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Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta | APuZ 15/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 15/1955 Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta

Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta

Joseph Scholmer

Mit Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser und den folgenden Ausgaben das Buch von Joseph Scholmer: „Die Toten kehren zurück", erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1954. Kürzungen erfolgten im Einverständnis mit dem Autor.

Lubjanka in Berlin

Abbildung 1

An einem Aprilnachmittag des Jahres 1949 erscheint in meiner Wohnung in Berlin-Mitte ein kleiner, dicker Russe mit fahlem, gedunsenem Gesicht in Begleitung einer Dolmetscherin. Die Dolmetscherin sagt zu mir:

„Der Herr Offizier bittet, daß Sie kommen mit ihm zu einer Besprechung.“

„Wohin?“ frage ich.

„Zur Kommandantur!“

Idi ziehe meinen Mantel an und nehme den Hut. Wir steigen die Treppe hinunter. Er läßt mich vorangehen. Mir fällt ein: auch die Gestapo ließ mich vorangehen, als sie mich verhaftete. Vor der Tür steht eine schwarze Mercedes-Limousine.

„Bitte nach hinten.“

Rechts von mir sitzt der Gedunsene, links ein Pockennarbiger. Der Wagen fährt am Haus des Zentralsekretariats der SED vorbei, die Prenzlauer Allee hinauf. Vor der Kommandantur Prenzlauer Berg hält der Wagen. Der Pockennarbige steigt aus und zeigt eine Legitimation. Ein Schlagbaum hebt sich, das Tor wird geöffnet. Der Wagen fährt in einen großen Hof. Wir steigen aus und betreten ein großes Gebäude aus hellen Klinkern. Im ersten Stock warten wir eine Weile auf dem Korridor. Der Pockennarbige verschwindet in einem Zimmer, kommt nach einer Weile zurück und bittet mich in ein anderes Zimmer.

„Ich habe den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, daß Sie vorläufig festgenommen sind.“

„Aus welchem Grunde bin ich festgenommen?“

„Wir haben einige Fragen an Sie.“

„Können Sie diese Fragen nicht an mich richten, ohne daß Sie mich festnehmen?“

„Es handelt sich nur um zwei oder drei Tage.“

„Ich kenne Ihre zwei oder drei Tage.“

„Wenn Sie kennen, warum Sie fragen?“

Die Dolmetscherin verläßt das Zimmer.

„Entkleiden Sie sich!“

Meine Sachen werden genau untersucht. Dann darf ich mich wieder anziehen. Brieftasche, Ausweise, Fotos und Briefe erhalte ich nicht zurück.

Wir steigen die Treppe hinunter zum Kellereingang, der durch eine Eisentür verschlossen ist. Der Pockennarbige klingelt, die Tür öffnet sich. Ein grünbemützter Posten führt mich in einen Wachraum.

„Kak familija? Wie heißen Sie?“

Ich nenne meinen Namen. Der Pockennarbige zeigt ein Dokument mit Stempeln und Unterschrift. Mein Name wird in ein dickes Buch eingetragen. Dann bringt der Posten mich in eine Zelle. Die Tür wird verriegelt, ich bin allein. Ich inspiziere mein neues Heim. Die Zelle ist ein Raum von etwa 5 x 5 m. Das vordere Drittel ist frei, die hinteren beiden Drittel werden durch eine Holzpritsche ausgefüllt. Kein Fenster, kein Strohsack, keine Decke. Ein Luftloch, das mit zwei Eisengittern gesichert ist, führt nach außen. Über der Tür brennt eine helle Glühlampe.

Dieses Gefängnis ist klein und ruhig, es hat einen sozusagen intimen Charakter. Zu beiden Seiten eines engen Korridors liegen etwa vierzig Zellen, von denen vielleicht zwanzig belegt sind. Am Kopfende des Korridors befindet sich die Wachstube, am anderen Ende Küche und Bad. * Die Tür der Zelle wird aufgeriegelt. „Kak familija?“

Ich nenne meinen Namen. „Dawai! — Los!“

Der Posten führt mich in ein riesiges Zimmer der zweiten Etage. Zwei riesige Schreibtische, die im rechten Winkel zueinander stehen. Eine riesige Stehlampe, von deren Lichtkegel ich angeblendet werde. Ein Szenarium der Einschüchterung.

Die beiden vernehmenden Offiziere sitzen im Halbdunkel, einer ist in Uniform, mit den Schulterstücken eines Oberstleutnants. Er bietet mir eine Zigarette an. „Ich danke, ich bin Nichtraucher."

Er selbst zündet sich eine Papyros an, tut einen langen Zug, bläst den Rauch von sich und sagt langsam:

„Sie waren Agent der Gestapo, des amerikanischen und englischen Geheimdienstes."

Niemals in meinem Leben hörte ich so viel Unsinn in einem Satz. Als ich mich von der ersten Überraschung erholt habe, antworte ich:

„Ich war weder Agent der Gestapo, noch des amerikanischen, noch des englischen Geheimdienstes.“

Der Oberstleutnant sagt:

„Wir haben zuverlässige Informationen darüber, daß Sie für die westlichen Geheimdienste als Spion tätig waren.“

Er legt seine Hand auf eine überdimensionale Mappe, die in scharlachrotes Leder gebunden ist:

„Hier sind die Beweise!“

„Da ich kein Spion war, kann es keine Beweise geben.“

„Sie bestreiten, daß Sie ein Spion gewesen sind?"

„Ich bestreite das mit aller Entschiedenheit!“

Die Offiziere runzeln die Stirn. Der Zivilist sagt höflich:

„Warum machen Sie sich und uns Schwierigkeiten? Wir wissen genau, daß Sie gegen uns gearbeitet haben. Erleichtern Sie sich Ihre Situation durch ein Geständnis.“

„Ich erkläre Ihnen nochmals, daß ich unschuldig bin.“

„Sonst haben Sie nichts mitzuteilen?"

„Nein.“

„Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, nachzudenken.“

Die Offiziere erheben sich. Ich werde in den Keller zurückgeführt.

Nach einer Woche findet die zweite Vernehmung statt. Ein junger Mann, vielleicht dreißig Jahre alt, läßt mich kommen.

„Nun, haben Sie nachgedacht?"

„Ich bin unschuldig, es gibt nichts nachzudenken.“

„Sie haben sich also nicht entschlossen, ein Geständnis abzulegen?"

„Ich kann nichts gestehen, wenn ich nichts getan habe.“

„Sie sollen nur gestehen, was Sie getan haben.“

„Ich bin unschuldig.“

„Wissen Sie überhaupt, bei wem Sie sich befinden? Sie sind hier bei der GPU.“

„Ich bin davon überzeugt, daß die GPU es für ihre vornehmste Pflicht hält, eine gerechte Untersuchung durchzuführen.“

„Wir haben genügend Beweismaterial dafür, daß Sie ein Spion für den Westen waren.“

„Dann legen Sie doch Ihr Beweismaterial auf den Tisch! Als ich Gefangener der Gestapo war, hat die Gestapo das auch getan.“

Der junge Mann verliert seine Beherrschung. Er springt auf: „Wie kommen Sie dazu, uns mit der Gestapo zu vergleichen? Die Gestapo war eine verbrecherische Organisation. Für diese Frechheit werden wir Sie so lange in unseren Kellern einsperren, bis Sie verfault sind.“

„Ähnliche Dinge habe ich von der Gestapo auch gehört."

Er telefoniert, der Posten holt mich ab. Wieder wird mir eine Woche Zeit gegeben, über meine nicht existierenden Verbrechen nachzudenken.

Die dritte Vernehmung. Der Zivilist der ersten Vernehmung schreibt ein Protokoll.

Frage: „Wann sind Sie vom amerikanischen Geheimdienst für Ihre Spionagetätigkeit gegen die Sowjetunion angeworben worden?“

Antwort: „Ich bin niemals von dem amerikanischen Geheimdienst für eine Tätigkeit gegen die Sowjetunion angeworben worden."

Frage: „Wann sind Sie vom englischen Geheimdienst für Spionage-tätigkeit gegen die Sowjetunion angeworben worden?“

Antwort: „Ich bin niemals vom englischen Geheimdienst für eine Tätigkeit gegen die Sowjetunion angeworben worden.“

Die Gestapo interessiert nicht mehr. Der Abend vergeht mit dem stereotypen Spiel aus Frage und Antwort. Als ich das Protokoll unterschreibe, sagt der Zivilist: „Es wäre besser, wenn Sie die Wahrheit erzählen würden. Wir haben keine Lust, unsere Zeit unnütz mit Ihnen zu verlieren. Heute nacht werden wir uns weiter unterhalten."

Zwei Stunden später öffnet ein Posten die Tür.

„Kak familija? Dawai!"

Zwei grünbemützte Soldaten nehmen mich gleich in Empfang.

Im Hof wartet ein Gefangenentransportwagen. Ich werde in eine seiner Zellen eingeschlossen und fahre durch das nächtliche Berlin, wohin, weiß der Teufel!

* Das neue Gefängnis ist ein rotes, zweistöckiges Backsteingebäude, von einer Unzahl Scheinwerfer taghell beleuchtet. Betonmauern, Spazierhöfe, Postentürme. Ich werde in eine Wachstube geführt.

„Kak familija?“

Mein Name wird in ein Buch eingetragen.

„Dawai!“

In Begleitung zweier Posten steige ich in einen Keller. Eine schwere Eisentür öffnet sich. Menschenleere Korridore mit numerierten, grau gestrichenen Zellentüren. Eine dieser Türen wird geöffnet. Eine kleine Kammer. Auf zwei Pritschen liegen drei Gefangene. Ein vierter Platz ist frei.

Ein Gefangener erhebt sich. Wir machen uns bekannt. Der andere heißt Twyrdy. „Wo bin ich hier eigentlich?“ frage ich.

„Im Zentralgefängnis des MGB in Hohenschönhausen", antwortete er.

„Was ist das?“

„Dasselbe wie in Moskau die , Lubjanka'."

„Wieviel Menschen sind denn hier?“

„Ungefähr vierhundert.“

„Sind Sie schon lange hier?“

„Vierzehn Monate.“

Ich drückte mein Erstaunen aus.

„Das ist gar nichts. Es gibt Leute, die schon drei Jahre hier sitzen."

Jemand klopft laut an die Tür.

„Es ist verboten, nachts Gespräche zu führen“, sagt Twyrdy.

„Legen Sie sich auf den Platz neben mir. Versuchen Sie zu schlafen!

Morgen früh werden wir uns unterhalten."

Ich lege mich auf die Holzpritsche. Kein Strohsack, keine Decke, kein Kopfkissen.

Am anderen Morgen unterrichtet Twyrdy mich über den Tageslauf.

6 Uhr Wecken, anschließend Waschen. Das Waschen muß sehr schnell gehen; weil die Waschräume nicht ausreichen. Morgens und abends gibt es je eine Kohlsuppe. Tagesration Brot: 400 Gramm. Lim 10 Uhr beginnen die Morgenverhöre, sie dauern bis 14 oder 15 LIhr. Lim 20 Uhr beginnen die Nachtverhöre, sie dauern bis morgens 2, 3, 4 Uhr und länger. Tagsüber darf nicht geschlafen werden.

Am späten Vormittag wird die Tür unserer Zelle geöffnet.

„Kak familija? — Dawai!“

Vor der Tür werden meine Hände auf dem Rücken gefesselt. Der Posten drückt auf einen Signalknopf. Grüne Lampen leuchten in den Korridoren auf: das Signal dafür, daß ein Häftling zum Verhör geführt wird oder vom Verhör kommt. Niemals sieht in diesem Gefängnis ein Gefangener den anderen.

Eine Gittertür wird geöffnet. Der Posten führt mich eine Treppe hoch und klopft mit dem Schlüssel an eine Eisentür. Die Tür öffnet sich. Eine dumpfe Wolke aus abgestandenem Zigarettenrauch, billigem Parfüm und kaltem Essen schlägt mir entgegen. Über einen mit Teppichen belegten Korridor werde ich zu einem Zimmer geführt. Der Posten klopft, tritt ein und sagt:

„Dawai!“

Ich trete in ein geräumiges Zimmer, das mit dicken Teppichen ausgelegt ist. Vor dem Fenster ein großer Schreibtisch, in einer Ecke ein Panzerschrank. Eine Couch, Stühle. Die Fenster sind vergittert.

„Nehmen Sie Platz“, sagt ein Zivilist.

Er spricht deutsch mit russischem Akzent. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Oberstleutnant in der Uniform der sowjetischen Artillerie.

Ich setze mich auf einen Stuhl neben der Tür an der Rückwand des Zimmers. Die beiden betrachten mich, wie etwa eine Spinne die Fliege betrachtet, die ihr ins Netz gegangen ist. Der Oberstleutnant zündet sich eine Papyros an und sagt:

„Wir wissen genau, wer Sie sind. Sie waren Agent der Gestapo, des amerikanischen und englischen Geheimdienstes. Sie sind ein hartnäckiger Lügner. Wir haben Sie bisher sanft behandelt, aber Sie haben unsere Rücksicht mißverstanden. Hier bei uns werden Sie alles gestehen, was Sie gegen uns gemacht haben. In diesem Zimmer“ — kreisförmige Handbewegung — „wird die ganze Wahrheit herauskommen.“

Ich sage:

„Das Interesse dafür, daß die Wahrheit sachlich ermittelt wird, ist bei mir nicht weniger groß als bei Ihnen. Ich bitte Sie, die Angelegenheit möglichst eingehend zu untersuchen, je gründlicher, desto besser. Am Schluß werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß ich weder Agent der Gestapo, noch des amerikanischen, noch des englischen Geheimdienstes war.“

Die beiden lachen.

„Bei uns werden Ihnen Ihre Tricks nichts mehr nützen.“

Der Oberstleutnant nimmt einen Bogen Papier und schreibt:

Frage: „Waren Sie Agent des amerikanischen Geheimdienstes?"

Ich antworte: „Ich war nie Agent des amerikanischen Geheimdienstes.“

„Da Sie in Wirklichkeit Agent des amerikanischen Geheimdienstes waren, werde ich diese Lüge nicht aufschreiben."

Er legt den Federhalter hin und steht auf.

„Geben Sie zu, daß Sie Agent des amerikanischen Geheimdienstes waren?“

„Ich habe nichts zuzugeben.“

Diese beiden Sätze wiederholen sich in Abständen vielleicht fünfzigmal hintereinander. Dann ist das erste Morgenverhör zu Ende.

Mittags erzähle ich Twyrdy den Verlauf dieser Unterhaltung.

„Das ist schlecht“, sagte er. „Wenn Sie einen Oberstleutnant als Untersuchungsrichter haben, wird Ihrem Fall große Bedeutung beigemessen. Sie müssen auf einiges gefaßt sein. Wie heißt Ihr Oberstleutnant?“ „Am Telefon meldet er sich mit „Sluschewas’."

Twyrdy lacht.

„Das ist kein Name. Das ist russisch und heißt: ich höre Sie.“

Da wir den wirklichen Namen von „Sluschewas" nicht kennen, beschließen wir, ihn weiter „Sluschewas“ zu nennen.

Am Abend werde ich wieder nach oben geführt. Wiederum bis zum frühen Morgen die gleichen stereotypen Sätze:

„Geben Sie zu..."

„Ich bestreite ..."

Ich schlafe zwei Stunden. Um sechs Uhr ist Wecken. Ich frage Twyrdy, wie die Sache weitergehen wird.

„Sehr einfach“, antwortete er, „Herr . Sluschewas“ wird Sie keine Nacht länger als ein bis zwei Stunden schlafen lassen. Darin besteht das ganze simple Geheimnis der Verhöre dieses Hauses. Nadi spätestens zwei Wochen sind Sie so erledigt, daß Sie kaum noch wissen, wie Sie heißen.“

Am nächsten Tag wiederum Vernehmung von 9 bis 14 Uhr und von 17 bis 4 Uhr morgens.

„Geben, Sie zu . . . geben Sie zu . . . geben Sie zu ..."

Ich bin krank. Ein Jahr Haft bei der Gestapo und die jahrelange Überarbeitung nach 1945 haben meine Gesundheit untergraben. Nach vier Tagen bin ich am Ende meiner Kräfte. Ich bin unfähig, diesen Mangel an Schlaf zu ertragen.

Das Untersuchungssystem läßt nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: ich bestehe darauf, kein Spion zu sein, und investiere in diese Wahrheit die Reste meiner Gesundheit. Die Wahrscheinlichkeit, dabei zu krepieren, ist groß. Es ist mehr als zweifelhaft, ob ich die Torturen durchstehe, die Twyrdy und andere haben. ausgehalten Von der Gestapo unterscheidet die NKWD sich grundsätzlich dadurch, daß sie versucht, den Gefangenen zu zermürben. Wo die Gestapo aktive Folter bis zur Bewußtlosigkeit anwandte, arbeitet die NKWD mit Geduld. Sie hat Zeit. Ihr Prinzip ist asiatisch, deshalb liebt sie den Karzer.

Ihre Untersuchungen ziehen sich über Jahre hin. Immer wieder landen die Gefangenen im Karzer, einmal, zweimal; es folgt eine Pause; ein drittes Mal Karzer, ein viertes und fünftes Mal. Nach einer Phase der Erholung folgt regelmäßig die der Folter.

Es ist sinnlos, sich auf dieses Spiel einzulassen. Ich muß eine Taktik anwenden, die außerhalb der Spielregeln liegt, mit denen Herr „Sluschewas“ operiert. Ich werde ohne Widerstand prinzipiell alles zugeben, was er haben will. Dabei besteht die Möglichkeit, daß er an seinem eigenen Unsinn erstickt. Und vielleicht findet sich am Schluß ein Trick, den letzten Konsequenzen zu entgehen.

Nadi einem eingehenden Gespräch über diese Taktik mit Twyrdy erkläre ich „Sluschewas“:

„Ich habe eingesehen, daß ich mit meinen lügnerischen Aussagen nicht weiterkomme. Deshalb werde ich von heute ab die Wahrheit sagen."

Herr „Sluschewas“ fragt:

„Sie waren amerikanischer Agent?“

„Jawohl.“

„Sie waren englischer Agent?“

„Natürlich.“

„Sie waren Gestapo-Agent?“ „Ja.“

Herr „Sluschewas“ knurrt befriedigt.

„Wollen Sie etwas essen?“

„Wieso?“

„Haben Sie Hunger?“

„Natürlich.“

„Nun, dann können Sie bei uns essen."

Er telefoniert. Nach einigen Minuten erscheint ein Posten mit einem großen Tablett. Borschtsch mit sehr viel Fleisch, Hirsebrei mit Butter, Brot, Wurst, Tee. Die erste ausreichende Mahlzeit seit sechs Wochen. Ich esse alles bis zur letzten Brotkrume.

Nach dem Essen geht das Verhör weiter. Die beiden sind freundlich und jovial geworden.

„Seit wann waren Sie Gestapo-Agent?“

„ 1942“.

„Nein, schon früher.“

„ 1941.“

„ 1940 . . . 1939 . .

Wir einigen uns auf 1938.

„Seit wann waren Sie amerikanischer Agent?“

„ 1947.“

Früher, früher.“

„ 1946.“

„Früher.“

„ 1945.“

„Englischer Agent seit 1947.“

„Warum haben Sie für zwei Geheimdienste gearbeitet?“

„Weil ich bei einem nicht genug verdiente.“

Das ist plausibel.

„Wieviel haben Sie bei den Amerikanern verdient?"

Woher soll ich wissen, was ein Agent verdient?

Auf Anhieb sage ich:

„ 2000 Mark.“

„Mehr“, sagt „Sluschewas".

„ 3000, 4000, 5000 Mark.“

„Außerdem haben Sie Pakete bekommen?“

„Natürlich.“

„Und Zigaretten?“

„Selbstverständlich.“

„Was haben Sie mit dem Geld gemacht?“

„Gut gelebt. Frauen, Schnaps, Autos. Nun, Sie wissen selbst.“

nickt Er was „Sluschewas" verständnisvoll. weiß, Agenten mit dem Geld machen. * In den letzten Wochen vor meiner Verhaftung habe ich versucht, eine Komödie zu schreiben. Noch lebe ich in ihrer Atmosphäre, und deshalb fällt es mir nicht schwer, für „Sluschewas“ ein groteskes Lustspiel zu entwerfen.

In dieser Komödie ist MacAllister mein Star. Nach zwei Wochen muß ich mich anstrengen, zu glauben, daß er nie existiert hat. Manchmal spreche ich mit ihm in den Nächten, in denen ich nicht verhört werde. „Mein Freund“, sage ich, „entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie von Ihrem Schiff geholt habe, wo Sie als erster Offizier ein so angenehmes Leben hatten, und von der Seite Elli Phaleres, Ihrer schönen, klugen Freundin. Sie sind schon in die Zentralkartei des MGB eingegangen. Man sucht nach Ihnen. , Sluschewas'denkt, Sie tragen mehrere Namen.“ Eines Nachts erscheint Danilow, der Chef von „Sluschewas". Er sieht mich eine Weile mit grauen, müden Augen von unten herauf an und setzt sich dann mir gegenüber auf einen Stuhl. Sein Besuch ist stets der Auftakt besonderer Fragen.

„Nennen Sie die Namen Ihrer Agenten."

„Gestatten Sie bitte, daß wir uns morgen über meine Agenten unterhalten. Ich bin heute sehr müde. Außerdem hat mein Gedächtnis durch die Haft gelitten. Vielleicht vergesse ich einen Agenten, und Sie machen mir später Vorwürfe. Ich möchte heute nacht in Ruhe nachdenken."

„Wieviel Agenten hatten Sie?“

„Ich weiß im Augenblick nicht, ich muß erst mal zählen.“ „Sie haben die Namen Ihrer Agenten wie ein Gedicht im Kopf. Erzählen Sie uns dieses Gedicht.“

„Morgen.“

Schließlich ist er einverstanden.

Am Morgen berichte ich Twyrdy. Er antwortet:

„Ein Spion Ihres Formats hat mindestens zwanzig Agenten.“ Was tun?

Ich beschließe, zunächst zehn Agenten zu nennen. Vielleicht ist Danilow damit zufrieden.

In der nächsten Nacht erscheint Danilow wieder:

„Nun?“ Ich nenne die Namen von zehn Leuten, die aus der Ostzone geflüchtet sind und von denen ich sicher bin, daß sie nicht zurückkehren werden.

„Sind das alle?“ fragt Danilow.

„Das sind alle.“

„Ein Mann wie Sie und nur zehn Agenten.“

Er lacht dröhnend, die Hände in den Hosentaschen. Er schüttelt sich vor Lachen.

„Denken Sie nach, heute abend unterhalten wir uns weiter." Ich sage Twyrdy, daß zehn Agenten nicht ausreichen. Außerdem ist es unmöglich, nur Agenten zu nennen, die geflüchtet sind. Schließlich will Danilow auch Agenten verhaften.

In der nächsten Nacht fragt Danilow: „Haben Sie nachgedacht?“

Ich habe nachgedacht. Ich nenne acht prominente Mitglieder des Zentralsekretariats der SED, von denen ich glaube, daß es in jeder Weise heilsam für sie wäre, den gleichen Prozeduren wie ich unterworfen zu werden.

Danilow ist zufrieden.

Ich bestreite prinzipiell nichts mehr, was „Sluschewas“ mir unterstellt. Im Verlauf von vier Wochen entsteht ein Protokoll des reinen Wahn-sinns. Ich werde ein Spion ersten Ranges.

* Mitten im Verhör betritt ein Zivilist im grauen Anzug das Zimmer.

Die beiden Untersuchungsrichter springen auf und nehmen strammste Haltung an.

„Stehen Sie auf'“ befiehlt der Dolmetscher.

Ich erhebe mich.

Der Zivilist ist mittelgroß und stämmig. Er trägt volles, graumeliertes Haar und hat die Physiognomie eines Dschingis-Khan. Aus.den Erzählungen von Twyrdy weiß ich, daß es sich um den General handelt. Er setzt sich auf die Couch, wirft einen kurzen, abschätzenden Blick auf mich und sagt:

„Sie sind ein Faschist!“

„Jawohl, Herr General!“

Pause. Nach einer Weile fährt er fort:

„Sie sprechen perfekt russisch?“

„Ich spreche höchstens sieben Worte.“

„Nennen Sie mir eins von den sieben Worten.“

„Golubtschik.“

„Wissen Sie, was das heißt?“

„Mein Täuberisch.“

Er betrachtet mich mißtrauisch.

„Wenn Sie , golubtschik'kennen, verstehen Sie natürlich mehr. Sie haben vier Jahre als Spion gegen die sowjetische Administration gearbeitet. Wir wissen, daß sie perfekt russisch sprechen.“ „Ich hatte so gute Dolmetscher, daß es nicht nötig war, auch nur ein Wort russisch zu sprechen.“

Pause.

„Kennen Sie Kommissionen aus der westlichen Emigration?"

Ich nenne einige Namen.

„Haben Sie Informationen von diesen Leuten erhalten?“

„Soweit man aus Gesprächen Informationen erhalten kann, ja.“

„Was denken diese Leute über die Politik der sowjetischen Verwaltung in Deutschland?“

„Sie sind verzweifelt.“

Das scheint dem Geneal bekannt zu sein. Er fragt nicht nach den Ursachen der Verzweiflung.

„Haben einzelne dieser Leute Verbindungen mit den westlichen Geheimdiensten?“ „Darüber weiß ich nichts.“

„Woher kennen Sie das Wort . golubtschik'?“

„Als Student wohnte ich bei einer russischen Emigrantin. Von ihr lernte ich das Wort.“

„Wer war diese Frau?“

„Die Witwe eines zaristischen Admirals der baltischen Flotte, Iwanow.“

„Wann war das?“

„ 1935.“

Für ihn ist klar, daß ich schwindle. Er schweigt eine Weile, betrachtet mich aus kalten Augen. Dann gibt er „Sluschewas“ weitere Instruktionen für die Vernehmung. Aber er schreibt seine Befehle auf einen Zettel. „Sluschewas“ fragt ihn etwas, ebenfalls schriftlich. Der General antwortet schriftlich. So kritzeln sie eine Weile abwechselnd auf einem großen Bogen Papier herum. Abschließend nimmt der General einen Rotstift und zieht eine Ellipse um einige Worte. Dann geht er. Im Vorbeigehen sagt er zu mir:

„Erzählen Sie alles. Sie können gut bei uns leben.“

„Sluschewas“ begleitet ihn auf den Korridor. Nach einigen Minuten kehrt er zurück und sagt:

„Der Chef ist mit Ihren Aussagen zufrieden.“

In den ersten Tagen meiner Phantasieprotokolle habe ich noch darauf gewartet, daß „Sluschewas“ selber verstehen würde, welche Groteske von ihm in Gang gesetzt worden war. Dann begreife ich, daß er auch den unglaublichsten Unsinn glaubt.

Ich habe das Gefühl, in die Hände einer Bande von geisteskranken Kopfjägern gefallen zu sein.

Ich erinnere mich einer Geschichte, die sich in einer Irrenanstalt zugetragen hat. Zu den Pflichten des diensthabenden Arztes gehörte es, täglich in der Küche die Zubereitung des Mittagessens zu kontrollieren. Eines Tages überfielen ihn drei Küchenarbeiter, die bis dahin als harmlose Geisteskranke gegolten hatten, und erklärten ihm, sie würden ihn heute in der Suppe kochen. Die Suppe sei dauernd so dünn und wässerig, daß sie endlich durch ein großes und fettes Stück Fleisch verbessert werden müsse. Der Arzt verstand, daß es unsinnig sein würde, sich gegen die Absicht der Geisteskranken, ihn zu kochen, physisch zu wehren. Er erklärte sich also einverstanden, gekocht zu werden, gab aber zu bedenken, daß die Suppe verdorben werde, wenn Schuhe, Arztmantel und Kleidungsstücke mitgekocht würden. Die Geisteskranken sahen ein, daß der Arzt recht hatte. Sie gestatteten ihm, sich zu entkleiden, und ließen ihn los. Er benutzte diesen Augenblick, einen Hechtsprung durch das Fenster zu tun, und landete auf dem Pflaster des Wirtschaftshofes, mit einem gebrochenen Arm und einigen Verletzungen, aber ungekocht.

Ich selber, in den Händen meiner eigenen Geisteskranken, weiß nicht, wann mir Gelegenheit geboten wird, den Sprung durch das Fenster zu tun. Vorläufig bleibt mir nichts anderes übrig, als den Luftballon nicht begangener „Verbrechen“ weiter aufzublasen. Irgendwann wird eine Gelegenheit kommen, eine brennende Zigarette an diesen Ballon zu halten.

$Der neue Untersuchungsrichter, ein sehr junger Unterleutnant, der sich am Telefon mit „Pachanow“ meldet, erklärt mir zu Beginn des ersten Verhörs zu meiner grenzenlosen Überraschung, daß ich nur zehn Prozent meiner Verbrechen gestanden hätte. „Jetzt werden Sie noch die übrigen neunzig Prozent erzählen. Wenn Sie nicht erzählen, werden wir Sie dazu zwingen.“ Die Situation ist nicht einfach: mit dem Aufwand meiner ganzen Phantasie habe ich in vier Wochen ein Gebäude von Aussagen konstruiert, das von einer Herrn „Sluschewas" überzeugenden inneren Logik getragen ist. Diesem Gebäude jetzt noch neue Stockwerke aufzusetzen, ist fast unmöglich. Herr Pachanow beginnt, die ganze Geschichte noch einmal aufzurollen. Er ist ehrgeizig; sicher bin ich einer seiner ersten Fälle, vielleicht sein erster. Wahrscheinlich hat Pachanow eben erst das Abschlußexamen seiner Schule abgelegt. Er brennt darauf, an mir zu demonstrieren, daß er sein Handwerk versteht. Auch diese neue Abteilung mit ihren zahlreichen Leutnants, Kapitänen, Majoren und ihrem Chef Chizenko hat natürlich den Wunsch, noch mehr aus mir herauszuholen als die Abteilung Danilow. Da ich zunächst störrisch bleibe, beginnt Pachanow selber produktiv zu werden.

„Sie haben schon früher als 1938 in Beziehungen zur Gestapo gestanden.“ Das ist in der Tat eine ausgezeichnete Idee. Den Vormittag über führe ich ein schwaches Scheingefecht. Ich bestreite, schon früher als 193 8 für die Gestapo gearbeitet zu haben. Aber ich spiele den Unsicheren; das schlechte Gewissen ertappter Spione läßt sich nicht verbergen. Der kluge Pachanow merkt natürlich, daß mit 193 8 irgend etwas nicht stimmt. Am Abend gestehe ich ihm, daß ich in Wirklichkeit schon seit 1934 für die Gestapo tätig war.

Das ist ein guter Anfangserfolg. Pachanow ist zufrieden. Wir schreiben ein neues Protokoll, beginnend mit der Feststellung, daß ich in bezug auf den Beginn meiner Zusammenarbeit mit der Gestapo im ersten Protokoll nicht die volle Wahrheit ausgesagt habe, weil ich mich fürchtete, „den ganzen Umfang meiner Verbrechen zu gestehen.“'

Im Gegensatz zu „Sluschewas“, der nur die große Linie meiner Verbrechen erarbeitet hat, beginnt Pachanow, sich für die Details zu interessieren. Eines Tages fordert er mich auf, das Haus aufzuzeichnen, in dem ich mich mit MacAllister einige Male getroffen habe. Er gibt mir einen großen Bogen Papier, einen Bleistift, und ich zeichne ein nicht existierendes Haus in einer existierenden Straße in West-Berlin. Ich habe diese Straße nie gesehen; nur durch Zufall weiß ich, daß sie überhaupt vorhanden ist.

Von Zeit zu Zeit legt Pachanow die „Prawda“, das Zentralorgan der bolschewistischen Partei, beiseite, erhebt sich und betrachtet die Entstehung meines Werkes. Ich habe immer schlecht gezeichnet, schon in der Schule. Er ist unzufrieden. Er bringt mir ein Lineal, damit wenigstens die Striche gerade werden. Er will wissen, wie die unmittelbare Umgebung des Hauses beschaffen ist. Ich entwerfe freigebig eine Rasenfläche und einen Steingarten.

„Was für eine Art Zaun war dort?“

Ich zeichne einen halbhohen Zaun.

„Holz oder Eisen?“

„Eisen.“

„War die Tür mit oder ohne Klinke?“

„Ohne.“

Dann gibt mir Pachanow ein neues Blatt.

„Zeichnen Sie bitte das Erdgeschoß.“

Ich zaubere eine große Diele mit Kamin, Garderobe, Bad, Toiletten, Küche und eine Flucht von Zimmern.

Pachanow will wissen, in welchem Zimmer meine Unterredungen mit MacAllister stattgefunden haben. Das Zimmer wird mit einem roten Kreuz versehen.

Pachanow betrachtet meine Arbeit mißbilligend.

„Sie zeichnen nicht gut.“

Der Rest der Nacht vergeht damit, daß er nach meinem kindlichen Entwurf neue Zeichnungen anfertigt. Als wir uns um zwei Uhr nachts verabschieden, zeigt mir Pachanow sein Werk.

„Ist dies das Haus?“

„Genau so hat es ausgesehen. Lind Sie zeichnen ganz außerordentlich viel besser als ich.“

Vier Wochen nach Beginn der Unterhaltungen mit Pachanow läßt Chizenko mich rufen. Er sitzt in einem mit echten Persern und großen Leder-fauteuils ausgestattenen Zimmer. Chizenko ist klein und schmächtig, blond, parfümiert, mit einer weichlichen Physiognomie. Niemand sieht ihm an, daß er einer der prominenten Henker der MGB in Deutschland ist.

Chizenko sagt:

„Wir wollen Ihre Sache abschließen und Sie demnächst dem Gericht übergeben. Haben Sie uns noch irgend etwas verschwiegen? Haben Sie unserem Protokoll noch irgend etwas hinzuzufügen?“

„Herr Oberstleutnant, ich sehe mich genötigt. Ihnen eine Erklärung abzugeben.“

„Was für eine Erklärung?“ „Ich erkläre Ihnen hiermit offiziell und in aller Form, daß meine Protokolle unwahr sind. Diese Protokolle enthalten keine Tatsachen, sondern sind die Ausgeburt der krankhaften Phantasie der Mitarbeiter Ihres Apparates. Ich habe weder für die Gestapo noch für den englischen oder amerikanischen Geheimdienst als Spion gearbeitet. Ihre Leute haben mich zu einem Spion gemacht.“

Chizenko springt auf, schreiend, in äußerster Erregung.

Die Dolmetscherin übersetzt gewissenhaft:

„Der Herr Oberstleutnant sagt, daß Sie ein Schuft sind.“

Eine Schimpfkanonade entlädt sich,'von der ich kein Wort verstehe. Die Dolmetscherin fährt fort:

„Der Herr Oberstleutnant sagt: man muß Ihnen die Schnauze zerschlagen.“ Dann stellt sie ihre Bemühungen ein. Chizenko schweigt plötzlich, denkt eine Weile nach und sagt dann:

„Wenn ich Ihnen aber nun die Protokolle Ihrer Agenten vorlege, in denen diese erklären, für Sie gearbeitet zu haben?“

„Das würde nur dafür sprechen, daß Sie diese Leute mit den gleichen Repressalien wie mich bedroht haben.“

„Welche Repressalien hat man Ihnen angedroht?“

„Sie kennen das Repertoire Ihrer Repressalien sicher sehr viel besser als ich.“

Er reißt die Tür auf. , „Hinaus!“

Die Dolmetscherin bringt mich zu Herrn Pachanow zurück. Nun wird Herr Pachanow zu Herrn Chizenko zitiert. Nach fünf Minuten kommt er zurück. Er ist blaß. Er geht an das Fenster, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und schaut minutenlang unbeweglich in den Park hinab.

Herr Pachanow tut mir leid. Vier Wochen lang hat er mit soviel Fleiß Protokolle geschrieben. Er hat die Zahl meiner Gestapo-Opfer von 200 auf 3 50 erhöht. Er hat das hübsche kleine Haus gezeichnet. Er hat mit ebensoviel Eifer wie Einfühlungsvermögen die teuflischen Spuren eines anglo-amerikanischen Spions verfolgt. Nun ist alles umsonst. Er verliert seine Prämie, die jeder MGB-Offizier für einen erfolgreichen Fall bekommt. Herr Chizenko muß ihm eine schlechte Note geben. Vielleicht wird er bei der nächsten Beförderung übergangen. Herr Pachanow ist verstört. Das unfehlbare System der Untersuchung hat nicht funktioniert. Ein Fall wie dieser ist im Repertoire nicht vorgesehen. Was tun? Er telefoniert in den Keller. Drei Minuten später bin ich in meiner Zelle, neugierig auf die Dinge, die jetzt kommen werden.

Aber gegen alle Regeln der Wahrscheinlichkeit werde ich vierzehn Tage lang nicht ein einziges Mal vernommen. Ich erhalte meine doppelten Rationen weiter.

Nach vierzehn Tagen werde ich nach oben geführt. Herr Pachanow sitzt mit finsterer Entschlossenheit hinter seinem Schreibtisch und sagt zu mir:

„Wir nehmen Ihren Widerruf zur Kenntnis; aber die Protokolle werden wir nicht abändern, weil in ihnen die Wahrheit geschrieben ist.“

Ich antworte ihm, daß der Erklärung, die ich Herrn Oberstleutnant Chizenko gegenüber abgegeben habe, nichts hinzuzufügen ist.

„Sie werden sich selbst wundern, in welchem LImfang Sie uns demnächst zusätzliche Erklärungen machen werden.“

Er nimmt den Telefonhörer und spricht mit dem Chef des Kellers. Ich verstehe das Wore Karzer. Es wird ernst. Ich entkleide mich im Baderaum. Schuhe, Strümpfe, Anzug und das Unterhemd werden von dem Posten in eine Ecke unter das Waschbecken geschleudert. Nur die Unterhose bleibt mir.

„Dawai!“

Der Karzer ist etwa ein Meter breit, drei Meter lang und zwei Meter hoch, ein Sarg, grell erleuchtet von einer mehrhundertkerzigen Glühbirne. Oberhalb einer vergitterten Öffnung in der Decke surrt ein Ventilator, der die Kaltluft des Kellers in einem ununterbrochenen Strom nach oben saugt. Die Wände dieses Beton-Frigidaire sind mit Kritzeleien bedeckt. Gefangene aller Nationen haben ihre Namen eingegraben. An der Außenwand steht in großen lateinischen Lettern: WEINEN VERBOTEN. An der Rückwand ein Brett, zum Sitzen zu schmal, auf dem man nur hocken kann. Der Ventilator läuft. Ich beginne zu frösteln. Man muß sich bewegen. Ich gehe auf und ab: drei Schritte vor, drei Schritte zurück.

Um mich zu erwärmen, reibe ich die Haut meiner Arme und der Brust. Alles ist vergeblich. Es ist unmöglich, nicht zu frieren. Nach einer Stunde schon sind die Fußsohlen ohne Empfindung.

Twyrdy hat in diesem Karzer achtundzwanzig Tage ausgehalten. Das ist ein Rekord. Er war körperlich gut in Form, als er entführt wurde. Ich selber bin krank. Das Herz schmerzt unaufhörlich. Arrhythmien kommen und gehen. In den Beinen hat sich Wasser angesammelt.

Am Abend öffnet der Posten die Tür.

„Kak familija? Dawai!“

Ich kleide mich an. Wir steigen nach oben. Herr Pachanow ist von freundlicher Liebenswürdigkeit.

„Haben Sie uns etwas Neues mitzuteilen?“

„Nein.“

„Dann ist es nicht nötig, weiter zu sprechen."

Er unterschreibt meinen Passierschein. Der Posten, der vor der Tür gewartet hat, nimmt mich gleich wieder mit in den Keller. Dieses Gespräch wiederholt sich in der gleichen Form an neun aufeinanderfolgenden Tagen.

Im Karzer gibt es keine normale Verpflegung. Morgens und abends reicht der Posten einen Becher Wasser. Jeden zweiten Tag erhalte ich 300 Gramm Brot. Ich weiß, daß diese Form des Karzers noch milde ist.

Es gibt Gefangene, die gefesselt werden. Man kann mit den Händen vorn gefesselt werden. Das ist noch erträglich. Auf dem Rücken gefesselt zu werden, ist schon unangenehmer. Man kann den Karzer in eine Art Planschbecken verwandeln. Er läßt sich etwa 10 cm hoch mit Wasser füllen. Es gibt Gefangene, die von den Posten in regelmäßigen Abständen mit kaltem Wasser begossen werden. Ich weiß von einer Frau, die drei Wochen lang, nackt die Hände auf dem Rücken gefesselt, in diesem Karzer verbracht hat, ohne daß sie übrigens den Namen des Mannes preisgegeben hätte, den man von ihr erpressen wollte.

Von Tag zu Tag nehmen meine körperlichen Beschwerden zu. Die Beine schwellen an, die Haut spannt sich prall über riesigen Ödemen. Zeitweise bin ich an den Grenzen des Bewußtseins. Ich höre die Geräusche des Gefängnisses wie in einem fernen Film. Ein Tag vergeht nach dem anderen. Zu meiner zeitlichen Orientierung kratze ich mit dem Fingernagel Striche in den Kalk.

In der neunten Nacht höre ich Stimmen vor der Tür des Karzers. Es ist eine Ansammlung von Menschen, die sich über eine vorzunehmende Exekution unterhält, deren Opfer ich sein soll. Das Gespräch wird auf russisch und deutsch geführt. Den Gesprächsfetzen entnehme ich, daß man sich versammelt hat, um mich aufzuhängen. Ein Mann, der mich fotografieren soll, blickt durch das Guckloch in der Tür und äußert sich befriedigt über mein Aussehen. Ein anderer sagt ihm auf deutsch, daß vor, während und nach der Exekution eine Aufnahme gemacht werden soll.

Später begreife ich, daß all dies eine gut vorbereitete Komödie ist, inszeniert, um mich zu demoralisieren. Aber damals, benommen nach neun Nächten ohne Schlaf, erschöpft und fiebernd, bin ich nicht mehr in der Lage zu urteilen: ob es Ernst oder Scherz ist.

Lebend sollen sie mich nicht bekommen. Ich nehme einen angespitzten Nagel aus dem Schritt meiner Unterhose, den ich dort seit Wochen verborgen halte, und beginne, die Arteria radialis am linken Handgelenk zu öffnen. Das ist mit einem solchen Instrument nicht einfach. Sobald ein Posten sich nähert, muß ich die Operation unterbrechen.

Ich erinnere mich an eine Szene aus einem Roman in der Berliner Illustrierten, den ich vor über zwanzig Jahren gelesen habe: ein junges Mädchen öffnet im Bad mit einer Rasierklinge seine Pulsadern. Und mir ist in Erinnerung geblieben, daß dort, während das Blut ausströmt, ein Pfeifen in den Ohren beschrieben ist, das im Ton zunehmend heller wird und abbrechend in die Bewußtlosigkeit mündet. Ich bin neugierig, ob dieses Pfeifen auch bei mir auftreten wird oder ob es sich um eine literarische Konstruktion handelt.

Als das Blut zu entströmen beginnt, setzt tatsächlich das Pfeifen ein. Der Ton geht höher, und ich weiß nun, daß Bewußtlosigkeit und Tod unmittelbar bevorstehen. Ich bin unendlich erleichtert. Und im Empfinden einer ungeheuren Genugtuung verliere ich das Bewußtsein.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich, mit einer Schnur gefesselt, auf dem Flur vor der Karzerzelle. Der linke Arm ist mit einem Gummischlauch abgebunden. Ich bin allein. Die Schnur sitzt locker, ich löse sie. Die Wachtposten haben sich entfernt, offenbar, um die Gefängnisleitung zu benachrichtigen. Im hinteren Korridor ist der letzte der fünf Posten damit beschäftigt, die Zellen zu inspizieren. Er geht langsam, den Rücken mir zugewandt, von Zellentür zu Zellentür. In mir steigt das Bedürfnis auf, ihn zu töten. Er ist vielleicht fünfzehn Meter von mir entfernt. Ich stürze mich lautlos auf ihn. Als ich einige Meter entfernt bin, hört er das leise Tappen meiner Füße. Er wendet sich um und sieht mich, nackt, unrasiert, mit Blut beschmiert. Er kann vor Schreck nur noch einen tier-ähnlichen Laut ausstoßen. Er blökt wie ein Kalb. Im nächsten Augenblick hänge ich ihm an der Kehle. Ich schlage ihn, werfe ihn zu Boden und beginne, ihn zu würgen. Meine Kräfte sind ungeheuer. Er wehrt sich, so gut er kann, aber er ist dabei, zu verlieren. Ich presse mit den Händen seinen Kehlkopf zusammen, ich will ihm seine verdammte Luftröhre zudrücken. Sein Gesicht wird blau, die Augen quellen aus dem Kopf. Plötzlich werde ich von ihm weggerissen. Die übrigen Wachtposten sind zurückgekommen. Sofort stürze ich mich auf diese Übermacht. Sie weichen zurück. Ich sehe nichts mehr außer den hellen Ovalen ihrer Gesichter, und ich schlage in diese Ovale. Sie versuchen mich einzukreisen. Ich gehe mit dem Rücken an eine Mauer und schlage weiter. Sie wagen nicht, mich anzufassen. Langsam drängen sie mich in eine Ecke. Ein Posten holt den Küchenwagen. Sie schieben den Küchenwagen wie einen Tank gegen mich und machen mich wehrlos. Wieder verliere ich das Bewußtsein.

Als ich zu mir komme, ist die Ärztin um mich beschäftigt. „Warum machen Sie solche Sachen?“ sagt sie auf deutsch. Der Koch bringt zwei Scheiben Brot, die dick mit Butter bestrichen sind.

„Essen Sie, essen Sie“, sagt die Ärztin.

Aber ich kann nicht essen. Sie mischt ein Elixier aus Alkohol und Äther und gibt mir zu trinken. Plötzlich fällt ihr ein, daß man den Blutverlust ersetzen muß. Sie öffnet eine Reihe von Glukose-Ampullen und mischt Wasser hinzu. Ich trinke. Einer der Leute des „Hinrichtungskommandos“ beobachtet, eine Zigarette rauchend, die Arbeit der Ärztin aus dem Hintergrund.

Mein Anzug wird gebracht. Ich darf mich ankleiden und werde in eine leere Zelle gebracht. Man gibt mir drei Decken. „Schlafen Sie, schlafen Sie“, sagt die Ärztin.

Am anderen Morgen werde ich wieder ins Ambulatorium geführt, in dem die Ärztin mir Wasser mit Wodka zu trinken gibt. Mein Opfer von heute nacht steht dort. Er ist auf dem linken Ohr taub. LInter einem meiner Schläge ist sein Trommelfell geplatzt. Der Junge tut mir leid. Er ist einer von den anständigen Posten, die den Gefangenen nie etwas getan haben.

Der Gefängniskommandant tritt ein und beginnt, mich zu beschimpfen.

Er will mir für das geplatzte Trommelfell drei Tage Karzer geben, aber die Ärztin protestiert energisch. Vor meinen Augen entwickelt sich eine Auseinandersetzung, aus der die Ärztin als Siegerin hervorgeht.

Am Vormittag werde ich zum Verhör nach oben geführt. Herr Pachanow empfängt mich mit der Frage:

„Warum haben Sie das gemacht?“

Ich antworte:

„Sie irren sich, wenn Sie glauben, Ihr Spiel nach Belieben mit mir treiben zu können. Wenn Sie die Sache von heute nacht oder ähnliche Dinge wiederholen, werde ich Ihnen Gelegenheit geben, sich mit meiner Leiche weiter zu unterhalten.“ Dieser Selbstmordversuch ist gegen die Spielregeln. Er ist im Repertoire der Untersuchung nicht vorgesehen. Er darf nicht sein. Pachanow ist irritiert. Und genau so, wie seine Fragen an mich die in den morgendlichen Besprechungen festgelegten Fragen seiner Vorgesetzten sind, so ist auch seine Irritation die Irritation seines Chefs.

Folter und Karzer basieren auf der Voraussetzung, daß der Gefangene unter allen Umständen den Wunsch hat, am Leben zu bleiben. Das Untersuchungssystem versagt in dem Augenblick, in dem der Gefangene aufhört, am Leben zu hängen, und den Entschluß faßt, sich ins Jenseits zu empfehlen.

Der Morgen verläuft friedlich.

Pachanow hat die Anweisung erhalten, sanft zu sein.

Er schreibt ein Protokoll, bestehend aus einer Reihe von belanglosen Fragen und ebenso belanglosen Antworten. Nach der Vernehmung werde ich nicht in den Karzer, sondern in meine Zelle zurückgebracht.

Als mich die vier Kameraden sehen, wissen sie nicht, was sie sagen sollen. Ich komme an mit einem verbundenen linken Handgelenk und anderthalb Butterstullen. Die Situation ist komisch. Einer beginnt zu lachen, dann lachen alle und auch ich bin unfähig, mich weiter zu beherrschen. Ich setze mich in eine Ecke, schlage die Hände vors Gesicht und sage zu den Vieren durch die Finger: „Kinder, lacht nicht. Der Posten kontrolliert durch das Guckloch, ob ich simuliere.“

Schließlich stellt einer sich vor die Tür, um das Blickfeld zu versperren. Ich erzähle, wie es mir ergangen ist. Zwei glauben die Geschichte, zwei glauben sie nicht. Sie sagen in vorsichtiger Formulierung, daß ich geistig wohl etwas gelitten habe, und mir selbst erscheint diese Nacht als die wüste Halluzination aus einer fernen Unterwelt.

* Nach seiner großen Pleite wird Herr Pachanow abgelöst. Sein Nachfolger ist ein intelligenter Vierziger, entgegenkommend und von Umgangsformen, die für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich gut sind. Jeden Abend begrüßen wir uns mit einem Zeremoniell, als ob wir zu einem Souper verabredet wären.

„Warum haben Sie eigentlich diese Provokation mit Ihren falschen Geständnissen gemacht?“ fragt er. „Wollten Sie den Untersuchungsrichter in den Keller bringen?“

Ich entschuldige mich.

„Ich wußte nicht, daß es möglich ist, bei Ihnen den Untersuchungsrichter durch eine solche Affäre in den Keller zu bringen. Ich bedauere aufrichtig, daß ich ihn in diese Gefahr gebracht habe.“

„Warum also?“

„Ich bin nichts weiter als ein Opfer Ihrer eigenen Untersuchungsmethoden. Sie machen ununterbrochen Nachtverhöre mit mir, Sie drohen mir Repressalien an, und ich weiß, daß Sie diese Repressalien anwenden.

Ich bin krank. Was bleibt mir schließlich anderes übrig, als Sie zu beschwindeln.“ „Sie sind ein Provokateur“, sagt der Offizier höflich.

Das Ziel seiner Vernehmung ergibt sich aus Gesprächen mit dem Dolmetscher. Einige Tage später, als wir allein sind, sagt er: „Ich möchte Ihnen einen gutgemeinten Rat geben. Ich kenne Ihre Sache genau. Sie bekommen in jedem Fall fünfundzwanzig Jahre, das ist sicher! Wenn Sie hartnäckig sind, kann es natürlich sein, daß Sie den Spionageparagraphen loswerden, aber das dauert ein bis zwei Jahre. Dann wird man irgendeinen anderen Paragraphen nehmen, um Sie zu verurteilen. Geben Sie zu, daß Sie ein bißchen Spionage getrieben haben, pro forma sozusagen. Damit beenden Sie Ihre Untersuchung, und Ihr Fall wird abgeschlossen. Sie kommen in ein Lager, wo es besser ist als hier. Dort können Kameraden Ihnen helfen, hier nicht. Das Wichtigste ist, die Gesundheit zu retten. Wenn Sie noch einige Jahre unter den Bedingungen dieses Gefägnisses leben, sind Sie ruiniert, das wissen Sie selbst. Lind was nützt es Ihnen, wenn Sie dann den Spionageparagraphen tatsächlich losgeworden sind!“

Als ich seinen Rat befolge, zweifle ich noch, ob es richtig sei, das zu tun. Später sehe ich ein, daß er recht hatte. Im Lager sollte ich viele Gefangene kennen lernen, die versucht hatten, Ihre Unschuld Jahre hindurch zu verteidigen. Sie sind genau wie ich verurteilt worden, nachdem ihre Gesundheit zerstört war. Kurze Zeit später wird der Dolmetscher durch ein junges Mädchen ersetzt.

Und wiederum einige Tage später werde ich von einem anderen Offizier vernommen, den ich zum erstenmal sehe.

Am nächsten Tag entschließe ich mich, den Kompromiß anzubieten. Die entscheidende Formulierung lautet:

Frage: „Haben Sie Beziehungen gehabt zu Personen, die ihrerseits wieder zu Personen der westlichen Militärregierungen Beziehungen hatten?“

Antwort: „Ich hatte solche Beziehungen.“

„Damit“, sagt mein Gegenüber freundlich, „sind Sie nach unseren Gesetzen ein Spion geworden.“

Er ist klug genug, auf die Details der Spionage zu verzichten. Er weiß so gut wie ich, daß diese Details nicht existieren.

4s-'1 Im Dezember 1949 werde ich aus der „Lubjanka“ Hohenschönhausen in das Gefängnis Lichtenberg übergeführt. Dort sitze ich fünf Monate ohne eine einzige Vernehmung. Wir leben, vier, fünf oder sechs Gefangene, in Einmannzellen von nur 18 cbm Inhalt.

Ein Kamerad lehrt mich hier die Anfänge der russischen Sprache. Ich entschädige ihn mit den Grundzügen der griechischen Grammatik. Da der Besitz von Papier verboten ist, ritzen wir Deklinationen und Konjugationen mit einer Nadel auf die Innenseite eines Gummimantels.

Im April 1950 nähen wir mit Hilfe einer Strohnadel ein faustgroßes Säckchen, das wir mit Sand füllen, den wir aus den Spazierhöfen in der Tasche mitbringen. Wir schreiben die Namen von über fünfzig Gefangenen, die wir im Laufe der Haft direkt oder indirekt kennengelernt haben, mit brauner, von der Wand gekratzter, in einigen Tropfen Wasser gelöster Farbe auf ein Stück Toilettenpapier. Dann warten wir mehr als eine Woche, bis wir endlich in den einzigen geeigneten Spazierhof eingelassen werden, der unmittelbar am Wirtschaftsflügel des Gefängnisses liegt und von der Straße vielleicht nur dreißig Meter entfernt ist. In einem unbewachten Augenblick schleudert der Kräftigste von uns das Säckchen auf die Straße. Ein festgenähter Zettel hängt sichtbar heraus, auf dem zu lesen ist, daß der Finder dieses Säckchen gegen eine Belohnung von hundert Westmark in der Redaktion des „Telegraf“ abgeben soll. Vielleicht können wir so ein letztes Lebenszeichen geben.

Ende Mai werde ich in ein Zimmer des Gerichtsgebäudes geholt. Mein alter Freund Pachanow erwartet mich mit einem Dolmetscher.

„Ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß Sie vom Obersten Gericht in Moskau in besonderer Beratung wegen Spionage zu fünfundzwanzig Jahren Strafarbeitslager verurteilt sind. Bitte unterschreiben Sie, daß Ihnen Ihr Urteil mitgeteilt worden ist.“

Er schiebt mir einen Zettel hin. Ich unterschreibe sofort.

Ich werde nicht in meine Zelle zurückgeführt, sondern komme in eine Sammelzelle für Verurteilte. Hier finde ich bereits neunzig Gefangene vor. Die Kameraden umringen mich. Mindestens die Hälfte von ihnen kenne ich persönlich, aus den Erzählungen anderer oder durch Morseunterhaltungen von Zelle zu Zelle.

„Wieviel Jahre hast du?“'

„Fünfundzwanzig.“

„Tribunal?“

„Fernurteil.“

„Wieviel Jahre habt ihr?“

Großes Gelächter. )

„Denkst du, hier ist einer, der weniger hat als fünfundzwanzig Jahre?“

Die Atmosphäre der Sammelstelle erinnert mich an „Les Dieux ont soif“ von Anatole France. Es herrscht die gleiche, fast überirdische Heiterkeit wie in den Gefängnissen von 1792.

Alle Gefangenen sind zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt. Das bedeutet lebenslängliche Haft. Das Gros der Gefangenen ist fünfundzwanzig bis vierzig Jahre alt. Sie werden die besten Jahre ihres Lebens verlieren, aber sie zeigen keine Symptome von Trauer.

Vielleicht werden sie krepieren, aber niemand wird sie jemals weinen sehen.

+ Am 6. Juni früh wird die Tür geöffnet. Der Posten ruft eine Reihe von.

Namen auf, darunter auch den meinen.

„Mit allen Sachen.“ Das bedeutet Abtransport. Ich umarme meine Freunde und verabschiede mich.

„Schnell, schnell!“

In einer kleinen Zelle sammeln sich dreißig Menschen, zur Hälfte Deutsche, zur anderen Hälfte Russen. Am Abend werden wir in einen Gefangenentransportwagen verladen. Als die Tür der „Minna“ sich wieder öffnet, sehen wir uns einem D-Zugwagen mit Milchglasscheiben gegenüber. Er trägt die Aufschrift „Dienstwagen der Deutschen Reichsbahn.“

Eine dichte Postenkette mit Maschinenpistolen und Schäferhunden sichert den Waggon. In einigen hundert Metern Entfernung ragt der hohe gelbe Schornstein, für uns ein Symbol der Berliner Lubjanka. Wir wissen nun, daß wir uns wieder auf dem Territorium der MGB-Zentrale Hohenschönhausen befinden, einem ehemaligen Fabrikgelände, das einen eigenen Bahnanschluß hat, von dem aus die Transporte der Gefangenen in die Sowjetunion abgehen. Wir werden einzeln aufgerufen, in einer Sammelzelle des Waggons sehr genau untersucht und dann in die kleinen Einzelzellen beiderseits des Mittelkorridors gesperrt; drei Gefangene auf einer Fläche von weniger als 1 qm. Das Einladen dauert bis Mitternacht.

Am späten Vormittag holt eine Lokomotive den Waggon ab. Langsam umfahren wir Berlin an seiner östlichen Peripherie. Auf dem Schlesischen Bahnhof werden wir an einen Zug angehängt.

Bis zur Abfahrt des Zuges vergehen noch einige Minuten. Die beiden anderen Insassen meiner Zelle, ein Alter und ein Siebzehnjähriger, sehen abwechselnd aus unserem „Fenster“, einer schmalen Luftklappe. Der Schlesische Bahnhof bietet ein alltägliches Bild. S-Bahnzüge kommen und gehen. Menschen steigen aus und ein. Eine Mutter sitzt mit zwei Kindern auf einer Bank. Ein kleiner Junge kauft sich Eis. Niemand beachtet den „Dienstwagen der Deutschen Reichsbahn". Noch leben wir physisch, aber wir begreifen, daß wir für die da draußen schon gestorben sind. Wir gehören schon der LInterwelt an, und der Schlesische Bahnhof, eine Pforte Sibiriens, ist ihre Vorhölle.

Draußen verabschiedet sich ein junger Mann von einem Mädchen mit einem Kuß.

„Warum küßt du nur einmal?" ruft jemand aus dem Nachbarabteil. „Wenn du erst mal nach Rußland fährst, ist es aus mit dem Küssen."

Dann eine Stimme aus dem Lautsprecher:

„Zum Zug nach Frankfurt/Oder bitte einsteigen und Türen schließen."

In Frankfurt stehen wir die Nacht über auf einem Abstellgleis. Es ist die Nacht zum 7. Juni, die letzte auf deutschem Boden. Am anderen Morgen früh rollt der Waggon, angehängt an den „Blauen Expreß Berlin-Moskau“ über die Oderbrücke.

Es ist ein wolkenloser Morgen. Die Oder blendet unsere Augen mit dem silbernen Glitzern ihrer Wasser. Im Dunstschleier des Horizonts liegen die Konturen von Küstrin.

In den Zellen der Waggons ist es totenstill. Wir hängen an den schmalen Spalten der Fenster und nehmen Abschied von der Heimat. Wir fahren einer Zukunft entgegen, von der wir noch nicht wissen, wie mörderisch sie sein wird. Und wir fragen uns stumm: Wer von uns wird je wieder über diese Brücke zurückfahren?

Die Reisegesellschaft

Unser Reisebüro heißt nicht Intourist, sondern MGB — Ministerstwo Gosudarstwennoi Besopasnosti, Ministerium für Staatsicherheit. Es ist konkurrenzlos billig. Von den grünbemützten Angestellten seines uniformierten Service aufmerksam betreut, werden wir viele tausend Kilometer fahren, ohne eine Kopeke zu bezahlen.

Alle Paßformalitäten erübrigen sich. Visa sind überflüssig. Konsularische Vertretungen sind nicht bemüht worden, Gebühren werden nicht erhoben. Es genügt, in die Transportliste des Begleitkommandos eingetragen zu sein.

Wir reisen nicht so bequem wie die ausländischen Delegationen, die das „Vaterland der Werktätigen“ zu Studienzwecken“ oder an den Feiertagen der Revolution besuchen. Wir werden auch nicht so gut verpflegt wie sie. Aber gegenüber den Gästen des Intourist, die nur die ewige, schon langweilig gewordene Route Leningrad—Moskau—Stalingrad—Krim fahren, haben wir einen großen Vorzug: wir werden eine Sowjetunion kennenlernen, von der im Ausland nur wenige wissen. Wir werden sie sehen, wie sie tatsächlich ist.

Der Waggon, in dem wir fahren, besitzt nicht die Liegeplätze des „Blauen Expreß“ Berlin—Moskau. Niemand sieht ihm an, daß seine Fenster hinter den Milchglasscheiben vergittert sind. Es ist ein originaler Gefangenentransportwagen aus der Zeit des Dritten Reiches.

Wir hocken in jedem seiner kleinen Käfige zu dritt. Der Waggon hat dreißig Zellen. Wir sind fast hundert Menschen. Etwa die Hälfte unseres Transportes besteht aus Deutschen, die andere rekrutiert sich aus Russen, Ukrainern und Angehörigen der anderen Völker der Sowjetunion, Soldaten und Offizieren der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, aus Mitarbeitern der Administration in Karlshorst und Spezialisten, die im Auftrage ihrer Regierung in der Ostzone tätig waren. Die letzte Nacht haben sie gemeinsam mit uns in der Sammelzelle verbracht. Viele sprechen deutsch, einige haben ihr Schicksal erzählt.

Ein alter Bolschewik zum Beispiel, Mitglied einer Handelskommission, übernachtet auf der Reise nach London bei einem Freund in Berlin.

Abends hören die beiden Sendungen der BBC in russischer Sprache.

Tokajew spricht, der vor einiger Zeit in den Westen gegangen ist. Sie werden belauscht und denunziert. Fünfundzwanzig Jahre für den alten Bolschewiken, zehn Jahre für seinen Freund.

Ein Ingenieur gerät beim Betreten des Sperrgebietes Karlshorst zufällig in eine Kontrolle mit Leibesvisitation. In seiner Tasche findet man ein Exemplar des „Tagesspiegel“ — zehn Jahre.

Ein Journalist der „Täglichen Rundschau“ verliebt sich in eine junge deutsche Kommunistin. Sie leben zusammen. Er wird von seiner Behörde verwarnt. Derartige Beziehungen zwischen Sowjetbürgern und den Frauen der besiegten deutschen Nation sind nicht gestattet, auch wenn es sich in diesem Falle um eine Parteikommunistin handelt. Das Mädchen, eine Studentin der Berliner Ost-Universität, wird von seiner Partei aufgefordert, die Beziehungen zu dem Russen abzubrechen. Die Liebe ist groß, sie weigert sich. Der Journalist wird ein zweites Mal verwarnt, kann sich aber von der Genossin seines Herzens nicht trennen. Schließlich trennt die NKWD, auf fünfzehn Jahre.

Ein junger Rotarmist kommt nach Deutschland und stellt fest, daß die Wirklichkeit nicht mit den Geschichten übereinstimmt, die man ihm früher erzählt hat. Er schreibt vertrauensselig an Stalin, beginnend mit der Anrede, die er so oft in der „Prawda“ gelesen hat:

„Dorogoi Towarischtsch Stalin! — Teurer Genosse Stalin!“

Er schildert, was er gesehen hat. Aus dem Brief ergibt sich, daß er zu-viel denkt. Fünfundzwanzig Jahre.

Die Russen tragen ihr Schicksal mit Gleichmut.

„He, Starik, Alter“, rufen sie aus der gegenüberliegenden Zelle, „laß den Kopf nicht hängen. Wirst nicht ewig in deinem Käfig sitzen.“

Der Starik antwortet zu ihrem Erstaunen auf russisch:

„Ihr habt's gut, ihr fahrt nach Hause. Aber weiß der Teufel, wohin sie mich verschleppen.“

Ich frage den Starik, wo er russisch gelernt hat.

„Ich war während des ersten Weltkriegs drei Jahre in russischer Gefangenschaft.“ 1918 flüchtete er aus Sibirien. Er studierte Philologie und war Studienrat am Gymnasium in Dahme, einer kleinen brandenburgischen Provinz-stadt, sechzig Kilometer südlich von Berlin. 1949 verhafteten ihn die Sowjets, weil er verdächtig war, Kenntnis zu haben von einer angeblichen Widerstandsgruppe, der einige seiner ehemaligen Schüler angehört haben sollen. Fünfundzwanzig Jahre.

„Wie alt sind Sie jetzt?“ „Fünfundsechzig! Wenn ich entlassen werde, bin ich neunzig.“

Er wird nicht mehr entlassen werden. Seine zyanotischen Lippen sind vom Tode gezeichnet. Ich fühle seinen Puls, er ist hart. Die Frequenz liegt um 140. Diese Reise wird seine letzten physischen Kräfte erschöpfen. Ein Kamerad, der im Winter 1951 vom Baikalsee nach Workuta kommt, wird berichten, daß der „Starik“ kurz nach seiner Ankunft den Strapazen dieses Transportes erlegen ist.

Der Dritte in unserer Zelle ist ein siebzehnjähriger Berliner, ein sympathischer Junge mit einem intelligenten und offenen Gesicht. Seine Eltern sind in den Wirren des Krieges umgekommen. Er lebte bei Verwandten und arbeitete als Schlosserlehrling in einer ostzonalen Reparaturwerkstatt der Berliner S-Bahn.

-Als der große S-Bahnstreik ausbricht, streikt er natürlich mit. Er verteilt Flugblätter, die im Westen gedruckt worden sind, wird von der Volkspolizei verhaftet und an die Sowjets ausgeliefert. Nach drei Tagen Untersuchungshaft zwingt ihn ein Offizier zur schriftlichen Erklärung, daß er bereit ist, als Agent für die NKWD zu arbeiten. Daraufhin wird er entlassen. Er kehrt in die Werkstatt zurück und erzählt seinem Meister ahnungslos, was sich abgespielt hat. Der Meister, Mitglied der SED, berichtet seiner Partei, diese dem Staatssicherheitsdienst. Zweite Verhaftung durch die Sowjets. Zehn Jahre Zwangsarbeit wegen Bruchs der Schweigeverpflichtung.

Mit der Elastizität der Nachkriegsjugend hat er sich an seine neue Situation akklimatisiert. Er hat begriffen, daß er hier mit seinen zehn Jahren ein Günstling des Schicksals ist. „Wenn ich herauskomme, bin ich siebenundzwanzig. Vielleicht kann ich im Lager was lernen, Schlosser oder Monteur. Ob sie mich nach zehn Jahren wieder nach Hause lassen?“

Ich tröste ihn:

„Natürlich werden sie Dich wieder nach Hause lassen.“

Die Hitze dieser Sommernacht ist in unserem Waggon unerträglich. Wir haben dem „Starik“ die Sitzbank eingeräumt. Sein Gesicht ist blau-rot, er hechelt nach Luft. Um Mitternacht verteilt der Posten einen Eimer Wasser. Jede Zelle erhält einen Becher. Die drei Soldaten in der Zelle gegenüber trösten ihren „Starik“:

„In Rußland gibt es reichlich Wasser. Dort ist Kommunismus, Wasser kannst Du trinken, soviel Du willst.“

Der Zug fährt durch die ehemals deutschen, jetzt polnischen Gebiete östlich der Oder. In zahlreichen Städten und Dörfern sind die Zerstörungen des Krieges noch sichtbar. Verwahrloste Häuser, menschenleere Bahnhöfe. Nur wenige Felder sind bebaut. Das Unkraut wuchert. Mannshohe Disteln blühen.

Der junge Berliner fragt mich:

„Wo hast Du früher gearbeitet?“

„Ich bin Arzt.“

Er schweigt und sieht mich fragend und ein wenig verlegen an.

„Du kannst ruhig du sagen, das stört nicht.“

Dann die übliche Frage:

„Wieviel Jahre?“

„Fünfundzwanzig! “

„Welcher Paragraph?“

„ 58/6, Spionage!“

„Warst Du tatsächlich Spion?“

„Nein.“

„Na, und?“

„Die Spionage war nur ein Vorwand, mich zu verurteilen.“

Er versteht. Er hat die Erfahrung der NKWD-Gefangenen und kennt genügend solcher Fälle.

„Hast Du eine Praxis gehabt?“

„Nein.“

„Warst Du im Krankenhaus?“

„Auch nicht. Ich arbeitete in der Zentralverwaltung Gesundheitswesen der sowjetischen Besatzungszone.“

„Im jetzigen Gesundheitsministerium?“

„Ja.“

Pause. Er denkt nach. Dann fragt er unbefangen:

„Warst Du Kommunist?“

„Ja.“

„Schon lange?“ „Zwanzig Jahre.“

Er lächelt ein wenig.

„Mein Vater war auch Kommunist. Er sagte immer, wenn die Russen kommen, wird es besser.“

1943 ist er bei einem Bombenangriff verschüttet worden.

„Kommt es Dir komisch vor, daß Du als früherer Kommunist jetzt in diesem Wagen fährst?“

„Nein, ich denke, das muß so sein.“

„Warum?“

„Bin ich der erste Kommunist, den Du bei der NKWD kennenlernst?"

„Das stimmt, in der Sammelstelle waren viele.“

„Und warum waren Sie verhaftet?“

„Weil ihnen die Richtung nicht mehr paßte.“

Er hat begriffen.

„Vielleicht führe mein Vater jetzt auch mit uns, wenn er noch lebte. Er wäre jetzt zweiundsechzig.“

Nach einer Weile sagt er:

„Es ist besser, daß er die Russen nicht mehr erlebt hat.“

Pause. Dann: * „Du hattest es doch nicht nötig, warum bist Du eigentlich Kommunist geworden?“

„Wegen der Reblaus!“

„Wegen der Reblaus?“

„Du weißt, was eine Reblaus ist?“

„Natürlich, aber was hat sie mit Deinem Kommunismus zu tun?“

„Ohne die Reblaus wäre ich nicht Kommunist geworden!“

„Das verstehe ich nicht." „Es ist ganz einfach. Vor etwa siebzig Jahren zerstörte die Reblaus die Weinberge bei uns am Rhein. Die Winzer wurden Arbeiter in den neu-eröffneten Basaltsteinbrüchen. In einem solchen Steinarbeiterdorf bin ich groß geworden. Viele Familien waren arm. Das Übliche: Kinder ohne Schuhe, Schwarzbrot mit Rübenkraut, Tuberkulose. Mit fünfundvierzig sind die Männer Invaliden. Dann war ich auf dem Gymnasium mit den Kindern der »Reichen'zusammen. Tennisklub, Ruderboote, Erdbeeren mit Sahne. Im Anfang störte mich das nicht. Mit fünfzehn fing ich an nachzudenken. Ich schrieb an die Redaktion einer sozialistischen Zeitung und bat um Literatur. Sie empfahlen mir Kautsky, Bernstein und andere.“ „Aber das waren doch Rechte!“

„Woher weißt du das?“

„Aus der FDJ-Schule."

„Es blieb nicht bei den Rechten. Ich entdeckte die Linken.“

„Lind dann?“

Ich erzähle von der Emigration, von meiner Rüskkehr nach Deutschland, der illegalen Arbeit und den Gefängnissen der Gestapo.

„War das schlimmer als jetzt?“

„Nein, das hier ist schlimmer!“

Ich erzähle ihm die Geschichte jenes Mitarbeiters der satirischen Zeitschrift „Ulenspiegel". Er veröffentlichte — ich glaube im „Nebelspalter“ folgende Karikatur:

Eine Landkarte von Deutschland. Die Ostzone ist von den Westzonen durch eine hohe Mauer getrennt. Das Territorium der Bundesrepublik ist ausgefüllt mit einer fetten Gans. Östlich der Mauer steht ein magerer Fuchs, dessen Physiognomie mit dem Schnurrbart Stalins verziert ist. In dem buschigen Schwanz steht: UdSSR. Die Schwanzspitze liegt ungefährt da, wo wir jetzt fahren. Der Fuchs sagt zur Gans: „Komm herüber, wir wollen uns vereinigen!“

Ähnliche Karikaturen hat er auch gegen die Nazis gemacht. Die Gestapo gab ihm dafür Berufsverbot.

Die NKWD ist großzügiger. Sie verhängte ihre „Norma" von fünfundzwanzig Jahren.

Fünf Minuten hält der Zug auf einer großen Station: Neu-Bentschen. Es ist die Station der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze. Von dort ab ändert sich das Bild der Landschaft. Die Dörfer sind bevölkert und gepflegt. Auf den Feldern Kuhherden und vereinzelte Traktoren. Die Zug-folge der uns entgegenkommenden Transporte wird dichter. Ganz offensichtlich konzentrieren die polnischen Sowjets ihre Anstrengungen zunächst auf die Restauration Zentralpolens. Ich erinnere midi einer Unterhaltung vor nur anderthalb Jahren, in der ein Freund seine Reise durch die polnische Volksdemokratie und einen Besuch bei Freunden in der Regierung Cyrankiewicz schilderte.

Er traf dort einen polnischen Kommunisten, mit dem er die Jahre 1943 bis 1945 im Konzentrationslager Mauthausen verbracht hatte.

„Nun“, fragte der Deutsche seinen alten polnischen Freund, „ganz unter uns, was ist mit euren Westprovinzen? Gebt ihr sie wieder heraus?“

„Ganz unter uns“, antwortete der Pole, „wir haben sie gar nicht haben wollen! Und wir wären froh, wenn wir sie mit Anstand wieder los wären.“

Gegen Mittag erreicht unser Zug Posen, jetzt Poznan, am Abend Kutno.

Um Mitternacht durchfahren wir die Hauptstadt Polens. Boulevards und Straßen sind hell erleuchtet.

Der Zug fährt, ohne zu halten, durch die Stadt und überquert langsam die Weichsel. Noch lange sind die Lichter der Uferstraße sichtbar. Dann nimmt das Dunkel der östlichen Ebenen uns auf, und ich fühle:

Warschau war der Abschied von Europa.

* Am späten Vormittag hält der Zug an der polnisch-sowjetischen Grenze. Ein Offizier der polnischen Grenzwache zählt die Gefangenen des Waggons und vergleicht das Resultat mit der Transportliste unseres sowjetischen Wachkommandos. Er steigt aus, der Zug fährt an. Eine Brücke über einen seichten Fluß: der Bug. Der Zug rollt noch eine Weile durch ein Niemandsland aus Stacheldrahtverhauen, Unterständen, Bunkern und Schußfeldern. Neben der europäischen Normalspur tauchen Breitspurgeleise auf. Dann halten wir auf einem riesigen Güterbahnhof.

Ein Schild auf russisch: Brest-Litowsk. Vorerst bleiben wir in unserem Waggon. Es ist der dritte Tag unter einem wolkenlosen Himmel. In den Zellen herrscht die Temperatur eines Backofens. Die Gefangenen haben ihre Oberkörper entblößt. Viele sitzen gänzlich unbekleidet. Wir haben Durst. Es gibt kein Wasser. Am Nachmittag wird die Lebensmittelration für zwei Tage verteilt: ein steinharter, getrockneter Salzhering und ein Kilo Brot. Sowjetisches Brot. Es ist schwarz und naß. Es ist das schlechteste Stück Brot, das ich je in meinem Leben in der Hand gehalten habe.

Am Abend wird ausgeladen. Wir formieren uns neben unserem „Dienstwagen der Deutschen Reichsbahn“, umgeben von einem Konvoi grünbemützter Soldaten mit schußbereiten Maschinenpistolen. Die Begleitpapiere werden geprüft.

„Im Schritt marsch!“

In einigen hundert Metern Entfernung steht der sowjetische Gefangenentransportwagen, der uns weiterbefördern wird. Dieser Waggon heißt „Stolypinskij", wird mir gesagt, nach dem zaristischen Minister Stolypin, der ihn vor vielleicht fünfzig Jahren eingeführt hat. Für die Sowjets bestand keine Veranlassung, einen zweckmäßigeren Typ als den zaristischen zu entwickeln. Der „Stolypinskij" hat die Länge eines D-Zug-Waggons und enthält sechs Abteile, die mit schweren eisernen Gitter-türen verschlossen werden und von einem seitlich gelegenen Gang zugänglich sind. Jedes Abteil ist dreigeschossig. Im Parterre befinden sich zwei Bänke, auf denen zehn Gefangene sitzend Platz finden. Im ersten Stockwerk, das durch eine Einsteigluke zu erreichen ist, können fünf Menschen nebeneinander liegen. In der obersten Etage, unter dem Dach, sind rechts und links zwei Holzbänke angebracht, auf denen nochmals je ein Gefangener liegend kampieren kann. Ein Abteil faßt also legal siebzehn Menschen, von denen sieben liegen, ausruhen und schlafen können. Das ist wichtig für die transkontinentalen Transporte nach Sibirien, Zentralasien und in die Arktis, auf denen die Gefangenen wochenlang aus ihren Abteilen nicht herauskommen.

Das Begleitkommando hat ein Domizil in einem zweiten Waggon, der mit einer Funkantenne versehen ist. Hier residiert der Transportleiter, ein Offizier, der nur selten in Erscheinung tritt, sondern die Arbeit seinem „Sergeant“, seinem Spieß, überläßt.

Die Innenarchitektur eines „Stolypinskij" war uns Deutschen unbekannt. Als wir dahinterkommen, daß überhaupt Liegeplätze existieren und daß es wichtig ist, einen solchen Liegeplatz zu erwischen, ist es zu spät. Alle Liegeplätze sind bereits von den Kindern des Landes okkupiert, die sich offensichtlich in den „Stolypinskijs“ bestens auskennen. Und wir beginnen zu begreifen, daß wir Ausländer es in diesem Lande nicht leicht haben werden.

Bis zur Abfahrt steht der Waggon noch einige Stunden. Durch einen schmalen Schlitz, den der Vorhang des Korridorfensters frei läßt, sehe ich eine breite, zerfahrene Straße, Lehmhütten, die mit Stroh gedeckt sind, und einen beinamputierten Invaliden mit jener grotesken Holz-prothese, die bei uns zur Zeit Napoleons üblich war. An einem zerfallenen Holzzaun knabbert eine dürre Ziege. Zwei Hühner baden im Staub der Straße. Das Bild ist von der trostlosen Melancholie Gogolscher Dörfer, die von toten Seelen bevölkert sind.

In der Nacht ist unser Zug über Baranowitschi, Minsk und Borissow nach Orscha gefahren.

Das Gefängnis Orscha ist ein riesiger Komplex. Lim einen massiven, mehrstöckigen, speziell bewachten Betonbau für die Politischen gruppieren sich Ziegelsteinhäuser, Holzbaracken und Wirtschaftshöfe.

Wir können baden, unsere Kleidung wird desinfiziert. Dann werden wir in Sammelzellen untergebracht. Zum ersten Mal seit Berlin-Lichten-berg gibt es warme Verpflegung: eine wässerige Fischsuppe, ein wenig „Kasch“, das ist ein Brei aus Hafer oder Hirse, ein Stück Brot. Wir können ausruhen nach den Strapazen einer Reise, die fast eine Woche gedauert hat. Lind ich kann mich nicht erinnern, jemals in einem Hotel besser geschlafen zu haben, als auf diesen harten „Naren“, den Pritschen, in Orscha. In einem niedrigen, einstöckigen Haus an der Wache sind gefangene Frauen untergebracht. Viele von ihnen haben Säuglinge und Kleinkinder, die mit den Müttern im Gefängnis leben. Ein russischer Gefangener, der die Worte unseres Erstaunens versteht, sagt in gebrochenem Deutsch:

„Warum schlecht? So besser! Mutter Gefängnis. Was Kind machen ohne Mutter?! Besser Kind auch Gefängnis.“

Das zweite Phänomen sind die zahlreichen kleinen „Besprisornye", jugendliche Verwahrloste zwischen sechs und vierzehn Jahren, barfüßig, zerlumpt und kahlgeschoren. Sie bewohnen Separatzellen. Wenn einer der holzumsäumten Spazierhöfe für ihren täglichen halbstündigen Ausgang geöffnet wird, ist es, als ob ein Rudel kleiner wilder Tiere aus seinem Zwinger in die Manege gelassen wird. Lim jeden Zigarettenstummel entspinnen sich Prügeleien. Sie stürzen sich auf jeden Fetzen Papier, jede Krume Brot. Ehe sie wieder in ihre Zelle getrieben werden, . durchwühlen sie blitzschnell eine große Mülltonne, die den ganzen Kehricht des Gefängnishofes enthält.

Von dem vergitterten Fenster unserer Zelle, die im 4. Stock gelegen ist, können wir auf die Kreuzung zweier großer Bahnlinien hinunter-sehen: Brest-Litowsk-Moskau und Leningrad-Kiew. Unaufhörlich fahren Transportzüge. Wir haben einen weiten Ausblick über die'grünen Ebenen Weißrußlands mit Dutzenden von kleinen Dörfern, deren Kirchen von Zwiebeltürmen gekrönt sind. In der Ferne steht ein weißer Silo, riesig, aber schief wie der Turm von Pisa.

Der blaue Himmel über Orscha ist bevölkert von Düsenjägern, die in der Nähe, hinter dem Horizont, ihre Flugplätze haben müssen. Ein ehemaliger deutscher Flieger, der den ganzen Tag am Fenster steht und sehnsüchtig die Maschinen beobachtet, sagt:

„Es sind unsere Typen, aber sie sind schneller als vor fünf Jahren.

„Und wie fliegen die Russen da oben?“ frage ich.

„Nicht schlechter als wir!“

* Nach einer Woche richte ich mich wieder im „Stolypinskij“ ein. Mir ist, als hätte ich ihn nie verlassen.

Als der Zug einen Tag später in Moskau hält, auf einem Bahnhof, dessen Namen ich nicht kenne, fällt mir ein, daß 1929, vor mehr als zwanzig Jahren, erstmalig der Wunsch in mir aufkam, diese Stadt zu sehen. Damals war ich sechzehn Jahre alt. Ich hatte Lenin entdeckt und begeisterte mich an den präzisen Formulierungen in Bucharins „ABC des Kommunismus“. Ich las John Reed, Isaak Babel, Boris Pilnjak und Tretjakow. Und immer wieder kreisten meine Gedanken um diese Stadt, in meinen Vorstellungen die Keimzelle einer neuen, besseren Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht mehr existieren würde. Wie anders ist die Wirklichkeit an diesem Juni-abend 1950! Wir klettern aus dem Waggon. Der Bahnsteig ist abgesperrt. Der Zug verlangsamt seine Fahrt, bremst und hält. Wir sind am Ziel: Workuta ) *. Die Gittertüren des Gefangenenwaggons werden aufgeriegelt. Der Posten brüllt ein Kommando.

„Einzeln heraustreten“, übersetzt mir Serjoscha.

Wir klettern aus dem Waggon.

„Zu fünft antreten.“

Wir formieren uns zu einer Kolonne und werden gezählt: einhundert-dreiundzwanzig Mann, Ukrainer, Russen, Letten, Litauer, Kaukasier, Mongolen, Usbeken, Tadschiken, Japaner und zwölf Deutsche.

„Was geschieht jetzt?“ frage ich Serjoscha.

„Wir marschieren in die , Peresilka'(Verteilungslager). Es ist ein Lager, in das zunächst alle Neuankommenden gebracht werden. Von dort aus erfolgt die Verteilung auf die einzelnen Schachtlager.“

„Wie lange bleiben wir hier?“

„Mindestens ein bis zwei Wochen, vielleicht länger.“

Ein Sergeant, der Chef des Konvois ) *, * leiert mit lauter, schneller, hoher und monotoner Stimme eine Mitteilung herunter.

„Er sagt“, übersetzt mir Serjoscha, „es ist während des Marsches verboten zu sprechen, herumzusehen und wegzulaufen. Wenn jemand weg-zulaufen versucht, wird geschossen.“

Die Kolonne setzt sich in Bewegung, begleitet von einem Dutzend Posten mit „Balalaikas“. Balalaika heißt im Gefangenenjargon die Maschinenpistole. Den Schluß bilden Soldaten mit Schäferhunden.

Wir marschieren über das Bahngelände, an niedrigen, einstöckigen Wohnbaracken vorbei über einen von Regen aufgeweichten Weg zur „Peresilka“. Vor dem Tor werden wir einzeln aufgerufen. Wir müssen Vornamen, Vatersnamen, Geburtstag, Paragraph, Strafmaß und das Ende der Strafe angeben. Die letzten drei Punkte sind bei fast allen Gefangenen identisch. Sie haben den berüchtigten § 5 8, die Einheimischen meist 58, 1, Landesverrat, die Ausländer 5 8, 6, Spionage. Fast alle sind zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt. Ende der Strafe 1973, 1972, 1974, 1973, 1968. Die Fotos der Begleitpapiere werden mit den Gesichtern verglichen. Das kärgliche Gepäck wird kontrolliert. Einzeln gehen wir durch zwei große, mit Stacheldraht verkleidete Holztore in das Lager.

* Am Tor steht eine Gruppe Gefangener mit unverkennbar deutschen Physiognomien.

„Deutsche?" ruft uns einer von ihnen zu. „Ja.“

„Wo kommt ihr her?“

„Aus Berlin.“

„Wann seid ihr von Berlin weg?“

Maschinenpistolen sind auf uns gerichtet. Das heisere Gebell von Schäfer-hunden, die an ihren Ketten zerren, ist die Begrüßung.

Wir fahren im „Tschorny Woron", im „Schwarzen Raben“, durch die Stadt und spähen durch das kleine Fenster an der Rückwand der Tür. Breite, asphaltierte Prunkstraßen mit repräsentativen Kandelabern, Hochhäuser amerikanischen Stils. Und wieder schlechtestes Pflaster mit tiefen Schlaglöchern. Ein unvermindertes Nebeneinander von Neubauten und elenden Holzhütten.

In einem mehrstöckigen Gefängnis mit winzigem Innenhof werden wir ausgeladen. Das Übliche: Baden, Desinfektion, Fischsuppe, Schwarzbrot, Holzpritschen. Zur Abwechselung Wanzen. Wir bleiben drei Tage in Moskau.

* Wir rollen im „Stolypinskij" nach Norden, nur noch wenige Deutsche unter den zahlreichen Nationen der Sowjetunion. Moskau hat uns mit den Kindern des Landes gemischt. Wir fahren über Wologda in Richtung Archangelsk. In Konoscha biegen wir nach Osten ab. Die Einheimischen sagen:

„Es geht nach Workuta oder in die Waldlager des nördlichen Ural."

Die Strecke nach Workuta ist eingleisig. Zahllose kleine Stationen sind als Ausweichstationen ausgebaut. Auf ihnen warten die Kohlen-und Holzzüge aus dem Norden, während die Transporte aus dem Süden — mit Lebensmitteln, Holz und Gefangenen — Vorfahrt nach Workuta haben. Die Bahnlinie zieht sich durch einen Llrwald aus Fichten, Kiefern, Lärchen und Birken.

Allmählich, je weiter wir uns einen Breitengrad um den anderen nach Norden schieben — lichtet sich der Llrwald. Die Bäume werden kleiner und kleiner, um schließlich von niedrigem Gestrüpp abgelöst zu werden. Wir nähern uns dem Polarkreis. Lind dann beginnt die Tundra: eine unendliche Ebene mit niedriger Vegetation. Kleine, bis halbmeterhohe Hügel aus Zwergsträuchern, Moosen und Farnen sind ihre Kennzeichen. Wenn die Korridorfenster unseres Waggons von den Wachtposten einen Augenblick geöffnet werden, dringen Myriaden von Stechmücken herein. Sie beleben im Sommer die Heimat der Rentiere, Schneehühner, Polar-füchse und der Gefangenen . ..

Peresilka

„Vor sechs Wochen.“

„Ick wer'varrickt“, sagt der Fragesteller in unverfälschtem Berlinisch.

Sofort sind wir von einem ganzen Trupp Deutscher umringt, die uns mit tausend Fragen überfallen. Es ist unmöglich, alles gleichzeitig zu beantworten. Wir schaffen uns mühsam Luft und fragen unsererseits: „Was macht ihr denn hier?“

„Wir wollen jetzt nach Hause fahren!“

„Wart ihr lange hier?“

„Uns reicht es!“

Es stellt sich heraus, daß die „Peresilka“ mit zwölfhundert deutschen Kriegsgefangenen bevölkert ist, die in den letzten Tagen aus den Lagern hier zusammengezogen worden sind. Sie waren zum Teil vier, fünf, sechs und mehr Jahre in Workuta.

„Nun kommt erst mal mit und erzählt, wie es in Deutschland aussieht.“

Sie nehmen uns mit in ihre Baracken und verteilen uns. Um jeden Neuangekommenen bildet sich ein Kreis von fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Kameraden, die uns in ein Kreuzverhör von Fragen nehmen.

„Wie sieht es in Berlin aus?“

„Denken sie zu Hause eigentlich noch an uns, oder haben sie uns vergessen?“

„Sind die Kriegsgefangenen aus den Lagern nach Hause gekommen?“

„Kann man in Berlin von einem Sektor in den anderen fahren?“

„Was denken unsere Angehörigen, wenn sie nichts mehr von uns hören?“

„Wissen sie, daß Kriegsgefangene in Workuta sitzen?“

„Wissen die zu Hause überhaupt, daß Workuta existiert?“

Keiner von ihnen hat von Workuta aus schreiben dürfen. Keiner von ihnen hat in Workuta jemals eine Nachricht empfangen.

Alle diese Kriegsgefangenen sind in ihren Lagern verhaftet und von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden, fast alle zu fünfundzwanzig Jahren. Ihre „Verbrechen“ sind verschiedener Art. Manche haben aus Hunger in Kriegsgefangenenlagern ein paar Kohlköpfe oder einige Kilo Kartoffeln gestohlen. Andere waren Angehörige von Formationen, die zur Partisanenbekämpfung eingesetzt waren. Die SS-Leute sind verurteilt, weil sie bei der SS waren, Generäle, weil sie Generäle, Stabsoffiziere, weil sie Stabsoffiziere waren. Einem General ist zum Vorwurf gemacht worden, daß in seinem Divisionsbereich aus einer Kolchose siebzehn Hühner verschwunden sind. Einem Arzt wird vorgehalten, daß in dem von ihm geleiteten Lazarett sowjetische Bürger deshalb gestorben sind, weil in dem Essen Maden enthalten waren. Der Arzt, der seine Gastgeber kannte und über genügend Galgenhumor verfügte, antwortete:

„Erstens gibt es in einem deutschen Lazarett keine Maden im Essen, zweitens bin ich bereit, im Beisein des Gerichtes ein Kilo Maden zu verzehren zum Beweis dafür, daß Maden ungiftig sind.“ Das Gericht lehnte sein Angebot ab und verurteilte ihn zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit.

Ein katholischer Ordenspriester von den Steyler Missionaren erhielt fünfundzwanzig Jahre wegen religiöser Propaganda, ein bekannter Düsseldorfer Maler ebenfalls fünfundzwanzig Jahre, weil bei ihm ein Skizzen-album mit Physiognomien sowjetischer Wachtposten gefunden wurde.

Unsere neuen Freunde verfügen über einen reichen Schatz an Lager-erfahrung. „Es ist schwer, manchmal sehr schwer, hier zu existieren, aber ihr seht, wir sind nicht eingegangen."

Die schwersten Jahre waren die bis 1947. Wer in dieser Zeit schon in Workuta war, lebt nur noch versehentlich. Auch jetzt ist es nicht leicht.

Niemand kann von seiner Ration leben. Fast alle haben Hunger, aber das Massensterben der Jahre 1942 bis 1947 hat aufgehört.

„Jetzt“, sagen die alten Lagerhasen, „hat man eine Chance durchzukommen. Aber man darf natürlich nicht lange hier sein. Das Klima ist mörderisch. Wer länger hier bleibt, kriegt seinen Knacks weg.“

Die Unterhaltung geht den ganzen Nachmittag. Am Abend verspüre ich Hunger. Idi ziehe den Sack mit meinen Habseligkeiten unter der Pritsche hervor, um ein Stück Brot herauszunehmen. Der Sack ist ausgeschnitten. Mein Jackett, das ich vorsichtshalber im Sack verstaut hatte, damit es nicht gestohlen wird, fehlt. Die Landser lachen über mein verdutztes Gesicht. Einer sagt:

„Natürlich hätten wir euch gleich sagen müssen: paßt auf eure Sachen auf. Aber das haben wir vor lauter Freude, mal was über Deutschland zu hören, vergessen. Ihr kennt diese Verbrecher noch nicht.“

Eine ausgezeichnete Arbeit! Während ich mich unterhalte, kriecht ein Krimineller unter die Pritsche, schneidet, ohne daß ich es merke, den Boden meines Sackes auf, der zu meinen Füßen unter der Pritsche liegt, und verschwindet wieder. Das Jackett ist weg. Man würde mir ein Vermögen dafür gezahlt haben.

Die Kriegsgefangenen empfehlen, den restlichen Besitz, Hose und Sommermantel, schleunigst zu verkaufen, ehe die Kriminellen ihn mit Gewalt nehmen. Ein Kamerad aus Wuppertal nimmt sich der Sache an. Er verhandelt in der Baracke, in der Gefangene wohnen, die ihre Strafe verbüßt haben und Zivilsachen kaufen, weil sie entlassen werden. Ich bekomme fünfundsiebzig Rubel, für Lagerverhältnisse eine große Summe.

Ein Kriegsgefangener schenkt mir eine Wattehose. In der Bekleidungskammer erhalte ich eine Wattejacke, russisch: Buschlat. Jetzt unterscheide ich mich in der Aufmachung kaum mehr von den Alten.

Am anderen Morgen bin ich Zeuge eines „Meetings“ der Kriegs-gefangenen. Ein sowjetischer Major hält eine Ansprache.

„Ich habe den Auftrag, Ihnen im Namen der Verwaltung der politischen Lager in Workuta mitzuteilen, daß Sie jetzt in Ihre Heimat zurückkehren.“ Die Kriegsgefangenen grinsen. Einer macht einen Zwischenruf:

„Diese Mitteilung höre ich heute zum zwölften Male, und ich bin immer noch in der Sowjetunion.“

Der Major wird ungehalten.

„Wenn ich Ihnen im Namen der Verwaltung offiziell eine solche Mitteilung mache, haben Sie kein Recht, diese Mitteilung anzuzweifeln.“

Die Kriegsgefangenen grinsen wieder. Der Major spricht wahrscheinlich guten Glaubens. Die Verwaltung Workuta schickt ihn vielleicht sogar guten Glaubens. Aber sie haben die untrügliche Witterung dafür, daß es sich um einen sowjetischen Bluff handelt. * Als Zar Nikolaus I. (1825— 18 55) von seinen Ratgebern vorgeschlagen wurde, die Gegend um die Flüsse Petschora und Workuta zum Verbannungsgebiet zu erklären, ließ er sich einen Bericht über die dortigen Lebensbedingungen geben und entschied dann: „Es kann keinem Menschen zugemutet werden, dort zu leben.“

Inzwischen haben wir keinen Zaren mehr, sondern ein Politbüro. Und die Region von Workuta hat als Verbannungszone einen zusätzlichen Reiz gewonnen: dieser äußerste Zipfel der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Komi birgt Kohlenvorkommen von einigen Milliarden Tonnen, die in dem unwirtlichen Klima am 68. Breitengrad nur von Zwangsarbeitern ausgebeutet werden können.

Denn freiwillig geht niemand in die Arktis.

Ein Teil der Freien setzt sich aus Volksdeutschen zusammen, die, vor allem in den Jahren 1940/41, zu Hunderttausenden in die nördlichen Rayons und zu Zehntausenden nach Workuta verschleppt wurden. Nach der Besetzung der baltischen Länder 1940 erfolgten die Massendeportationen von Litauern, Letten und Esten. Gleichzeitig begann die Aus-siedlung der Westukrainer. Diese Gruppen bilden heute das Gros der Bevölkerung von Workuta, die in der Stadt selbst auf etwa 70 000, in den zu den Schächten gehörenden Dörfern der Umgebung Workutas nochmals auf 50 000 geschätzt wird. Die „Aristokratie“ dieser Stadt besteht aus Offizieren der NKWD-Zentrale sowie den Technikern und Verwaltungsbeamten des „Kombinats Wokutugolj“, in dem die Schächte verwaltungsmäßig zusammengefaßt sind.

Die Bevölkerung ergänzt sich laufend aus entlassenen Gefangenen, die ihre Strafe verbüßt haben, denen die Erlaubnis, in die Heimat nach Süden zurückzukehren, jedoch stets versagt wird.

Es gibt vielleicht dreißig Schächte; ihre laufende Numerierung reicht bis 40, aber dazwischen liegen solche, die nicht über die Projektierung hinausgekommen sind. Und neben jedem Schacht liegt das Barackenlager für die Bergleute und die übrigen Sklavenarbeiter; rund dreißig solcher Lager gibt es, durchschnittlich sind sie mit 3 500 Mann belegt.

Die Schächte Workutas unterstehen dem Ministerium für Kohlenindustrie. Zu jedem Schacht gehört ein Lager, das dem MGB untersteht. Es gibt übrigens zwei Gruppen von Lagern; die einen sind ausschließlich für politische Häftlinge, sie heißen Regimelager. Dreizehn von den Lagern Workutas sind solche Regimelager, die innerhalb des MGB wieder einem besonderen Chef unterstehen. Die übrigen Lager des Rayons heißen Workut-Lager und sind belegt mit kriminellen und leichteren politischen Fällen; in ihnen ist die Disziplin nicht so streng, es gibt z. B.

bei guter Führung einen Passierschein für Stadturlaub. Der Schacht mietet vom Lager die Gefangenen als Arbeitskräfte und zahlt je nach der geleisteten Arbeit pro Monat und Kopf an das Lager eine bestimmte Summe, im Durchschnitt etwa 1200 Rubel.

„Kann man von hier aus fliehen?“ frage ich die Kameraden, die schon Jahre hier oben verbracht haben.

Sie lachen.

„Glaubst du, wir wären dann noch hier?“

Sie schildern mir die Bewachung der Lager.

Jedes Lager ist umgeben mit einem etwa dreieinhalb Meter hohen Stacheldrahtzaun. Entlang der Innenseite dieses Zaunes zieht sich die etwa sechs Meter breite „Sapretnaja Sona“, die verbotene Zone; wer sie betritt, wird von den das Lager umsäumenden Postentürmen aus beschossen. Im Stacheldraht sind Selbstschüsse eingebaut. Die Türme sind durch Telefon miteinander verbunden, und eine elektrische Alarmanlage verbindet die Postentürme mit der „Division“, der Kaserne der Bewachungsmannschaften. In Abständen von zehn bis fünfzehn Metern sind starke Scheinwerfer aufgestellt, die in der Dunkelheit Stacheldraht und Todeszone taghell erleuchten. Außerhalb des Lagers verlaufen parallel zum Stacheldraht lange Stahltrossen, die als Führungsdraht für Polizeihunde dienen. Wird Alarm gegeben, z. B. bei einer Störung der elektrischen Beleuchtung, so ist das Lager schon nach wenigen Minuten von einem Spezialkommando eingekreist, das dauernd in Bereitschaft liegt.

Doch das Bewachungssystem des Lagers wäre zu durchbrechen unter dem Schutz der polaren Nebel, die häufig mit unvermuteter Heftigkeit hereinbrechen, oder in den dichten Schneestürmen. Unüberwindlich aber bleibt die Tundra. Ihre niedrige Vegetation bietet weder Versteck noch Unterschlupf. In getarnten Unterständen hocken Posten und suchen mit Ferngläsern das wellige Gelände ab. Täglich kreisen über dem Gebiet in wenigen hundert Metern Höhe die charakteristischen, langsam fliegenden Doppeldecker, von den Landsern im letzten Kriege „Nähmaschinen benannt, die systematisch Planquadrat um Planquadrat nach Verdächtigen absuchen.

Die einzigen Bewohner der Tundra, die Komis, ein den Samojeden verwandter Stamm, erhalten für jeden Flüchtling, den sie der Miliz in die Hände spielen, eine Kopfprämie, die ein Vielfaches ihres Jahresverdienstes beträgt.

Trotz allem werden jedes Jahr regelmäßig Fluchtversuche unternommen, und ebenso regelmäßig werden die Flüchtlinge in das Lager zurückgebracht, aus dem sie entflohen sind. Dort wird ihr Fluchtweg rekonstru-iert. Früher wurden die Flüchtlinge regelmäßig erschossen und lagen zur allgemeinen Abschreckung einige Tage am Tor des Lagers. Heute werden sie nur halbtot geschlagen.

Von allen Gefangenen, die während meines Aufenthaltes in Workuta geflohen sind, ist nur ein Finne nicht in unser Lager zurückgebracht worden. Aber auch von ihm weiß niemand sicher, ob er in die Heimat entkommen ist.

* Am nächsten Tage lerne ich Dr. Denk kennen, den früheren Vizepräsidenten des Deutschen Caritasverbandes, eine der führenden Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus. Er ist gemeinsam mit den Kriegs-gefangenen in die „Peresilka" übergeführt worden. Seine körperliche Verfassung ist schlecht. Er befindet sich im Zustand einer mittelschweren Hungerdystrophie, aber sein Geist konnte durch die Jahre der Haft nicht gebrochen werden.

Auf einem Bretterstapel hinter einer Baracke erzählt er mir seine Odyssee.

Zur Zeit der Eroberung Berlins durch die Russen befindet er sich in Berlin, bereits ausgerüstet mit Empfehlungsschreiben des Vatikans an die Oberkommandierenden der Besatzungsmächte. Er hat Berlin nicht verlassen, um die Interessen des Caritasverbandes legitimiert vertreten zu können. Als er sich bei der zuständigen sowjetischen Instanz vorstellt und sein Empfehlungsschreiben vorlegt, wird er als „Spion des Vatikans“

verhaftet und noch Ende April 1945 im Flugzeug nach Moskau gebracht.

Er sitzt einige Jahre in den berüchtigten zentralen MGB-Gefängnissen Lubjanka, Lafortowsskaja und Butirka. Dr. Denk hat sich nicht des geringsten Vergehens gegen die Sowjets schuldig gemacht. Man interessiert sich auch gar nicht für seinen persönlichen Fall. Die Vernehmungen erfolgen vielmehr durch Beamte des Ressorts „Katholizismus“ der Moskauer MGB-Zentrale. Sie versuchen sich ein Bild zu machen von jener ihnen unheimlichen Macht, deren Einfluß und Stabilität sie um so mehr fürchten, als ihnen die metaphysische Basis der Kirche unerklärlich ist.

Dem MGB ist bekannt, daß Dr. Denk ein sehr naher persönlicher Freund des jetzigen Papstes, des damaligen Nuntius Pacelli, aus dessen Münchener und Berliner Zeit ist. Eines Tages, im Rahmen zahlreicher und ausgedehnter Fragen über die Psychologie des Papstes, fragt der Tschekist:

„Sagen Sie mir bitte, glaubt nun der Papst wirklich an Gott, oder tut er nur so?“

In einer Broschüre über den Alltag des Papstes hat der Untersuchungsrichter gelesen, daß der Papst jeden Morgen in einer goldenen Badewanne badet, die ihm von amerikanischen Katholiken geschenkt worden ist.

„Warum badet der Papst in einer goldenen Badewanne?“

„Was denkt der Papst über Marx?“

„Ist der Papst ein Gefangener der Jesuiten?“

‘ * Bevor ich nach Workuta kam, habe ich in meinem ganzen Leben nur einmal, 1941, einen leibhaftigen General gesehen. Er hielt im Speisewagen eines D-Zuges einen jener Tische besetzt, die für vier Gäste vorgesehen sind, und verzehrte mit düsterer Miene unter den respektvollen Blicken des Publikums ein Wiener Schnitzel. Dazu trank er Rotwein, der nach der Eroberung Frankreichs in Deutschland billig zu haben war.

Es war zur Zeit des Dinners. Im Korridor des überfüllten Speisewagens stauten sich die Gäste, aber niemand wagte, sich auf einen der drei freien Plätze im Okkupationsgebiet des Generals zu setzen.

Schließlich nahten drei Franzosen, offensichtlich „Fremdarbeiter“, die auf Urlaub nach Hause fuhren. Sie begrüßten den General ebenso höflich wie zwanglos und setzten sich an seinen Tisch mit der vermutlich gleichen Selbstverständlichkeit, mit der der General sich vor noch nicht einem Jahr in die Schlösser der Loire gesetzt hatte. Der General runzelte die Stirn, der Oberkellner machte einen vergeblichen Interventionsversuch, das Publikum gab ein Murmeln gedämpfter Entrüstung von sich, die Franzosen störten sich an nichts, sondern bestellten »Le meme diner que notre voisin«.

Ich hätte sie umarmen mögen.

Seit dieser Szene sind neun Jahre vergangen, in denen ich nie das Vergnügen hatte, wieder einen General zu sehen. Jetzt aber entschädigt mich das Schicksal: in dieser „Peresilka" werden mir dreißig Generäle *• serviert. Sie bewohnen die Pritschen auf der linken Seite einer Baracke, ich habe meinen Platz rechts. Ich sehe, was sie treiben, und ich höre, was sie sprechen. Es ist gespenstisch. Sie reden einander in der dritten Person an, wobei sie den Rang des anderen in die Anrede mit einbauen. Morgens erkundigt sich der Generalmajor beim Generalleutnant:

„Haben Herr Generalleutnant gut geruht?“

Und der Generalleutnant fragt seinen Nachbarn:

„Wie haben Herr General geschlafen?“

Beim Tee aber sagt der General:

„Darf ich Herrn Generaloberst meinen Zucker anbieten?“

Schließlich werden die Generäle durch die Kommandantur der „Peresilka“ aufgefordert, die Anrede „Herr General“ zu unterlassen. Vergeblich; die Generäle fahren fort, im Jargon der Generäle zu reden. Der Kodex ihrer Anreden in der dritten Person ist für sie das Korsett der Seele, die verblichene, goldene Paspelierung der Feldmützen ihre Substanz. Kriegserinnerungen füllen den Tag, die Blitzkriege in Polen und Frankreich sind ihr Lieblingsthema. Erinnerungen nach 1943 werden verdrängt. Von der Kapitulation sprechen sie in mannhaftem Schmerz. Der Horizont ihrer Gespräche reicht bis zur Mauer preußischer Kasernenhöfe.

Nach dem Kriege ist oft die Frage gestellt worden:

„Wie konnte die deutsche Armee einen Hysteriker und Neuropathen als obersten Kriegsherrn dulden?“

Die Antwort sitzt schräg unter mir auf ihren „Naren“ und trinkt warmes Wasser mit ein wenig Zucker. Der Krieg Hitlers war die Chance dieser Generäle. Ohne ihn wären sie geblieben, was sie waren: Haupt-leute oder Majore mit der Aussicht, nicht in Jahrzehnten die Karriere zu machen, die sie während des Krieges in wenigen Jahren durchliefen. Ohne sie hätte er das Spiel seines militärischen Wahnsinns niemals treiben können. Noch jetzt, fünf Jahre nach dem vollständigsten Desaster, das ein Heer je erlebt hat, sind die Lehren des Zusammenbruchs spurlos an ihnen vorübergegangen. Sie haben nichts begriffen und werden nichts begreifen.

Die Landser kennen ihre Generäle besser als ich, sie sind seit 1939 von ihnen kommandiert worden. Sie sprechen nicht gern über ihre ehemaligen Chefs. Wenn man sie fragt, antworten sie mit einer resignierten Handbewegung, in der die Summe zahlloser Enttäuschungen beschlossen ist.

Diese Landser sind eine biologische Auslese. Sie haben jene unbeschreiblichen Jahre des Hungers überstanden, weil sie die zähesten und härtesten waren. Sie sind mit Platnois, Arbeitsnormen und Schneestürmen fertiggeworden. Es gibt nichts mehr, was sie zu erschüttern vermag.

Die Generäle haben sich durch bessere Lebensbedingungen konserviert.

Während die Landser in Ziegeleien, Bergwerken und Steinbrüchen arbeiteten, verbrachten die Generäle den polaren Winter in einer „Baracke für Generäle“, wo sie sich damit beschäftigten, einander mit Hochachtung zu begegnen.

• Einige Tage später kommt eine kleine Gruppe von etwa fünfzehn Gefangenen. Sie werden in die „Banja“ geführt, um zu baden und ihre Kleidung desinfizieren zu lassen. Ich gebe jedem nach Vorschrift ein kleines übelriechendes Stück selbstgekochter Fischtranseife. Ein Gefangener macht den Eindruck, aus Europa zu sein. Ich frage ihn:

„Sind Sie Deutscher?“

„Ich bin General Lasch, der letzte Kommandant der Festung Königsberg.“ Ich begrüße ihn im Namen der „Banja“, gebe ihm entgegen den Vorschriften weitere drei Stücke übelriechender Seife und bitte ihn in den Waschraum.

Eine Viertelstunde später sitzt ein Mensch, der fünf Jahre in sowjetischen Lagern gelebt hat, mit dem reduzierten, faltigen Gesäß der Dystrophiker auf einem Schemel vor unserem Ofen. Er kennt Workuta schon lange. Vor einem halben Jahr ist er von hier nach Moskau transportiert worden, um als Zeuge in einem Prozeß vernommen zu werden. Die letzten vier Monate hat er in der „Lubjanka“ verbracht.

Der General ist seit 1944 unaufhörlich vom Pech verfolgt. Bei der Invasion befindet er sich mit seinem Armeekorps in der Normandie.

„Was hat sich dort eigentlich abgespielt?" frage ich ihn. „Ich bin zurückgegangen, dauernd zurückgegangen! Was blieb mir sonst übrig?

Ich bin mit meinen Divisionen gelaufen bis an die Vogesen.“ In den Vogesen findet der Ärger des Generals über den dauernden Rückzug seinen Niederschlag in einer Gelbsucht. Er liegt einige Monate in einem Lazarett. Nadi der Genesung überträgt Hitler ihm die Verteidigung von Königsberg. Seine Verbände kämpfen bis zur letzten Patrone, dann ergibt er sich. Daraufhin wird er auf Befehl Hitlers wegen Feigheit vor dem Feinde in contumaciam zum Tode verurteilt. Einige Zeit später geben ihm die Russen fünfundzwanzig Jahre Strafarbeitslager.

Der General wäre für die „Platnois" mit seinem großen Sack Gepäck eine fette Beute. Ich erkläre ihm die Situation.

„Im Lager befinden sich ungefähr hundertfünfzig , Platnois'. Es ist nicht möglich, in den Baracken zu leben, weil sie jeden ausplündern, der noch etwas besitzt. Lim dieser Ausplünderung zu entgehen, arbeiten wir in der , Banja‘. Selbstverständlich würden wir Sie mit hereinnehmen, wenn nicht alle Arbeitsplätze schon besetzt wären. Wenn Sie einverstanden sind, bemühen wir uns um eine ähnliche Stelle für Sie, wo Sie tagsüber ein wenig arbeiten und nachts in Ruhe schlafen können.“ Es findet sich ein freier Platz in der Tischlerei. Tagsüber klopft der General dort Nägel gerade. Nachts ruht er mit einer für Lagerverhältnisse luxuriösen Bequemlichkeit in einem Berg von Hobelspänen.

Zwei Kriegsgefangene haben mir einen Job vermacht, der täglich ein Kilo Brot einbringt.

Ich trage Wasser für die Baracke der Schauspielerinnen. Diese Baracke liegt im Frauenlager der „Peresilka", das durch einen hohen Bretterzaun von den Männerbaracken abgegrenzt ist und eine besondere Bewachung hat. Wenn, wie jetzt zum Beispiel, „Platnois“ im Lager sind, müssen die Frauen außerdem durch besondere „Konvois“ vor der Liebe der Kriminellen geschützt werden.

Es ist zehn Uhr vormittags. Die Bewohnerinnen der „Palata" schlafen zum Teil noch, andere sitzen in Morgenröcken oder Pyjamas auf ihren Betten, nähen oder lesen. Niemand beachtet mich.

Ich öffne eine Tür, hinter der ich einen Waschraum vermute. Ein badendes Mädchen steht, das Haar hochgebunden, unter einer primitiven Brause, die aus einer Konservenbüchse hergestellt ist. Sie mag Anfang zwanzig sein. Ihre Anatomie ist vollendet. Sie ist unbefangen und läßt sich mit der Gelassenheit der Frauen betrachten, die sich der Vollkommenheit ihres Körpers bewußt sind.

Wir kommen in ein Gespräch, das durch Wasserholen eine Reihe von Unterbrechungen erfährt. Das Mädchen ist Schauspielerin aus Riga, vor drei Jahren verhaftet und zu zehn Jahren verurteilt. Seit zwei Jahren gehört sie zum Ensemble des Theaters Workuta.

„Sie wissen wahrscheinlich nicht“, sagt sie mit einem Anflug von Stolz, „daß unser Theater eins der besten Theater der Sowjetunion ist. Das gesamte Personal besteht aus Gefangenen und Deportierten. Fast alle haben früher an großen Bühnen gearbeitet, in Moskau, Leningrad, Kiew, Odessa. Der Regisseur ist ein Schüler von Stanislawskij."

„Welche Rollen spielen Sie selbst?"

„Im Augenblick die Eliza in Shaws »Pygmalion'.“

Ich erfahre, daß dieses Theater von der Verwaltung sehr gefördert wird.

„Sie haben Interesse an unserem Theater. Wenn Ihre Arbeitszeit vorüber ist, wissen Sie vor Langeweile nicht, was Sie mit sich anfangen sollen. Was gibt es in Workuta? Einige Klubs, zwei Kinos. In den acht Monaten Winter können Sie nicht spazieren gehen, weil es zu kalt ist; im Sommer wird jeder, der sich draußen zeigt, von den Mücken aufgefressen. Wir spielen ohne Ferien das ganze Jahr über, das Theater ist jeden Abend ausverkauft.“

„Lind wie ist Ihr Programm?“

„Wir versuchen, so viele klassische Stücke wie möglich zu spielen, Shakespeare, Moliere, die Spanier, die deutschen Klassiker, Ostrowskij natürlich. Von Bernard Shaw spielen wir in diesem Jahr außer . Pygmalion'den «Kaiser von Amerika'. Wir müssen auch politische Stücke spielen, aber außer der NKWD und dem . Komsomol'(kommunistischer Jugendverband) werden sie von niemand besucht. . Ljubow Jarowa'(bekanntes Revolutionsstück) geben wir fünfmal, dann bleibt der Saal leer.“ — „Werden Sie bezahlt?“

„Nein. Linser Honorar besteht darin, daß wir, solange wir am Theater spielen, sicher sind vor dem »Kirpitschnij Sawod', der Ziegelei; dort geht jede Frau in wenigen Jahren zugrunde.“ Eliza beginnt, sich abzuspülen. Das Gespräch nähert sich dem Ende.

„Brauchen Sie Brot?“ fragt sie.

„Für mich selbst habe ich genug, aber es gibt andere, die noch hungern."

„Ich werde mit unserem Barackenchef sprechen. Bisher ging alles überschüssige Brot an die Kriegsgefangenen. Aber die sind nun weg.“

Sie geht an das Regal und gibt mir fünf frische Portionen. „Das für heute. Morgen bringen Sie bitte ein Säckchen mit. Wir werden Ihnen jeden Tag geben, was in unserer Baracke übrig bleibt.“

„Ich danke Ihnen!“

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Drehen Sie sich zum Abschied einmal langsam um Ihre Achse.“

Sie dreht sich lachend.

„Noch etwas?“

„Nein. Vielen Dank für das Brot!“

„Vielen Dank für das Wasser!“

„Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!"

Wir bauen den Kommunismus

Die schöne Eliza ist der Abschied von der „Peresilka“, der plötzlich erfolgt wie jeder Abschied im Gefängnis. Ich habe die junge Lettin nicht wiedergesehen. Am Abend, während sie auf der Bühne steht, verlassen wir das Lager, in dem wir drei Wochen zu Gast waren. „Konvois“ überführen uns in das Schachtlager 9/10.

In einer Baracke, die abgesperrt hinter einem Bretterzaun liegt, verbringen wir zwei Wochen Quarantäne. Sie wird stets über neuankommende Gefangene verhängt, -weil man Ursache hat, Epidemien zu fürchten.

An einem Vormittag findet die „Komisowka“ (Untersuchung) statt. Wir werden in das Ambulatorium geführt und angewiesen, uns zu entkleiden. Einzeln treten wir vor die, Leiterin der Sanitätsabteilung, die Ärztin Trofimowitsch. Sie wird nicht Trofimowa genannt. Es ist charakteristisch, daß die Gefangenen die männliche Endung ihres Namens benutzen: Sie ist ein Henker, gleich ihrem Mann, der als NKWD-Offizier in einem Nachbarschacht arbeitet. Der Sanitäter gibt ein Zeichen, die Hose herunterzulassen und sich herumzudrehen. Die Trofimowitsch tut einige kräftige Griffe in die Reste unserer Gesäßmuskulatur.

Dieser Griff ans Gesäß ist das Kennzeichen echter Sklaverei. Immer in ihrer langen und dunklen Geschichte, beim Bau der Pyramiden und der römischen Wasserleitungen, auf den maurischen Galeeren von Cervantes und den Seglern mit ihrer Fracht aus „schwarzem Elfenbein“ zwischen Afrika und den Staaten, sind die Sklaven mit diesem‘Griff betastet worden. Die Trofimowitsch liest in meinen Begleitpapieren.

„Sie sind Arzt?“ — „Ja.“

„Welche Spezialität?“

„Röntgenologe.“

„Iditje. Gehen Sie.“

Sie interessiert sich nicht weiter.

Am Abend verliest der Chef des Arbeitsbüros unsere Namen und die Nummern der Baracken, denen wir zugeteilt sind. Ich werde in der Baracke 27 wohnen. Ich werfe den Sack mit meinen Habseligkeiten über die Schulter und wandere langsam über den großen Lagerboulevard, an dessen oberem Ende meine neue Baracke liegt.

Die Baracke ist etwa dreißig Meter lang, sieben Meter breit und in ihrer Mitte etwa vier Meter hoch. Das Bausystem dieser Baracken ist ein-fach: eine Reihe dicker Pfähle wird in den Tundraboden eingerammt. Verbindungslatten werden angenagelt, die innen und außen mit Brettern beschlagen werden.

Der Zwischenraum wird mit Schlacke gefüllt. Einfacher Lehmverputz, der später mit Kalk geweißt wird. Die Fenster sind möglichst klein gehalten, um Wärmeverluste nach Möglichkeit zu vermeiden. Im Winter wird der Außenwand jeder Baracke eine halbmeterdicke Schneeschicht vorgebaut, von der nur die Fenster ausgenommen sind.

Vor der Barackentür hocken einige Gefangene auf dem Boden.

„Wo ist der , Starosta'(der Älteste)?“ frage ich.

„Geh’rein!"

Ich trete durch die niedrige Tür und gelange in einen etwa zwei mal drei Meter großen Vorraum, dessen Wände mit „Buschlats“ behängt sind. Auf den Bänken liegen Gefangene und schlafen.

Ich finde den „Starosta", einen bärtigen Ukrainer, in der „Palata", dem Schlaf-und Wohnraum der Baracke. An den Wänden zwei Etagen Holzpritschen, die mit Strohsäcken belegt sind. Ein Ofen. Zwei Tische mit fünfzehn Schemeln. Eine solche Baracke bietet Platz für siebzig Menschen.

Der „Starosta“ antwortet auf meine Aufforderung, mir einen Platz zuzuweisen, mit einer Geste der Resignation.

„Ich habe hundertvierzig Leute in der Baracke. Auf den Pritschen ist nichts mehr frei. Sieh zu, daß Du einen Platz auf dem Fußboden findest.“

Das erweist sich in diesem Etablissement als schwierig, denn auch auf dem Fußboden haben Stammgäste ihre festen Plätze. Schließlich finde ich nach der „Powerka" (Zählung) als sechster Mann einen Platz neben fünf Ukrainern.

Ich habe mehr Glück als die Kameraden, die mit mir aus der Quarantäne in die gleiche Baracke gekommen sind und nicht einmal auf dem Fußboden einen Schlafplatz finden. Sie verbringen die Nacht, auf dem Boden hockend, im Vorraum. Mein Platz ist nicht breiter als dreißig Zentimeter. Ich kann, wie alle Gefangenen, nur auf der Seite liegen. Eine Büchse portugiesischer Sardinen ist nicht ökonomischer ausgenutzt als der Fußboden in dieser Baracke 27.

Nicht allen ist das Schicksal des Auf-der-Seite-Schlafens beschieden. Die „Aristokratie“ macht auch hier eine Ausnahme. In einer Ecke der Baracke liegen breite, wohlgestopfte Strohsäcke mit weißen Bettüchern und sauberen Decken. Es ist die Ecke der Brigadiere. Sie haben mindestens achtzig Zentimeter: zu den Vorrechten der Lageraristokratie gehört, daß sie auf dem Rücken schlafen kann.

Eine andere Ecke ist den „Platnois" reserviert, den Kriminellen. Von ihnen hat jeder einen Meter Platz; auf dem gleichen Raum, den sie in der unteren Etage der Pritsche zu fünft einnehmen, schlafen über ihnen sechzehn Menschen.

Ich frage meinen Nachbarn, warum man sie nicht auf die üblichen dreißig Zentimeter beschränkt. Er antwortet:

„Weil jeder, der das versuchen würde, ein Messer zwischen die Rippen bekäme."

Als sie sich abends entkleiden, sehe ich die Tätowierungen, die sie fast alle auf der Brust tragen: ein schwebender Adler trägt in seinen Fängen eine nackte Frau.

Es sind echte „Platnois", die in einer alle Lager umfassenden straffen Organisation mit drakonischen Gesetzen zusammengeschlossen sind, zum Teil ehemalige „Besprisornis", Verwahrloste, seit 1917 das Charakteristikum der Sowjetunion. Krieg und Nachkriegszeit haben ihre Zahl, die nie gering war, sprunghaft in die Höhe schnellen lassen. In den Lagern sind sie hartnäckige Arbeitsverweigerer. Niemals habe ich einen „Platnoi“ eine Schaufel auch nur anfassen sehen. Seine Genossen würden ihn töten. Die Lagerverwaltung, gezwungen, in regelmäßigen Rapporten über die Arbeit der Gefangenen zu berichten, führt sie formell in Brigaden, in denen jedoch kein Brigadier, der seines Lebens sicher sein will, es wagen darf, sie zur Arbeit aufzufordern. Sie leben von Schwarzgeschäften: ihre große Konjunktur der letzten Jahre sind die Deutschen, die, um dem Hunger zu entgehen, gezwungen sind, ihre Kleidungsstücke zu verkaufen, in denen sie verhaftet wurden. Das vollzieht sich folgendermaßen:

Ein „Platnoi“ bietet einem Deutschen für ein Jackett einen Monat lang „Kascha“ und zehn Päckchen Machorka. Er geht zu einem Essenausgeber in der „Stolowaja" (Speisesaal), macht ihn mit dem Deutschen bekannt und sagt: „Gib diesem Mann morgens und abends je zwei Schüsseln , Kascha'.“

Kein Essenausgeber wagt, ein solches Ansinnen abzulehnen. Der Machorka kostet zehn Rubel. Das Jackett wird einigen Freien im Schacht angeboten. Der Meistbietende, der den Zuschlag erhält, zahlt 250 Rubel. Er besitzt damit, selbst wenn der Artikel aus einem schlichten deutschen Konfektionshaus stammt, eines der besten Jacketts von Workuta, in der Qualität besser als das sowjetische Jackett des Obersten Kuchtikow, des Gründers dieser Lager.

Die großen Feinde der „Platnois“ sind die Renegaten ihres Ordens, die „Sukis“, in einer gleich großen Organisation zusammengeschlossen. Die „Sukis“ haben den Kodex verraten; sie machen einen Kompromiß mit der Lagerleitung, sie arbeiten, allerdings nicht körperlich, sondern fast immer in bevorzugten Stellungen der inneren Lagerverwaltung. Gelegentlich kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern beider Organisationen, die fast immer mit Messer und Beil ausgetragen werden. Jeder Gefangene kennt die zahlreichen umlaufenden Geschichten von den „Platnois“, die den „Sukis“ die Kehle durchschneiden oder mit drei Axt-hieben den Schädel zertrümmern.

„Jedes Jahr im Juni“, erzählt mir mein Nachbar, „geht eine große Gruppe von mehr als tausend . Platnois'in die Lager von Nowaja Semlja, dessen Südspitze im Eismeer zweihundertfünfzig Kilometer nördlich von Workuta liegt, weniger als zweitausend Kilometer vom Nordpol entfernt.“

In diesen Lagern, aus denen es keine Wiederkehr gibt, enden sie, Opfer eines Systems, das ihnen seit der Kindheit keine anderen Chancen zum Leben gab als Verwahrlosung, Diebstahl, Raub und Totschlag.

Die letzten Gespräche der Gefangenen verstummen. Fast alle Gefangenen dieser Baracke schlafen schon kurze Zeit, nachdem sie sich auf ihren schmalen Plätzen ausgestreckt haben. Sie sind von den Anstrengungen des Tages übermüdet. Der Lautsprecher, der bis ein Uhr nachts das Programm von Radio Moskau überträgt, wird nie abgeschaltet. Aber er vermag den Schlaf der Erschöpften nicht zu stören.

Um drei Uhr in der Frühe werden wir geweckt.

„Steht auf zum Frühstück!“

Das Frühstück besteht aus einer Sauerkohlsuppe und 400 Gramm Brot, von dem die Sachverständigen behaupten, daß es einen Wassergehalt von mehr als 50 Prozent hat. Zum „Obed“, dem Mittagessen, gibt es: Hafer-suppe, 250 Gramm „Kascha“ (Brei), 75 Gramm Fisch, 10 Gramm Öl, ein „Bolatschka" (weißes Brötchen) von etwa 40 Gramm.

Das sind die Rationen des ersten Kessels, die auf der Speisekarte der „Stolowaja“, des Speisesaals, verzeichnet sind. Es ist der Kessel für Invalide, für nicht qualifizierte Arbeiter, für solche, die ihre Norm nicht erfüllen.

Der zweite Kessel hat 800 Gramm Brot täglich und 150 Gramm „Kascha“ zum Frühstück. Er ist für Erdarbeiter bestimmt, die ihre Norm erfüllen.

Der dritte Kessel geht bis 1200 Gramm Brot und 400 Gramm „Kascha“. Ihn erhalten die Arbeiter auf dem Holzplatz.

Der vierte Kessel ist Krankenverpflegung. Fünfter und sechster sind die Kessel der „Gornjaki“, der Bergarbeiter. Vom siebten Kessel lebt die „Aristokratie“ des Lagers: Aufseher und Oberaufseher, die Chefs der Verwaltung. Wer ihn verzehrt, braucht nicht zu hungern.

Der Speisesaal ist klein, er faßt nur zweihundertfünfzig Menschen. Bei reibungslosem Ablauf können hier tausend Menschen stündlich essen. Da bis sechs Uhr früh dreitausend Gefangene verpflegt werden müssen, beginnt unsere Baracke schon um drei LIhr nachts mit dem Frühstück. Lim halb vier sind wir zurück. Um fünf Uhr zweites Wecken:

„Zur Arbeit!“

Lim halb sechs beginnen die Brigaden abzurücken. Die Stadtkommandos sammeln sich an der nach Norden gelegenen Wache, von der aus die Kolonnen, durch „Konvois“ eskortiert, zu den Bauobjekten in der Stadt marschieren.

Ich werde einer Brigade zugeteilt, die im Schachtgelände arbeitet. Sie begibt sich mit den anderen Schachtbrigaden an das Tor zwischen Lager und Schacht zum „Raswod“, dem Appell zur Arbeit. Die Gefangenen werden einzeln mit ihrem Familiennamen aufgerufen. Sie antworten mit Vornamen und Vatersnamen. Dann sammeln sie sich im „Kombinat“, dem Verwaltungsgebäude des Schachtes. Die Brigadiere empfangen den Auftrag über die zu leistende Tagesnorm und fahren mit ihren Leuten ein. Kurz nach sieben Uhr lösen wir ein Arbeitskommando ab, das über Tage „Wagonetten“ geschoben hat. Die mit Kohle beladenen Loren werden, zu 6— 10 hintereinander gekoppelt, mit einer Stahltrosse den steilen Bremsberg heraufgezogen. Unser Kommando kippt die Kohle aus den Loren in einen Bunker, von dem aus ein Transportband die Kohle in einen zweiten hochgelegenen Bunker fördert. Auf diesem letzten Transport wird von einer Spezialbrigade Gestein ausgelesen. Von dem Hoch-bunker fällt die Kohle in die 60-Tonnen-Waggons der Eisenbahn. Täglich verlassen 25— 30 Waggons den Schacht, das sind 1500 bis 1800 Tonnen Kohle. Es ist die billigste Kohle der Welt. Die Bergarbeiter, von denen sie gefördert wird, arbeiten für den Kessel 6. Das sind täglich 1 200 Gramm Brot, 11/2 Liter Suppe, 600 Gramm „Kascha“, 50 Gramm Öl, 120 Gramm Fisch und monatlich 750 Gramm Zucker. Wenn sie die Norm erreichen, deren Erfüllung ihre letzten Kräfte erfordert, bekommen sie jeden zweiten Tag ein Paket Machorka, das im freien Magazin für 80 Kopeken zu haben ist. Bleiben sie unter der Norm, so beginnt der Hunger. Wenn sie satt werden wollen, müssen sie arbeiten. Und sie arbeiten.

Das bei der Förderung anfallende Gestein, Paroda genannt, wird auf eine Halde gekippt. Meine Arbeit besteht darin, die Loren mit „Paroda“

etwa dreißig Meter weit bis zum Fuß der großen Halde zu schieben. Dort werden sie an ein Seil gekoppelt, das sie auf die Spitze der etwa sechzig Meter hohen Halde zieht. Jede Lore enthält etwa 11/2 Tonnen „Paroda“.

Zu dritt schieben wir in acht Stunden etwa 200 Loren.

Kurz nach drei Uhr löst uns die zweite Brigade der Schicht bei der Arbeit ab. Lim vier Uhr gehen wir — wieder mit Namensaufruf — durch die Wache ins Lager zurück. Um fünf Uhr sind wir mit dem Essen fertig.

Wer Machorka hat, raucht eine Zigarette mit dem obligaten Zeitungspapier. Die meisten schlafen bis zur „Powerka“, der Zählung, legen sich danach gleich wieder hin. Vier Tage im Monat sind arbeitsfrei. An ihnen versuchen sie, ihre Übermüdung auszuschlafen. So vergeht Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Als ich meinen Nachbarn frage, wie lange er schon im Lager ist, antwortet er: „Seit 1936“.

Zwei Tage später fällt der große Elektromotor aus, der die „Wagonetten“ auf ihrer letzten Strecke hochzieht. Die Förderung des Schachtes ruht für eine Stunde. Mit einem Litauer aus meiner Brigade steige ich den Bremsberg der Halde hinauf, um mein Gefängnis aus der Vogel-perspektive zu betrachten. Von oben macht das Lager 9/10 den Eindruck eines mit Sorgfalt aufgebauten Kinderbaukastens. Seine weiß gestrichenen vierzig Baracken stehen in Reihen ausgerichtet wie auf einem Exerzierplatz. Auf den Lagerboulevards, die mit ausgeglühter roter „Paroda“

bestreut sind, bewegen sich die Gefangenen: kleine sowjetische Termiten.

In der Mitte der breite Bau von „Stolowaja" und Küche, die mit ihren zahlreichen turmähnlichen Schornsteinen einer orthodoxen Kathedrale ähnelt. Schräg gegenüber die Kommandantur, der Sitz der NKWD, mit Dutzenden von Telefonleitungen, deren Drähte in der Sonne glitzern.

Dahinter der „Bur“, ein Gefängnis im Gefängnis, bestimmt für alle, die von der NKWD für besonders gefährlich gehalten werden. Alles ist umrahmt von der „Sapretnaja Sona“, der Todeszone, mit Postentürmen und Stacheldraht. Auch sie ist an diesem Morgen friedlich geworden: Sie duldet, daß eine Brigade von Gefangenen ihren Boden harkt, ohne beschossen zu werden.

Rechts liegen die Baracken der „Kapitalnaja", des ersten Schachtes;

links, jenseits der Workuta, zieht sich der Schacht 8 von den Höhen der Tundra bis zum Fluß hinunter.

Im Hintergrund rauscht die Workuta über ein Stauwehr, aus dessen See das Elektrizitätswerk sein Wasser bezieht. Die Türme der „Stanzija“ qualmen, ihre Dampfturbinen laufen auf vollen Touren. Sie ist das Herz von Workuta, ohne ihre Energie würde nicht ein Schacht arbeiten können.

Mein Litauer sagt unvermittelt:

„Eine Bombe da hinein, und ganz Workuta gibt nicht ein Gramm Kohle mehr.“

* Nach vier Wochen Schachtarbeit werde ich einem Stadtkommando zugeteilt. Jeden Morgen um sechs Uhr verläßt unsere Kolonne das Lager.

Eine halbe Stunde später marschieren wir an den Abstellgleisen des Bahn-hofes vorbei, auf denen an manchen Tagen die blauen Waggons des zweimal wöchentlich verkehrenden Moskau-Workuta-Expreß zu sehen sind.

Zwischen dem Stadtbad und dem Bergbautechnikum schiebt die Kolonne sich in die Stadt. Es ist uns verboten, den kürzesten Weg zur Baustelle zu nehmen: den Weg über den großen, repräsentativen Boulevard. Seine großen Verwaltungsgebäude und die riesigen Kandelaber erscheinen immer wieder in den Reportagen der „Prawda“ über das „von Komsomolzen erbaute Workuta“. Die Prunkstraße ist mit Holz gepflastert, eine der vielen Arbeiten deutscher Kriegsgefangener.

Diese ganze Stadt steht auf Tundraboden, der, wenn die Fundamente nicht bis auf das ewige Eis hinuntergehen, die Last großer Bauten nicht trägt. Die zahlreichen einstöckigen Wohnbaracken der „Freien“ sinken nur wenig ab. Technikum und Stadttheater aber, in den ersten Jahren nach dem Kriege entstanden und nicht ausreichend fundamentiert, versinken langsam in dem nachgiebigen Boden der Tundra, der bisher nur die Jurten der Ureinwohner dieses Landes zu tragen hatte.

Wir überqueren den großen Platz, dessen Mittelpunkt ein bronzener Stalin ist. Der „Architekt des Kommunismus“ steht in Lebensgröße, einen Bauplan in der Linken, die Rechte feldherrnmäßig unter den Revers seines Mantels geschoben, und kontrolliert die Arbeit seiner „Komsomolzen“. Wenn aus den großen öffentlichen Lautsprechern die Musik von Radio Moskau zur Morgengymnastik ertönt, beginnt unsere Arbeit.

Wir bauen ein großes zweistöckiges Holzhaus, dessen Dachgiebel etwa zehn Meter über dem Erdboden liegt. Es enthält mehr als dreißig Zimmer, in denen Schüler des Technikums wohnen sollen. Der Rohbau steht bereits. Die Balken werden irgendwo in den Waldlagern des Südens zugeschnitten und numeriert. Audi dort arbeiten „Komsomolzen". Gelegentlich finden wir auf den Balken Aufschriften:

„Pjotr Iwanowitsch hat noch zwölf Jahre. Wie lange hast du noch?“

Oder:

„Wann wird diese Hurenregierung endlich verrecken?“

Ich schleppe „Nasilken“ (Tragen) mit Lehm oder Schlacke, die auf dem Boden des Speichers verteilt werden, um die oberste Etage vor Wärme-verlust zu schützen. Wenn mein Partner und ich fünf „Nasilken“ getragen haben, klettern wir auf das Dach und machen eine Pause.

Es ist September. Noch scheint die Sonne, aber die Tundra zeigt schon jene Braunfärbung, die der Vorbote des nahen Winters ist. In einigen Kilometern Entfernung liegt der riesige zentrale Rangierbahnhof, auf dem die Waggons aus allen Schächten Workutas zusammengeschoben werden. Jede Stunde verläßt ein Kohlenzug den Bahnhof mit dem Ziel Leningrad. Er rollt mehr als zweitausend Kilometer weit. Gegen den Horizont hin ist die Tundra mit weißen Flecken betupft. Es sind die nördlichen Lager, die mehr als ein Dutzend Kilometer von Workuta entfernt liegen. Niemand ahnt, daß sie sich drei Jahre später, nachdem der „Architekt des Kommunismus“ den ehernen Gesetzen der Biologie erlegen ist, zu ihrer ersten großen historischen Revolte erheben werden.

Um vier Uhr nachmittags ist die Arbeit beendet. Auf dem Rückmarsch stoßen unsere Brigaden an einer Straßenecke auf eine Kolonne von gefangenen Frauen und Mädchen, die auf anderen Bauobjekten der Stadt beschäftigt sind. Unsere „Konvois“ lassen halten; langsam marschieren die Frauen vorbei. Sie sind wie wir in verdreckten „Buschlats“ und Arbeitshosen. Sie verrichten die gleichen Arbeiten wie wir und werden wie wir von „Konvois“ mit Maschinenpistolen bewacht. Ihre Emanzipation ist vollkommen.

Es sind meist junge Mädchen, deren Gesichter nach hartem Tagewerk die Spuren schwerer Erschöpfung tragen. In ihren Blicken, mit denen sie unter uns ihre Männer, ihre Brüder und die Gefährten ihrer Heimat suchen, liegen Neugierde, Trauer und eine Sehnsucht nach dem Leben, die sich nicht erfüllen wird. Es sind ihre besten Jahre, die Jahre, in denen sie das Recht haben, zu lieben, Kindern das Leben zu schenken und glücklich zu sein. Sie wissen: ehe sich ihnen die Tore zur Freiheit öffnen, sind sie alt.

„Warum sind sie im Lager?“ frage ich meinen Nebenmann, einen ukrainischen Partisanen.

„Weil sie uns Brot in den Wald gebracht haben!“

Das Lager beschickt fünf Bauobjekte der Stadt mit Arbeitskommandos, die insgesamt etwa fünfhundert Gefangene zählen. Anfang Oktober werde ich in eine Nachtschichtbrigade überwiesen, die das Lager um 19 Llhr verläßt. Die Arbeit beginnt eine Stunde später und endet in der Frühe um fünf Uhr. Wir beschäftigen uns damit, einen großen „Katlowan“, ein Fundament, auszuwerfen. Der Boden ist gefroren; schon ist der polare Winter hereingebrochen. Die Baustelle liegt an der „Uliza Leningradskaja“, an deren gegenüberliegenden Seite deutsche Kriegs-gefangene bereits Wohnblocks errichtet haben. In ihnen wohnt die NKWD-Aristokratie Workutas.

Durch die Fenster, die nur zum Teil mit Vorhängen versehen sind, können die Gefangenen das abendliche Familienleben ihrer Henker verfolgen. Sie sehen, wie der Major sich seines Uniformrocks entledigt. Er wäscht sich in der Küche. Lim halb neun — inzwischen haben wir mit der Arbeit angefangen — setzt die Familie sich zu Tisch. Sie speisen ausführlich und trinken viel.

„Sieh diese Tschekisten ) *, wie sie fressen“, sagt ein Lette.

Niemand ist in unserer Brigade, der nicht von Hunger gequält würde. Die 300 g Brot, die für uns Mittagessen und Abendbrot zugleich bedeuten, sind längst verzehrt. Die nächste Mahlzeit gibt es früh um halb sieben, in zehn Stunden. Wir gieren nach ihr, obwohl wir wissen, daß auch sie den Hunger nicht vertreiben wird, der ständiger Gast in unseren Eingeweiden ist. Sie ernähren uns schlecht, dafür versorgen sie uns nachts mit Musik. Irgendein Kulturarbeiter hat über einer der 500-Watt-Birnen, die unsere Baustelle taghell erleuchten, einen Lautsprecher anbringen lassen. Er verhindert, daß wir über der Arbeit mit gefrorenem Lehm den klassischen Melodien entfremdet werden. Die Arbeit mit der Kreuz-hacke wird begleitet von erstklassigen Beethoven-Klavierkonzerten aus dem großen Saal des Moskauer Konservatoriums oder den Arien aus „Don Giovanni“. Eines Nachts, während ich Schubkarren schiebe, bietet die Moskauer Oper den Einzugsmarsch aus „Aida“. Einmal höre ich „Carmen“, im Niveau unvergleichlich höher als die historische Aufführung bei Walter Felsenstein in der Berliner Komischen Oper 1949. Die Russen lieben „Carmen“, sie gehört zum Standardrepertoire von Radio Moskau. Die Wiederholung nach einigen Wochen wird durch einen Preßlufthammer gestört, gegen dessen Stakkato der Lautsprecher nicht mehr ankommt. Oft hören wir Paul Robesons herzergreifende Gesänge über die Sklaverei der amerikanischen Neger. Man hat keine hohe Meinung von ihm.

In unserer Brigade arbeitet ein Russe aus dem Chor der Leningrader Oper:

„Wir haben mindestens zehn Bassisten, die besser sind als er.“

Er lacht.

„Auch in der Sklaverei sind wir natürlich besser.“

In manchen klaren Nächten erscheinen Polarlichter am sternenübersäten Firmament. Ihr zauberhaftes Spiel läßt die meisten Gefangenen kalt. Als eines Nachts der Himmel von Horizont zu Horizont mit Spektralfarben übergossen ist, stoße ich meinen Nachbarn an, der unentwegt mit der Hacke weiterarbeitet.

„He, willst Du nicht wenigstens mal einen Blick nach oben werfen?“

„Ich bin schon zehn Jahre in Workuta“, antwortet er, „mein Bedarf an Polarlichtern ist gedeckt.“

Lim Mitternacht gehen die Tschekisten zu Bett; um eins verstummt der Lautsprecher. Es beginnen jene Stunden, die in unerträglicher Langsamkeit verrinnen und in denen die Ermüdung ebenso zunimmt wie die Kälte. Wir quälen uns dem Morgen entgegen. Lim vier Uhr früh zeigt das Thermometer, jetzt, Mitte Oktober, minus 25 Grad Celsius. Aus den Nachbarkatlowanen steigt der Dampf des Betons.

Im Winter wird hier nicht weniger gebaut als im Sommer. Eine ausrangierte Feldbahnlokomotive liefert Dampf, der durch einen dicken Gummischlauch in einen großen Wasserbehälter geleitet wird. Die Betonmischmaschine verarbeitet Zement, heißes Wasser, Sand und Kies, die auf der zwei mal vier Meter großen Eisenplatte eines improvisierten Ofens ebenfalls erhitzt werden. Ehe der Beton Zeit hat, in den arktischen Temperaturen zu erkalten, ist er bereits in seine Holzverschalungen gekippt.

Am Ende der Schicht werden die Eisenverstrebungen des Betons an starke Kabel angeschlossen, die das ganze Eisenbandnetz unter elektrischen Strom setzen. So trocknet der Beton. Seine Fundamente haben sich als stabil erwiesen. Auf ihnen ruhen die neuen, großen Ziegelbauten, die Kennzeichen des Workuta von 1950.

Die Lokomotive ist das Ziel aller Gefangenen, sobald der Ruf „Beendet die Arbeit“ ertönt. Im Nu ist sie behängt mit Trauben von Menschen, die sich an sie und über sie geworfen haben, um ein wenig Wärme zu erhaschen, die zu bilden ihr eigener erschöpfter Organismus nicht mehr fähig ist.

Wenn wir durch Workuta ins Lager zurückmarschieren, liegt die Stadt noch in tiefem Schlaf. Der Platz vor dem Kinderkrankenhaus ist leer. Josef Wissarionowitsch, auf dessen Schnurrbart der erste Schnee dieses Winters liegt, steht auf seinem Sockel und schaut unbeweglich die „Leningradskaja“ hinunter, mit bronzenem Blick darüber wachend, daß die Normen dieser Stadt erfüllt werden.

Wir lassen die letzten Hütten hinter uns, die den Stadtrand säumen. Jenseits der Workuta blinken die Lichter, von denen die „Sapretnaja Sona“ des Schachtes 8 erleuchtet wird. Links liegt die brennende Halde der „Kapitalnaja".

* Hier überfällt uns eines Morgens auf dem Heimweg zwischen Stadt und Lager die erste Purga (Schneesturm) dieses Winters. Ein Orkan rast vom Eismeer her über die Tundra nach Süden. Er begräbt Gefangene, Konvois und Hunde in Lawinen von Pulverschnee. Die Sicht beträgt plötzlich nur mehr ein Meter. Es wird schwierig zu atmen. Langsam wühlt die Kolonne sich durch den Schnee. Sie darf nicht rasten: wer liegen bleibt, wäre in kurzer Zeit erfroren. Immer wieder werden die Stürzenden von ihren Nachbarn hochgerissen. In Minuten bilden sich an den Augenbrauen groteske Zapfen aus Schnee und Eis, die zu entfernen unmöglich ist. Tränen gefrieren. Das Sekret aus der Nase vermischt sich mit dem Speichel, der aus dem nach Luft hechelnden Mund rinnt, und verwandelt sich in einen das Kinn umgebenden Eispanzer.

Viele Gefangene tragen zwei Wattehosen und mehrere Buschlats übereinander, aber gegen die Purga hilft nichts mehr. Der eisige Wind dringt durch sämtliche Ritzen unserer Kleidung.

Als wir nach einer Stunde, die wie eine Ewigkeit erscheint, in der Baracke auftauen, finden sich in den Gesichtern viele großflächige Erfrierungen. Sie gehören zu Workuta wie Buschlat, Stacheldraht und Maschinenpistolen.

Trotz der Versuche, sich mit allen Mitteln gegen die Kälte zu schützen, sind Erfrierungen im Winter an der Tagesordnung. Für die Außen-kommandos stellt das Lager Masken, die das Gesicht vollkommen bedecken und Öffnungen nur für Augen und Mund haben. Sie werden ungern getragen, weil sie die Sicht einengen und dadurch bei der Arbeit hindern. Die alten Workutaner binden sich meist ein Tuch quer über Nase und Gesicht, das Mund und Augenpartie frei läßt.

Zu den ungeschriebenen Gesetzen des Lagers gehört es, bei Gefahr der Erfrierung den Nebenmann dauernd zu kontrollieren und ihn auf das Symptom, die weiße Verfärbung der Haut, aufmerksam zu machen.

Gelegentlich werden Erfrierungen absichtlich herbeigeführt, um für einige Wochen Ruhe im Lazarett zu finden. Ein Lette aus meiner Brigade zum Beispiel bohrte eines Morgens ein Loch in seinen Wattehandschuh und ließ den kleinen Finger der linken Hand heraushängen. Nach zwanzig Minuten war der Finger steif gefroren. Als der Eigentümer damit gegen einen Ziegelstein pochte, klirrte der Finger wie ein Stück Eisen. Die Erfrierung war so dosiert, daß der Finger nicht amputiert zu werden brauchte. Es entwickelte sich eine Blase, die den ganzen Finger umgab, ausgeschnitten wurde und langsam abheilte. Der Lette hatte einige Tage lang große Schmerzen, lag aber einen Monat im Stationär und war sicher vor den Unbilden des arktischen Winters.

Die physische Existenz der Gefangenen in den acht Wintermonaten erfordert eine tägliche Zufuhr von etwa viertausend Kalorien. Nur ein Bruchteil davon vermag durch die Ration gedeckt zu werden. Allein die Erwärmung der Atemluft erfordert für je ein Grad Kälte ein Prozent der Energiezufuhr. Bei einer Durchschnittstemperatur von 30— 40 Grad Kälte werden ebensoviel Prozent der Nahrung nur für die Physiologie der Atmung verbraucht.

Beim Baden, das in Abständen von zehn Tagen stattfindet, verfolge ich die Symptome der unaufhörlich und schnell zunehmenden Unterernährung. Die Rippenbögen beginnen sich abzuzeichnen, die Beine werden dünn. Arm-und Schultermuskulatur schwinden. Die Dystrophie schweren Grades mit ihren zahlreichen, häufig tödlichen Komplikationsmöglichkeiten steht vor der Tür. Sie ist im Jahre 1950 das Schicksal fast aller Deutschen in Workuta.

Die Deutschen

In diesem Herbst ist die Lage der Deutschen in Workuta verzweifelt. Der Ernährungszustand ist nur bei denen ausreichend, die im Schacht arbeiten. Das Gros der Deutschen leidet an Hungerdystrophie jeden Stadiums, 30 — 40 Prozent sind so abgemagert, daß sogar die Trofimowitsch den Aufenthalt im Lazarett nicht ablehnen kann. Dort liegen sie, einen, zwei oder drei Monate, nehmen einige Kilo an Gewicht zu, um nach der'Entlassung nach drei Wochen Arbeit wieder auf den Status quo zurück-zufallen. Es gibt Deutsche, die dieses Spiel zwischen Dystrophie und Lazarett bis zu siebenmal hinter sich gebracht haben.

Der Hunger ist in erster Linie eine Folge des Fehlens jeder Verbindung mit der Heimat. In die Ernährungsrationen des Lagers sind die Pakete, die jeder Bürger der Sowjetunion im Lager unbeschränkt empfangen kann, einkalkuliert. Zwar haben die Angehörigen der meisten Gefangenen selber nur wenig. Aber unter den harten Bedingungen des Lagers sind einige Pfund Mehl oder zehn Päckchen Machorka ein unerhörter Reichtum, mit dem ihr Empfänger sich notdürftig über Wasser halten kann.

Die Möglichkeiten für die Deutschen, sich zusätzliche Ernährung zu beschaffen, sind begrenzt. Der Küchenchef ist ein Grusinier, dessen Leibesumfang etwa dem von fünf Deutschen entspricht. Soweit er Einfluß auf die Besetzung der Küche hat, denkt er natürlich an seine Landsleute.

Der Chef der „Stolowaja" ist ein Litauer. Alle Schüsselsammler, die sich von den Resten in den Schüsseln ernähren, die sie von den Tischen abräumen, sind selbstverständlich Litauer.

Was bleibt den Deutschen? Wenn sie abends erschöpft von der Arbeit kommen, können sie sich zum Schneeschaufeln an die „Stolowaja“ verdingen.

Dann erhalten sie für die ein-oder zweistündige Arbeit eine Schüssel Suppe und ein wenig „Kascha“. Der Hunger demoralisiert sie.

Da der Prozentsatz an Gebildeten größer ist als bei den anderen Nationen und die Gebildeten für Demoralisation anfälliger sind als die Ungebildeten ist der moralische Verfall drastischer. Außerdem bilden sie keine nationale Einheit wie etwa die Ukrainer, die Litauer, die Letten und andere. Die deutschen Nazis haben mit der deutschen „Linken.“ weniger gemeinsam als etwa mit Tadschiken oder Usbeken. Diese sind ihnen gleichgültig. Ihre Landsleute aber aus der Opposition gegen Hitler würden sie, wenn sie könnten, auch heute noch mit Vergnügen vor ein Standgericht stellen. Sie denken es nicht nur, sie sind offen genug, es auszusprechen.

Die politische Zersplitterung ist das Charakteristikum der Deutschen.

In ihr spiegelt sich die deutsche Geschichte der letzten fünfzig Jahre.

Da ist einer von den ehemaligen Konservativen der Wilhelminischen Ära, die im inneren Winkel ihres Herzens das Andenken Seiner Majestät und des Hauses Hohenzollern pflegen, „unter denen es den Deutschen so gut gegangen ist“. Der erste Weltkrieg ging verloren, weil der Oberstleutnant Hentsch in der Marneschlacht den historischen Befehl zu spät überbrachte. Von Ludendorff reden sie mit Ehrfurcht. Als Deutsch-nationale haben sie Hindenburg zum Reichspräsidenten einer Republik gemacht, deren Grab zu schaufeln sie nichts unterlassen haben. Sie sind unangenehm berührt, wenn die Rede auf die Harzburger Front kommt, in der sie sich 1931 mit Hitler verheiratet haben. Was nach 1933 gekommen ist, „haben sie nicht gewollt“. Der ehemalige Korporationsstudent durchstreift die „Stolowaja“ nach Speiseresten. Wenn ein Schüsselsammler ihm einen Rest „Kascha“ anbietet, dankt er mit jener steifen Verbeugung, die sie ihm vor mehr als vierzig Jahren beigebogen haben.

Da ist ein ehemaliger Staatsanwalt vom Volksgerichtshof, der fast noch Reichsanwalt geworden wäre. Die Kapitulation kam seiner Beförderung zuvor. Er schweigt mit Sorgfalt darüber, wieviel Hinrichtungen unter seiner Regie vollzogen wurden. Es müssen Hunderte gewesen sein. Er hat die Köpfe aus der ganzen Opposition gegen Hitler fallen sehen. Sie fielen „gerecht, aber schmerzlos“. Von dem Augenblick, in dem der Delinquent den Hinrichtungsraum betrat bis zu dem Moment, in dem er „in den Sack nieste“, vergingen in Plötzensee nur zehn Sekunden. War der Kopf gefallen, so nahm der Staatsanwalt sein Barett ab und verharrte in kurzem Gedenken an die Seele des Verstorbenen. So will es ein alter Brauch. Dann drückte der Scharfrichter auf einen Klingelknopf: nach dreißig Sekunden erschien der Nächste. In einer Stunde köpften sie sechzig Menschen.

Das Gesicht des Staatsanwalts hätte George Grosz als Modell dienen können; seine Redensarten sind plastischer als bei Tucholsky. Als die NKWD ihn eines Tages durchsucht, findet sie bei ihm eine Liste von Deutschen, die sich „antinational“ benommen haben.

Da sind die alten Nazis, drei Herren von der Kreisleitung und ein Obergebietsführer der Hitlerjugend aus Dresden, der um seine vier Kinder jammert.

„Wie alt sind sie denn?“ fragt ein alter Berliner Sozialdemokrat.

„Der älteste ist zwölf, der jüngste acht.“

„Dann brauchst Du Dir doch keine Sorge zu machen. Die sind inzwischen längst alle Pioniere. Der älteste lernt schon , Dialektischen Materialismus'. Wenn Du in einigen Jahren nach Hause kommst, sind sie perfekt in politischer Ökonomie. Sie werden Dich fragen: Papa, kennst Du die Gesetze vom Mehrwert? Und sie werden enttäuscht sein, wenn Du ihnen nicht antworten kannst.“

„Wenn ich das wüßte, täte es mir leid, daß ich sie 1945 nicht mit dem Kopf an die Wand gehauen habe.“

„Das hättest Du lieber rechtzeitig mit Hitler machen sollen.“

* Da sind zwei Verurteilte aus dem Pankower Prozeß gegen die Wachmannschaften des Konzentrationslagers Sachsenhausen, ein früherer Hauptsturmführer und ein Untersturmführer der SS; ihre Physiognomien unterscheiden sich in ihrer Brutalität in nichts von den Visagen gewisser Wachtposten, bei deren Anblick die Gespräche in den Baracken zu verstummen pflegen. Sie sind geblieben, was sie waren. 1945 verhaftet, haben sie nie die Möglichkeit gehabt, etwas anderes kennenzulernen als ein System, das dem ihren gleich ist, und das anzunehmen sie keine Veranlassung sehen. Nach wie vor ist der „Führer“ ihr heimliches Ideal. Er hat „das Gute gewollt“ und ist an einer Umgebung gescheitert, die ihn falsch beraten hat. Mit ungebrochener Sympathie sprechen sie von Himmler, ihrem ehemaligen obersten Chef. Sie haben ihn oft gesehen. Manchmal besuchte er ihre Kameradschaftsabende. Sie loben die väterliche Fürsorge „Heinrichs“ für seine schwärzen Kinder. Ida erinnere mich an ihre Prozeß, der 1947 stattfand, den einzigen Prozeß, den die Sowjets gegen Kriegsverbrecher öffentlich geführt haben. Damals überboten sich die Angeklagten in Geständnissen und Selbstbezichtigungen. Die Regie war zu vorzüglich, als daß sie nicht hätte Verdacht erwecken müssen. Hier erfahre ich, daß sie ein Jahr lang für diese Verhandlung präpariert wurden.

Aus der sehr viel größeren Zahl der Wachmannschaften des KZ Sachsenhausen hat man die geeigneten ausgewählt. Sie sind nicht mit Torturen zu diesem Prozeß gezwungen worden. Man hat sie gekauft. Sie sind gut verpflegt worden, das war der Preis, den die NKWD zahlte. Die Gerichtsverhandlung ist so oft mit ihnen exerziert worden, daß sie schließlich ihre Aussagen wie Gedichte aufsagten, einschließlich der Zusätze, daß sie große Verbrecher seien. Wie früher sind sie Antisemiten. Wie früher sprechen sie den Jargon ihrer „großen Zeit“. Lind in den Gesprächen entfährt ihnen hin und wieder die joviale Formulierung:

„Den haben sie vergessen zu vergasen.“

Der, auf den sich diese Bemerkung bezieht, ist ein deutscher Jude, den Gaskammern von Auschwitz nur entgangen, weil er mit einer arischen Frau verheiratet war, die in den Jahren der Pogrome trotz aller Drohungen nicht zu bewegen war, von ihrer Rassenschande zu lassen.

Er entstammt einer alten Familie, die nach der Flucht vor den Verfolgungen Isabellas von Spanien in Deutschland ansässig wurde. Im Geiste -der Liberalität erzogen, hat er sich nie als Jude gefühlt. Als Student der Rechte in Grenoble ohrfeigt er 1912 einen französischen Kommilitonen, der in seiner Gegenwart den Deutschen Kaiser beleidigt. 1914 wird er Soldat, 1919 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, einige Zeit später tritt er dem Jüdischen Frontkämpferbund bei. Er ist für Frieden und Völkerverständigung. Auf die Nachricht von der Machtübernahme Hitlers antwortet er:

„Als Richter bin ich nicht absetzbar.“ Drei Monate später hält er seine Kündigung in Händen. 1936 wird er Arbeiter in einer Berliner Kohlenhandlung. Nach 1945 arbeitet er als Rechtsanwalt. 1949 wird er verhaftet, 1950 zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt, weil er jemanden gewarnt hatte, den die NKWD bespitzelte.

Als deutscher Jude hat er ebenso die Antipathie der Lagerverwaltung wie die der zahlreichen Antisemiten unter den Gefangenen zu erdulden. Wenn er in der „Stolowaja" Platz nimmt, kommt es vor, daß andere sich erheben, weil sie nicht mit ihm an einem Tisch sitzen wollen.

Eines Tages geht er einen abschüssigen und vereisten Weg hinunter. Er ist alt, er fürchtet zu fallen. Ein Vorübergehender, den er um Unterstützung bittet, gibt zur Antwort:

„Einem Juden helfe ich nicht.“

Natürlich hat er viele Freunde unter dem Teil der Deutschen, der sich aus Angehörigen der politischen Opposition der sowjetischen Zone Deutschlands zusammensetzt, den ehemaligen Sozialdemokraten, den Mitgliedern der Liberaldemokratischen Partei und der Christlich-Demokratischen Union.

Diese sind teils verhaftet, weil sie politisch unbequem waren, teils, weil sie in Widerstandsgruppen tätig waren. Alle sind zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt. Andere haben in Verbindung gestanden mit der „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“, der von den Sowjets bestgehaßten Organisation, deren Mitgliedern fünfundzwanzig Jahre ohne weiteres sicher sind, falls sie der NKWD in die Hände fallen.

Alle diese Prozesse sind unter der Devise „Spionage“ geführt worden.

Ein Drittel der Deutschen ist vollkommen unschuldig. Ein weiteres Drittel ist nach deutscher Rechtsprechung ebenfalls unschuldig, nach sowjetischer aber schuldig.

Ein Förster aus Mecklenburg zum Beispiel findet in seinem Wald an der Raststätte einer sowjetischen Panzerabteilung Brot und Lebensmittel-reste. Er sammelt alles in einen großen Korb, um seine Hunde damit zu füttern. Abends erzählt er im Dorfkrug davon, nicht ahnend, daß ein Spitzel des Staatssicherheitsdienstes dieses „militärische" Gespräch belauscht. Zehn Jahre.

Im Hause eines Fischers an der Ostseeküste wird ein Badegast als angeblicher Spion verhaftet. Der Fischer hat nichts gewußt. Zehn Jahre für ihn.

Ein Rostocker Student hat einen Bekannten, der in einer Widerstandsgruppe arbeitet. Er soll von dieser Tätigkeit informiert gewesen sein. Fünfzehn Jahre.

Wegen politischer Dienstvergehen ist eine Reihe ehemaliger Volks-polizisten in Workuta. Wegen „politischer Opposition“ sitzen drei alte Kommunisten.

• Dann gibt es die Verwahrlosten der Nachkriegsjahre, die nicht aus Überzeugung, sondern aus finanziellen Gründen in „Antibolschewismus“ gemacht haben. Sie waren für die Geheimdienste des Westens tätig. Im Lager haben sie keine Bedenken, sich an die NKWD zu verkaufen. Sie stehen auf der ungeschriebenen Liste derer, die am Tage der großen Abrechnung gehängt werden.

Von den Fehlern der Konservativen und den Versäumnissen der Republikaner führt ein gerader Weg zu Hitler und der Katastrophe von 3 945. Gespenstisch ist, daß alle nichts dazugelernt haben. Der ehemalige Chargierte preist nach wie vor die Bestimmungsmensur als den wesentlichen Erziehungsfaktor junger Männer. Der „unabsetzbare Richter“ würde in einer adäquaten Situation ebensowenig wie 1929 daran denken, das Reichsbanner gegen die SA zu bewaffnen, um den Untergang der Republik zu verhindern. Und sollte „Heinrich“ von den Toten auferstehen, so würden sich die alten SS-Leute augenblicklich um ihr alte Fahne scharen.

Eines Tages spreche ich mit dem „Admiral". Der „Admiral“ ist kein echter Admiral, sondern ein ehemaliger Kapitän der baltischen Roten Flotte, der als junger Matrose in der Oktoberrevolution eine aktive Rolle gespielt und später eine große Karriere gemacht hat. 1937 gab man ihm wegen alter persönlicher Beziehungen zu Sinowjew fünfzehn Jahre. Das hat ihn nicht gehindert, Anhänger des Systems zu bleiben.

„Ich habe viel mit den Deutschen diskutiert“, sagte er. „Ihr habt in der Geschichte der letzten fünfzig Jahre so viel Dummheiten gemacht, daß die Sowjetunion für die nächsten entscheidenden zehn Jahre vollkommen zuversichtlich sein kann. Natürlich weiß ich nicht, wie sich die Politik in Europa konkret abspielen wird, aber es wird euch sehr viel Gelegenheit geboten werden, weiter politische Dummheiten zu machen. Deshalb werden wir euch schlucken, nicht plötzlich, sondern langsam, und ich bezweifle, daß ihr es überhaupt merken werdet.“

Der „Admiral" ist antideutsch. Das ist der offizielle Kurs der Sowjets im Lager. Auch wenn die Deutschen Gegner der Nazis waren, bleiben sie die „Faschisten“. Wird ein Deutscher von einem Nichtdeutschen angegriffen, und es kommt zu einer Schlägerei, die der Verwaltung gemeldet wird, so wandert der Deutsche unweigerlich in den „Bur“, auch wenn der andere die Schuld trägt. Manche Russen suchen sich eine politische Legitimation dadurch zu verschaffen, daß sie über jeden Deutschen herfallen, der in ihrer Reichweite ist. Es gibt Barackenchefs, die jeden Deutschen hinauswerfen, der Kameraden in seiner Baracke besuchen will.

„Idji na chui, bljadj fritz. Geh zum Schwanz, Hurenfritz!“ ist eine häufige Formulierung.

Sie sind nicht einmal die gefährlichsten. Gefährlich sind jene, die unter der Maske der Deutschfreundlichkeit versuchen, gute Beziehungen anzuknüpfen, um die NKWD mit Informationen zu beliefern.

Ein entscheidender Faktor der Demoralisierung ist das Fehlen der Postverbindung mit Deutschland. Die Deutschen sind für ihre Angehörigen gestorben. Von Juli 1950 bis Dezember 195 3 habe ich niemanden kennengelernt, der eine Nachricht aus der Heimat erhalten hätte.

Die schwierige Lage wird gemildert durch die Freunde der Deutschen, deren offene oder heimliche Unterstützung für viele eine wertvolle Hilfe ist. Natürlich hat die deutsche Intelligenz gute Beziehungen zur Intelligenz der anderen Nationen. Es gibt Brigaden, in denen die Position der Deutschen gut ist, weil sie selber gut sind. Gute Beziehungen bestehen im allgemeinen mit Letten und Esten. Die Juden spüren mit ihrer feinen Witterung für Antisemitismus schnell, daß unter den Deutschen, die Nazis ausgenommen, keine Antisemiten sind. Lind es ist eines der Phänomene im Lager, daß nach Theresienstadt, Auschwitz und Maidanek in Workuta zahlreiche deutsch-jüdische Freundschaften wachsen, stärker als alle Widerstände, die ihnen entgegenstehen.

Wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt Anmerkung Dr. Joseph Scholmer, geb. 19. August 1913, Studium der Medizin an der Universität Bonn. Röntgenologe an der Universität in Leipzig. Nach dem Kriege arbeitete er in der Zentralverwaltung Gesundheitswesen der sowjetischen Besatzungszone, wurde 1949 von der NKWD verhaftet und wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Januar 1954 kehrte er aus Workuta in die Bundesrepublik zurück.

Fussnoten

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