? Übrigens kannst Du mit Habel hingehen, er ist Capo der Un-eingeteilten." Er wandte sich zu Habel:

„Du, Harry, nimm den Neuen selber mit, den Kupfer.“

Habel wandte den Kopf ein wenig:

„Gut, er soll mitkommen.“

Es dauerte nur eine kurze Weile, dann ging ein Raunen durch die Menge, so als wenn ein Wind durch dürres Laub rauscht. Gleich darauf ertönte das Kommando über den ganzen Appellplatz:

„Häftlinge: Stillge . . . standen! -----Mützen ... ab! ... Augen . .. rechts!"

Es ging, wie immer, Zug um Zug. Starr und aufrecht standen die Männer, den bloßen Kopf nach rechts gewandt.

„ 12 693 Häftlinge zum Zählappel angetreten, 4 Abgang durch Tod."

Eine Weile war Stille, niemand rührte sich, bis die Stimme des Rapportführers befahl:

„Augen gerade aus! Rührt Euch! Arbeitskommandos formieren!“ Die ersten Capos Ehe ich mich noch recht umschaute, sah ich kein vertrautes Gesicht mehr.

Habel lavierte sich durch die treibenden Menschenmassen. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen und ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Endlich waren wir am anderen Ende des Appellplatzes angelangt. Dort stand schon eine ganze Kolonne, meist recht armselig und schlecht aussehender Häftlinge. Habel ging die Reihen entlang und begann in einem Zwischending zwischen preußischem Kommandoton und Dachauer Tonart zu schnauzen: „Ordnung hier! Los! Wollt Ihr wohl auf Vordermann gehen! ... Seitenrichtung! . . . Kannst Du nicht das Maul halten?!"

Er lief um die Gruppe herum, wie ein Feldwebel um seine Truppe. Er nahm sich und sein Amt sehr wichtig. Ich stand und schaute über den Appellplatz.

Neue Gruppen hatten sich gebildet, eine nach der anderen begann abzumarschieren. Einige marschierten ins Lager hinein, die Lagerstraße entlang, andere vor das große Gebäude und verschwanden dann in seinem Innneren, die meisten und größten Gruppen jedoch marschierten durch die Tore, alles mit Gesang. Wieder hörte ich den „Bubikopf“, das „Schloß so hoch da oben“ und ein Lied das hieß: „O du schönes Sauer-land!“, er schien wenig Auswahl zu geben, die Hauptsache war, es wurde gesungen.

Neben dem Kommando schritt jeweils ein Häftling, der um den Arm eine gelbe Binde trug, auf ihr stand in schwarzen Lettern geschrieben: „Capo". Lange habe ich mir den Kopf zerbrochen, wo dieses Wort wohl herkommen möge. War es die Abkürzung für Caporale, das italienische Wort für Unteroffizier?

Über den Appellplatz kamen einige Männer mit gelben Binden gerannt, direkt auf unsere Gruppe zu. Sie machten vor Habel halt.

„Ich brauche zehn Mann zum Kiesaufladen."

Habel sagte gelassen:

„Such sie Dir aus.“

Der „Capo" trat näher, ging die Reihen entlang und musterte die Leute. Ab und zu winkte er einem mit dem Finger und ließ ihn heraustreten. Als er seine zehn Mann beisammen hatte, stellte er sie in Fünfer-Reihen auf und kommandierte:

„Im Gleichschritt: marsch!“

Die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung und marschierte auf eine der noch stehenden Gruppen zu.

Da trat der nächste Capo vor:

„Mach etwas schneller, zum Teufel, ich brauche dreißig Mann, Straßenbau.“ Habel sagte wieder gelassen:

„Such sie Dir aus.“

Der Capo rief:

„Dreißig Freiwillige raus zum Straßenbau!“

Sofort traten sechzehn Mann vor. Sonst rührte sich nichts. Habel bekam grüne Augen:

„Was? Ihr wollt nicht? Na, das will ich mal sehen!“

Er schoß die Reihen entlang, suchte sich die stämmigsten Burschen aus, zog sie heraus und stellte sie zu den anderen.

Der Capo lachte, es war kein schönes Lachen:

„Ich werde Euch schon arbeiten lehren, Ihr faulen Hunde!“

Und er gab dem letzten einen tüchtigen Tritt.

Ich glaubte meinen Augen nicht trauen zu können, aber da wiederholte sich das Schauspiel. Einer war zu ihm getreten:

„Capo, ich kann nicht, ich habe Wasser in den Beinen. Da, schau.“

Und er zog sein Hosenbein hoch, um das geschwollene Bein zu zeigen.

Der Capo empörte sich:

„Das geht mich einen Scheißdreck an, so schlimm ist das nicht, hau ab, Du faule Sau!“

Und er gab ihm einen Tritt.

Ein Häftling trat hier den anderen, und keiner sagte etwas, niemand empörte sich, auch Habel schien es in Ordnung zu finden. War das möglich? Mußten nicht diese Hunderte von Menschen, die hier standen, revoltieren, über ihren Mitgefangenen berfallen? Oder durften sie es vielleicht nicht, nur weil er eine gelbe Binde trug? Aber hätten sie dann nicht wenigstens „Pfui" rufen können?

Unbeweglich standen alle. Keiner rührte sich, in keinem Gesicht war irgend etwas zu lesea, das einzige, was ich in einigen Zügen zu sehen glaubte, war Angst. Angst wovor?

Der Capo stellte auch diese Gruppe in Fünferreihen auf, ermahnte sie dann noch freundlichst mit einem höhnischen Lächeln: „Bei mir habt Ihr s heute gut, ich werde Euch schuften lassen, daß Ihr verreckt.“

Dann kommandiert er:

„Im Gleichschritt . . . marsch!“

Und auch dieses Häuflein zog ab.

Es war nur noch ein Capo geblieben. Er begann sich Leute auszusuchen, genau wie die anderen. Aber einer sträubte sich:

„Ist es schwere Arbeit? Ich habe einen Bruch.“

Er hatte kaum Zeit um auszureden, da hatte er auch schon einen Schlag im Gesicht, daß er taumelte. Der Capo schrie:

„Raus mit Dir, Du faules Stück Scheiße! Raus sag ich! Willst Du laufen!"

Willenlos trat der Arme vor.

„Bist Du noch nicht bei den anderen! Willst Du eintreten!“

Und er versetzte ihm einen Schlag.

In dem Augenblick kam ein SS-Mann vorbei und wandte sich an den Capo:

„Was gibt's?“

Der Capo riß die Mütze vom Kopf und stand stramm:

„Dieser Mann will nicht arbeiten, Herr Blockführer.“

Der Geohrfeigte wurde noch röter im Gesicht. Er stotterte:

„Herr Blockführer, ich habe einen ..."

„Mensch, nimm die Knochen zusammen, wenn Du mit mir sprichst, und tu die Mütze herunter!“

Der Angeschriene fuhr zusammen.

Der Capo lachte roh:

„Er sagt, er hat einen Bruch.“

Der Blockführer grinste:

„Was hat der Vogel? Einen Bruch? Gib ihm Steine zu tragen, das heilt am besten. Wenn der Drecksack krank ist, soll er ins Revier gehen.“

Dann stellte er sich dicht vor den Häftling:

„Glaubst Du denn vielleicht, Du kannst Dich drücken? He? Glaubst Du vielleicht, hier ist ein Sanatorium? He? Deswegen seid Ihr ja hier, daß Ihr verrecken sollt, Ihr Schweine!“

Dann brüllte er:

„Hau ab, Mensch, daß ich Dich nicht mehr sehe!“

Der Häftling machte vorschriftsmäßig kehrt. Diesen Augenblick benutzte der SS-Mann und gab ihm einen kräftigen Fußtritt, der ihn mitten in der Gruppe hineinschleuderte. Dann wandte er sich zum Capo:

„Und Steine tragen lassen, den ganzen Tag, das tut gut für so Brüder. Aber im Laufschritt, verstanden?"

Der Capo lachte:

„Wird gemacht, Herr Blockführer!"

Der SS-Mann ging weiter. Ich sah ihm nach, ohne mich zu wenden. Er war ein junger Mensch von etwa dreiundzwanzig Jahren, mit einem knochiges Gesicht. Er sah ganz harmlos aus, nur um den Mund hatte er einen bösen Zug. Der Mann, den er getreten hatte, hätte sein Vater sein können, er mochte etwa sechsundfünfzig Jahre alt sein.

Der Capo gab das Kommando zum Abmarsch. Der Trupp entfernte sich. Es standen jetzt nur noch wenige Gruppen auf dem Appellplatz. Habel blieb bei mir stehen: „Na, jetzt hast Du ja gesehen, wie es einem gehen kann, wenn man nicht arbeiten will. Ja, wir sind halt in Dachau. Ich rate Dir bloß, mach nur keine Dummheiten, sonst geht’s Dir genau so. Dabei ist heute alles das reinste Zuckerwasser. Da hättest Du einmal sehen sollen, was früher hier los war, wie es da zuging, alles im Laufschritt und Prügel noch und noch, aber mit Lattenstücken, nicht so ein sanftes Getätschel, bloß so ein paar Ohrfeigen.“

„Bloß so ein paar Ohrfeigen ..." — echote es in meinem Innern. „Du brauchst heute nicht hier zu bleiben. Du gehst jetzt auf den Block, da sind noch einige Sachen, die Du erledigen mußt."

Der Appellplatz hatte sich in der Zwischenzeit gekert. Fast alle Kommandos waren abmarschiert.

Beim Stubenältesten Ich löste mich aus der Gruppe und ging unangefochten über den Appellplatz und die Lagerstraße entlang auf Block 12. Dort empfing mich Toni, freundlich wie immer.

„Komm her, setz Dich an den Tisch hier. Du mußt jetzt Deinen Zugangsbrief schreiben. Du mußt aber genau auf und innerhalb der Linien schreiben, sonst wird der Brief nicht abgeschickt und fliegt in den Papierkorb. Und ja klar und deutlich schreiben! Und keinen Unsinn, sie sind sehr empfindlich beim Lesen Uber alles, was das Lager, Dein Leben hier, Deine Gesundheit betrifft, darfst Du kein Wort schreiben, außer: , Es geht mir gut.“'

„Ja, aber was soll ein Mensch denn noch schreiben?“

„Alles was er will, nur nichts, was verboten ist oder Verdacht erwecken könnte. Außerdem ist das ja nur ein Zugangsbrief. Du sollst nur schreiben, daß Du hier bist, daß es Dir gut geht, damit man das draußen weiß und bei der Gestapo nicht unnötige Anfragen nach Deinem Verbleib eingehen. Also nur wenige Zeilen. Wenn wir wieder Posttag haben, kannst Du dann mehr schreiben. Dieser Brief zählt eigentlich nicht, er soll nur eine Benachrichtigung sein und daher kurz.“

Also tat ich, wie mir geheißen, schrieb die wenigen Zeilen, daß ich jetzt in Dachau sei, daß es mir gut gehe, ich gesund sei, kein Grund vorhanden sei, sich um mich Sorge zu machen.

Dann kam der Umschlag an die Reihe. Er war grün und trug als Verzierung dieselben schönen Worte wie die erste -Briefseite, also das ganze Briefreglement und die weltbekannte Absenderadresse: K. L. Dachau, in dicken, schwarzen Lettern. Die Marke durfte nur am oberen Rande, leicht angeklebt werden, die Postzensurstelle klebte sie dann, nach erfolgter Zensur, fest. Man fürchtete, daß geheime Notizen klein unter die Briefmarke vor dem Aufkleben geschrieben werden könnten. Endlich war die Arbeit getan, der Brief fertig. Brief? . . . Die Mitteilung.

Plötzlich hieß es: „Der , Moorexpreß'kommt!"

Auf der Lagerstraße bewegte sich ein großes Wagenungetüm auf uns zu. Der Wagen lief auf großen Gummirädern und sah wie der Anhänger eines Lastautomobils aus. Er bewegte sich nicht durch Motorkraft, an seiner Deichsel gingen zwei Häftlinge und auf jeder Seite etwa acht Mann, die an Stricken zogen, die an den Seiten befestigt waren.

Der Wagen war sehr hoch geladen, pyramidenförmig mit Broten, viereckigen Kommißlaiben. Es waren etwa 2000 bis 3000 Laibe Brot, jedes im Gewicht von drei Pfund, also eine Gesamtlast von mindestens 60 Zentnern.

Ich fragte Toni:

„Wieso Moorexpreß?“

„Wir haben ihn so genannt, hier ist doch ringsum Moorboden. Diese Wagen, die von Häftlingen gezogen werden, fahren natürlich nicht sehr schnell, denn schon allein der Wagen selbst hat ein großes Gewicht. Also haben wir ihn aus Scherz . Expreß'getauft."

„Ja, gibt es denn mehr solche Wagen?“

Toni lachte: „Im Lager wird alles so befördert. Es ist nicht leicht, denn manche Wagen fahren auch außerhalb des Lagerbereiches, und es gibt unebenes Gelände, vor allem, wenn es regnet und die Straßen aufgeweicht sind, ist es kein Vergnügen, im strömenden Regen als Kutschpferd zu gehen und vor allem, wenn der Wagen im Dreck stecken bleibt."

„Lind warum nimmt man kein Auto?" „Weil wir im Lager sind und weil wir geschunden werden sollen. Du wirst es selber noch sehen. Es soll wohl auch eine Art Demütigung sein. Draußen in Dachau, die Bevölkerung, hat sich schon oft darüber aufgeregt, daß man Menschen wie Pferde einspannt.“

Der Wagen war näher gekommen und hielt am Block rebenan. Toni meinte:

„Jetzt laden sie da erst ab. Manchmal kommen Kommissionen ins Lager, um nachzusehen, wie es geht. Wir nennen das einfach: Besuch. Natürlich sehen sie eigentlich nichts von dem, was wirklich im Lager vorgeht. Sie werden eben nur so durchgeführt, sind außerdem immer vorher angemeldet, und da macht dann alles einen sehr schönen, guten und sauberen Eindruck, zumal wenn niemand da ist. Einmal nun kam ganz programmwidrig ein Moorexpreß daher gefahren. Der Besuch war natürlich entrüstet und fragte, wie man Menschen vor einen Wagen spannen könne. Der Lagerführer lachte: „ja, so sind sie, unsere Häftlinge. Da stehen nun genügend Pferde drüben in der Kaserne im Stall, sie haben sie ja vorhin selbst gesehen, die stehen nun den lieben, langen Tag und'haben nichts zu tun. Aber denken Sie, die Häftlinge sind zu bewegen, die Pferde einzuspannen? Nein, das wollen sie nicht, es ist nichts zu machen, sie müsseen absolut den Wagen selbst ziehen. Es ist für sie eine Art Tätigkeitsdrang und die Lust, in frischer Luft zu sein und sich Bewegung zu machen. Der Besuch schüttelte den Kopf und dachte wahrscheinlich: , Häftlingspsychose. ‘ Aber der Fall war so für sie geklärt und erledigt. — So ist es mit allem.“

Der Wagen mit der Brotpyramide hielt.

„Aufpassen, jetzt gebe ich Dir das Brot, und Du schichtest es auf den Tisch.“

Auf dem Wagen stand ein Häftling, er begann Brot herunterzuwerfen, dabei zählte er:

Zwei, vier,...sechs, acht, .. . zehn, zwölf, . .. vierzehn, sechzehn, ...

Die Brote flogen, wurden aufgefangen und auf die Tische geschichtet.

Als das letzte Brot ausgezählt war, setzte sich der Wagen wieder langsam in Bewegung, seine Menschenpferde zogen an und schleppten ihn langsam weiter, zum nächsten Block.

Drinnen half ich Toni, die Brote in ein leeres Spind zu legen. Dabei unterhielten wir uns. Wenn es so weiterging, schien mir das Lagerleben eine leichterträgliche Angelegenheit. Ich sagte das. auch zu Toni. Da wurde sein Gesicht ernst: „Das scheint Dir nur so, freilich, es ist heute nicht mehr so schlimm, aber voriges Jahr noch und im Jahre 38 war es ganz anders. Ich mochte nicht über die Lagerstraße gehen, überall, wo die SS einen Häftling sah, hielt sie ihn auf und begann ihn zu schlagen, aus irgendeinem Grunde: Er hatte einfach nicht gegrüßt und so ... Es war widerlich zu sehen, wie diese jungen Flegel alte Leute ins Gesicht schlugen oder mit den Füßen traten. Und wieviele haben sich damals aufgehängt, auch dieses Frühjahr noch. An den Betten drin, da hingen sie morgens, oder an der Dachrinne, oder sie gingen in den Draht. Morgens mußte man immer die SS holen, denn man darf keinen abschneiden, auch wenn er noch lebt nicht. Es war direkt wie eine Epidemie, diese Aufhängerei. Heute ist das schon selten geworden, nur dann und wann hört man wieder einmal, daß sich einer aufhängte. Und früher hingen sie sich oft so niedrig auf, daß sie hätten aufstehen können, doch sie taten es nicht, sie hatten den festen Willen zum Sterben. Viele sind hier so müde geworden. Wenn man als Ende doch nur ein langsames Hinsterben sieht, ein Verenden, wie bei einem geschundenen Tier, getreten, geschlagen, gehetzt, Tag für Tag, Stunde für Stunde.

Hier auf dem Block ist ja alles golden, wir haben hier fast lauter Leute, die schon jahrelang im Lager sind, eine Auslese sozusagen. Nur ganz selten kommt ein Neuer dazu, die Neuen werden gewöhnlich auf die anderen Blocks abgeschoben. Bei Dir hat man aus irgendeinem Grunde eine Ausnahme gemacht, aber das ist selten. Hier ist alles Ruhe und Frieden, wie Du siehst. Aber auf den anderen Blocks, da sind nicht alle Blockältesten und Stubenältesten, wie sie sein sollten, da werden die Menschen gehetzt und geschlagen, wenn sie nach dem schweren Tag auf ihren Block heimkommen. Auf solchen Blocks ist der Tag bis zur letzten Minute eine Hölle. Kein Wunder also, wenn sie sich fragen: Warum, warum diese Qual noch verlängern? Und doch haben wir Leute hier im Lager, die schon viele Jahre hier sind, manche seit Anfang. Es ist eigentlich ein Wunder, weil jeder Tag voller Gefahren ist.

Plötzlich sprang der Blockälteste von seinem Stuhl auf, schlug die Hacken zu sammen und schrie:

„Achtung!"

In der Tür stand ein junger SS-Mann. Der Blockälteste begann seinen Rapport zu schnarren, knapp, scharf, militärisch:

„Block 12, . . . belegt mit 386 Häftlingen, 5 im Revier, 380 in Arbeit."

Der SS-Mann machte eine lässige Handbewegung:

„Weitermachen", sagte er.

Sofort rührten sich alle und gingen ihrer vorherigen Beschäftigung nach.

Der SS-Mann sah mich an: „Was tut der hier?"

Toni antwortete: „Neuzugang, Herr Blockführer." „Aha ..

Dann fragte er mich:

„Von wo sind Sie gekommen?" „Von Innsbruck."

Er nahm aus der Tasche einen Stoß Briefe„Da habt Ihr Briefe."

„Ist alles in Ordnung?"

„Jawohl, Herr Blockführer," sagte Toni.

„Schlafsaal auch?"

„Jawohl, Herr Blockführer."

Er ging zur Tür des Schlafsaals, öffnete sic und trat ein. Toni folgte ihm. Eine Weile blieben beide drinnen, dann klangen wieder die harten Tritte, die genagelten Stiefel des Blockführers. Wieder traten beide in den Wohnraum.

„Gut", sagte der Blockführer und ging durch das Zimmer. Als er an der Tür war, schrie der Blockälteste wieder:

„ Achtung!"

Sofort standen wir alle steif und stramm. Der SS-Mann sah sich noch einmal um, dann ging er hinaus. Als die Tür sich hinter ihm schloß, rührten wir uns.

„Na, der wäre wieder fort“, meinte der Blockälteste gelassen, „ich bin froh, wenn ich die Brüder nicht sehe.“

Der Blockschreiber wiegte den Kopf:

„Der ist nicht der Schlechteste. Wir können froh sein, so einen Block-führer zu haben.“

Der Blockführer nickte:

„Freilich, freilich, sehr froh sogar, aber im allgemeinen habe ich es trotzdem lieber, wenn ich die Brüder nicht sehe.“

Kübeltragen Jemand kam herein und fragte:

„Habt Ihr denn nichts gehört? Es hat doch schon längst zum Kost-holen gepfiffen.“

Toni sah auf die Uhr:

„Donnerwetter, wir haben nichts gehört! Kupfer, schnell zieh Dir die Schuhe an, Du mußt mitgehen, Kost holen.

Ich nahm meine Mütze, suchte meine Schuhe, zog sie schnell an und ging hinaus. Draußen standen schon einige Leute aus anderen Stuben.

Ich kam neben einen älteren Mann mit offenem netten Gesicht und weißen Haaren. Er sah midi freundlich an und nickte mir zu:

„Ach, der Neuzugang! Na, wie gefällt das Lagerleben?"

Seine Stimme war angenehm, wie sein Aussehen.

„Wissen Sie, ich habe noch nichts erlebt, es sind erst Eindrücke, die ich sammle.

Er nickte:

„Bitte, sage „Du“ zu mir, man sieht es hier nicht gern, wenn man Sie sagt. Angeblich sind wir alle Kameraden, und so sagen wir Du zueinander. Es ist ja auch viel schöner so, zu Gott sagen wir ja auch Du.“

„Wieso sind wir nur angeblich Kameraden? Vereint uns nicht alle das gleiche Schicksal, sind wir nicht alle hinter Stacheldraht, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft des Volkes, wie es so schön heißt. Und auch sonst, haben wir nicht alle den gleichen Feind, die gleichen Leiden, das gleiche Bett, das gleiche Stück Brot, die gleiche Schüssel Suppe?"

Er lächelte nachsichtig:

„Das scheint Dir nur so, das heißt, es ist so und ist doch nicht so. Du wirst sehen, daß es hier Schwache und Hilflose gibt, die Mehrzahl, und solche, die stark sind und die Schwachen, Elenden bedrücken. Man spricht von einer Lager-Prominenz. Die Capos, die Stubenältesten, die Blockältesten, die Blockschreiber und viele andere zählen dazu. Es ist genau wie draußen, nur krasser.“

Einer der Häftlinge kommandierte:

„Im Gleich . . . schritt ... m . . . arsch!"

Unsere kleine Kolonne, von etwa acht Mann, setzte sich in Bewegung. Mein Nebenmann flüsterte mir im Gehen zu:

„Wir gehen jetzt in die Küche, das Essen für den Mittag zu holen, bleib bei mir, es ist besser, wenn wir zusammen tragen, wenn Du zu einem unwilligen Manne zum Tragen kommst, dann ist es kein Vergnügen. Und gib acht, daß wir den Kessel gerade halten. Du kannst Dir die Hand verbrühen, oft schließen sie, trotz des schweren Deckels, nicht gut, und die Griffe sind gleich daneben. Du darfst auch nicht absetzen, bevor nicht das Kommando dazu gegeben ist, Du mußt durchhalten. Aber es wird schon gehen. So ein Kübel ist schwer, er wiegt leer schon etwa 80 Pfund."

Wir gingen über den Appellplatz. Er war leer, nur eine Gruppe von wenigen Häftlingen stand da und wurde gedrillt. Ich hörte die Befehle nicht, die der SS-Mann ihnen erteilte, der dabei stand, ich sah nur, daß sie stillstehen mußten, daß sie dann maschierten, sich hinwarfen, flach auf den Bauch und sich auf der Erde weiter rollten. Dann wieder sprangen alle auf und begannen in tiefen Kniebeugen zu gehen, den Oberkörper gerade aufgereckt, die Arme waagerecht nach vorne gestreckt. Fetzen von dem, was der SS-Mann kommandierte, wurden uns zugetragen: „Hü . . . pfen . . . Drecksäcke! .. . Intelligenzsau! . . . Roter Bandit! .. . Hund verfluchter! . . . Hüp ... fen! .. .“

Wir näherten uns der Küche. Mein Nebenmann mahnte mich:

„Nicht umschauen. Wenn es einer sieht, kannst Du gleich dort drüben mitmachen. Wir nennen es „Sport“, ein schöner Name, nicht wahr? Oft werden sie einen halben oder einen ganzen Tag so herumgejagt."

„Hüp ... fen!“ tönet es noch einmal von ferne herüber.

Wir waren dicht vor der Küche und mußten nun zwei und zwei nebeneinander treten. Vor der Ktche standen, Block für Blöde geordnet, die Essenträger, zwei und zwei, eine lange Schlange. Wir mußten warten. Ich wollte etwas sagen, aber mein Nebenmann stieß mich an:

„Pst“.

Und er deutete mit dem Kopf unauffällig auf einen SS-Mann, der auf den Stufen der Küche stand und uns überblickte. Er hatte ein rohes, knochiges Gesicht, trug SS-Uniform, darüber eine große, weiße Küchen-schürze, auf die der Gürtel mit der Pistole geschnallt war. Er hatte seine Jacke ausgezogen und stand mit aufgekrempelten Hemdsärmeln da. In der Hand hielt er einen Stock. Tückisch und böse sahen seine Augen auf unsere Reihe. „Jetzt heißt es aufpassen. Wenn wir hineinkommen, gleich Mütze abnehmen. Dann hinter den anderen hergehen. Die Kübel stehen in langer Reihe. Du gehst rechts, ich gehe links. Wenn die vor uns ihren Kübel fassen, dann sich bücken und den nächsten fassen und nichts wie raus. Sowie wir uns dumm stellen oder zu langsam sind, hagelt es Prügel. Drinnen sind einige, die tun nichts lieber, als Dir den Knüppel über den Kopf zu hauen.“

„Aber doch nicht über den Kopf?“

„Natürlich. — Was meinst Du, wie oft ich das schon erlebt habe."

„Aber Didi alten Mann wird doch niemand schlagen?“

Er bekam einen traurigen Zug um den Mund:

„In Dachau fragt niemand danach, ob Du alt oder jung bist. Ich habe schon oft den Prügel über den Kopf gehauen bekommen, daß ich dachte, ich müsse Umfallen. Aber das darf man nicht, sonst schlagen und treten sie Dich nur noch ärger, und sie treten hin, wo sie eben hin-treffen.“

Ein schriller Pfiff ertönte, die Kolonne setzte sich in Bewegung. Wir traten schnell ein.

Ich konnte es nicht glauben, daß es möglich sein sollte, einen alten weißhaarigen Mann mit einem Knüppel über den Kopf zu schlagen, nur weil er nicht flink genug zufaßte, von einem jungen, starken Menschen geschlagen ... — Es erschien mir ungeheuerlich. AIs wir aber eintraten, vergaß ich es über dem, was ich sah:

Die Küche war ein riesiger Saal, von etwa zwanzig Meter Breite und fünfzig Meter Länge. In der Mitte standen riesige, ganz moderne Kochkessel, sie waren rot gestrichen, und das Metall an ihnen glänzte. Sie waren von solchen Ausmaßen, daß ihre Deckel nur hydraulisch zu öffnen gingen. In solch einen Kessel mochten viele hundert Liter gehen. Häftlinge standen vor ihnen auf Stufen. Sie hatten saubere gestreifte Drilliche an, weiße Schürzen und weiße Käppis. Der Boden war rein und mit hellen Fliesen bedeckt. Rechts und links von diesen Kessel-ungetümen standen lange Reihen von blauen, geschlossenen Kübeln.

Alles war modern, ein Wunder des Fortschrittes, der Sauberkeit und der Dimensionen. Das Rot der Kessel, ihr großes Rund, das silberne Glänzen des Metalls an ihnen, das Blau der Kübel, das Weiß der Wände das alles war ein farbenfrohes Bild.

Mein Hintermann stieß mich unsanft an:

„Mensch, mach, daß Du weiterkommst, Du bist wohl verrückt! Denkst Du, daß ich wegen Dir einen Prügel über den Schädel geschlagen haben will?“

Ich sah nach links. Mein Nebenmann machte mir eine Geste, daß ich schneller gehen sollte. Zwischen uns war eine lange Reihe der blauen Kübel. Wir gingen weiter, immer weiter. Da, auf einmal bückten sich die beiden vor uns, nahmen blitzschnell einen Kübel auf und liefen fort. Ich sah auf. Ein SS-Mann stand da, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen einen Stock. Er schrie mich an: „Willst Du vielleicht zupacken. Du faule Sau!“ Und schon hob er den Stock.

Mein Nebenmann hatte den Henkel des Kübels gefaßt, auch ich faßte zu, ein Ruck, wir hoben ihn auf und eilten fort mit ihm.

Der Kübel war schwer, sehr schwer. Ich sah auf den armen, alten Mann neben mir. Er trug schwer an der Last, aber sein Gesicht blieb freundlich und gut. Als wir absetzten, wechselten wir schnell die Plätze, um mit der anderen Hand tragen zu können. Der Kübel war so schwer, daß man die Hand ganz fest schließen mußte, um ihn halten zu können. Der alte Mann sagte: „So, jetzt wieder 100 oder 200 Meter, dann dürfen wir absetzen. Da, es geht schon wieder los.“

Wir packten wieder zu. Vor uns rannten schon wieder alle eiligst mit ihrer schweren Last. Wir hasteten weiter, bis die Kolonne vor uns ihre Kübel niedersetzte. Wieder wechselten wir den Platz. „Na, es geht doch“, — meinte er.

Dann faßten wir wieder an und rannten weiter.

Die wenigen hundert Meter schienen eine schwer zu bewältigende, weite Strecke. Aber endlich hatten wir es geschafft.

Wir trugen den Kübel in den Blöde, in unsere Stube. Aber kaum hatten wir ihn niedergesetzt, so hieß es wieder gehen, noch ein Kessel mußte geholt werden.

Schrödter, der freundliche Kamerad, tröstete mich:

„Es wird jetzt leichter sein. Der Kübel, den wir jetzt holen werden, ist voller gekochter Kartoffeln, die wiegen nicht so schwer."

Wieder waren wir angetreten, wieder marschierten wir die Lager-straße entlang.

Plötzlich sagte er:

„Was tust Du heute abend? Willst Du ein Stück mit mir Spazieren-gehen?“ Ich sah ganz erstaunt auf:

„Spazierengehen? Ja, kann man das denn?“

Natürlich, nach dem Appell, wenn Du Dein Abendbrot gegessen hast und Dein Geschirr gespült ist, bist Du frei und kannst auf der Lager-straße Spazierengehen, auch eine Zigarette rauchen. Wenn Du willst, können wir heute abend zusammen gehen."

„Gern, es wird mich freuen, wenn Zeit dazu ist.“ „Aber ja, bis der Bär das erste Mal brummt, so eine dreiviertel Stunde bis eine Stunde hast Du Zeit. Ich komme Dich dann holen.“ Er stieß mich an und wies auf die Pappeln.

„Sieh einmal dort hin."

Ich schaute auf. In jeder Pappel hingen ein oder zwei Häftlinge. Sie hatten ein jeder einen kleinen Korb. Ich sah, sie pflückten die welkenden Blätter der Pappeln.

Erstaunt fragte ich ihn:

„Ja, was tun die denn?“

„Du siehst es doch. Sie pflücken die welken Blätter.“

„Aber warum denn, werden sie zu irgend etwas verwandt?“

Er zuckte die Schultern:

„Nein, man pflückt sie nur, damit sie nicht von allein abfallen, damit der Wind sie nicht herunter weht, nur, damit alles sauber bleibt. In Wirklichkeit ist es Schikane. Man hat keine Arbeit für Tausende von Häftlingen, und so läßt man einige von ihnen die unmöglichsten Dinge tun.“

In der Küche war wieder dasselbe bunte Bild, und wieder sausten die Knüppel der SS-Köche über die Rücken und Köpfe einiger Häftlinge.

Draußen ging das gleiche Wettlaufen wieder an. Diesmal war der Kessel nicht allzu schwer.

Wir kamen auf den Block, stellten in der Stube den Kübel ab. Schrödter gab mir die Hand:

„Also heute abend.“

Dann ging er.

Toni rief mich zu sich:

„Du, hör mal, unterlaß das Händegeben hier, es macht Dich unbeliebt. Es ist im Lager verboten, sich die Hände zu geben. Früher gab es dafür „fünfundzwanzig“ und heute noch, wenn es einer von der SS sieht, gibt es Prügel und vielleicht auch eine Meldung.“

„Ja, aber warum denn?“

„Weil man nicht will, daß wir zu befreundet untereinander sind.“

„Und die Kameraden wollen das auch nicht?“

„Nein, das nicht, die geben sich auch mal die Hand, aber selten, wenn einer Geburtstag hat oder so, aber wenn es Intelligenzler tun, dann regt es sie auf, weil es so bürgerlich ist. Alles, was an die Bourgeoisie erinnert ist verpönt im Lager, sie denken dann immer, Ihr wollt durch Eure . Manieren'beweisen, daß Ihr etwas Besseres seid.“

Es schien mir, als gäbe es außer der SS-Regierung im Lager noch eine Häftlingsregierung. Der Häftling bestimmte über den Häftling. Man war also doppelt eingesperrt: Einmal durch die Anschauungen des Nationalsozialismus und die ihn verkörpernde SS, und einmal Gefangenerder Mitgefangenen, ihnen ebenso ausgeliefert wie die Gestapo, vielleicht schlimmer noch, denn sie waren ja täglich um einen. Es kam darauf an, was für Menschen es sein würden und was für Anschauungen sie hatten. Später erst sah ich, daß alle möglichen Anschauungen und Meinungen vertreten waren. Das stellte einen gewissen Ausgleich her, sodaß es nicht zu vielen wirklichen Übergriffen kam, wie dies vielleicht der Fall gewesen wäre, hätten sich im Lager nur zwei entgegengesetzte Weltanschauungen gefunden.

Mittagspause Scharenweise stürzten die von der Arbeit Heimkehrenden auf den Block in die Stube. Draußen ertönte das Singen der einrückenden Truppe. Bis ins Lager, ja bis auf die Lagerstraße marschierten sie in voller Ordnung, dann aber lösten sich sich auf, verteilten sich, rannten jeder auf seinen Block, auf seine Stube.

Toni stand mit der großen Kelle an. einem Kübel und schöpfte aus. Es gab gelbe Rüben. Am anderen Kessel stand der Blockälteste und verteilte Kartoffeln. Jeder Mann bekam fünf.

Sie standen alle da, in langer Reihe, einer hinter dem anderen, in einer Hand die Schüssel, in der anderen den Teller. Das Austeilen ging recht schnell.

Ich stellte mich hinten an und kam bald an die Reihe. Wie die heißhungrigen Wölfe saßen alle da und schlangen, als gelte es einen Preis im Schnellessen zu erringen. Einigen standen die Schweißperlen auf der Stirne. Mein Nebenmann, ein junger, starker Mensch, war schon fertig mit seiner Portion, er schälte eifrig Kartoffeln und ließ sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit in seinem großen Munde verschwinden.

Einer nach dem anderen erhob sich mit Schüssel, Teller, Messer, Löffel und Gabel, und sie kamen dann, nach einer Weile, mit dem gewaschenen, noch nassen Zeug herein, trockneten es hastig ab, stellten es in den Schrank und verschwanden.

Als ich in den Waschraum kam, mußte ich lange warten, bis ich an die Reihe kam. Es dauert schon eine ganze Zeit, bis 170 Menschen ihre Schalen, Teller und Bestecke in sieben Becken gewaschen haben. Deshalb also beeilte sich jeder so mit dem Essen, um nicht hier zu spät zu kommen, um einen Platz zu finden. Es fiel mir auf, mit welcher Ruhe einige der Häftlinge das alles taten. Dabei ging alles so schnell, alles, was sie machten, und sie hatten Zeit genug, um ruhig zu essen, einen Blick in die Zeitung zu werfen, das Geschirr in Ruhe zu spülen, zu trocknen und dann noch in aller Gemütsruhe mit den anderen Kameraden plaudernd eine Zigarette zu rauchen. Wie machten sie das nur? Es war mir ein Rätsel.

Als ich die Stube kam, wurde schon mit dem Aufräumen begonnen. Ich stand beim Abtrocknen meines Geschirres überall im Wege und wurde unfreundlich angefahren.

Endlich war ich fertig. Draußen zog ich mir meine Schuhe an. Noch hatte ich sie nicht ganz zugeschnürt, da hieß es: „Antreten!"

Später habe ich auch Zeit gehabt und Ruhe. — Wenn man erst weiß, wie alles verläuft, dann geht es gut, dann ißt man in Ruhe, macht alles planmäßig und sofort, weiß, wann der Augenblick ist, da wenig Leute im Waschraum sind, weiß, wie lange man zu alledem braucht, tut es mit souveräner Ruhe und hat immer noch Zeit übrig.

Bald standen wir wieder in Reih und Glied, das Kommando wurde gegeben, und eines der schönen Lieder singend, zogen wir hinaus auf den Appellplatz. Ich konnte den Text nicht, so sang ich, so gut es ging, eben lalala, so wie es mir anbefohlen war, aber singen mußte ich. Wehe, wenn ein SS-Mann sah, daß ein Häftling nicht sang. Entweder bekam er dann eine Strafmeldung, der Blockälteste einen Anschnauzer, oder aber der ganze Block mußte abends strafexerzieren. Also sang ich, wie alle.

Die erste Arbeit Wieder standen wir auf dem Appelplatz, still und steif, wieder hieß es:

„Arbeitskommandos formieren!"

Alles hastet durcheinander. Aber diesmal fand ich den Standort der „Uneingeteilten“ schon leichter, ohne Harrys Hilfe.

Wieder stand ich in der Reihe der vielen hundert, die kein Kommando hatten. Harry rannte hin und her. Die anderen Kommandos zogen singend ab. Es war wie das letzte Mal, nur daß ich diesmal nicht so leichten Kaufes davonkam.

Ein Capo erschien und suchte sich fünfzig Leute aus. Sein Blick traf auch mich, aber er ging vorüber, doch Harry sagte ihm, er solle mich nur nehmen. So war ich diesmal bei dem abmarschierenden Grüpplein.

Wir marschierten auf des Capos zackiges Kommando hin los und schlossen uns einer riesigen Menschenschlange an. Das Kommando hieß: „Plantage".

Die große Kolonne setzte sich bald in Marsch auf das hintere Tor zu. Es wurde geöffnet. Wir mußten singend marschieren auf einer Straße an der Außenmauer des Lagers entlang. Zur linken lag die Mauer, zur Rechten aber breiteten sich weite Felder aus, in deren Mitte ein weit ausladendes Gebäude lag.

Die Straße war feucht, es regnete, wir sangen und froren, marschierten zwischen den Feldern auf das große Gebäude zu und machten vor ihm halt. Die lange Menschenschlange löste sich in kleinere Gruppen auf, die hier-und dorthin verschwanden. Etwa 100 Mann nur blieben vor dem Gebäude stehen. Ein Capo begann zu schreien:

„Los, marsch, die Kiste aus dem Lagerschuppen! Hierher! Und gleich angefangen!"

Der Capo, der mich ausgewählt hatte, kam zu mir:

„Du bleibst hier und wirst Schoten putzen. Was Besseres habe ich im Augenblick nicht für Dich. Aber später werden wir sehen.“

Große Kisten wurden angeschleppt, in ihnen lagen Haufen von roten, halbverfaulten Pfefferschoten, die man hier gezogen hatte, um daraus „Deutschen Pfeffer“ zu machen, mit Zusatz von anderen Gewürzkräutern. Diese Schoten waren zum Teil schon erfroren, matschig, faulig und stinkend. Wir erhielten Messer und hatten in diesen faulenden Haufen hinein zu langen, die noch brauchbaren Stücke der Pfefferschoten abzuscheiden und in eine andere Kiste zu werfen. Von da aus kamen sie dann auf Karren in die „Pfeffermühle".

Es regnete, nicht heftig, aber ständig, ein kalter Regen. Die Pfeffer-schoten waren auch kalt, und der Wind ließ unsere nassen Körper und Hände frieren.

Um mich her standen lauter Polen. Ab und zu, sprachen sie ein wenig untereinander, heimlich und scheu, denn es war verboten. Sie schienen großen Hunger zu haben, denn in unbeobachteten Augenblicken verschlangen sie heißhungrig die guten Schotenstücke. Einer von ihnen flüsterte mir zu:

„Gut für Bauch, — Regen schlecht, — Hunger groß."

Die Zeit kroch dahin, der Regen drang durch die Kleider auf die Haut, er wollte nicht aufhören. Und die Pfefferschoten hörten-auch nicht auf. Eine Stunde war eine Ewigkeit.

Beim Anblick der kleinen, roten Früchte mußte ich an mein Jschia denken, wo sie so schön und lachend in der Sonne hingen.

Um uns her bildete das Wasser Pfützen, es tropfte von unseren fest angeklebten, nassen Mützen in den Nacken, rann über das Gesicht, rieselte innen durch die Kleider, am Körper herab, in die Schuhe. Der Wind blies und machte uns frieren. Unsere Hände wurden ganz steif. Neben mir nickte ein Pole:

„Ja, Regen schlecht. Alles Tag Dachau Regen, immer kalt, viel krank.“

Dann schaute er sich verstohlen um und steckte fünf Schotenstücke auf einmal in den Mund. Aber der Capo hatte es gesehen. Er stürzte auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht, daß er taumelte:

„Hast Du nicht gehört, Du Drecksau, daß Du nichts fressen sollst, daß es verboten ist?! Glotz mich nicht so saudumm an, arbeite lieber, Du Saupolak!"

Und er gab ihm einen Tritt.

Der Pole bückte sich, sein Messer war ihm entfallen, er hob es auf und arbeitete fieberhaft weiter. Der SS-Mann war durch das Geschrei aufmerksam geworden und kam herbei: „Was, hat die Sau gefressen? — Capo, aufschreiben, Meldung machen. Der wird keine Schoten mehr fressen, die Saul“

Und der Capo holte sein Buch aus der Tasche und seinen Bleistift, notierte Namen und Nummer des Polen. Dann, als er es wegsteckte, sagte er gehässig:

„Was hast Du jetzt davon, fünfundzwanzig’ oder Baum."

Der Pole machte ein sehr ernstes Gesicht, ein ganz niedergeschlagenes. Er war ein Mann von vielleicht dreiundvierzig Jahren, mit einem zerfurchten Gesicht und müden Augen. Er würde nun die Bastonade erhalten, fünfundzwanzig furchtbare Stockhiebe auf das nur mit der Unterhose bekleidete Gesäß, er, ein erwachsener Mann, nur weil er einige Stücke dieser halbverfaulten Schoten aß. Ich betrachtete ihn von der Seite. Was mochte er schon alles mitgemacht haben? Vielleicht war er wohlhabend gewesen und hatte alles verloren, vielleicht waren auch seine Frau und Kinder tot, vielleicht aber saßen sie bangend daheim und beteten für den geliebten Vater. Es war besser, an all das nicht zu denken. Und wie lange würde das alles sein und dauern. — Dachau existierte seit sieben Jahren, und sieben Jahre sind eine lange Zeit.

/Der Regen rann ohne Aufhören. Wir waren nur noch nasse, frierende Bündel, die mit frostigen, etwas zitternden Händen verfaulende Schoten schnitten.

Ich wollte nichts denken. So hob ich meinen Blick von Zeit zu Zeit und schaute über die Felder. Winzig klein standen in der Ferne hölzerne Türmchen verteilt, auf denen Posten wachten, mit schußbereitem Gewehr. um jeden zu erschießen, der in die Nähe dieser Grenze kam.

Idi senkte den Blick wieder auf die faulende Masse vor mir, grub meine Hände hinein und schnitt weiter.

Um unsere Füße standen Wasserlachen. In meinen Schuhen stand das Wasser. Und es regnete, regnete.

Eine Stunde war vergangen. Eine Stunde.

Und der Regen regnete, und die Zeit kroch dahin, als sei sie ein Regen, ein unaufhörlicher Regen. Die Kleider klebten am Körper fest, ich fror heftig von innen heraus. Der Capo kam vorbei und sagte gönnerhaft: „Regen, ja, in Dachau regnet es 300 Tage im Jahr. Aber doch besser als Schnee. Man gewöhnt sich daran. Wenn Du erst mal zwei oder drei Wochen so im Regen gestanden bist, dann macht er Dir auch nichts mehr aus. S’ ist halt Dachau."

Zwei, drei Wochen. Konnten die so überhaupt vergehen? Wer weiß, welche Ewigkeiten verfließen würden, bis zwei oder drei Stunden vergangen wären.

Mich fröstelte.

Und der Regen regnete.

Die. Ewigkeiten vergingen, diese Stunden auf der Plantage.

Es dämmerte.

Ein schriller Pfiff ertönte und der Ruf:

„Antreten!“

Sofort wurden die Kisten beiseite geschoben, fortgetragen, die Messer abgegeben, die Hände an den triefenden Mänteln abgewischt.

Von allen Seiten strömten Häftlinge herbei, geführt von ihren Capos und Untercapos. Ich hatte keine Ahnung von der enormen Größe dieser Anlagen, auf denen Gewächshäuser standen und Versuchslaboratorien untergebracht waren und auf deren riesiger Fläche 2 000 Menschen sich verloren wie ein Nichts.

Bald stand die lange Menschenschlange wieder wohlgeordnet vor dem großen Gebäude, in strenger Reihe und „im Glied". Dann kam der Abmarschbefehl. Wir begannen zu singen:

„Steig ich den Berg hinan,.

das wacht wir Freude, denn so ein Dirndelein, das war wir gut.

Sie hat zwei wunderschöne blaue Augen und einen Bubikopf, der steht ihr gut.“

Meine Zähne schlugen dabei aufeinander, die Kleider klebten. Es regnete aber nur noch wenig. Wir schritten durch große Pfützen.

Endlich erreichten wir das Tor des Lagers. Der kurze Weg erschien mir endlos lang. Fast begrüßte ich den Anblick des Lagers wie den einer vertrauten Behausung.

Wir marschierten singend durchs Tor. Auf dem Appellplatz standen die Blocks schon angetreten. Als wir die Mitte des Platzes erreicht hatten, wurde der Befehl zur Auflösung gegeben: „Wegtreten!"

Alles rannte zu seinem Block.

Der Tag endet mit Regen Bekannte Gesichter lächelten mich freundlich an:

„Na, wie ist es Dir ergangen? Der Regen, was? An den wirst Du Dich noch gewöhnen."

Es war Harry, der das sagte und sogar mit einem freundlichen Blick.

Es war eine Wohltat, diese scheinbar unbeschwerten und zuversichtlichen Gesichter um mich zu haben, die so viel Ruhe ausatmeten. Wie anders war das auf der Plantage gewesen, wo um mich her nur bedrückte, halbverhungerte Gesichter waren und einige rohe, und nur die barschen Stimmen der Capos ertönten und der SS-Männer. Ich konnte mir den Unterschied noch nicht erklären, denn ich wußte damals noch nicht, was das heißt: Ein „gutes Kommando“ haben und auf einem „guten Block“ sein, auf einem Eliteblock.

Es regnete wieder heftiger. „Das ist immer so,“ flüsterte Toni, „genau wenn wir Appell haben, fängt es erst recht zu regnen an. Wir sind auch schon ziemlich naß, nicht Du allein.“

Wieder begann der Appell, das „Ausrichten“, das Warten, das Abzählen des Blockältesten und dann des Blockführers, die Meldung, alles. Lind wieder dauerte es über eine Stunde. Wieder mußten wir x-mal die Mützen abnehmen.

Das Wasser lief uns hinten in den Kragenausschnitt. Ich sah die alten Männer mit ihren grauen und weißen Haaren, wie sie dastanden und keine Miene verzogen, ganz, als müsse es so sein. Neben mir stand ein Mann mit ernstem Gesicht: „Wir sollen ja verrecken, langsam verrecken, denn sterben kann man das nicht nennen, was man in Dachau tut. Mit jeder Stunde Appell-stehen bröckelt ein Stückchen von unserer Gesundheit ab. Das ist kein Mord, oh nein, nur ein langsames Auslöschen. Und warte nur, wenn erst einmal einer fehlt, dann stehen wir hier, die ganze Nacht, bis er gefunden ist. Ganz gleich, ob es regnet, ob es schneit, ob es grimmig kalt ist oder eine sternenhelle Sommernacht. Wir stehen hier und warten. Kein Mensch darf dann wagen, auch nur zu flüstern. Es kam schon vor, daß man uns im strengen Winter bei 20° Frost und mehr die Fausthandschuhe ausziehen ließ. Wir mußten sie dann vor uns legen und die Mäntel auch und die Jacken auch noch dazu, so daß wir in Hemdsärmeln dastanden. Nach einigen Stunden fielen die ersten um. Wir mußten sie liegen lassen, durften sie nicht aufheben. So starben oft in einer Nacht mehr als dreißig oder fünfzig Mann, nur eines Durchgegangen wegen, der dann doch wieder eingebracht wurde. Deshalb sind wir auch alle so empört, wenn einer durchgeht. Er wird ja früher oder später doch gefaßt, und es kostet stets einigen von uns das Leben, gleich, auf der Stelle und vielen später, die sich den Keim zu ihrem Tode holen." „Still ... ge ... standen!“ ertönte das Kommando. „Mützen ... ab . . . ! Augen . . . rechts!"

Der Kamerad hatte aufgehört zu flüstern. Zwölftausend Häftlinge standen wie die Säulen, wie aus Erz gegossen, und der Regen strömte auf ihre bloßen, kahlgeschorenen Häupter. * Wie wohl tat der heiße Kaffee auf dem Block. Selbst das Gedränge in der Stube, all das erschien mir nun traut und sogar gemütlich.

Aber die Kleider! Sie klebten überall. Wo sie trocknen? Idi fragte Toni, aber der zuckte die Achseln: „Du siehst ja, es ist nur ein Ofen da, der ist nur ganz leicht geheizt. Denke, wenn achtzig Leute da ihre Kleider trocknen wollten, das geht nicht. Einige könnten es nur. — Und die anderen? — Also gestatte ich es keinem. Jeder muß eben sehen, wie er fertig wird. Geh halt beizeiten ins Bett und häng die Kleider außen auf den Hocker und stelle den auf den Spind. Das darf eigentlich auch nicht sein, aber man wagt es halt. Eigentlich sollten sie, so naß wie sie sind, in den Spind gehängt werden. Häng sie halt auf, morgen werden sie schon etwas trockener sein. Und .. ., daß Du nicht mit Unterhosen ins Bett gehst. Wenn Kontrolle kommt und Du erwischt wirst, bekommst Du sonst einen Fluchtpunkt und eine Strafmeldung."

Das war ja ein süßer Trost, denn wenn ich mir auch nicht verstellen konnte, was ein Fluchtpunkt war, etwas Erfreuliches würde es sicher nicht sein. Es war wohl wirklich das Beste, ins Bett zu gehen. Ich war auch sehr müde. Karl machte mich noch aufmerksam: „Du, vergiß nicht, Deine Schuhe mußt Du putzen, auch unter der Sohle.“

„Bei dem Schmutz?"

„Das macht nichts, beim größten Dreck, die Schuhe müssen immer ganz sauber sein. Geh nur und putz sie.“

Ich nahm mein Geschirr, spülte es, trocknete es, dann ging ich die Schuhe putzen.

Draußen regnete es in Strömen. Auf der Blockstraße gingen einige in sich zusammengezogene Gestalten. Schrödter kam auf mich zu:

„Mein Lieber, heute regnet es zu stark, ein andermal. Was hast Du heute den ganzen Tag gemacht? Ich habe Dich nicht mehr gesehen, hast Du schon ein Kommando?"

Ich erzählte ihm in kurzen Worten.

„Ach, Plantage", sagte er, „besser als kein Kommando. Na, vielleicht findet sich noch etwas Besseres.“

Er drückte mir warm die Hand, dann ging er weiter.

Ich trat in die Baracke zurück. Toni rief mich:

„Du, der Maier hat Dir heute ein Paar gute Schuhe mitgebracht, probier sie mal an."

Dabei zog er unter dem Tisch ein Paar Schuhe hervor. Ich probierte sie gleich. Ja, die paßten. . Wunderbarl" sagte ich. Toni lachte: „Eigentlich kann man ja nur in der Kammer so etwas tauschen, aber der Maier ist in der Kammer, und der hat’s halt so geregelt, unter der Hand. Kannst die Deinen gleich dalassen, der Maier nimmt sie dann morgen mit. Bis Du zufrieden?"

„Und wie! Ich dank auch schön." „Dank dem Maier, der ist ein guter Kamerad und tut gerne etwas für einen anderen, wenn er denkt, daß der ein anständiger Kerl ist. Ein anständiger Kerl geht so leicht nicht unter in Dachau, merk Dir das.“

Ich war glücklich. Nun konnte ich den morgigen Tag schon ruhiger entgegensehen, trotz der nassen Kleider.

Ich blickte mich in der Stube um.

Die Tische waren besetzt. Manche lasen, andere packten ihre Sachen weg, gingen ins Bett, einige unterhielten sich. Ich zog mich aus. Meine nassen Kleider hatte ich aufgehängt. Dann stieg ich ins Bett, zerstörte den kunstvollen Bettenbau, deckte mich zu mit der kühlen, leinenbezogenen Decke.

Oben auf das dünne Dach der Baracke hämmerte der Regen.

Ob es in Stuttgart jetzt auch regnet?

Ich dachte an meine Lieben alle, an meine Insel Ischia und kam mir vor wie ein Vogel, der sich in einen seltsamen nüchternen Käfig verflogen hatte, in einem Käfig verfangen aus hundert übereinander gestellten Betten, in denen rauhe Männer schliefen. Jetzt träumte das Castello im Mondlicht...........

Draußen floß der Regen, tropfte vom Dach, hämmerte ans Fenster.

Dachau ...

Fortsetzung folgt

Fussnoten

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