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Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. I. Historischer Teil | APuZ 12/1955 | bpb.de

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APuZ 12/1955 Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. I. Historischer Teil

Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. I. Historischer Teil

Theodor Litt

Vorbemerkung Jeder Bildungslehre liegt, bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen, eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen zu Grunde. In begrifflicher Form entwickelt heißt sie: philosophische Anthropologie. Die Anthropologie, die die Grundlage des im folgenden Vorzutragenden bildet, ist von mir in folgenden Büchern dargelegt worden: Einleitung in die Philosophie 2, Stuttgart 1949; Die Selbsterkenntnis des Menschen 2, Hamburg 1949; Mensch und Welt, München 1948; Denken und Sein, Stuttgart 1948.

1. Die Sorge um den Menschen

Bildungsideal und geschichtliche Gesamtbewegung Man pflegt den Fortgang der geschichtlichen Bewegung bisweilen dem Dahinfluten eines Stromes zu vergleichen. Das Bild hat einen guten Sinn, und doch ist es geeignet, einen wesentlichen Zug an dem, was in ihm versinnlicht werden soll, zu verdecken. Ein Strom bewegt sich unter normalen Umständen in seiner ganzen Breite gleichmäßig vorwärts; es gibt da kein Vorauseilen, kein Zurückbleiben. Der „Strom“ der Geschichte zerlegt sich in eine Vielzahl von Teilströmungen, Armen, Rinnsalen, die sich nicht nur in ihrer Färbung, sondern auch und erst recht in dem Tempo ihrer Fortbewegung stark voneinander Unterscheiden. Er umfaßt die staatlich-rechtliche, die gesellschaftliche, die wirtschaftliche Entwicklung. Zu ihm gehört die Bewegung der Kunst, der Religion, der Wissenschaft, der Philosophie. Und es ist keine Rede davon, daß es in all diesen Teilsphären des geschichtlichen Lebens gleichmäßig vorwärts ginge. Es gibt da Beschleunigungen und Verzögerungen, die auf bestimmte Sonderbezirke des geschichtlichen Lebens beschränkt sind. Und nicht gering ist die Zahl der Unstimmigkeiten und Reibungen, die sich gerade daraus ergeben, daß die Geschichte als Ganzes der Gleichmäßigkeit des Fortschreitens so sehr ermangelt.

Allgemeine Erwägungen dieses Inhaltes sind es, die sich uns aufdrängen, wenn wir die Schicksale ins Auge fassen, die der Idee und der Praxis der „M en sch enbi 1 d ung“ gerade aus dem Grunde beschieden sind, weil die Teilsphäre geistigen Bestrebens, die mit diesem Worte bezeichnet wird, einen Eigenrhythmus entwickeln kann, der sie die Fühlung mit den nachbarlichen Dimensionen der geschichtlichen Bewegung fast völlig verlieren läßt. Ein jedes Kulturvolk erlebt in seiner Entwicklung einmal die große Stunde, da es ihm gelingt, die in ihm lebende Idee von Wesen und Bestimmung des Menschen zu einem durchgeformten Bilde zu verdichten. Es entsteht alsdann dasjenige, was man in der Sprache der pädagogischen Theorie das „Bildungsideal" nennt. Ist aber einmal in den vereinten Bemühungen erlauchter Geister die Prägung eines solchen Bildungsideals geschehen, dann pflegt es nicht lange zu dauern, bis es jene kanoische Geltung gewinnt, die mit dem Worte „klassisch“ gemeint ist. Und das bedeutet: von Stund an halten alle Überlegungen, die sich auf das Problem der Menschenbildung beziehen, die Richtung ein, die durch den Ausblick auf das besagte Bildungsideal bestimmt ist. An ihm orientieren sich sogar diejenigen, deren bildnerischer Wille sich an dem Gegensatz zu dieser Zielbestimmung entzündet. Wie stark das Beharrungsvermögen des einmal zu kanonischer Geltung aufgestiegenen Bildungsideals ist, das bezeugt sich in der Tatsache, daß es selbst dann die Gemüter zu beherrschen nicht aufhört, wenn tief einschneidende Wandlungen, ja katastrophale Umwälzungen in der staatlich-gesellschaftlichen Sphäre die Bedingungen, unter denen das Geschäft der Menschenbildung zu betreiben ist, in eine völlig veränderte Gestalt überführen. Das „Bildungsideal“ hält die pädagogische Phantasie auch dann noch bei sich fest, wenn von der geschichtlichen Lage, aus deren Schoß es emporgestiegen ist, nur noch unerhebliche Reste vorhanden sind.

Die Humanität Uns Deutschen ist unser neuzeitliches „Bildungsideal" in jener gesegneten Erntezeit geschenkt worden, deren vielseitige Bestrebungen man unter dem Namen „die deutsche Bewegung“ zusammenfaßt. Es ist geschaffen worden in der Folge von dichterisch-denkerischen Bemühungen, die sich zeitlich vom Auftreten Winkeluiantts bis in die letzten Tage Hegels und Goethes erstrecken. Klassische Altertumswissenschaft, Dichtung und Philosophie haben sich die Hände gereicht, um es zu klarer und überzeugender Gestaltung herauszuarbeiten. Es ist das Ideal der „Humanität“, das in diesen vereinten Geistesmühen geboren worden ist. Daß ein Bildungsideal, welches sich so erlauchter Geburtshelfer erfreuen durfte, alsbald den Charakter der „Klassizität“ annahm — wie war es anders möglich! Lind so kann es uns nicht verwundern, daß die Grundvorstellungen, die sich in diesem Ideal vereinigten, alle die grundstürzenden Wandlungen überdauerten, die die seitdem verflossenen anderthalb Jahrhunderte über unser Volk gebracht haben — ja, daß auch heute noch, in einer um ihre totale Neugestaltung ringenden Welt, die pädagogische Meinungsbildung sich weithin an den Gedanken meint orientieren zu sollen, in denen die Generation eines W. v. Humboldt ihr bildnerisches Wollen ausgesprochen fand.

Die Divergenz Nun läßt aber der Rückblick auf die anderthalb Jahrhunderte, die uns vom Zeitalter Goethes trennen, uns eben das Phänomen gewahr werden, von dessen Betrachtung wir ausgingen: die Entfremdung, ja Verfeindung von geschichtlichen Bewegungen, die durch das Tempo ihres Fortschreitens empfindlich voneinander abweichen. Vielleicht dürfen wir sogar sagen, daß nur in seltenen Fällen die so entstehende Diskrepanz eine so krasse Gestalt angenommen und so tief eingreifende Folgen gezeitigt hat wie gerade in jenem Verhältnis von Bildungsideal und geschichtlichem Gesamtprozeß, das einen wesentlichen Teil des deutschen Schicksals ausmacht. Es ist, wie mir scheint, nicht immer genügend beachtet worden, daß unser klassisches Bildungsideal kaum in einem ungünstigeren Augenblick hätte ans Licht treten können als in dem Moment, da die gesellschaftliche Welt zu einer ihrer gewaltigsten Umgestaltungen ansetzte.

War doch der Umschlag, der damals vor der Tür stand, so geartet, daß er die Bedingungen, die eine sei es auch kurzdauernde Verwirklichung jenes Ideals ermöglicht hatten, binnen kurzem in ihr Gegenteil verkehren sollte.

Das Gemeinte zu verdeutlichen genügt der Blick auf zwei Ereignisse, die gerade in ihrer zeitlichen Nachbarschaft das Auseinanderstreben der Entwicklungstendenzen symbolisch zur Darstellung bringen. 1769 erfindet Watt die Dampfmaschine. 1774 erschüttert Goethe die gebildete Welt durch „Werthers Leiden". Der Vorbote und Wegbahner der industriellen Gesellschaft — der Fürst der Humanität: innerhalb eines Jahrfünfts erheben beide sich zu Geistestaten, in denen eine werdende Welt sich vernehmlich ankündigt. Aber es ist wahrlich nicht das Gleiche, von dessen Annäherung der eine und der andere Zeugnis ablegt. Es sind einander widerstreitende Strebungen und Bewegungen, die in ihnen ihre Ansprüche anmelden.

Die Tatsache der hier angedeuteten Divergenz ist natürlich keinem kritischen Betrachter der deutschen Bildungsgeschichte verborgen geblieben. Dagegen ist ihr tiefster Grund meist über oberflächlicheren Phänomenen übersehen worden. Zu dem Kern der Sache führt folgende Überlegung.

Zu jedem „Ideal“ gehört ein Wirkliches, über dem es als zu erfüllende Forderung, als anzustrebendes Ziel, als richtungweisende Wertgestalt aufgerichtet ist. In ihm spricht sich ein „Sollen“ aus, das einem „Sein“ gegen-übertritt. An welches Wirkliche sich das „Bildungsideal" wendet, versteht sich von selber: es ist der Mensch, dem es als Norm und Vorbild vor Augen steht. Insofern scheint der Begriff der „Humanität“ nur dasjenige nochmals auszusprechen, was im Begriff des „Bildungsideals“ bereits enthalten ist.

Allein, wenn wir den Gehalt, der der Idee der „Humanität“ bei unseren Klassikern zuwächst, genauer prüfen, so entdecken wir, daß in ihm noch mehr beschlossen ist. Nicht nur dies will die genannte Idee besagen, daß es dem Menschen überhaupt aufgegeben sei, sich im Hinblick auf eine als Ideal vorschwebende Gestalt zu modeln — eine Aufgabe, deren Bejahung die Hingabe an weitere, als gleich gewichtig anzuerkennende Ziele nicht ausschließen würde — sondern die Meinung ist die, daß in der Idee der Humanität sich alles das zusammenfasse, was seinem Dasein einen höheren, ja den eigentlich „menschlichen“ Sinn verleihe. Es ist die Bestimmung, ja die einzige Bestimmung des Menschen, sich zum Menschen zu „bilden“. Wird mit dieser Zielbestimmung Ernst gemacht, so liegt in ihr als Konsequenz enthalten, daß alle Inhaltlichkei t des geistig-geschichtlichen Lebens, alles, was dies Leben an Erfahrungen und Forderungen an den Menschen heranträgt, letztlich unter dem Gesichtspunkt zu bewerten sei, was es zu seiner Menschwerdung beitrage — daß folglich der Mensch, wo und wann immer er mit dieser Inhaltlichkeit in Berührung komme, sein Verhältnis zu ihr auf Grund der Überlegung zu regulieren habe, was sein Menschsein sich von dem Umgang mit ihr versprechen dürfe.

Das ist der „anthropozentrische“ Zug, der der durchgebildeten Humanitätsidee ihr charakteristisches Gepräge verleiht. In letzter Zuspitzung tritt er uns überall da entgegen, wo die Gesamtheit der Kulturgehalte sich geradezu zu „Mitteln“ für den „Zweck“ der Menschwerdung muß herabsetzen lassen. Hier ist nun wirklich der Mensch zum „Maß aller Dinge" geworden.

2. Naturbeherrschung und Naturumgang

Naturwissenschaft und Technik Man muß die Humanitätsidee in dieser extremen, dieser durch W. v. Humboldt gelehrten und gelebten Gestalt ins Auge fassen, um die Größe der Abweichung zu ermessen, durch die die zweite der oben unterschiedenen geschichtlichen Bewegungen sich von der durch das Humanitätsideal vorgezeichneten Richtung entfernt. Ist diese durch die ausschließliche Zuwendung zum „Menschen“ gekennzeichnet, so hat jene ihre mit gleicher Ausschließlichkeit kanonisierte Leitkraft an der „Sach e“ Wir müssen, um diesen Satz recht zu verstehen, auf die geistigen Ursprünge der Entwicklungslinie zurückgehen, die wir uns durch die Erfindung Watts repräsentieren ließen. Die Technik, in deren Aufstieg die genannte Erfindung eine der wesentlichsten Etappen bezeichnet, ist bekanntlich mit der neuzeitlichen, der ma thema ti sehen Na turWissenschaft durch das Verhältnis der denkbar engsten Solidarität verbunden. Beide wachsen miteinander und durcheinander. Diese Wissenschaft aber bedeutet in ihrer methodischen Vollendung den reinsten Sieg, den die „Sach e" auf dem Boden der Theorie erringen kann.

Was damit gemeint ist, leuchtet ein, wenn wir das Gefüge mathematisch-quantitativer Relationen, zu dem sich die Natur in dieser Wissenschaft entleert und formalisiert, zusammenhalten mit jenem in unerschöpflichem Qualitätenreichtum und unausdenkbarer Bedeutungsfülle sich ausbreitenden Ganzen, als welches dieselbe Natur das ihr sich öff-nende menschliche Gemüt anspricht. Der Mensch muß recht eigentlich seiner selbst und des ihn persönlich mit der Welt Verbindenden vergessen, um, zum abstrakten Subjekt des reinen Denkens entselbstet, die begegnende Wirklichkeit in ein Netz ebenso abstrakter Beziehungen verwandeln zu können. Nun ist dies Hervortreten der „Sache" zwar, wie wir sehen werden, durchaus nicht eine Vergewaltigung des menschlichen Geistes, bewirkt durch Einbruch eines ihm Äußerlichen und Fremden. Im Gegenteil: das Herausarbeiten dieser „Sache“ gehört zu den größten und bewundernswertesten Taten des Menschengeistes. Allein das ändert nichts an der Tatsache, daß, ist erst einmal das Prinzip dieser Forschung entdeckt und der Weg dieser Forschung betreten, der Fortgang der denkenden Bemühungen sich nicht nach dem freien Ermessen und den spontanen Antrieben der an ihr beteiligten Personen, sondern nach der unausweichlichen Logik der Sache bestimmt, mit der sich der denkende Geist nun einmal eingelassen hat. Es geht am Leitfaden dieser Logik weiter von Entdeckung zu Entdeckung kraft einer inneren Notwendigkeit, die den einzelnen Denker zum Vollstrecker eines durch ihn hindurchlaufenden Gesamtprozesses macht — eines Prozesses, der bei oberflächlicher Betrachtung sich von einem unablenkbaren Naturvorgang kaum zu unterscheiden scheint. Wie sehr hier die „Sache“ die Linie des Fortgangs bestimmt, lehrt die Überlegung, daß, hätte der Tod einen der diesen Fortgang Exekutierenden vor seiner Entdeckertat dahingerafft, ohne Zweifel ein Anderer früher oder später den faktisch ihm gutzuschreibenden Fund eingebracht haben würde. Es gibt hier — im Unterschiede etwa von der völlig anders gebauten Bewegung der Kunst — keine unvertretbare Leistung. Es ist, als hole sich die „Sache" selbst ihre Vollstreckungsorgane je nach Bedarf heran. Läßt uns die Entwicklung der Naturwissenschaft die Herrschaft der Sache auf dem Boden der Theorie studieren, so wiederholt die Technik dasselbe Schauspiel auf dem Boden der Praxis. Geht es dort kraft einer unausweichlichen Sachlogik weiter von Entdeckung zu Entdeckung, so geht es hier mit der gleichen Notwendigkeit von Erfindung zu Erfindung. Lind auch hier ist der einzelne Mensch nicht mehr als der Exekutor einer Leistung, die, wäre er selbst aus irgendeinem Grunde ausgefallen, ein anderer an seiner Stelle ebenso gut vollbracht haben würde. Die einzelne Erfindung ist das Sprungbrett, von dem aus die nächste Stufe erschwungen werden kann und soll. Wer faktisch den Sprung tut, ist von der Sache aus gesehen gleichgültig.

Wollen wir das Bewegungsgesetz, das demgemäß der technischen Praxis nicht weniger als der naturwissenschaftlichen Theorie ihren Weg vor-zeichnet, mit einem Kunstausdrude benennen, so bietet sich das ursprünglich nicht ganz sö gemeinte Worte „Fortschritt“ dar. In der Tat: diese Bewegung schreitet mit der unablenkbaren Stetigkeit fort, die ein uns heute schwer verständlicher Vernunftoptimismus der menschlichen Kultur als Ganzem glaubte nachrühmen zu dürfen.

Schon das bis hierher Erwogene läßt uns ahnen, wie schlecht sich das in dieser Sphäre herrschende Bewegungsgesetz mit den Prinzipien einer „humanen“ Pädagogik verträgt. Wie könnte eine Bildungslehre, die den Wertmaßstab, an dem alle Inhaltlichkeit des Kulturlebens zu messen sei, im Menschen und n u r in ihm glaubt suchen zu sollen, sich mit einer geistigen Bewegung befreunden, die den Menschen so unerbittlich an das Diktat einer „sachlichen", einer gegen den Menschen als solchen so gleichgültigen Instanz bindet! Lind doch haben wir mit dem Erörterten noch gar nicht den Punkt erreicht, an dem die „Unmenschlichkeit" der genannten Bewegung in ihrer ganzen Schärfe hervortritt.

Der Umgang mit der Natur So lange wir nur auf den naturwissenschaftlich forschenden und technisch erfindenden Geist hinblicken, haben wir es mit dem Menschen zu tun, der zwar in seinem geistigen Verhalten der Forderung einer ihm nicht nachgebenden Sache gehorcht, der aber andererseits dieser Sache nicht wie einem undurchsichtigen Fatum ausgeliefert ist, sondern ihr Gefüge kraft selbsterworbener Einsicht durchschaut und, weil solcher Mitwisserschaft gewürdigt, sich noch im Besitz seines personalen Seins fühlen darf. Er wird nicht blind von Station zu Station fortgezogen, sondern bewegt sich sehenden Blicks vom Einen zum Andern. Er steht insoweit doch noch über der Sache, die ihn für sich fordert. Allein von dieser relativ günstigen Lage her geht es nun weiter in solche Lebensverflechtungen hinein, in denen gleichfalls die Sache regiert, aber nun nicht mehr als einsichtig erfaßter logischer Zusammenhang, sondern als einsichtslos hinzunehmende Gängelung des menschlichen Tuns.

Wodurch wird diese Wendung möglich?

In dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik haben wir eine spezifische Ausgestaltung jenes Grundverhältnisses vor uns, das wir als dasjenige von „Theorie“ und „Praxis“ bezeichnen. Lins Söhnen eines Zeitalters, das sich selbst dasjenige der Technik nennt, ist diese Sonder-form so geläufig, ja selbstverständlich geworden, deß wir der Vorstellung zuneigen, es gebe für den Menschen, der sich mit der ihm begegnenden „Natur“ in ein Verhältnis setzen will — und das muß er schon aus Grün-

3 den der Selbsterhaltung — überhaupt keine andere Weise der Auseinandersetzung als diejenige, die in dem Gefüge Naturwissenschaft-Technik in vorbildlicher Klarheit hervortritt. Wo und wann immer der Mensch sich mit den Stoffen und Kräften der „Natur“ abgebe, da verfahre er — so meint man — nach der Weise des Subjekts, das das ihm begegnende Wirkliche zunächst „theoretisch“ erforscht und dann die Ergebnisse seines Forschens „praktisch", d. i. technisch, „anwendet“. Sollte diese Vorstellung begründet sein, so gäbe es zwischen dem Verhalten des prähistorischen Menschen, der mit einem Faustkeil seine Schlagkraft steigert, und dem Verhalten des modernen Menschen, der durch Einsatz der Atomkraft ungeheure Apparaturen bewegt, keinen grundsätzlichen Unterschied. Hier wie dort würde „theoretisch“ Erkanntes „praktisch“

verwertet. Es dürfte dann wirklich heißen: „Die Technik ist so alt wie der Mensch“.

Ich glaube, daß mit dieser Angleichung dem Menschen von heute die Möglichkeit genommen würde, sich von Wesen und Tragweite des Schicksals Rechenschaft zu geben, das erst mit dem Aufgang der mathematischen Naturwissenschaft über ihn gekommen ist. Denn durch diese Angleichung wird die radikale Umstrukturierung verschleiert, die dem Verhältnis von Mensch und Natur in dem Augenblick widerfuhr, da der denkende Geist darauf verfiel, das Spiel der natürlichen Kräfte auf ein System mathematischer Relationen zurückzuführen. Die „Sache“, zu der die Natur sich mit dieser Wendung formalisierte, war etwas anderes als die „Natur“, an der das Schauen und Schaffen des Menschen bis dahin sein Gegenglied gehabt hatte. Und die Bemühung um diese Sache war etwas anderes als die Auseinandersetzung mit jener Natur, die dem Menschen bis dahin als Partner gesellt war. Und zwar war es gerade das Verhältnis von „Theorie“ und „Praxis“, an dem sich der Unterschied der vortechnischen und der naturwissenschaftlich-technischen Naturbegegnung am schärfsten ausprägte. Die Eigenart jener ersteren ist dadurch gekennzeichnet, daß sie von der Sonderung und Verselbständigung der als „Theorie“ und „Praxis“ unterschiedenen Haltungen und Leistungen nichts weiß. Ihr Wesen können wir nur aussprechen, indem wir diese uns so selbstverständliche Sonderung verneinen. Die „Theorie“ des vortechnischen Menschen bildet sich in und mit der „Praxis“, als Moment an der „Praxis"; seine „Praxis“ ist die sich in die Handlung hinein verlängernde „Theorie“. Es gibt keine Theorie, an die sich die Praxis als erst hinterherkommende „Anwendung“ anschlösse; es gibt keine Praxis, der die Theorie als in sich abgeschlossene „Grundlegung“ vorgeschaltet wäre. Beides wächst ineinander und durcheinander. Ich wüßte, diese in einem theoretische und praktische Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zu bezeichnen, keinen besseren Ausdruck als das Wort „Umgang“. Mit ihm ist jene Weise der Verbundenheit gemeint, die der Mensch am eindruckvollsten in der Begegnung mit seinesgleichen erlebt. Wer würde es sich einfallen lassen, dasjenige, was den Inhalt dieses Umgangs bildet, in ein die Praxis „begründendes“ theoretisches Wissen und ein die Theorie „anwendendes“ praktisches Sich-verhalten zu zerlegen! Wo doch in Wahrheit erst in jenem lebendigen Austausch von Eindrücken, wie sie der weder bloß theoretische noch bloß praktische Verkehr den einander Begegnenden beschert, die „Erfahrung“ sich bilden kann, die, selbst wenn sie sich in theoretisch klingenden Sätzen ausspricht, ihrerseits wieder ebensogut Willenshaltung wie Betrachtung ist! Dem Umgang mit dem Mitmenschen ist der „Umgang" mit der Natur darin gleich, daß er den Menschen in eine Haltung gebannt zeigt, die der Spaltung in theoretisches und praktisches Verhalten voraufliegt. Dem Menschen tritt in der Natur der Partner gegenüber, von dem man nur etwas erfahren kann, wenn man sich mit ihm einläßt. Es ist ein Lebensverhältnis, das Mensch und Natur in dieser Begegnung eingehen. Mit Recht hat man eine besonders eindrucksvolle Verkörperung dieses „Umgangs“ in der Beziehung gefunden, die den Handwerker des vortechnischen Zeitalters mit dem seinem Zugriff entgegenkommenden Ausschnitt der natürlichen Wirklichkeit verbindet. Eigenart und Reiz der handwerklichen Schöpfung beruhen darauf, daß sie in jedem Zuge dieses Sichfinden und -durchdringen von Geist und Materie bezeugt. An ihr scheitert jeder Versuch, sie als Resultat der „praktischen“ Bearbeitung eines zuvor „theoretisch“ bestimmten Stoffs zu interpretieren.

Es liegt auf der Hand, daß und weshalb eine „Praxis“, die so in den Lebensvollzug eingebettet und aus dem Lebensvollzug beseelt ist, dem um die „humane“ Bestimmung des Menschen sich Sorgenden — zumindest sehr viel weniger Bedenken einflößt als diejenige, durch die sie abgelöst worden ist. Der „Umgang" stiftet zwischen dem Menschen und seinem Gegenüber eine Beziehung, die, wie sie auch im Einzelnen geartet sei, ihn keinesfalls der Gefahr aussetzt, durch dieses Gegenüber in seinem personalen Sein überwältigt, erdrückt, ausgelöscht zu werden. Sie läßt wie den Partner in ihm so ihn in dem Partner zu seinem Rechte kommen. In Anwendung auf den Handwerker: er kann in dem Werk, das er aus dem naturgegebenen Stoff hervorwachsen sieht, sich selbst, d. i.seine Geschicklichkeit, Erfindsamkeit, Gestaltungskraft wiederfinden. Er wird durch das Geschaffene in dem, was er selbst ist, nicht verleugnet oder verdrängt, sondern bestätigt.

3. Der Siegeszug der Sache

Die Trennung von Theorie und Praxis Wie hebt sich von der Folie des dargestellten Lebensverhältnisses die Relation ab, die sich zwischen Mensch und Natur herstellt, sobald Naturwissenschaft und Technik über ihre Gestaltung entscheiden?

Die Antwort gibt uns schon ein flüchtiger Blick auf das Gefüge der modernen Arbeitswelt, und es ist auch seit langem kein Mangel an Selbstanalysen unseres Zeitalters, die es sich vor allem angelegen sein lassen, uns für die dunklen Schatten sehend zu machen, die an dem durch die Technik herbeigeführten Lebenszustande gerade dann hervortreten, wenn man nach seiner Bedeutung für das „Humane“, für das Menschsein des Menschen, fragt.

Von diesen Schatten hier nochmals in aller Breite zu handeln wäre ein mehr als überflüssiges Bemühen. Was uns obliegt, das ist die Beantwortung der Frage, wie das Aufkommen und die Ausbreitung der genannten Bedrohungen mit jenem Primat der „Sache“ zusammenhängt, in dem wir das Charakteristikum der durch Naturwissenschaft und Technik eingeleiteten Entwicklung glaubten finden zu sollen. Wir müssen unsere Frage in dieser grundsätzlichen Form stellen, weil nur dann, wenn sie in dieser Tiefe erfaßt und beantwortet ist, darüber entschieden werden kann, ob und wie das seit der Humanitätsbewegung brennend gebliebene Anliegen auch unter den Lebensbedingungen der modernen Welt festgehalten und erfüllt werden kann.

Das erste, was als Wirkung der aufkommenden mathematischen Naturwissenschaft, besser gesagt: als Offenbarung ihres methodischen Charakters in die Augen fällt, ist das Auseinandertreten der Funktionen, deren Sonderung verneint werden mußte, damit das Wesen der 'vor-technischen Lebenshaltung sichtbar werde: „Theorie“ und „Praxis“ verselbständigen sich. Es entsteht, und zwar als Gabe einer zu peinlichster Exaktheit durchgebildeten Methode, eine Theorie, die wirklich nicht mehr ist als Theorie, d. h. „reine“ Erkenntnis der zu klärenden Relationen — eine Theorie, gewonnen nicht im lebendig-tätigen Umgang mit der Natur, sondern auf Grund hypothetisch vorausberechnender Konstruktion und experimenteller Nachprüfung der von ihr zu erwartenden Reaktionen. Es entsteht, geboren aus dem Geist der nämlichen Methode, eine Praxis, die wirklich nicht mehr ist als Praxis, nämlich reine „Anwendung“ der durch die reine Theorie eingebrachten und zum Gebrauch bereitgestellten Ergebnisse.

Natürlich bleibt auch nach Vollzug dieser Trennung die Möglichkeit bestehen, daß ein und derselbe Mensch sowohl die eine als auch die andere Funktion ausübt, daß er sowohl erkennt als auch die Erkenntnis anwendet. Es kann sogar so sein, daß diese Personalunion sowohl der einen als auch der anderen zuträglich ist. Aber dadurch wird weder an der strukturellen Sonderung der Funktionen etwas geändert noch — was erheblich wichtiger ist — die Möglichkeit ausgeschlossen, daß beide sich auf verschiedene Personen verteilen. Es kann so kommen, daß der eine Mensch lediglich forscht, der andere, an der Forschung unbeteiligt, lediglich ausführt was jener als ausführbar erwiesen. Es leuchtet ein, daß mit dieser Differenzierung der Funktionen der eine so gut wie der andere aus dem „Umgang" mit dem in Betracht kommenden Stück Natur herausgetreten ist und ihn durch ein wesentlich „abstrakteres“ Verhältnis zu ihm ersetzt hat. Die Natur steht beiden als die „Sache“ gegenüber: jenem als die zu analysierende, diesem als die zu manipulierende Sache. Das Lebensverhältnis ist durch jene Relation verdrängt, die die Philosophie als die „Subjekt-Objekt-Spaltung" bezeichnet. Der uneinsichtige Sachdienst Schon daß der Mensch durch sein konstruktives Vorgehen der „Sache“

dergestalt ans Licht emporhilft, genügt, wie wir gesehen haben, um ihn als Person gegenüber dieser Sache in Nachteil zu setzen. Wie weit aber diese Benachteiligung gehen kann, das zeigt sich erst dann, wenn wir die von ihren Urhebern nicht vorgesehenen und vorausgesehenen Folgen ins Auge fassen, die die Funktionentrennung nach sich gezogen hat.

Unter diesen Folgen steht in vorderster Linie das innere Schicksal desjenigen Menschen, an dem sich die durch die besagte Trennung eröffnete Möglichkeit in der Weise erfüllt, daß er etwas praktisch auszuführen beauftragt wird, was als ausführbar zu erweisen und hinsichtlich des Wie der Ausführung zu bestimmen einem von ihm verschiedenen, nämlich dem „rein theoretisch“ eingestellten Subjekt überlassen bleibt.

Denn: wenn und so weit er des von diesem Subjekt Ermittelten unkundig ist, muß ihm dasjenige nachgesagt werden, was für die oben betrachteten Träger der „Versachlichungs" -Tendenz zu verneinen war: er verrichtet das Seine, ohne zu wissen, warum er gerade so und nicht anders zu verfahren hat. Er erfüllt die Forderung einer Sache, deren Bau ihm undurchsichtig ist. Damit wird er in einem sehr viel höheren Maße der Sache hörig als derjenige, der sich mit ihr in selbsterworbener Einsicht, als Mitwisser, solidarisiert.

Es versteht sich von selbst, wie sehr sich angesichts der Möglichkeit einer einsichtslosen Sachdienstbarkeit die Bedenken verstärken müssen, mit denen der Anwalt der Humanität dem Vordringen der Sachforderung gegenübersteht. Denn hier wird bereits die Verkehrung der Wert-rangordnung sichtbar, von der sein Denken beherrscht wird. Statt daß die Sache sich dem der „Bildung“ zustrebenden Menschen unterordnete, zwingt sie ihn in eine gegen sein Menschentum gleichgültige, ja dieses Menschentum knechtende Bewegung hinein.

Die Ausdehnung des theoretischen Sachzusammenhangs Dabei stehen wir mit dem bisher Erwogenen erst an der Schwelle der Entwicklung, die mit dem Auftreten der mathematischen Naturwissenschaft einsetzt. Hier wie stets zeigt es sich, daß der Mensch gerade mit seinen größten Geistestaten Ereignisreihen zum Anlaufen bringt, die, ohne daß sie deshalb irgendwo geistgewirkt und geistgelenkt zu sein aufhörten, gleichwohl in Ergebnisse einmünden, die durchaus nicht im Horizont der sie Initiierenden lagen. Was an seiner Llrsprungsstelle spontane Schöpfung war, wird, kaum daß es ans Licht getreten, auch schon Schicksal.

In der Ausbildung der nicht durch Einsicht erhellten Sachdienstbarkeit offenbart sich diese Schicksalhaftigkeit in folgendem.

Solange sich das Verhältnis von Mensch und Natur in der Form des „Umgangs" gestaltet, -hält sich naturgemäß das, was der Mensch sich als Arbeitsziel vorsetzt und tätig in Angriff nimmt, innerhalb der Grenzen desjenigen Wirklichen, mit dem sich in lebendigem Austausch zu messen ihm nach den Dimensionen seiner personalen Existenz verstattet ist. Was diese Dimensionen extensiv oder intensiv überschreitet, scheidet dmit aus dem Kreis des im „Umgang“ zu Umwerbenden aus. Der Mensch überschreitet nicht den Horizont des Übersehbaren und unmittelbar Anzugehenden. Denn es gehört zu den Bedingungen seines Schaffens, daß sein Gegenstand in sinnlicher Anschaulichkeit und Greifbarkeit zur Stelle ist und zur Verfügung steht. (Daß durch diese Grenzbestimmung Werke von erstaunlichen Ausmaßen nicht ausgeschlossen werden, beweisen Riesenbauten nach Art der Pyramiden).

Es besteht also auf dieser Stufe eine sich selbsttätig herstellende Proportion zwischen dem Menschen und dem von ihm theoretisch-praktisch zu umfangenden Stück Natur — eine Proportion, die seinem Menschentum die Gefahr der Erdrückung ferne hält.

Allein diese automatische Selbstregulierung entfällt, sobald theoretische und praktische Funktion sich verselbständigen. Die „reine Theorie wird entwickelt durch ein Subjekt, das sich in der Abmessung des zu behandelnden Gegenstandskreises innerhalb bestimmter Grenzen zu halten deshalb nicht den mindesten Grund hat, weil es ja nicht zu seinem Auftrag gehört, sich mit diesem Gegenstandskreis praktisch einzulassen. Ja, es verhält sich umgekehrt gerade so, daß die durch die „reine“ Theorie eingebrachten Erkenntnisse um so mehr im Wert steigen, je weiter der Kreis von Gegenständen sich erstreckt, für die sie Geltung haben. Diese Theorie hat ihr zentrales Prinzip in der Idee einer schlechthin alle Naturerscheinungen umfassenden Gesetzgebung. Dies eben ist die Bestimmung des Experiments, daß es die Vorgänge, die sich in einem räumlich-zeitlich beschränkten und deshalb sinnlich greifbaren Stück Materie abspielen, auf Relationen zurückführe, die seine Einordnung in jenes universale System von Wirkungen möglich machen

Die Ausdehnung des technologischen Sachzusammenhangs Nun könnte man meinen, daß dieses Niederlegen aller Schranken ein Vorgang sei, der sich nur im Raume des reinen Gedankens abspiele. In der Realität des tätigen Lebens bekomme der Mensch die Grenzen, die ihm durch seine psychophysische Natur gesetzt seien, gründlich genug zu spüren. Die Praxis korrigiere die Ausschweifungen der sich selbst überlassenen Theorie.

Allein bei näherem Zusehen zeigt es sich, daß die Trennung der Funktionen nicht bloß die Theorie, sondern auch die Praxis in eine bis dahin nicht zu ahnende Weite hinausführt. Auch sie findet sich von der Respektierung der Grenzen losgesprochen, die der „Umgang" zu überschreiten außer Stande ist.

Der Vorgang dieser Entgrenzung setzt ein schon im Reich des Gedankens selbst. Es liegt im Wesen der nach Universalität strebenden „reinen“ Theorie, daß sie, ob sie es weiß und will oder nicht, einer nach eben solcher Universalität strebenden Praxis zum Leben verhilft und den Weg bahnt. Sie tut es dadurch, daß sie sich zu einer „Theorie der Praxis“ fortbildet — auch dies ein Fortgang, der nicht das Werk der Willkür, sondern streng in der Sache vorgezeichnet ist.

Die mathematische Wissenschaft von der Natur hat, methodisch gesehen, ihre Seele am Experiment. Das Experiment ist ein Handeln an der Natur, dessen Anlage sich rein und ausschließlich richtet nach der theoretischen Fragestellung, die durch seinen Ausfall entschieden werden soll. Allein diese rein theoretische Abzweckung ändert nichts an der Tatsache, daß, ist einmal eine hypothetisch aufgestellte Theorie durch den Ausfall des Experiments verifiziert, das rein theoretisch gemeinte Ergebnis auch als Anweisung zum Handeln gelesen werden kann, ja gelesen zu werden verlangt. Bin ich durch das Experiment darüber belehrt, daß auf die Ursache a regelmäßig und notwendig die Wirkung b folgt, und zwar als ein exakt berechenbarer Vorgang folgt, dann bin ich auch schon, ob ich es weiß und will oder nicht, im Besitz der Anweisung, daß ich, will ich den „Zweck“ b mit Sicherheit erreichen, das „Mittel“ a zum Einsatz zu bringen habe. Wird diese Umschreibung vorgenommen, so bin ich vom Boden der „reinen Theorie“ hinübergetreten auf den Boden der „Theorie der Praxis“ — auf den Boden der „Technologie“. Denn die Praxis, die sich hier ihre Theorie gibt, ist keine andere als diejenige, die wir „Technik“ nennen.

Von dieser technologischen Theorie aber gilt es nun, daß sie so wenig wie die reine Theorie, mit der sie solidarisch ist, von den Grenzen weiß, die der Mensch im „Umgang" mit der Natur nicht überschreiten kann. Denn da sie sich lediglich im Reich des Gedankens auf-und ausbaut, kann sie sich von jeder Rücksicht auf das bestimmten Menschen oder Menschenkreisen beschiedene Kräftemaß dispensieren. Sie kann in Anspannung der konstruierenden Phantasie Projekte ersinnen, die in ihrem Ausmaß beliebig weit über den Horizont der im „Umgang“ zu umfangenden Natur hinausgehen. Sie kann in ihren Entwürfen so tun, als stünden ihr zu ihrer Ausführung Subjekte von beliebig zu steigernder Wirkungsmächtigkeit zur Verfügung.

4. Die Vollendung der sachbestimmten Arbeitsordnung

Die Einheit der Planung Wenn die technologische Phantasie von der Voraussetzung ausgeht, über unbegrenzte Kräfte der Ausführung verfügen zu können, so erneut sich dieser Voraussetzung gegenüber der schon oben laut gewordene Einwand. Auch von ihr heißt es, sie müsse sich in demselben Augenblick als eitle Fiktion enthüllen, da es von der „Theorie der Praxis“ zur wirklichen Praxis weitergehe. Denn keine Theorie sei im Stande, den Radius der dem handelnden Menschen vergönnten Wirkungen auch nur um Haaresbreite vorzuschieben.

Allein nun zeigt es sich, daß durch die Trennung der Funktionen dem Menschen nicht nur im Raum des Gedankens sich unbegrenzte Möglichkeiten auftun, sondern auch im Raum der Wirklichkeit Formen der Praxis geschenkt werden, die durch ihre Reichweite alles im Rahmen des „Umgangs“ zu Vollbringende weit hinter sich lassen. Entgrenzt wird durch die Funktionenteilung nicht nur die Theorie, nicht nur die Theorie der Praxis, sondern auch die Praxis selbst.

Das ist aus folgendem Grunde der Fall. Jede Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, möge sie nun in den Formen des Umgangs oder mit den Methoden von Naturwissenschaft und Technik erfolgen, ist nur dann ein sinnvolles und aussichtsvolles Beginnen, wenn die Teile und Phasen, in denen sie sich vollzieht, eine in sich zusammenhängende, weil vom Ziel her geordnete Einheit bilden. Im Falle des Umgangs wird diese Einheit gewährleistet durch die Einheit des Subjekts, in dem Denken und Tun ihren gemeinsamen LIrsprung haben. Tritt die Trennung der Funktionen ein, so erhebt sich die Frage, ob für die Aufrechterhaltung dieser Einheit Sorge zu tragen eine Verpflichtung ist, in die sich beide Funktionen zu teilen haben, oder ob diese Aufgabe einer von beiden zufällt.

Die Antwort muß auf Grund des Ermittelten dahin lauten, daß sie, wenn überhaupt, nur durch die theoretische Funktion erfüllt werden kann. Das muß schon deshalb so sein, weil die verselbständigte Theorie, eingeschlossen die „Theorie der Praxis“, sich in Dimensionen hinein erstreckt, die den Horizont, in den der Mensch als handelndes Wesen eingeschlossen ist, unausdenkbar weit überschreiten. Daß aber die verselbständigte Theorie diese Aufgabe nicht versäume, dafür ist schon durch ihren methodischen Charakter aufs beste gesorgt: ihr Auf-und Ausbau ist ja, wie wir sahen, dirigiert durch das Streben, einen möglichst weiten Umkreis von Erscheinungen auf eine möglichst geringe Zahl von obersten Prinzipien, ja womöglich auf ein solches Prinzip zurückzuführen. Die Theorie ist als solche methodisch gesteuerte Vereinheitlichung. Alle Kraftwirkungen, die innerhalb eines technisch geregelten Arbeitsvorgangs Zusammentreffen, sind eine Spezifikation dieser durch die Theorie gestifteten Einheit. Andererseits darf die Praxis als solche sich von der Aufgabe der Einheitsstiftung mit gutem Gewissen entlastet fühlen, da sie ja nichts anderes zu tun hat, als das durch die „reine“ Theorie Erkundete „anzuwenden“ bzw. das durch die „Theorie der Praxis“ Vorgeschriebene „auszuführen“. Mag man nun das durch sie zu Leistende als „Anwendung“ oder als „Ausführung“ interpretieren — in der einen wie in der anderen Kennzeichnungist die Feststellung enthalten, daß die Verantwortung für Einheit und ziel-bestimmte Ordnung des zu Tuenden auf die Seite der Theorie und nicht auf die Seite der Praxis fällt. Der Praxis wird durch die Theorie eine Sorge abgenommen, die voll auf sich zu nehmen zum Wesen des Umgangs gehört.

Die Teilung der Arbeit Lind gerade diese Entlastung ist es nun, die der Praxis die Möglichkeit gibt, es der Theorie in der Erweiterung ihres Aktionsfeldes gleichzutun. Denn wenn der praktisch Tätige sich über den Zusammenhang der Gesamtaktion, in die er mit seinem Tun eingespannt ist, keine Gedanken zu machen braucht, weil für ihn schon durch die sie steuernde Theorie gesorgt ist, dann steht ja nichts im Wege, diese Aktion unter eine Vielzahl von handelnden Subjekten au fzu teilen — und zwar in der Weise aufzuteilen, daß jedes einzelne dieser Subjekte nur den von ihm „auszuführenden“ Ausschnitt des Ganzen auf sich zu nehmen hat, sich aber um die den anderen Subjekten zufallenden Ausschnitte nicht zu kümmern braucht, weil die sinnvolle Zusammenfügung aller Teilleistungen schon durch die das Ganze dirigierende Theorie garantiert ist.

Für diese Aufteilung einer in der Einheit eines Projektes vorgezeichneten Gesamtaktion gibt es keine prinzipielle Grenze. Das Projekt mag sich, was den Umfang der in ihm vorgesehenen Handlungen angeht, ausweiten soviel es will — seine Ausführung begegnet keinem Hindernis, weil die Zahl der zur Ausführung heranzuziehenden Subjekte beliebig erhöht werden kann. Auf diese Weise wird es möglich, daß „Theorie“ und „Praxis" in der Entschränkung miteinander Schritt halten.

Wir haben mit diesen Überlegungen den vielberedeten Vorgang der „Arbeitsteilung“ auf die Prinzipien zurückgeführt, in denen seine Möglichkeit letztlich gegründet ist. Wir haben erkannt, daß die Zerlegung des eigentlichen, des praktischen Arbeitsvorgangs, die mit dem angeführten Worte zunächst gemeint ist — jene Zerlegung, für die uns das „fließende Band“ zum unheimlich beredten Symbol geworden ist — ihre Voraussetzung hat in dem Auseinandertreten der theoretischen und der praktischen Funktion, das in dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik seine methodische Vollendung erreicht. Jenes Auseinander-treten könnte man, ohne der Sprache Gewalt anzutun, als den ursprünglichen Akt der „Arbeitsteilung" bezeichnen, durch den die in der Sphäre der Praxis geschehende Arbeitsteilung überhaupt erst möglich wird.

Alles, worin man herkömmlicherweise das Wesen der aus dem Geist der Technik inspirierten Arbeit finden will — der Rückgriff auf solche Kräfte, die nicht in der Natur vorgefunden werden, sondern aus ihr erst zu entbinden sind, die Speicherung der Energien auf Vorrat, die Herrschaft der Maschine — alles dies ist gegenüber jener ursprünglichen Differenzierung von sekundärer Art. Denn es konnte erst durch die zur Selbständigkeit durchgedrungene Theorie als möglich, als realisierbar in Sicht gebracht werden.

Arbeitsordnung und Humanität Wir haben mit den letzten Darlegungen den Umkreis von geistigen Leistungen, der durch die Worte „Naturwissenschaft", „Technologie“, „Technik“ bezeichnet wird, bereits überschritten. Wir sind zu den Formen der Produktion übergegangen, die durch die Entwicklung der neuzeitlichen Technik nicht etwa bloß in den Horizont des als möglich Diskutierbaren hereingeholt worden sind, sondern sich an die Entwürfe dieser Technik angeschlossen haben wie die Erfüllung an die Verheißung. Wiederum tritt uns damit ein Fortgang vor Augen, der, obwohl in jeder Phase vom Geist gewirkt und nicht durch natürliche Notwendigkeit verhängt, gleichwohl insofern stattfinden „mußte", als die innere Logik der Sache gebieterisch vom Einen zum Anderen weiter drängte. So unauflösbar die Solidarität ist, die die Technik mit der mathematischen Naturwissenschaft verbindet, so unumgehbar und schicksalsbestimmt ist das Bündnis, das die wirtschaftliche Produktion, zur „Industrie“ sich-fortbildend, mit der Technik eingeht. Wie unzertrennlich diese drei zusammengehören, erweist sich darin, daß ihre Entwicklung, je weiter sie fortschreitet, um so mehr das Wechselspiel der Anreize vervielfältigt und emporsteigert, durch die sie sich gegenseitig vorwärtstreiben. Indem wir aber nun, der dargestellten Entwicklung nachgehend, in den Bereich der Arbeitsordnung eintreten, die sich im Gefolge der naturwissenschaftlich-technischen Naturbemeisterung einstellen mußte, haben wir uns in die nächste Nähe jener Problematik vorgearbeitet, die sich aus der zwischen Mensch und Sache obwaltenden Spannung mit Notwendigkeit ergibt. Diese Problematik war im Ansatz schon vorhanden, als der denkende Menschengeist sich daranmachte, aus der ihm begegnenden Natur das methodisch bestimmte „Objekt“ herauszupräparieren. Ihre ganze Tiefe aber konnte sie erst in dem Augenblick enthüllen, da der an die Sache sich bindende Geist dazu überging auch die menschliche A r bei ts wei t nach den aus der Sadie entfließenden Anweisungen zu ordnen. Wir sahen, daß dieser Übergang den um die Humanität sich Sorgenden schon aus dem Grunde beunruhigen muß, weil mit ihm die nicht durch Einsicht erhellte Sachdienstbarkeit sich nicht bloß als Möglichkeit auftut, sondern nicht zu umgehende Wirklichkeit wird. Allein die ganze Tragweite dessen, was mit dem Übergreifen des Sachprimats auf die Arbeitswelt vor sich geht, enthüllt sien doch erst mit dem Ausblick auf die inneren Schicksale, denen der Mensch durch die prinzipiell ins Unbegrenzte fortgehende Arbeitsteilung ausgeliefert wird. Sie sind schon so oft analysiert und kritisiert worden, daß ihre ausführliche Erörterung sich erübrigt. Nur das Grundgeschehen gilt es wiederum ins Licht zu rücken.

Die Realisierung eines arbeitsteilig zu vollführenden Produktionsprozesses setzt voraus, daß sich den naturwissenschaftlichen und technologischen Überlegungen, die sich lediglich auf das der Produktion zu unterwerfende Stück Natur beziehen, diejenigen Planungen hinzugesellen, die darauf ausgehen, der Verteilung der zu leistenden Gesamt-arbeit auf die sie vollbringenden Menschen die zweckmäßigste Gestalt zu geben. Die Arbeit will „organisiert“ sein. Welche Richtung dieses organisierende Denken einschlagen wird, ist leicht vorauszusehen. Die Organisation verspricht um so besser zu funktionieren, je vollkommener sie sich den Forderungen anpaßt, die aus dem Gefüge der durch die Produktion zu bemeisternden Sache entspringen. Die arbeitsteilige Zerlegung der zu vollbringenden Gesamtleistung wird mutmaßlich in dem Falle am zweckmäßigsten ausfallen, wenn sie die Gliederung der Sache selbst zum alleinigen Leitfaden nimmt. Wo in dieser Weise geplant und verfügt wird, da kommt es dahin, daß schließlich das, was dem einzelnen innerhalb des Gesamtprozesses stehenden Menschen als Leistung abverlangt wird, sich rein und ausschließlich nach dem Diktat der Sache richtet — mit der oft beklagten Wirkung, daß die Frage, wie es ihm als Menschenbei dieser LInterwerfung unter die Sachordnung ergehen mag, überhaupt nicht gestellt wird. So bildet sich jene menschliche Situation, deren Fragwürdigkeit um so offenkundiger wird, je winziger der Ausschnitt des gesamten Arbeitsprozesses wird, der als zu absolvierendes Arbeitspensum in den Gesichtskreis des einzelnen Arbeiters fällt. Denn je mehr dieser Ausschnitt zusammenschrumpft, um so ferner ist der arbeitende Mensch der Möglichkeit, sich von dem Ganzen, aus dem heraus sich Sinn und Zweck seiner besonderen Leistung bestimmt, eine auch nur einigermaßen zutreffende Vorstellung zu machen. Jetzt ist es wirklich so weit, daß er mit dem, was er tut, an ein Sachgefüge gleichsam angeschmiedet ist, dessen Bau ihm vollkommen undurchsichtig ist.

Die Sache hat ihn zu ihrem Sklaven entselbstet. Der „Fortschritt“ ist ihm zum Zwingherrn geworden.

Hüten wir uns indessen vor der Versuchung, uns die menschliche Bedeutung der Entwicklung, die die Sadie zum Sieg über den Menschen führt, ausschließlich an dem Schicksal des an das Fließband gebannten Arbeiters zu veranschaulichen! Machen wir uns vielmehr klar, daß seine Lage der allerdings extreme Fall eines Grundverhältnisses ist, in dem alle an dem Ganzen des Produktionsprozesses Beteiligten, sei es planend sei es handelnd, sei es führend sei es ausführend, befangen sind! Wir erinnern uns, daß die Bindung der Person an die Sadie schon da einsetzt, wo das Subjekt sich den in Betracht kommenden Sachzusammenhängen nicht in blinder Folgsamkeit unterwirft, sondern in einsichtiger Durchdringung angleicht. Nicht umsonst ist heute auch in den Kreisen der wissenschaftlich Forschenden, technisch Entwerfenden, wirtschaftlich Disponierenden die Empfindung so weit verbreitet, einem „Betrieb überantwortet zu sein, dem Richtung und Tempo nicht durch die Impulse der innerhalb seiner Tätigen mitgeteilt, sondern durch ein über deren Köpfe hinweg sich durchsetzendes Fatum verordnet werden. Das Schicksal der „Mechanisierung" läßt keinen unberührt. Der „Fortschritt schreibt auch den äußerlich die Spitze Haltenden die Route vor.

5. Kulturpolitik als Hintergrund des Humanitätsideals

Auflehnung wider den Zeitgeist Wir haben den Strang der geschichtlichen Gesamtentwicklung, der der „Sache“ zu einem unaufhaltsam sich steigernden Übergewicht über den Menschen verhülfen hat, so dargestellt, wie er sich uns, den heute Lebenden, im Rückblick auf die drei Jahrhunderte darstellt, die seit dem Hervortreten der mathematischen Naturwissenschaft verflossen sind. Es ist für uns nicht schwer, die Grundmotive dieser Bewegung aufzudekken, weil wir das Ganze der Entwicklung überschauen, in der sie das schon in ihren Anfängen Angelegte mit unablenkbarer Folgerichtigkeit und rapide zunehmender Geschwindigkeit zu allseitiger Entfaltung gebracht hat und mit jedem neuen Tage zu bringen fortfährt. Es macht uns deshalb auch keine Mühe, jene Richtungsabweichung, kraft deren sich der staatlich-gesellschaftliche Prozeß von der durch das klassische Bildungsideal angezeigten Wegweisung fortbewegt, schon in der Physiognomie einer Epoche zu gewahren, welche — es sei an das Geburtsjahr von Watts Erfindung erinnert — die der Versachlichung zudrängenden Gewalten nur in den ersten schüchternen Andeutungen sichtbar werder ließ.

Wir würden uns, da dem so ist, nicht wundern, wenn, im Unterschiede von uns, die noch jener Epoche angehörenden Verkünder der Humanitätsidee gar nicht bemerkt hätten, daß sie ein normatives Menschenbild aufrichteten, dem eine erst im Anlaufen begriffene gesellschaftlich-wirtschaftliche Bewegung immer mehr die Bedingungen der Verwirklichung entziehen sollte. Wir hätten in ihnen alsdann die Opfer einer zwar den Geist beschwingenden, aber die Realität verschleiernden Täuschung zu erblicken.

Allein wenn wir uns den literarischen Selbstbezeugungen der Humanitätsbewegung zuwenden, dann finden wir diese Erwartung durchaus nicht bestätigt. Wir sind im Gegenteil überrascht, wenn wir feststellen, mit welcher Klarheit schon die Wegbereiter dieser Bewegung den Gegensatz bemerkt und ausgesprochen haben, den wir erst im nachklassichen Zeitalter deutlich meinen hervortreten zu sehen. Überraschend ist uns diese Entdeckung deshalb, weil, wenn wir unsere allgemeine Lebenslage mit derjenigen vergleichen, aus welcher der Geistesfrühling unserer Klassik hervorbrach, es uns scheinen möchte, als habe jenes Zeitalter der Verwirklichung der „Humanität“ ebensoviel an Vergünstigungen zuteil werden lassen, wie das unsrige ihr an Hindernissen in den Weg legt. Müssen wir nicht die Zeitgenossen eines Goethe gerade deshalb beneiden, weil sie noch nicht in den Panzer einer Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung eingeschnürt waren, in der dem Drang nach menschlicher Selbstvollendung der Atem ausgehen mußte? Um so mehr befremdet es uns, daß auch sie, die anscheinend so Bevorzugten, sich in eine geschichtliche Umwelt verschlagen glaubten, deren herrschenden Gewalten die Verwirklichung ihres Menschheitsideals abgekämpft werden müsse. Lind wenn wir uns dann nach den Gründen umschauen, mit denen sich diese Frontstellung wider den Geist der Epoche rechtfertigt, dann widerfährt es uns, daß wir Klagen und Anklagen zu hören bekommen, die uns in die Ohren klingen, als seien sie durch die seelischen Bedrängnisse unserer Tage, durch die Widrigkeiten unserer gesellschaftlichen Einzwängung ausgepreßt. Wie sollen wir es verstehen, daß die führenden Geister der Klassik, sie, die die uns gleich seligen Götter-söhnen vor Augen stehen, bereits den Druck von Lebensverhältnissen verspürten, in denen wir eine den Hinterherkommenden aufgesparte Heimsuchung meinen erblicken zu sollen?

Zerteilung und Totalität Daß die Apostel der Humanität dergestalt mit ihrem Zeitalter auf dem Kriegsfuß standen, dem ist um so mehr Gewicht beizulegen, als ihr Ideal erst in der Auseinandersetzung mit ihm seine Gestalt gewonnen hat. Die Zustände dieses Zeitalters waren nicht bloß der dunkle Hintergrund, von dem sich das Bild wohlgearteten Menschentums in leuchtender Klarheit abheben sollte. Wesentliche Züge dieses Bildes sind geradezu als Verneinung der zu überwindenden Gebrechen der Epoche konzipiert und formuliert. Die Verkünder der Humanitätsidee stehen, so betrachtet, insgesamt in der Nachfolge des beredtesten unter den Anklägern ihres Jahrhunderts: in der Nachfolge Rousseaus. Wie seine ganze Erziehungsprogrammatik geboren ist aus dem Abscheu vor einem Kulturzustande, der den Menschen gerade in dem, was ihn zum Menschen macht, zur Verkümmerung verurteilt, so ist auch die Idee der „Humanität“ gedacht als das einzige Heilmittel, das einer von der Gefahr des radikalen Selbstverlustes bedrohten Menschheit zur Rettung ihres Eigentlichen und Wesentlichen verhelfen könne. Von dem Evangelium der Humanität ist nicht abzutrennen dieKritikdermodern e n Kultur. In ihr hat das sie beseelende missionarische Pathos seine Wurzel.

Welches aber sind die Züge im Antlitz der Epoche, durch die sich der Anwalt der Humanität zum Widerspruch gereizt fühlt? Ihr Fluch ist die Zerrissenheit, verschuldet durch die künstliche Trennung von Funktionen, die nur vereint zum Heile wirken können. Der die Folgen dieser Sonderung zu tragen hat, das ist, wie selbstverständlich, der Mensch. Für eine der ausgesonderten Tätigkeiten ganz und gar mit Beschlag belegt, wird er selbst zu einem gewaltsam vereinseitigten, mit den nicht beanspruchten Teilen seines Wesens verkümmernden Geschöpf. Er wird Bruchstück dessen, was er sein sollte. Der Widerspruch wider diese Verstümmelung der menschlichen Natur bildet sich zur positiven Forderung um in jenem Begriff, der recht eigentlich das Herz der Humanitätsidee ausmacht: im Begriff der „Totalität“. Es ist die Sehnsucht nach dem ganzen Menschen, dem Vollmenschen, die sich gerade an dem Anblick von so viel fragmentarischem Menschentum zur Leidenschaft entzündet. Lind die schier abgöttische Verehrung, mit der die Humnitätsbewegung auf die Gestalten und Begebenheiten von Hellas hinblickte, hatte ihren Grund vor allem in der Überzeugung, daß es dem griechischen Menschen, ihm allein, gelungen sei, das Wesen des Menschen überhaupt zu der Allseitigkeit zu runden, die anderwärts und zumal in der modernen Welt vergebens gesucht werde.

Wenn wir diesen Lobpreis des unverstümmelten, des zur Ganzheit entfalteten Menschen lesen, dann wundern wir uns nicht, daß die pädagogische Gedankenbewegung der Gegenwart so oft und gerne auf die Formeln der Humanitätsbewegung zurückgreift. Denn alles das, was schon die Generation eines W. v. Humboldt an Verkürzungen des Menschentums meinte beklagen zu sollen, ist doch ein Kinderspiel, verglichen mit dem Zwang zur radikalen Vereinseitigung, dem der Mensch durch den fortschreitenden Siegeszug der sich zur Herrin aufschwingenden „Sache“ unterworfen worden ist. Ein „ganzer“ Mensch sein zu dürfen — dies eben ist doch das in der Tiefe bohrende Verlangen desjenigen, dem die sein Zeitalter beherrschende Arbeitsordnung zumutet, in einer vom Ganzen abgespaltenen Teilverrichtung von beschämender Geringfügigkeit seinen Lebensinhalt zu finden.

6. Gestalten der Kulturkritik

Herder Der Eindruck, daß wir uns in der Welt unserer eigenen Daseinsnöte und nicht in einer dahingegangenen Epoche befinden, verstärkt sich, wenn wir den einzelnen Äußerungen dieser humanistischen Kulturkritik nachgehen. Da verfaßt etwa Herder in eben dem Jahre, das schon als Geburtsjahr von „Werthers Leiden“ unseren Blick auf sich zog, eine geschichtsphilosophische Studie, die auf weite Strecken hin nichts anderes ist als eine grimmige Abrechnung mit seinem eigenen Zeitalter. Haben wir nicht Grund, verblüfft zu sein, wenn er alles, was er als Verirrung dieses Zeitalters meint brandmarken zu sollen, in dem Wort „Maschine“ zusammenfaßt? Maschine: so heißt für ihn die staatlich-gesellschaftliche Verfassung, die allenthalben den abstrakten Regeln eines nivellierenden und reglementierenden Verstandes die Herrschaft über das nach blühender Vielgestalt drängende Leben überläßt. Maschine: so heißt für ihn die Form einer Tätigkeit, die den sie Ausübenden zur „Marionette eines schönen Regelmaßes“ herabwürdigt. Kurzum: Herder meint mit dem angeführten Wort nichts anderes als jene Entselbstung des Menschen, die man heute mit dem terminus „Mechanisierung“ belegt. In dem, was Herder zur näheren Kennzeichnung der „Maschine“ ausführt, nehmen die staatlich-rechtlich-gesellschaftlichen Bindungen den breitesten Raum ein; die technisch-ökonomischen Zwangsläufigkeiten bleiben im Hintergründe. Um so mehr heißt es sich den Zusammenhang vergegenwärtigen, der tatsächlich die Maschinerie des damaligen Lebens in Staat und Gesellschaft mit den von uns erörterten Ursprüngen der technisch-ökonomischen Entwicklung verbindet. Die Gestaltung der öffentlichen Dinge, an der sich Herder stößt, ist ihrer Form nach das Werk jener geistigen Bewegung, die sich selbst als „Aufklärung“ bezeichnet. Es ist der „aufgeklärte“ Staat, der in seinem Aufbau die von Herder gegeißelte Rationalisierung durchführt. Die Aufklärung ihrerseits aber ist die allseitige Ausbildung eines Gedankensystems, das sich von vornherein an dem Muster der so glänzend bewährten Methodik des naturwissenschaftlich-technischen „Sach" denkens meinte orientieren zu sollen. Durch diese Übertragung geriet auch die staatlich-gesellschaftliche Wirklichkeit unter die Herrschaft dieses Denkschemas. Indem der Staat sich nach Anweisung dieses Schemas durchstrukturiert, führt er jene Ordnungsform in das Leben ein, die später mit gutem Grunde den Namen „Technik der Gesellschaft“ erhalten hat. In ihrer Wirkung auf den Menschen trifft sie mit den Ausstrahlungen jener primären Technik zusammen, die es nur mit den Stoffen und Kräften der Natur zu tun hat.

Die eine wie die andere tendiert dahin, das Eigenwesen des Menschen der Diktatur eines außermenschlichen Sachgesetzes zum Opfer zu bringen.

Schiller Führt Herder den Kampf wider das Vordringen der Mechanisierung mit der ganzen Leidenschaft des geistigen Revolutionärs, so sucht ihm Schiller mit dem Rüstzeug einer tiefbohrenden philosophischen Besinnung beizukommen — auch er geleitet von der Sorge um.den von dem Verlust seiner selbst bedrohten Menschen. Es sind die „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“, die dieser Sorge ihre Entstehung verdanken und die sie sowohl auf das rechte Maß zurückzuführen als auch durch Beschwörung von Gegenkräften zu bannen bestimmt sind. Hier ist es denn auch, wo wir Sätzen begegnen, die sich wie im Angesicht unseres heutigen bis ins Unabsehbare aufgespaltenen Arbeitsgetriebes formuliert ausnehmen. Oder greifen wir nicht an unsere eigene Brust, wenn wir lesen: „Wir sehen nicht bloß einzelne Menschen, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind“. Oder: „Mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit der Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt“. Es ist das uns Heutige umfangende gemeinsame Leben, dessen Bild wir vor uns zu sehen glauben, wenn wir von dem „kunstreichen Uhrwerk“ hören, „wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.“ Lind es ist der „Funktionär“ des technisch-organisatorisch durchkonstruierten Arbeitssystems, dessen Los uns folgender Satz zu schildern scheint:

„Ewig an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdnick seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“

Pestalozzi Was Herder und Schiller als ein Übel, das alle Stände der neuzeitlichen Gesellschaft heimsucht, diagnostizieren, dem geht Pestalozzi in der besonderen Gestalt nach, die es als der auf der Klasse der Werktätigen lastende Fluch annimmt Mit Schaudern sieht er, wie alle jene Stiefkinder des Geschicks, die „keinen Teil an der Welt haben“, durch die Mach'-einer Entwicklung, die ihm das „Zivilisationsverderben“ heißt, zu bloßen „Bruchstücken einer Duodezmenschlichkeit“ verstümmelt und zu einer „Schiefheit“ verunstaltet werden, die ihre Menschennatur der völligen Verwahrlosung anheimgibt. Und es ist seine Überzeugung, daß die „Zivilisation“ gar nicht anders kann als ihnen so übel mitspielen.

Denn sie ist, im Unterschiede von der „Kultur“, reinster Ausdruck und ausschließliche Schöpfung dessen, was er die „kollektive Existenz“ nennt.

Von dieser aber gilt der Satz: „Die kollektive Existenz unseres Geschlechts hat als solche Erfordernisse, die mit den Ansprüchen der Individuen und mit den höheren Ansichten der Menschennatur in einem ewigen Widerspruch stehen.“ Hat es je ein Geschlecht gegeben, das von der Wahrheit dieses Satzes sich so gründlich hätte überzeugen können wie das unsrige, dem die Ansprüche der „kollektiven Existenz“ jeden Tag näher auf den Leib rücken?

Hölderlin Wenn aber die bisher zu Worte gekommenen Denker die Verkümmerung des Menschseins als eine Gefahr glaubten signalisieren zu sollen, von der die ganze Kulturmenschheit bedroht sei, so blieb es dem an der Geistesart seiner Landsleute tief und schmerzlich leidenden Hölderlin vorbehalten, die „Unheilbarkeit des Jahrhunderts“ an den sie angeblich am schmählichsten Bezeugenden, nämlich den Deutschen, diesen „Scherben eines weggeworfenen Gefäßes“, darzutun. „Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen!“ An dieser viel zitierten Stelle des „Hyperion" wird der Deutsche recht eigentlich zum Antipoden des die Umrisse seiner Menschlichkeit ausfüllenden Griechen.

Gegenwehr?

Die angeführten Stimmen genügen, um zu beweisen, daß die Spannung, als welche sich das Verhältnis zwischen der Humanitätsidee und der gleichzeitig anhebenden gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklung charakterisiert, durchaus nicht erst von uns, die wir als Hinterherkommende natürlich klarer sehen, bemerkt wird, sondern schon den Wegbahnern jener Idee deutlich zum Bewußtsein gekommen ist. Aber je weniger sie sich über das Faktum gegenstrebiger Tendenzen täuschten, um so weniger konnten sie der Frage aus dem Wege gehen, wie man diesen Gegenkräften zu begegnen habe — und das führte hinwiederum auf die Frage zurück, wie es denn um ihr Wesen, ihre Notwendigkeit, ihr sei es auch bloß relatives Recht bestellt sei. Denn sie einfach als nicht vorhanden zu behandeln ging doch wohl nicht an. Man mußte dem Gegner ins Antlitz schauen, mit dem es fertig zu werden galt.

Auch in dieser Hinsicht sehen wir schon an den wenigen Autoren, die uns die Humanitätsbewegung repräsentieren sollten, höchst charakteristische Llnterschiede der Stellungnahme hervortreten — Unterschiede, die seitdem in den einschlägigen Auseinandersetzungen immer wieder durchgedrungen sind.

Am einfachsten liegen die Dinge bei Herder. Für ihn ist die Verfassung des gemeinsamen Lebens, die den Menschen um sein Menschsein betrügt, Zeichen und Folge des Fehlgehens, dessen er sich schuldig gemacht hat, indem er sich über sein Wesen und seine Bestimmung durch die Sophismen des klügelnden Verstandes aufklären ließ. Es ist recht eigentlich der Sündenfall des Geistes, den er durch die Verkümmerung seiner Menschlichkeit zu büßen hat. Der in polemischer Leidenschaft Erglühende sieht in dem Übel, wider das er ankämpft, die Frucht eines Geschehens, das nicht hätte sein sollen, dessen Ergebnisse folglich nach Möglichkeit aus dem Dasein auszutilgen der Freund der Humanität als heilige Pflicht anzusehen hat.

Daß vollends der am Menschentum des Deutschen verzweifelnde Hölderlin in dem Bekämpften nur die Ausgeburt einer unverzeihlichen und kaum noch korrigiblen Verirrung erblicken kann, versteht sich von selber.

Ganz anders stellen sich die Dinge in den Augen Schillers dar. Obwohl er die Entstellung, die dem Menschen durch die in Frage stehende Entwicklung widerfahren ist, nicht leichter nimmt als Herder — wie könnte er sonst den Krankheitszustand der modernen Gesellschaft in einem so überzeugenden Bilde festhalten — ist er doch ferne davon, sie als die Folge einer Entwicklung anzusehen, die nicht hätte sein sollen und daher in ihren Ergebnissen nach Möglichkeit zu annullieren wäre. Im Gegenteil: in ihm lebt eine geschichtsphilosophische Gesamtanschauung, die es. ihm möglich macht, den bestehenden Notstand in seiner ganzen Bedrohlichkeit zu sehen und doch als eine im Gesamtverlauf der mensch-liehen Geschichte notwendige und sinnvolle Phase anzuerkennen. Die Sonderung der Tätigkeiten, die den einzelnen Menschen in die Enge einer fragmentarischen Existenz einschließt — sie m u ß t e sein, weil das Ganze der Menschheit nur durch Aufteilung der ihr gestellten Gesamtausgabe über die Stufe hinauskommen konnte, die der noch nicht zur Differenzierung fortgeschrittene Grieche erreicht hatte. Der Weg der Geschichte geht von der in sich geschlossenen Einheit zu der sich ausfaltenden Vielheit. Aber freilich: er geht ihn nicht, um bei ihr stehen zu bleiben, sondern um durch sie hindurch zu einer höheren, einer aus der Vielheit sich wiederherstellenden und entsprechend reicheren Einheit vorzudringen. Er führt von der naturhaft-unbewußten Totalität durch die natur-entfremdete Selbstzerlegung zu der ihrer selbstbewußt gewordenen Totalität.

Fürwahr ein wichtiger Umschlag des Urteils! Was den um die Humanität sich Sorgenden beunruhigte, ja peinigte, das war, unbeschadet seiner Anstößigkeit, nicht als Frucht eines vermeidbaren und deshalb zu verdammenden Fehltritts diskreditiert, sondern als notwendige und sinnvolle Gestaltung anerkannt. Aber freilich: anerkannt war es nicht als ein Zustand, bei dem der Mensch sich beruhigen dürfte, sondern nur als Durchgangsstufe, die zu passieren sei, auf daß jenseits ihrer ein vom Fluch der Selbstzerspaltung erlöstes Geschlecht die Menschheit in ihrer Vollendung verkörpere.

Noch einen Schritt weiter geht in der prinzipiellen Anerkennung-der auf die Menschlichkeit drückenden Daseinsmächte die Sozialtheorie Pestalozzis. Der Widerspruch, der ihr zufolge die Forderungen der kollektiven und die Ansprüche der individuellen Existenz aufeinanderprallen läßt, ist nicht ein Konflikt, den die fortscheitende Entwicklung in Harmonie aufzulösen die Möglichkeit oder gar die Bestimmung hätte. Er ist der Ausfluß eines Gegensatzes, der „ewig“ ist, weil er zur Existenz des Menschen als solcher unabtrennbar hinzugehört, der also immer von neuem ausgehalten und durchgekämpft sein muß, so lange der Mensch sich nicht bereit findet, sein individuelles Menschsein dem nivellierenden Druck der Kollektivität zum Opfer zu bringen. Damit ist, wie bei Schiller, dem Negativen im Gesamtbilde des menschlichen Daseins sein Platz zugestanden, aber nicht als einer zu überwindenden Phase, sondern als einem dauernden Grundmotiv bewußten Seins.

7. Das Verhältnis von Mensch und Welt bei Goethe

Goethe und die moderne Arbeitswelt Eine besondere und besonders beachtliche Abwandlung der von den Befragten behandelten Daseinsproblematik haben wir in der Gedankenwelt desjenigen vor uns, den wir bisher absichtlich im Hintergrund gehalten haben: in der Gedankenwelt Goethes. Was er zu diesem Thema zu sagen hat, das hat schon aus dem Grunde besonderes Gewicht, weil er im Unterschiede von der Mehrzahl der vor ihm abberufenen Klassiker lange genug gelebt hat, um die den Humanitätsaposteln anstößige Funktionalisierung des Menschen auch über das technisch-ökonomische Gebiet sich ausbreiten zu sehen. Das aufkommende „Maschinenwesen“ hat ihm schwere Beklemmungen bereitet. Die „Wanderjahre“ sind der dichterische Ausdruck für die Lebensstimmung eines Geschlechts, das in eine Epoche tief einschneidender gesellschaftlicher Umgestaltungen eingetreten zu sein gewiß ist So werden wir durch das Werk des alternden Goethe wesentlich näher an jene Verwicklungen herangeführt, deren letzte Gründe aufzudecken unsere oben vorgetragene Darlegung bestimmt war. Ja, wir finden diese Verwicklungen bis in ihr Herz hinein mit einer Klarheit bloßgelegt, die an den ahnenden Spürsinn eines prophetischen Geistes gemahnt.

Weil Goethe vor den hier sich anbahnenden Entwicklungen nicht die Augen verschlossen hat, darum hat er auch — so lautet die herkömmliche Darstellung — das Evangelium der Humanität, als deren unübertroffene Verkörperung er den bewundernden Zeitgenossen gegolten hatte, so abgewandelt, wie die Rücksicht auf die sich umlagernden Zeitumstände es forderte. Die Pädagogik seiner Altersjahre ist, so meint man, die Brücke zwischen dem zu Ende gehenden Zeitalter der klassisch-bürgerlichen Kultur und der aufsteigenden Welt der industriellen Gesellschaft.

Es ist vor allem die den „Wanderjahren“ eingefügte Utopie der „p ädagogischen Provin z“, in der man das Dokument dieser Versöhnung mit dem Geist einer neuen Zeit meint erblicken zu sollen Und zwar sind es besonders zwei Grundzüge in-dem Gemälde dieses pädagogischen Gemeinwesens, in denen man den Hinweis auf eine veränderte Grundhaltung finden will.

Zum ersten: das der ursprünglichen Humanitätsbewegung selbstverständliche Postulat der „allgemeinen Bildung“ („Universalität“!) wird nicht nur aufgegeben, sondern nachdrücklich verneint. „Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung“. „Ja, es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten.“ „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen."

Zum zweiten: zu den Vermögen, die im Interesse der Bildung mit bewußter Einseitigkeit zu entwickeln die Weisheit der pädagogischen Provinz gebietet, zählen auch und gerade diejenigen Fertigkeiten, die der Mensch im Sichmessen mit den Stoffen und Kräften der „Natur“

erwirbt. Die Hand wird als Organ der Menschwerdung anerkannt, ja gepriesen. Humanität tritt aus den Bezirken des „reinen“ Geistes, der „Innerlichkeit“ heraus — wie stark die Neigung war, sie innerhalb ihrer festzuhalten, wird sich noch zeigen — und bezieht die „äußere“ Welt in ihre Kreise ein.

Mit dem einen wie mit dem anderen aber hat doch wohl der alternde Goethe — dies die so manchen Pädagogen beherrschende Vorstellung — die Vorbehalte fallen lassen, mit denen bis dahin die Humanitätsbewegung der arbeitsteiligen Lebensordnung der modernen Welt gegenübergestanden hatte. Er hat der Spezialisierung, und zwar auch der Spezialisierung der manuell zu vollziehenden Produktion, den pädagogischen Segen erteilt.

Es hätte für den Freund der Humanität etwas ungemein Beruhigendes, wenn er sich sagen dürfte, daß die Arbeitsordnung, die den modernen Menschen so sehr um sein Menschentum bangen läßt, durch den glaubwürdigsten Vorkämpfer unverkümmerter Menschlichkeit von dem Verdacht der Un-menschlichkeit losgesprochen sei. Soll, darf er sich von ihm überreden lassen, seine Besorgnisse als Ausfluß einer unbegründeten Hypochondrie zu verabschieden? -

So verlockend die hier winkende Beschwichtigung sein mag, so wenig dürfen wir uns verführen lassen, uns ein Beruhigungsmittel zu verschreiben, das — eine vollkommene Fehlinterpretation Goethes zur Voraussetzung haben würde. Es lohnt sich, zuzusehen, warum die angeführte Pädagogenmeinung in die Irre geht. Wir werden für die Klärung unseres Problems Wesentliches gewinnen, wenn wir das Mißverständnis aufklären, das ihr zugrunde liegt — wenn wir uns Rechenschaft geben, warum ein Geist nach Art des goetheschen sich selbst hätte aufgeben müssen, um mit der Arbeitsordnung der industriellen Gesellschaft einen vorbehaltlosen Frieden schließen zu können.

Sinnesorgan und Apparat Um die Undenkbarkeit dieser Versöhnung zu erkennen, genügt die Erinnerung, wie unzertrennlich das Bündnis ist, das die industrielle Produktionsform mit der Technik und diese hinwiederum mit der mathematischen Naturwissenschaft zusammenhält. Wer zu der industriellen Produktionsordnung Ja sagt, der billigt auch Technik und mathematische Naturwissenschaft. Wer umgekehrt die mathematische Naturwissenschaft verneint, der verwirft auch Technik und industrielle Produktionsordnung. Es gibt keinen Denker, an dem man die letztgenannte Verknüpfung besser studieren kann als an Goethe.

Wie sehr gibt es schon zu denken, daß dieselben „Wanderjahre“, die von dem Übel, welches mit dem Maschinenwesen „sich in die Menschheit eingeschlichen“ habe, so beweglich zu reden wissen, im gleichen Zusam-menhang noch eine weitere Störung beklagen — die Störung nämlich, die in das Verhältnis von Mensch und Natur dadurch hineingekommen sei, daß das theoretisch die Natur erforschende Subjekt dazu übergegangen sei, die ihm vom Ursprung her mitgegebenen Sinnesorgane durch vorgeschaltete Apparaturen zu Leistungen emporzusteigern, die in der natürlichen Beschaffenheit dieser Organe gar nicht vorgesehen waren. Teleskop und Mikroskop, der exakten Naturwissenschaft einerseits durch ihre Herkunft verpflichtet, andererseits durch ihre Dienste unentbehrlich, werden von Goethe deshalb abgelehnt, weil durch ihre Zwischenschaltung die Proportion, die den der Natur sich zuwendenden Menschen und die ihm sich öffnende Natur in dasjenige Verhältnis setzen sollte, das in der allumfassenden Ordnung dieser Natur angelegt ist, zerstört und durch ein flagiantes Mißverhältnis ersetzt wird. „Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuen Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“

Dabei ist es für Goethe nicht einmal das Schlimmste, daß durch diese Verkünstelung der Beobachtungsbedingungen die Erkenntnis mißleitet wird. Bedenklicher noch stimmt es ihn, daß „diese Mittel, wodurch wir den Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich (!) günstige Wirkung auf den Menschen ausüben“. Der Mensch selbst wird desorganisiert, wenn sein Verhältnis zur Natur in Einordnung gebracht wird.

Schwerlich wird man einem Autor, der schon in den theoretischen Voraussetzungen der Technik eine Gefährdung der menschlichen Integrität meint aufdecken zu können, es zutrauen, daß er im nämlichen Werk der von dieser Technik diktierten Arbeitsordnung eine dem Menschen heilsame und daher erzieherisch auszuwertende Rückwirkung zugesprochen habe. Schon jetzt wird es uns fraglich, ob die in der „pädagogischen Provinz“ geübte Spezialisierung der Tätigkeiten die nämliche sei wie die, in welche die technisch-ökonomische Entwicklung der Neuzeit eingemündet ist.

Goethe als Anwalt der sinnlich erfaßten Natur Zu den tiefsten Gründen aber der Haltung, in der Goethe diesem Gefüge theoretischer Forschungen und praktischer Veranstaltungen gegenübersteht, dringen wir erst dann vor, wenn wir von den „Wanderjahren“

zurückgehen auf das Werk, in dem Goethe diesem Problemkomplex in Gestalt einer wissenschaftlichen oder wenigstens wissenschaftliche Ansprüche erhebenden Untersuchung zu Leibe geht. Dies geschieht in der „Farbeitlehre“ Wenn wir im Vorausgegangenen immer wieder die Solidarität hervorzuheben hatten, welche die der Neuzeit eigentümlichen Ordnungen menschlicher Arbeit mit der sie ermöglichenden, ja provozierenden Wissenschaft von der Natur verbindet, so entspricht dem der ebenso strenge Zusammenhang, der zwischen Goethes Anweisung zur rechten Lebensgestaltung und der von ihm kanonisierten Naturanschauung obwaltet. Weil die letztere in der „Farbenlehre“ ihre ausführlichste Darlegung findet, darum darf behauptet werden, daß „Farbenlehre“ und „Pädagogische Provinz“ enger zusammengehören, als die landläufige Auffassung wahrhaben will. Was die pädagogische Provinz in sich einläßt und was sie sich fernhält, das entscheidet sich aus jener Deutung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die in der „Farbenlehre“ kodifiziert ist.

Diese Deutung aber hinwiederum gelangt erst dadurch zu letzter Klarheit und begrifflicher Präzisierung, daß sie sich in einer durchgeführten Polemik von einer anderen Interpretation desselben Verhältnisses abzusetzen genötigt ist — nämlich derjenigen Interpretation, die aus den Ergebnissen der mathematischen Naturwissenschaft als selbstverständliche Folgerung hervorzugehen behauptete. Wie Goethe in den „Wanderjahren“ das Recht, den Wahrheitsgehalt, ja die Überlegenheit der Eindrücke verficht, welche die nicht durch künstliche Apparaturen bewaffneten Sinnesorgane dem Menschen bescheren, so setzt er sich in der „Farbenlehre“

für Eigenwert, Eigengeltung, ja Überlegenheit der Sinnescin drücke ein, in denen die nicht durch künstliche (mathematische) Theorien transformierte Natur dem Menschen entgegentritt.

Lind zwar bedurfte es dieser Rehabilitierung, weil die von ihm befehdete Theorie, repräsentiert durch die physikalische Optik Newtons, von der mathematischen Umformung der Natur zu der Behauptung weiter-gegangen war, daß das aus dieser Umformung hervorgegangene Relationsgefüge uns die „eigentliche“ und „wirkliche“ Natur sichtbar mache, wohingegen uns in den Eindrücken unserer Sinne nur eine durch die Beschaffenheit unseres Organismus bedingte Umbildung, ja Verfälschung jenes Eigentlichen und Wirklichen dargeboten werde. Auch hier ist es also so, daß der „größte und genaueste physikalische Apparat“, den der Mensch an seinem Leibe besitzt, sich durch das Resultat einer künstlichen (in diesem Fall theoretischen) Zurüstung soll desavouieren lassen. Lind auch hier ist es nach Goethes Überzeugung so, daß durch diese Verkehrung der in der Natur vorgezeichneten Ordnung nicht bloß die Erkenntnis mißleitet wird, sondern auch und besonders sittlich anfechtbare Wirkungen hervorgerufen werden. Wer den Menschen in dem Vertrauen zu der Echtheit und Wahrheit seiner Sinneseindrücke wankend macht, der rührt an die Grundlagen seiner sittlichen Existenz. Denn zu dieser Existenz gehört das Insgesamt der in ihrem Vollgehalt unbeschnittenen, in ihrem Wahrheitswert unbestrittenen Sinneseindrücke als unabdingbares Moment hinzu. Trägt doch Goethe kein Bedenken, den elementaren Sinnes-eindrücken, die das Auge uns in Gestalt der Farben zuführt, eine „sinnlichsittliche“, also eine den Menschen als solchen betreffende „Wirkung“

zuzuschreiben. Kommt ihnen eine solche zu, was ist dann von einer Wissenschaft zu halten, die ihrem methodischen Prinzip gemäß darauf aus ist, den qualitativen Reichtum der Farben durch eine Skala mathematischer, also rein quantitativer und insofern völlig abstrakter Werte zu verdrängen? Sie macht sich eines Angriffs auf die sittliche Integrität des Menschen schuldig. Denn sie bringt ihn in ein schiefes Verhältnis zu der ihm als Partner gesellten Natur und desorganisiert damit das Bild der Wirklichkeit, mit der sich ins rechte Verhältnis zu setzen seine sittliche Bestimmung ist.

Goethe als Anwalt des Umgangs Wir sind damit an der Stelle angelangt, an der es angezeigt ist, von der Auslegung, die Goethe dem Verhältnis Mensch-Natur widerfahren läßt, die Brücke zu schlagen zu derjenigen Gestaltung dieses Verhältnisses, die wir oben als Phase des von uns analysierten Entwicklungsganges kennen lernten. Denn dies ist kaum zu übersehen: das, was Goethe als die einzig gesunde und förderliche Form dieses Verhältnisses darstellt und feiert, ist nichts anderes als jene innige Wechselbezogenheit füreinander bestimmter Partner, deren Betätigung wir oben mit dem Namen „Umgang“ belegten. Und die Efgentümlichkeiten dieses Verhältnisses, auf denen ihm seine Zukömmlichkeit zu beruhen scheint, sind genau diejenigen, durch die der Umgang mit der Natur sich von der naturwissenschaftlich-technischen Auseinandersetzung mit ihr unterscheidet. Der Umgang ist ja, wie wir sahen, diejenige Form der Begegnung mit der Natur, in deren Wesen es liegt, daß sie zwischen den einander begegnenden Partnern das Verhältnis einer wohlausgewogenen Proportion selbsttätig herstellt und bewahrt. Und daß sie diese Proportion getreulich einhält, das hat eben darin seinen Grund, daß sie die Natur nur in den Grenzen ihrer sinnlichen Anschaulichkeit und Greifbarkeit sichtbar und zugänglich macht. Genau diese Selbstbegrenzung ist es aber, die nach Goethes Über-zeugung gewahrt werden muß, wenn das Verhältnis des Menschen zur Natur „sittlich“ in Ordnung sein soll — sie ist es, die zum Schaden der sittlichen Gesundheit des Menschen durchbrochen zu haben er der mathematischen Naturwissenschaft 'zur Last legt. Wir dürfen also feststellen, daß das, was Goethe uns in den einschlägigen Darlegungen gibt, nichts anderes ist als eine eindringliche und liebevolle Darstellung desjenigen Verhältnisses von Mensch und Natur, das sich als „UImgang" realisiert, unter nachdrücklicher Hervorhebung dessen, was den einzigartigen Vorzug dieses Verhältnisses ausmacht. Ob wir zusammen mit dieser Darstellung auch das Verdikt anzunehmen haben, das über die den besagten Vorzug preisgebende naturwissenschaftlich-technische Naturbearbeitung ergeht — diese Frage muß einstweilen offen bleiben. Die pädagogische Provinz Wenn wir aber von der Aufdeckung dieser Übereinstimmung her unseren Blick zurücklenken auf die „pädagogische Provinz“, dann erhellt erst recht die Notwendigkeit der Verbindung, die wir zwischen dieser und der „Farbenlehre“ glaubten herstellen zu sollen. Denn dann zeigt sich: die Grenzsetzung, durch welche die Anthropologie der „Farbenlehre“ sich von den Erkenntnisformen der mathematischen Naturwissenschaft scheidet, steht in vollkommener Entsprechung zu der Grenzsetzung, durch welche die Pädagogik der „Wanderjahre“ sich von den Arbeitsformen der technisch-ökonomischen Welt scheidet. Hier wie dort ist es der „Umgang“, in dessen Namen und zu dessen Gunsten das Werk der totalen Versachlichung verworfen wird.

Sind wir für diese Unterscheidung sehend geworden, dann fällt es uns nicht schwer, zu erkennen, wie tief sich das, was die pädagogische Provinz als Spezialisierung der Arbeit anerkennt und pflegt, von dem unterscheidet, was die technisch-ökonomisch durchorganisierte Arbeitswelt unter dem gleichen Titel entwickelt hat und unaufhaltsam vorwärts treibt. Zunächst fragen wir uns: ist die Spezialisierung der Tätigkeiten, der wir in der pädagogischen Provinz begegnen, diktiert durch die Forderungen einer Sache, deren Produktion erst durch Zerlegung der sie produzierenden Arbeit möglich wird oder wenigstens durch diese Zerlegung sich wesentlich vervollkommnet? Nein: sie erfolgt ausschließlich im Hinblick auf die Besonderheit der Begabungen, die durch die ihnen gemäße Ausbildung zu der ihnen erreichbaren Vollkommenheit emporgeführt werden sollen. „Es ist unser höchster und heiligster Grundsatz, keine Anlage, kein Talent zu mißleiten.“ Es ist nicht das Arbeitsprodukt, sondern einzig und allein der Mensch, um dessen willen auf Viel-, wo nicht Allseitigkeit der Ausbildung verzichtet wird.

Die spezielle Tätigkeit aber, die dem Zögling als die seiner Anlage entsprechende Aufgabe zugewiesen ist, kann und wird, das ist die leitende Überzeugung, nur dann den erstrebten bildnerischen Erfolg haben, wenn sie ihrerseits nicht in die Hervorbringung von etwas Fragmentarischem, mit Anderem Zusammenzulegendem einmündet, sondern ein Ganzes zu Stande bringt, das seinen Sinn in sich selbst hat und nicht von einem übergeordneten Gefüge zu Lehen trägt. Denn nur von einem solchen gilt dasjenige, was notwendiges Ingrediens des bildnerischen Ertrages ist: nur von ihm darf behauptet werden, daß es sich „als ein z w e 1 t e s Selbst von ihm (dem Produzierenden) ablöst“.

Genügt schon diese nähere Bestimmung der „spezialisierten“ Leistung, um ihren Abstand von dem Bau eines die Arbeit zerstückelnden industriellen Systems sichtbar zu machen, so braucht man weiterhin nur zu-zusehen, welche Tätigkeiten in der pädagogischen Provinz zugelassen, welche von ihr ausgeschlossen sind, um vollends gewahr zu werden wie weit wir hier von der Arbeitswelt der industrialisierten Gesellschaft entfernt sind. Was in der pädagogischen Provinz als bildnerisch wirksam anerkannt und gepflegt wird, das ist: Bergbau (aber nur soweit er es auf die Gewinnung von Metallen wie Zinn und Silber nicht auf diejenige von Kohle abgesehen hat), Viehzucht, Ackerbau, Handwerk mannigfaltiger Art; von rein geistigen Tätigkeiten die Sprachen und das Rechnen (nicht die Mathematik). Aber das Rechnen wird nicht in abstrakter Reinheit geübt, sondern nur im Anschluß an die Musik, also bloß in der Anwendung als Maßkunst, zugelassen und gepflegt.

Daß diese Pädagogik, so weit sie die Bearbeitung der „äußeren“ Welt in den Kreis der bildenden Tätigkeit einbezieht, sich nicht weniger streng als die Farbenlehre innerhalb jener Grenzen hält, die der Begriff des „Umgangs" markiert, das wird durch nichts so deutlich bezeugt wie durch die bevorzugte Stellung, die dem Handwerk innerhalb des Ganzen zufällt, und durch die Begründung, die seiner Auszeichnung beigegeben wird. Denn diese Begründung greift auf eben die Eigentümlichkeiten handwerklichen Tuns zurück, die uns oben veranlaßten, in ihm die reinste Form des Umgangs mit der Natur anzuerkennen. Seine Lebensbedeutung erleuchtet der Satz: „Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird". Und daß es der Bildung des Menschen so dienlich ist, das wird auf genau diejenige Eigentümlichkeit zurückgeführt, deren Abwesenheit den Dienst in arbeitsteiliger Industrie-Produktion kennzeichnet. Es ist der ganze, seine leiblich-seelische Einheit zum Einsatz bringende, Tun und Denken vereinende Mensch, der ein Ganzes schafft, das er ohne Abzug sich selbst zurechnen darf und in dem er deshalb sich selbst wiederfindet. In dem, was hier geschieht, ist wahrlich die Forderung erfüllt:

„Was der Mensch leisten soll, muß sich als ein zweites Selbst von ihm ablösen, und wie könnte das möglich sein, wäre sein erstes Selbst nicht ganz davon durchdrungen?“ Nehmen wir noch hinzu, daß das ganze Leben in der pädagogischen Provinz erheitert und verklärt wird durch eine allgegenwärtige musische Stimmung und zumal durch einen jegliches Tun begleitenden Gesang, so erkennen wir in dieser Pflegestätte „spezialisierter“ Tüchtigkeit geradezu das Gegenbild zu dem in der Zucht strenger Sachdienstbarkeit disziplinierten Arbeitsgetriebe der industriellen Gesellschaft.

Grenzen der Weltoffenheit Llnter den Verkündern der Humanitätsidee ist Goethe derjenige, der am energischsten darauf dringt, der Mensch könne nur dadurch Mensch werden, daß er sich in verantwortlichem Handeln mit der Welt einlasse, an der Welt messe, für die Welt einsetze. Auf sich allein gestellt bleibe er unerfüllte Versprechung. Da er als Einzelner notwendig unvollständig sei, so müsse er, wie es in dem Winkelmann-Aufsatz heißt, dahin streben, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“. Goethe hielt es für angezeigt, diese Notwendigkeit einzuschärfen, weil er gerade an „vorzüglichen Geistern" seiner Epoche die Eigentümlichkeit zu bemerken glaubte, „eine Art Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen". Sie wollen also nichts Geringeres, als in sich selbst, aus eigener Kraft, hervorbringen, was nur im Verein mit der Welt zu Stande kommen kann.

Gerade weil Goethe im Gegensatz zu den Gerügten den Menschen, der er selbst werden will, so nachdrücklich an die Welt verweist, ist es um so lehrreicher, festzustellen, wie weit diese Anerkennung der Welt als des notwendigen Lebenspartners geht und an welchem Punkte sie der bedingungslosen Verneinung weicht. Die „pädagogische Provinz“ ist gerade deshalb so aufschlußreich, weil sie haargenau die Grenze bezeichnet, bis zu der der Anwalt der klassischen Humanität den Arbeitsformen der „Welt" glaubt entgegenkommeen zu können, ohne sein Ideal aufgeben zu müssen. Es muß uns zu denken geben, daß selbst ein Goethe, in seiner Weltoffenheit den meisten Mitstrebenden voraus, hier auf eine Schranke stößt, über die er nicht hinauskann. Er gibt sich keiner Täuschung darüber hin, daß keine Macht dieser Erde der Ausbreitung des „Maschinenwesens“ Einhalt gebieten kann. Schillers geschichtsphilosophische These, es sei nur eine zu überwindende Durchgangsstufe, die von ihm ihr Gepräge erhalte, findet bei ihm keine Gegenliebe. Aber deshalb die Arbeitsformen und -Ordnungen, die an der Maschine ihr sichtbares Symbol haben, in das Heiligtum der „humanen" Wirkensmächte einzulassen — das kann er nicht über sich gewinnen. Er bringt es aus dem Grunde nicht, fertig, weil er sich nicht verhehlen kann, daß mit ihrer Zulassung die „Harmonie" der Wesensentfaltung gestört werden würde, die dem Anwalt der Humanität über allem steht.

Allein, wird durch diese Weigerung an dem tatsächlichen Stande der Dinge etwas geändert? Sprechen wir das unumwunden aus, was Goethe ausdrücklich einzugestehen unterläßt, so müssen wir sagen: jene „Welt“, •mit der nach Goethe der Mensch es aufnehmen muß, um wahrhaft Mensch werden zu können, ja mit der er einen „Bund" eingehen muß, auf daß ein Ganzes herauskomme — sie schließt nach seinem eigenen Eingeständnis einen Bereich in sich, der durch die von ihm ausgehenden Nötigungen der Menschwerdung, wie sie von ihm gefordert und gefeiert wird, nicht nur nicht dienlich ist, sondern entgegenarbeitet. Die Welt, wie sie nun einmal ist, läßt sich nicht ohne Rest mit dem auf Harmonie hinarbeitenden Streben des Menschen in Einklang bringen. Der Schein einer möglichen Harmonie läßt sich nur so lange aufrechterhalten, wie man diese Partien des Menschenlebens künstlich abblendet — also etwa den Zögling in den Naturschutzpark einer „pädagogischen Provinz“ versetzt. Werden sie umgekehrt unabgeschwächt und unbeschönigt in das Bild des Daseins ausgenommen, so ist es um die Harmonie geschehen und der Zwiespalt der der Menschwerdung förderlichen und der ihr bedrohlichen Lebenstendenzen als unverdrängbares Daseinsmotiv anerkannt.

Wenn wir aber Goethe durch Aussprechen des von ihm Übergangenen so zu Ende denken, sehen wir dann sein Sinnen nicht auf eine Auslegung des menschlichen Daseins herauskommen, die derjenigen Pestalozzis auffallend nahe steht? Daß der Widerstreit der aus der „kollektiven“ und der aus der „individuellen“ Existenz entfließenden Ansprüche nicht aus-dem Leben zu verbannen sei: das wäre darnach die Überzeugung nicht bloß des Anwalts der im Schatten der Dienstbarkeit Dahinlebenden, sondern auch des Abgotts der im Lichte des Geistes Wandelnden gewesen. Und der einzige Unterschied wäre der, daß jener ohne Schonung auszusprechen sich nicht gescheut hätte, was dieser unbelichtet im Hintergründe zu halten vorzog.

8. Das Verhältnis von Mensch und Welt bei Humboldt

Humboldt und das Bildungswesen Wir sprachen im Eingänge von dem erstaunlichen Beharrungsvermögen, das wie alle „Bildungsideale“ so auch die Idee der Humanität im Wandel und Umschwung der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse bewiesen hat. Nachdem sich nun gezeigt hat, daß diese Idee keineswegs in starrer Einförmigkeit verharrt, sondern sich zu charakteristischen Sonder-gestalten gerade dann ausformt, wenn sie ihr Verhältnis zu den geschichtlich-gesellschaftlichen Gewalten zu bestimmen versucht, erhebt sich mit Notwendigkeit die Frage, welcher unter den genannten Sondergestalten diese Kraft der Selbstbehauptung vor allem zugute gekommen ist. Und man möchte vor Eintritt in diese Prüfung es sowohl wahrscheinlich als auch wünschenswert finden, daß denjenigen Sonderformen das zäheste Leben beschieden gewesen sei, die in der Annäherung an die gesellschaftliche Realität am weitesten gegangen sind.

Allein bei näherem Zusehen findet sich diese Erwartung nicht bestätigt. Im Gegenteil: in das Bildungsleben des an die Klassik sich anschließenden Jahrhunderts ist die Humanitätsidee in einer Fassung übergegangen, die geeignet war, die ohnehin bestehende Entfremdung gegenüber den Grundtendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstärken.

Daß es, entgegen dem zu Erwartenden, so gekommen ist, hat nicht zum wenigsten darin seinen Grund, daß die Aufgabe, den Ideenstrom der Klassik in die Welt der organisierten Bildungsarbeit hinüberzuleiten, keinem anderen zugefallen ist als dem feinsinnigen Freund und Ausleger unserer Geistesheroen: als W. v. Humboldt Was in der Humanitätsidee an Anreizen zu Weltentwertung und Gegenwartsabkehr enthalten war, das mußte in der Seele dieses reich begabten, aber auch innerlich äußerst verletzlichen Menschen fruchtbaren Boden finden. Von ihm sind unserem Bildungsleben Neigungen und Abneigungen eingepflanzt worden, von deren Dauerhaftigkeit man sich noch in den einschlägigen Debatten unserer Tage überzeugen kann.

Unser Streifzug durch die Welt der Humanitätsidee hat uns gezeigt:

der eigentlich kritische Punkt dieser Idee enthüllt sich in der Frage, wie der auf seine humane Vollendung bedachte Mensch sein Verhältnis zur „Welt“ zu ordnen hat, um sein Wesen zur „Totalität“ durchbilden zu können. In Goethe lernten wir denjenigen kennen, der den Anteil der Welt am Selbstwerden des Menschen besonders hoch ansetzt. Wenn der Mensch angehalten wird, „mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden“, so wird damit der Welt nichts Geringeres als eine Art von partnerschaftlicher Teilhabe am Vorgang der Menschwerdung zugesprochen. Die Wertschätzung, die die „pädagogische Provinz“ der manuellen Arbeit am sinnlichen Stoff entgegenbringt, ist nur eine spezielle Äußerung des Vertrauens, das in diese Helferschaft der Welt überhaupt gesetzt wird.

„Äußeres“ und „Inneres“

Die Wendung, die Humboldt der Humanitätsidee erteilt, charakterisiert sich vorzüglich dadurch, daß er die äußere Welt zwar nicht aus dem Prozeß der Selbstwerdung ausschließt, wohl aber ihre Mitwirkung sich darin meint erschöpfen zu sehen, daß sie dem Menschen den „Stoff“ zur Verfügung stellt, dessen er bedürfe, um die ihm innewohnenden Kräfte in Bewegung setzen, betätigen und ausbilden zu können. Die Welt wird, um einen berühmten Ausdruck Fichtes abzuwandeln, zum „Materiale der Selbstbildung“. Wie nachgeordnet die Stellung ist, in die sie damit verwiesen wird, offenbart sich in Humboldts Bekenntnis, es sei ihm immer darum zu tun gewesen, die Welt „in sein Eigentum zu verwandeln“, ja „in seine Einsamkeit (!) zu verwandeln". Mit dieser Formulierung wird die Welt angewiesen, sich dem an seiner Selbstbildung arbeitenden Subjekt als zu assimilierender Nährstoff zur Verfügung zu stellen. Nicht mehr ist sie der Partner, mit dem „verbunden“ der Mensch „ein Ganzes bilden“ soll: der Mensch als solcher ist das Ganze, in welches sie sich hin-einbilden lassen soll. Sie wird das Opfer einer Aneignung, in der sie, dem Eroberer anverwandelt, sich selbst aufzugeben hat. Wie verräterisch ist es doch, wenn Humboldt von einem „Ansichreißen" der Welt spricht!

• Weil aber der Mensch in der unvermeidlichen Berührung mit der Welt ständig in Gefahr ist, sich an die Welt zu verlieren, gleichsam ihr Eigentum zu werden, statt daß er sie „in sein Eigentum verwandelte“, darum muß er aufs angelegentlichste darauf bedacht sein, daß er sein „Inneres“ von dem „Äußeren“, mit dem er es zu „vermischen“ nur zu sehr versucht ist, aufs strengste gesondert halte. Nur in dieser Isolierung kann das „Innere“ zu dem Kunstwerk jener Totalität ausreifen, die in sich zu verwirklichen der homo humanus sich beauftragt glaubt. Humboldt erblickt geradezu das Geheimnis seiner Lebenskunst darin, daß er sich niemals habe verleiten lassen, diese „reine Scheidung“ auch nur im geringsten zu lockern.

Kompromißlose Trennung des „Inneren“ vom „Äußeren“: damit war eine Parole ausgegeben, der die Erzieherwelt noch lange Folge leisten sollte!

Handeln und Betrachten Nun aber hat die Wertminderung, die im Gefolge dieser Trennung dem „Äußeren“ widerfährt, ihre sehr gewichtigen Konsequenzen für die Rangordnung der menschlichenBetätigungsweisen. Die Entwertung, die zunächst dem „Äußeren“ rein um seiner Äußerlichkeit willen widerfährt, strahlt aus auf diejenige Weise menschlichen Verhaltens, deren Wesen sich gerade durch die Beziehung auf das „Äußere“ bestimmt. Diese Sonderform ist das Handeln. Als Handelnder und nur als solcher ist der Mensch in Gefahr, sein „Inneres“ mit dem „Äußeren“ — nämlich demjenigen Äußeren, mit dem sein Handeln ihn in Verbindung bringt — zu „vermischen“. Es ist eine Gefahr, die ihm ferne bleibt, wenn und solange er sich der Welt gegenüber lediglich betrachtend verhält. Denn betrachtend tritt er ja nicht aus dem „Inneren“ hinaus und auf den Boden des verfänglichen „Äußeren“ hinüber. Betrachtend verwandelt er vielmehr das „Äußere“ durch Assimilierung in sein „Eigentum“. Wie sehr Humboldt auch mit dieser Rangierung der Verhaltensweisen das Geheimnis seines eigenen Daseins ausspricht, verrät er, wenn er sich bekennt als „angelegt auf eine ruhende und betrachtende Existenz“.

Als eine von der Welt sich distanzierende Existenz hat sich Humboldt selbst in den Abschnitten seines Lebens zu behaupten gewußt, die ihn in der Sphäre eines wahrlich nicht bedeutungslosen Handelns am Werke zeigen n). Der Kunstgriff, dem er die Wahrung dieses Abstandes dankte, war, wenn wir ihm glauben dürfen: „hohe Gleichgültigkeit gegen den Erfolg als solchen“ (d. i. gegen das, was am Handeln wirklich dem „Äußeren“ angehört), gepaart mit der sorglichsten Bemühung, daß das Handeln nur ja „charakteristisch“, d. h. mit dem Gesetz des eigenen Wesens im Einklang und es zu sichtbarer Dareteilung zu bringen geeignet sei. „Das ist wirklich eine der größten Wohltaten des Himmels, unsere Handlungen gleichgültig gemacht zu haben für den Weltlauf und nur wichtig für die innere Ansicht und die innere Zurechnung.“ Abermals eine Abstufung, durch die der Vorrang des „Inneren“ gesichert scheint!

Nachdem aber das Handeln dergestalt in eine nachgeordnete Stellung verwiesen ist, fällt es auch nicht schwer, an den Gestalten, in denen es sich normalerweise realisiert, die Züge aufzuzeigen, in denen seine Zweitrangigkeit sich zweifelsfrei bezeugt. Seine beschränkende Wirkung offenbart sich zunächst schon darin, daß es uns an den einen und einzigen Zeitpunkt fesselt, in dem wir allein handeln können, nämlich an unsere Gegenwart — während die Kontemplation uns über unseren zeitlichen Standort beliebig weit emporzusteigen gestattet. Was aber von der Bedeutung der Aufgaben zu halten ist, durch welche die besagte Gegenwart unser Handeln herausfordert, erhellt daraus, daß sie zum weitaus größten Teile dem Bereich desjenigen angehören, was Humboldt das „gewöhnliche Geschäftsleben“ nennt. Es sind Aufgaben, deren Erledigung nicht durch höhere geistige Interessen gefordert, sondern durch die Notwendigkeiten der äußeren Daseinserhaltung, durch die Dringlichkeit ephemerer Zwecke und die Gebote platter Nützlichkeit diktiert wird. Natürlich müßte, wer sein „Inneres“ mit Äußerlichkeiten dieses Ranges „vermischen“ wollte, an seinem Menschentum unheilbaren Schaden nehmen. Nur wenn er sich hütet, ihnen auch nur den kleinsten Teil seiner Seele zu überlassen, kann er hoffen, aus der Berührung mit ihnen unbefleckt hervorzugehen. Das Festhalten an der „reinen Scheidung“ ist die unabdingliche Voraussetzung wahrer Humanität.

Wenn wir uns von der Sorglichkeit überzeugen, mit der in dieser Humanitätsphilosophie das „Innere“ gegen den bedrohlichen Andrang des „Äußeren“ abgeschirmt wird — wenn wir in dieser Philosophie das Glaubensbekenntnis eines Menschen erkennen, der sich in ihr die moralische Legitimation für seine Stellung zum Leben schuf: dann fühlen wir uns an Goethes Charakteristik jenes Typus'erinnert, den er dem von ihm selbst geforderten und verkörperten als Gegenbild gegenüberstellte — des Typus jener „vorzüglichen Geister“, deren „Eigenheit“ es ist, nicht „mit der Welt verbunden ein Ganzes bilden“, sondern „eine Art von Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen“. Diese „eigene Welt“, sie ist keine andere als die Welt jenes „Inneren“, das sich von jeder Befleckung durch die „Wirklichkeit“ rein erhalten möchte — eine Wirklichkeit, die sich die „bloße", ja die „öde“ Wirklichkeit muß schelten lassen.

Humboldts Humanität und die industrielle Arbeitsordnung Indem aber die Humanitätsidee durch W. v. Humboldt zu der Einseitigkeit durchgebildet wird, die in der bedingungslosen Überordnung des „Inneren“ über das „Äußere“ liegt, wird sie zum extremen Ausdruck jener „anthropozentrischen“ Denkweise, durch deren Pflege sich die Humanitätsbewegung in einen immer schärfer werdenden Gegensatz bringt zu einer wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung, die ihrerseits mit unablenkbarer Folgerichtigkeit am Leitfaden der „Sache“ vorwärtsschreitet. Denn jene Eigentümlichkeiten, durch welche nach Humboldts Über-zeugung die „äußere“ Wirklichkeit dem Menschsein des Menschen so gefährlich wird — jene Eigentümlichkeiten, deretwegen er das „Innere“

des Menschen nicht sorgfältig genug gegen das „Äußere“ meint abdichten zu können: sie alle sind doch zu ihrer endgültigen, ihrer vollendeten und gleichsam paradigmatischen Gestalt erst in der Arbeitsordnung durchgedrungen, deren Gefüge sich im Zusammenwirken von Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktion herausgebildet hat. Diese Ordnung ist es doch, die mit der LInerbittlichkeit ihrer durch die Sache eindeutig vorgezeichneten und keine Abweichung duldenden Forderungen einen jeden der von ihr erfaßten Menschen völlig für sich beschlagnahmt, an die Gegenwart des gerade fälligen Arbeitsbeitrages ankettet und in die Abfolge der von Gegenwart zu Gegenwart sich anreihenden Teilleistungen hineinzwingt. Sie ist es, die die Gesamtheit der ihr Dienstbaren der Herrschaft von Zwecken unterwirft, die ausnahmslos im Bereich des Endlichen und Vergänglichen zu Hause sind. Sie ist es, die dem Menschen zumutet, seine ganze Kraft, die geistige nicht weniger als die leibliche, in Tätigkeiten zu verbrauchen, deren Ergebnis sich höchstens durch seine äußere Notwendigkeit oder Nützlichkeit, nicht aber durch seinen geistigen Adel rechtfertigen kann. Sie ist die „äußere“ Welt im Extrem ihrer Veräußerlichung. Sie ist die Inkarnation jenes „gewöhnlichen Geschäftslebens“, durch dessen Banalitäten sich Humboldts nach Höherem trachtender Geist so peinlich angeödet fühlte. In ihr ist die Rangordnung, durch welche er das Verhältnis von „Äußerem“ und „Innerem“ geregelt sehen wollte, recht eigentlich auf den Kopf gestellt.

Es ist bekanntlich nur eine relativ kurze Zeit gewesen, während der Humboldt sich in der Stellung befand, die es ihm gestattete, auf die Organisation und innere Ausgestaltung des höheren Bildungswesens im Sinne der ihn erfüllenden Idee von Menschenbildung einzuwirken. Sie hat aber genügt, um diesem Bildungswesen die Spur seines Geistes tief und unauslöschlich einzugraben. Hochschule und höhere Schule haben auf Jahrzehnte hin im Zeichen der von ihm ausgehenden Wegweisung ihre Arbeit getan. Eben deshalb ist es ohne Frage ein Stück deutschen Schicksals gewesen, daß die Idee der Humanität in die Breite des organisierten Bildungslebens gerade durch denjenigen unter ihren Verkündern übergeleitet worden ist, in dessen Geist sie sich zu unüberbietbarer Einseitigkeit durchbilden mußte und durchgebildet hat. Man kann von dem Vermächtnis, das von dem hochfliegenden Geist eines W. v. Humboldt auf die deutsche Bildungswelt gekommen ist, sehr hoch denken, ohne deshalb blind dafür sein zu müssen, wieviel innere Spannungen der ohnehin schon so belasteten deutschen Gesamtentwicklung auch daraus erwachsen sind, daß ihr Bildungsstreben sich weithin und auf beträchtliche Zeit hin von einer Idee leiten ließ, deren Abstand von den herrschenden Tendenzen des gesellschaftlichen Lebens sich mit rapid anwachsender Geschwindigkeit vergrößerte. Lim die Unabwendbarkeit dieser Divergenz zu ermessen, halte man sich gegenwärtig, daß jener „Fortschritt“, der das Bewegungsgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung bildete, zu streng in der für ihn maßgebenden „Sache“ vorgezeichnet war, als daß von dieser Seite her ein Prozeß der Annäherung und Ausgleichung hätte in Gang gebracht werden können. Eine Versöhnung der Auseinanderstrebenden wäre, wenn überhaupt möglich, die Sache derjenigen gewesen, die die Idee der Bildung in die Wirklichkeit — der sie doch schließlich zu-gedacht war — hineinzutragen den Auftrag hatten. Aber wenn es im ureigensten Sinn der ihre Seelen beherrschenden Idee lag, die Anpassung an einen durch die Sache vorgeschriebenen „Fortschritt“ als mit der Menschlichkeit nicht verträglich auszuschließen — wie hätte ihnen auch nur der Gedanke an Notwendigkeit oder Wünschbarkeit solchen Versöhnungswerks kommen sollen! Bei dieser Lage der Dinge konnten kaum zu behebende Einstimmigkeiten nicht ausbleiben.

Niethammer Daß Humboldts Gedankenwelt die Bildungsarbeit der in Betracht kommenden Institutionen durchsäuern konnte, dafür war notwendige Voraussetzung, daß sie von den in diesen Institutionen Tätigen gutgläubig ausgenommen und bereitwillig in die Tat umgesetzt wurde. Der Verlauf der Dinge beweist, daß dies in einem erstaunlichen Maße der Fall gewesen ist.

Vielleicht wäre.der Erfolg nicht so durchgreifend gewesen, wenn nicht das Leben der Universität und besonders der sich zum humanistischen Gymnasium durchbildenden höheren Schule schon aus sich pädagogische Gedanken und Forderungen erzeugt hätte, die sich in Humboldts Bildungsphilosophie wohltuend bestätigt und wirksam gefördert finden konnten. Und gerade die von ihm so scharf herausgearbeiteten Antithesen wurden deshalb beifälligst ausgenommen, weil sie so, wie sie waren, als Ausdruck von pädagogischen Gegensätzen verstanden und zum Austrag von pädagogischen Kontroversen eingesetzt werden konnten, die durch den bildnerischen Enthusiasmus jener Tage heraufbeschworen worden waren.

Es liegt in der Natur der Sache, daß pädagogische Prinzipien dann in den klarsten Umrissen hervortreten, wenn sie nicht im Äther der Idee schweben bleiben, sondern in die konkrete Bildungsarbeit der Schule hineingedacht werden. Es versteht sich ebenso leicht, daß diese Schärfe der Konturierung dann ihren höchsten Grad erreicht, wenn es gilt, das eigene Bildungsevangelium vor dem Angriff entgegenstehender Über-zeugungen in Schutz zu nehmen. Kein Wunder also, daß alle Gegensätze, die in der Humanitätsbewegung zu gedanklichem Ausdruck gelangt waren, auf dem Felde der aktuellen schulpolitischen Auseinandersetzungen sich zu Programmen pädagogischer Gruppen verdichten und daß ihr Austrag die Gestalt eines regelrechten Parteienkampfs annimmt. Dies der Grund, weshalb zur programmatischen Literatur der Schule greifen muß, wer die pädagogischen Leitgedanken eines Zeitalters sozusagen in Holzschnittmanier ausgezeichnet und ausgearbeitet zu sehen wünscht.

Allgemeine Überlegungen dieses Inhalts müssen angestellt werden, wollen wir den symptomatischen Wert einer schulpolitischen Schrift richtig einschätzen, die, veröffentlicht in dem Jahre, in dem Humboldt seine bildungsreformerische Tätigkeit aufnahm (1808), uns deutlich erkennen läßt, wie bereit der Boden der Schule war, den Samen seiner Bildungsphilosophie aufzunehmen. Es ist die Abhandlung des an leitender Stelle tätigen bayrischen Schulmanns F. J. Nietliatmtter „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit“.

Niethammers Arbeit ist eine der leidenschaftlichsten unter den Streitschriften, in denen die Verfechter des humanistischen Bildungsideals gegen seine Widersacher vom Leder gezogen haben. Schon daß ihr Verfasser solche Widersacher in Fleisch und Bein sich gegenüber hat, gibt seinem Manifest eine polemische Schärfe, die man in den Auslassungen der nur d e Idee der Humanität Verherrlichenden vergeblich suchen wird.

Was sie der Verwirklichung dieser Idee meinten im Wege stehen zu sehen, das waren nur die anonymen Mächte eines dem Geist feindlichen und dem Menschen abgünstigen Zeitalters. Niethammers Kampfeszorn entzündet sich an der ihm unerträglichen Tatsache, daß diese antipädagogischen Mächte die Fürsprache einer Bewegung gefunden haben, die es fertig bringt, ihnen eine pädagogische, also dem Menschen förderliche Wirkung nachzusagen, ja die sich nicht entblödet, in Theorie und Praxis eine „Pädagogik“ zu entwickeln, die geeignet sei, die ihnen angeblich innewohnenden bildnerischen Möglichkeiten in die Wirklichkeit über-zuführen. Es ist der Philanthropinismus, dem diese Todsünde wider den Geist schuld gegeben wird.

Indem nun diese Anklage sich zu einem ausführlichen Sündenregister der so schwer Bezichtigten ausbaut, sehen wir die von Humboldt formulierten Antithesen sich zum Gegensatz einer der Menschenbildung dienenden und einer ihr Zuwiderhandelnden Pädagogik zuspitzen. Dieser Gegensatz wird dadurch auf die einfachste Form reduziert, daß jener Pädagogik die liebende Fürsorge für das „Innere“ nachgerühmt, dieser die sklavische Unterwerfung unter das „Äußere“ zur Last gelegt wird.

Lind Niethammer zögert nicht, dem allgemeinen Begriff des „Äußeren“

eine anschauliche Erfüllung zu geben, an der sich die Subaltemität der ihm geltenden Bemühungen handgreiflich dartun läßt. Es ist „die vorherrschende Richtung auf Industrie und Gewerbefleiß“, die für die sträfliche Hinwendung zum „Äußeren“ verantwortlich zu machen ist. Was sich in dieser Richtung verrät, das ist „die Forderung realer Nützlichkeit; reale Nützlichkeit aber hieß Einträglichkeit, materielle Produktion". Aus dieser Forderung ergab sich folgerichtig die Bevorzugung der Fächer, die der materiellen Produktion dienen: Mathematik, Physik, Chemie, und entsprechend die Mißachtung solcher Disziplinen, deren Ertrag sich nicht am äußeren Profit, sondern nur am Wachstum des inneren Menschen ablesen läßt, also der „humanen" Bildungsmaterien.

Man sieht: hier ist der humboldtische Dualismus des „Äußeren" und des „Inneren" zur Kontrastierung einer dem Äußeren hörigen und einer dem Inneren zugeschworenen Erziehungsweise zugeschärft. Und damit es dieser pädagogischen Schwarz-Weiß-Malerei nicht an schlagkräftigen Formeln fehle, wird der dem Verfasser am Herzen liegenden Erziehung zur „Humanität“ die Pädagogik des Philanthropinismus als Erziehung zur „Animalität" gegenübergestellt — von wo nur ein Schritt ist bis zu der Erziehung zur „Bestialität", als welche ein anderer Scholarch der Zeit den Philanthropinismus meinte brandmarken zu sollen. Wie sollte auch eine weniger kompromittierende Benennung einer Bewegung angemessen sein, die ihre treibende Kraft an dem „Haß alles rein Geistigen, Idealen“ hat!

Die Absage an die moderne Welt Man begreift, daß eine Welt beamteter Erzieher, die ihr pädagogisches Glaubensbekenntnis in Schriften solchen Inhalts ausgesprochen fand, die von Humboldt inaugurierte Bildungsreform als Erfüllung ureigenster Sehnsucht begrüßen und mit unbegrenzter Hingabe in die Kleinarbeit der Schule verflößen mußte. Und dieser Umstand allein ist es, der das Pamphlet Niethammers über den Rang einer Kuriosität emporhebt und zum Dokument einer pädagogischen Seelenverfassung stempelt, durch welche der Geist der schulischen Bemühungen in der Breite der Alltagsarbeit weithin und auf geraume Zeit hin bestimmt worden ist. Wie zäh sich die pädagogische Selbstzufriedenheit zu behaupten wußte, die in Antithesen der wiedergegebenen Art ihre Rechtfertigung sucht, daran kann nicht zweifeln, wer noch in den pädagogischen Debatten unserer Tage den Nachklängen dieser humanistischen Beschlagnahme der „Innerlichkeit" begegnet. Es macht fürwahr einen wesentlichen Zug am Schicksa 1 des neuzeitlichen Deutschland aus, daß in seiner Erzieherwelt die aldee der Humanität gerade in der Sonderform kanonische Geltung erlangte, die in W. v. Humboldt ihren Interpreten und in Niethammer ihren Ausrufer gefunden hatte. Sie verpflichtete sich damit zum Dienst an einer Humanität, die nur in ständiger Abwehrstellung gegen die Ansprüche der modernen Arbeitsordnung entwickelt und gewahrt werden konnte. Und Niethammer war das enfant terrible, das dem bis dahin nicht deutlich Gewordenen Zunge lieh, indem er „Industrie und Gewerbefleiß“ als die Mächte anprangerte, denen die Erziehung sich nicht verpflichten könne, ohne auf das Niveau einer „Erziehung zur Animalität"

herabzusinken. Nur durch eine Kriegserklärung an die moderne Welt glaubte diese Humanitätspädagogik die Reinheit ihres Gewissens retten zu können.

9. Die nachklassische Zeit

Die Vollendung des Arbeitssystems Nicht ohne Überraschung konnten wir feststellen, daß die Epoche deutschen Lebens, für deren Ausgang der Tod Goethes das eindrucksvollste Symbol bildet, im Grunde schon alle die pädagogischen Gegensätze hervorgetrieben hat, die auch für die einschlägigen Debatten der Gegenwart leitmotivische Bedeutung haben. Der Unterschied ist nur der, daß das, was damals nur in andeutenden und schwer lesbaren Zügen dem Antlitz der Zeit eingezeichnet war, was damals nur von ungewöhnlich hellsichtigen Geistern wahrgenommen und gedeutet werden konnte, für uns den Charakter der unangreifbaren Gewißheit angenommen hat, wenn es nicht gar, von tausend Zungen zerredet und tausend Federn zerschrieben, zur Trivialität des Selbstverständlichen herabgesunken ist. Zumal der krisenhafte Zustand der modernen Kultur ist nachgerade so sehr zur Beute feuilletonistischer Geschwätzigkeit geworden, daß man sich versucht fühlen könnte, wie die Ernsthaftigkeit dieser Ergüsse so auch den Emst des Übels selbst in Zweifel zu ziehen.

In welcher Hinsicht die seit Goethes Heimgang verstrichenen vier Menschenalter über das Klarheit geschaffen haben, was für die Generation seiner Zeitgenossen noch einen Gegenstand des Meinungsstreits bilden konnte, liegt auf der Hand. Sie haben die unablenkbare Folgerichtigkeit, mit der der naturwissenschaftlich-technisch-ökonomische Prozeß die durch die „Sache“ vorgezeichnete Bahn innehält, in um so helleres Licht gerückt, je allseitiger und erfinderischer sich die Apparatur der organisierten Gesamtarbeit ausbaute. Sie haben den Menschen seine Bindung an die Sache durch eine Beschleunigung des Entwicklungstempos spüren lassen, die ihn in Bestürzung versetzen mußte, weil er sie nicht auf das Anwachsen seines produktiven Vermögens, sondern nur auf den vorwärtstreibenden Druck des Sachgebots zurückführen konnte. Die Unaufhaltsamkeit dieses Fortgangs mußte um so mehr Erstaunen hervorrufen, als er in ein Jahrhundert fiel, das durch den Umfang und die Heftigkeit seiner politischen Umwälzungen jeder Stetigkeit Hohn zu sprechen schien. Allein weit entfernt, durch die Turbulenz seiner Begebenheiten den „Fortschritt" aufzuhalten, hat dies Jahrhundert in Wahrheit die einschlägigen Bestrebungen dadurch aufs wirksamste gefördert, daß es die Antriebskraft des politischen Vernichtungswillens hinter sie setzte. Wie ein geradlinig ausgerichteter Strahl stößt der an die „Sache" sich haltende Fortschritt quer durch die regellosen Oszillationen des politischen Luftraums hindurch. Kein Wunder, daß dem Menschen, der sich vom Schwung dieser Bewegung vorwärtsgetragen fühlt, zusehends der Atem ausgeht. Obwohl er weiß oder wissen kann, daß jeder Schritt auf diesem Wege seine eigene Tat und nicht über ihn verhängte Schickung ist, ist ihm doch zu Mute, als würde er durch eine über ihn verfügende Macht zu unbekannten Ufern fortgerissen.

Ein Geschlecht, das selbst im Zuge des keinen Aufenthalt duldenden Fortschritts steht, kann eine Geschichtsphilosophie, die wie diejenige Schillers in der arbeitsteiligen Produktionsform nur eine zu überwindende Durchgangsstufe erblicken möchte, nicht höher achten als einen schönen Traum — einen Traum, der nur in einem Augenblick geträumt werden konnte, da diese Form erst daran war, sich zu einer alles ergreifenden Lebensordnung zu verfestigen. Nur schwärmende Phantasten können heute noch hoffen, daß jenseits des uns umtreibenden „Geschäftsleber-" ein Paradies der wiederhergestellten Humanität winke.

Wenn uns der Rückblick auf anderthalb Jahrhunderte gesellschaftlich-geschichtlicher Entwicklung über die Unverdrängbarkeit des uns beanspruchenden Lebenssystems belehrt, so verbindet sich damit die Einsicht in ein Weiteres, das aus dem Ersten mit Notwendigkeit folgt. Die Divergenz, durch die wir schon im Zeitalter der Klassik den gesellschaftlichen Prozeß und die Humanitätsbewegung, zumal in ihrer humboldtiscien Ausprägung, sich voneinander entfernen sahen, hat sich, wie nicht anders zu erwarten, in eben dem Maße gesteigert, wie jener Prozeß die schon in seinem Ansatz liegenden Konsequenzen hervortrieb und die durch seine innere Logik geforderten Arbeitsformen dem Leben aufprägte. Wie hätte es auch anders sein sollen, da jene Idee schon für die bescheidenen Anfangsformen dieser Arbcitswelt keinen Raum hatte und sich ihr deshalb um so mehr entfremden mußte, je folgerichtiger sie sich zur Vollendung durchbildete — da andererseits diese Arbeitswelt gar nicht die Möglichkeit hatte, die durch die Sache geforderte Organisation der Arbeit der Humanitätsidee zuliebe unverwirklicht zu lassen!

Erweiterung der „Bildungswerte“?

Man könnte dem entgegenhalten, daß doch die Pädagogik des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts es wahrlich nicht an Bemühungen, theoretischen wie praktischen, habe fehlen lassen, die von der Klassik abgewerteten Lebens-und Arbeitsgebiete mit dem Gedanken der Erziehung zu durchdringen und so die Exklusivität der ursprünglichen Humanitätsbewegung zu durchbrechen. An der Tatsache und dem Ernst dieser Bemühungen ist nicht zu zweifeln. Lind doch will es mir scheinen, als ob die in ihrer Vertretung Tonangebenden stärker im klassisch-humanistischen Gedankenkreis befangen gewesen seien, als sie sich einzugestehen bereit gewesen wären. Ihre uneingestandene Abhängigkeit zeigt sich darin, daß sie den durch sie verteidigten Arbeitsgebieten doch schließlich nur dadurch einen erzieherschen Gehalt meinten sichern zu können, daß sie den ihrem Inhalt angeblich zukommenden „BildungsWert" aufzuzeigen sich beeiferten. Das ist mehr als eine unverbindliche Anpassung an eine in der pädagogischen Welt nun einmal eingebürgerte Ausdrucksweise. In der Wahl des Wortes bezeugt sich die Übernahme des allgemeinen Maßstabes, den die klassische Humanitätsbewegung anzulegen pflegte, wenn es galt, die erzieherische Wertigkeit eines Lebens-gehalts zu bestimmen. Man blieb dabei, nur nach dem Beitrag zu fragen, den der zu beurteilende Gehalt zum Werden menschlicher Wohlgestalt leiste. Der Unterschied liegt nur darin, daß man den Kreis von Gehalten meinte erweitern zu können, die, an diesem Maßstab gemessen, sich des Prädikats „human“ würdig erzeigen würden. Man wollte nicht mehr, als für Materien, die bis dahin nicht als pädagogisch hoffähig gegolten hatten, den ihnen verweigerten Rang erkämpfen. Man wäre zufrieden gewesen, sie den bereits akkreditierten „Bildungsgütern" als Supplement angereiht, sie als ihnen „gleichwertig“ anerkannt zu sehen. Dies alles sind Wendungen, die beweisen, daß man mit einer Art von bildungspolitischem Pairsschub die Angelegenheit zur Zufriedenheit meinte regeln zu können. Daß mit der Zulassung des Neuen auch und gerade die letzten Voraussetzungen und die grundlegenden Wertungen des überlieferten Bildungsdenkens in Frage gestellt werden mußten — davon gab man sich keine Rechenschaft.

Kerschensteiner Wie sehr selbst diejenigen, die mit Feuereifer für die Erschließung dieses pädagogischen Neulandes kämpften, der humanistischen Über-lieferung verhaftet blieben, bewiesen Theorie und Praxis desjenigen, der mit anerkanntem Erfolg in die Mauern der humanistischen Feste Bresche gelegt hat. Als G. Kerschensteiner sich, unter zögernder Nachfolge der Lehrerschaft, für den „bildenden“ Wert der Arbeit am sinnlichen Stoff einsetzte und ihr als Organisator einen Platz im öffentlichen Bildungswesen zu sichern suchte, da legte er seinen dahingehenden Bemühungen eine Theorie der manuellen Arbeit zu Grunde, die, auf der einen Seite ohne Zweifel neue pädagogische Perspektiven erschließend, doch andererseits die körperliche Arbeit nur innerhalb der Grenzen zu pädagogisieren versuchte und vermochte, deren Respektierung es ihm ermöglichte, den Anschluß an die klassische Bildungslehre ungeschmälert aufrecht zu erhalten. Man beachte einen charakteristischen Zug, in dem diese Anlehnung gleichsam sinnfällig hervortritt! Mit Vorliebe beruft sich Kerschensteiner, wenn es gilt, seine Idee der „Arbeitsschule“ zu verteidigen, auf die pädagogische Weisheit von Goethes „Wanderjahren“. Es geschieht mit gutem Grunde. Denn die körperliche Arbeit, von deren pädagogischer Wertigkeit zu überzeugen er so sehr bemüht ist, ist nach ihrer Anlage und Zielbestimmung keine andere als jene Form der manuellen Tätigkeit, die sich innerhalb des auch von Goethe so hoch geschätzten handwerklichen Schaffens hält, und die Eigentümlichkeiten dieser Arbeit, auf denen nach seiner Theorie ihre „bildende“ Wirkung beruht, sind keine anderen als diejenigen, durch die Goethe dazu vermocht wird, ihr in der „pädagogischen Provinz“ eine so bevorzugte Stellung anzuweisen. Hier wie dort fällt der pädagogische Wertakzent nur auf solche Hervorbringungen, die sich „als ein zweites Selbst" von dem sie Hervorbringenden „ablösen“ und ihn damit gleichsam zu sich selbst zurückführen. Was Goethe abhält, über die damit gegebene Grenze hinauszugehen, das deckt sich mit den — allerdings nicht ausgesprochenen — Bedenken, denen Kerschensteiner nachgibt, indem er es vermeidet, in die Theorie der Arbeitsschule auch die pädagogischen Probleme einzubeziehen, die erst durch die Vollendung der industriellen Gesellschaft brennend geworden sind. Nur durch diese halb instinktiv geübte Zurückhaltung wird es ihm möglich, sein pädagogisches Lebenswerk durch eine „Theorie der Bildung“ abzuschließen, die ihre Abkunft von der klassischen Bildungslehre in keinem Zuge verleugnet. So läßt auch Kerschensteiners Theorie der Arbeitsschule uns erkennen, wie der Abstand zwischen der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung und der pädagogischen Ideenbewegung selbst von denen nicht überwunden worden ist, deren erzieherisches Wollen und Planen recht eigentlich von der Absicht einer solchen Überwindung inspiriert war. Selbst in ihren Überlegungen bewährt sich jene Kraft der Selbstbehauptung, durch welche die einmal eingewurzelten Bildungsideale den ihnen zuwiderlaufenden Tendenzen der Zeit standzuhalten wissen.

(Wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt)

Anmerkung Dr. Dr. h. c. Theodor Litt, ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn, geb. am 27. Dezember 1880 in Düsseldorf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu 2— 4: Tb. Litt, Naturwissenschaft und Menschenbildung 2, Heidelberg 1954.

  2. Zu 3 und 4: H. W einstock, Arbeit und Bildung, Heidelberg 1954.

  3. An der Funktion, die das Experiment innerhalb der reinen Theorie ausübt, erhellt sich besonders deutlich deren Abstand von dem im „Umgang“ zu erwerbenden , Wissen um die Natur. Es ist natürlich ein laxer Sprachgebrauch denkbar, der besagt, daß auch der im „Umgang“ die Natur Suchende mit ihr „experimentiere".

  4. Audi in diesem Zuge offenbart sich der Unterschied des methodisch geregelten Experiments von dem angeblich schon im „Umgang", vielmehr als Umgang sich realisierenden Experimentieren. Wie weit sind wir hier über den Bereich möglichen „Probierens" hinaus!

  5. T h. Litt, Der lebendige Pestalozzi, Heidelberg 1952, S. 34 ff.

  6. W. Flitner, Goethe im Spätwerk, Hamburg 1947, S. 193 ff.

  7. Th . L i 11, Die Geschichte und-das Übergeschichtliche, Hamburg 1949, S. 20 ff.

  8. Naturwissenschaft und Menschenbildung S. 108 ff.

  9. Was Jarno-Montanus über sein Spüren nach Metallen berichtet, ist das schönste Beispiel eines durch und durch untechnischen Umgangs mit Bodenschätzen.

  10. E. Spranger, W. v. Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910.

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