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Die Sonne und der Nordwind | APuZ 6/1955 | bpb.de

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APuZ 6/1955 Die Sonne und der Nordwind Deutschland und Frankreich Die Mitarbeit der Schule im Kampf gegen den Massengeist

Die Sonne und der Nordwind

George F. Kennan

Gedanken zur Lösung der Ost-West-Spannung

INHALT DIESER BEILAGE: George F. Kennan: Carlo Schmid: (S. 93) Walter Ehrenstein: (S. 96) „Die Sonne und der Nordwind" „Deutschland und Frankreich" „Die Mitarbeit der Schule im Kampf gegen den Massengeist“

Mit Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir aus der internationalen Zeitschrift „DER MONAT" (Januar 1955) den folgenden Artikel von George F. Kennan:

In einem Zeitalter, das die Kriegführung zu einer Angelegenheit überaus komplizierter und kostspieliger Waffen und riesiger, zentral gelenkter Menschenmassen gemacht hat, kann sich militärische Stärke großen Stils — insbesondere wenn es sich um das zeitliche Nebeneinander von See-und Landkrieg handelt — nur noch an einer beschränkten Anzahl von Punkten auf der Erdoberfläche kristallisieren. Es handelt sich dabei um die Gebiete, die bedeutende industrielle Anlagen, Zugang zu den wichtigsten Rohstoffen und große Reserven an ausgebildeten Fachkräften in sich vereinigen. Solcher Gebiete gibt es auf der Welt nur fünf, und sie liegen sämtlich auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel. Zwei davon, England und Japan, sind den Küsten der eurasischen Landmasse vorgelagert und gehören mit dem dritten, dem amerikanischen Subkontinent, zu dem maritim-insularen Teil der Oberfläche unseres Planeten. Die letzten beiden militärisch-industriellen Kraftzentren sind in jene eurasische Landmasse selbst eingebettet; das eine wird von Deutschland und den ihm benachbarten Industriegebieten gebildet und ist hauptsächlich von den Bodenschätzen des Rhein-Ruhr-Reviers, Schlesiens und der Alpenländer abhängig; das andere ist die Sowjetunion, deren industrielle Basis die Kohle des Don-Beckens und Westsibiriens, die Eisen-und Leichtmetallvorkommen des Ural und die Wasserkraftreserven um Wolga und Kaspisches Meer sind.

Außerhalb dieser fünf Bezirke, das wollen wir uns noch einmal deutlich vor Augen führen, kann heute nirgendwo auf der Welt militärisch-wirtschaftliche Stärke wirklich großen Maßstabes entstehen.

Für die westliche Welt ist es ein besonders glücklicher Umstand, daß im britischen wie im amerikanischen Volk, trotz aller gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten, das Bewußtsein für die gemeinsame Basis ihres Geschickes und ihrer Sicherheit lebt. Das gilt keineswegs allein für die Britischen Inseln, sondern ebenso sehr für Groß-britannien als den Kern eines großen wirtschaftspolitischen Systems, das in allen seinen weltumspannenden Verzweigungen in überwältigendem Maße die gleichen Interessen wie die Vereinigten Staaten von Amerika hat. Die USA brauchen also, bei einigermaßen gutem Willen auf beiden Seiten, nicht zu befürchten, daß Großbritannien einmal zu ihrem Feinde würde. Es ist aber auch zu hoffen, daß sich in bezug auf Japan, dessen geographische Situation im Pazifik der Englands im Atlantik analog ist, eine ähnliche Lage ergibt; ich jedenfalls glaube, daß aller Anlaß zu dieser Hoffnung besteht.

So bleibt als Kern der Sicherheitsfrage in geopolitischer Hinsicht nur das Verhältnis der Atlantikstaaten zu Deutschland und zu Rußland, womit nicht gesagt sein soll, daß alle anderen Länder der Erde völlig bedeutungslos geworden seien. Es soll nur auf einen fundamentalen Rang-unterschied aufmerksam gemacht werden, und auf die Tatsache, daß der Gefahr einer sowjetischen Expansion nicht etwa auf jedem Terrain die gleiche Bedeutung zukommt. China z. B. gehört definitiv nicht zu jenen fünf Schlüsselgebieten, weil es seiner ganzen Anlage und Entwicklung nach noch weit von dieser Rangstufe entfernt ist.

Die wichtigste Schlußfolgerung, die sich aus dieser grob vereinfachten geopolitischen Über-sicht ziehen läßt, ist, daß die maritiminsularen Mächte vor allen Dingen die Zusammenfassung des militärisch-industriellen Potentials der gesamten eurasischen Landmasse unter einem Oberbefehl verhindern müssen.

Vor 1939 erschien die militärische Stärke Sowjetrußlands, so schlagkräftig es auch in bestimmten Gebieten und in Verfolgung bestimmter Ziele sein mochte, im Hinblick auf die Sicherheit Mittel-und Westeuropas noch keineswegs als ein so bedrohlicher Faktor wie heute. Die Veränderung beruht darauf, daß die Sowjets sich inzwischen die Herrschaft über Bodenschätze, technische Anlagen und Menschenreserven der Baltischen Staaten, Ostdeutschlands und .der osteuropäischen Satelliten gesichert haben. Damit hat sich das Verhältnis zwischen dem russischen und dem mittel-und westeuropäischen Potential in doppelter Hinsicht gewandelt: einmal sind die industriellen Grundlagen der sowjetischen Stärke um einen großen Teil dieser Hilfsmittel unmittelbar und nicht unerheblich verbreitert worden; zugleich aber hat sich die Möglichkeit, ein Gegengewicht dazu auf mittel-oder westeuropäischem Boden zu schaffen, entsprechend verringert. Die militärischen und politischen Positionen, die Sowjetrußland im Herzen Europas ebenso wie im mandschurisch-koreanischen Gebiet durch seinen Vormarsch bis Ende des letzten Krieges errungen hat, gaben dem Kreml einen Teil der Hilfsmittel in die Hand, die zu einer völligen . Wiederherstellung sowohl Deutschlands wie Japans benötigt worden wären, und setzten Sowjetrußland damit instand, das Wiedererstarken dieser beiden Länder zu behindern oder doch zu verzögern. Dazu kam noch eine weitere Tatsache von höchster Bedeutung; die Besetzung von Ost-und Mitteldeutschland eröffnete der Sowjetunion ein militärisches Aufmarschgebiet im Kern Europas und ließ sie endlich die verkehrsarme Zone zwischen Narwa und Bessarabien überwinden, die bis 1939 der Masse der russischen Streitkräfte wie eine Schranke im Wege gestanden und insofern Europa als hauptsächliches Bollwerk gedient hatte.

Infolge dieser Ereignisse hat sich in Europa und Asien das „Gleichgewicht der Mächte“ gründlich zum Vorteile Sowjetrußlands gewandelt, wobei wir von der Bedeutung Chinas in diesem Zusammenhang noch absehen wollen. Selbstverständlich hat die politische Verbindung mit China dem Kreml viele Vorteile gebracht, unter denen die entlastende Verwendung chinesischer Truppen bei der Bekämpfung der Amerikaner auf der koreanischen Halbinsel nur einer der augenfälligsten war. Hand in Hand damit gingen aber auch viele Nachteile: China ist — unter dem dreifachen Gesichtspunkt von Bodenschätzen, Industrieanlagen und Facharbeitskräften — ein ausgesprochen armes Land, das auf die Dauer erheblich an den Reserven der Sowjetunion zehren wird. Wie sich nun Vor-und Nachteile zum Schluß gegeneinander aufrechnen werden, läßt sich beim besten Willen nicht vorhersagen, doch möchte ich vor allen vorschnellen Verallgemeinerungen warnen.

So ist die ungewöhnlich starke Position, die Rußland seit kurzem in bezug auf das militärische Potential innehat, wie wir sahen, in erster Linie der zeitweiligen Ausschaltung Deutschlands und Japans als Folge des zweiten Weltkrieges zu verdanken, sowie jenem Anwachsen des militärischen Aktionsradius, das auf die Operationen in der letzten Phase des Krieges zurückgeht.

Weder durch Cocktails noch durch Wodka

Eine andere Tatsache aber, deren wir eingedenk sein müssen, ist die angeborene und tief-sitzende Feindseligkeit des sowjetischen Regimes gegenüber den älteren und größeren Ländern der westlichen Welt und insbesondere den Vereinigten Staaten. Über die Ursachen dieser Feindseligkeit ist schon viel hin-und hergeredet worden — ob es sich um ein grundlegendes Vorurteil der ganzen kommunistischen Bewegung handle, oder ob sie durch die westliche Haltung gegenüber dem Sowjetregime in seinen Anfangsjahren hervorgerufen worden sei. In Wirklichkeit werden wohl beide Faktoren mitsprechen, wenn auch die ideologische Voreingenommenheit der führenden sowjetischen Persönlichkeiten — lange bevor sie im Jahre 1917 in Petrograd die Macht ergriffen — von beiden bei weitem der wichtigere war. Wer daran noch zweifelt, möge die Äußerungen der Sowjetführer kurz vor und kurz nach ihrem Amtsantritt lesen. Später wurde es dann für die Männer im Kreml sehr bequem, einen äußeren Feind zu haben, aus dessen drohender Gegenwart sich die eigenen Exzesse und Grausamkeiten erklären und rechtfertigen ließen. In den dreißiger Jahren gab es tatsächlich einen solchen Feind, sogar deren zwei: Deutschland und Japan, an deren Echtheit so wenig zu zweifeln war, daß sie mit einer gewissen Glaubhaftigkeit zur Entschuldigung der blutigen Säuberungsaktionen in der Mitte dieses Jahrhunderts dienen konnten.

Nachdem aber der zweite Weltkrieg diese beiden Feinde ausgeschaltet hatte, mußte ein neuer erfunden werden, und so kamen die Amerikaner an die Reihe.

Sie besaßen alles, was zu dieser Rolle gehörte. Indem sie darauf bestanden, auf deutschem und österreichischem Boden zu bleiben und Japan weiter zu kontrollieren, indem sie Europa mit Hilfe des Marshallplanes den Rücken stärkten, indem sie die Integrität verteidigten, verhinderten sie den umfassenden sowjetischen Vorstoß über ganz Europa und ganz Asien hinweg, den sich Stalin ursprünglich für die Nachkriegszeit erhofft hatte. Indem sie sogar in der unmittelbaren Nachbarschaft der sowjetisch besetzten Gebiete die Freiheit am Leben erhielten, machten sie es für die Kommunisten schwieriger, dort ihre Herrschaft zu konsolidieren, und schufen damit praktisch eine ständige Bedrohung der sowjetischen Sicherheit. Denn es gibt für einen totalitären Staat nichts Gefährlicheres als das Bewußtsein bei seinen Untertanen, daß es irgendwo sonst auf der Welt noch so etwas wie Freiheit gibt, und die schwache, aber nicht auszurottende Hoffnung, daß sie dieser Freiheit auch einmal selbst teilhaftig werden könnten.

Aus all diesen Gründen müssen wir die feindselige Haltung der Sowjets als das Ergebnis einer logischen historisch-politischen Entwicklung betrachten; wir dürfen uns nicht durch die von Zeit zu Zeit in der öffentlichen Meinung des Westens auftauchende Idee beeinflussen lassen, man könne diese Feindseligkeit leicht beseitigen, wenn sich nur ein paar unserer Diplomaten hin und wieder ein bißchen freundlicher mit den Sowjets unterhalten würden. Diese Feindschaft ist weder durch Cocktails noch durch Wodka aus der Welt zu schaffen.

Das Vorhandensein dieser feindseligen Einstellung veranlaßte viele zu übereilten und irrigen Schlußfolgerungen über das, was die Sowjets eigentlich vorhaben. Hier muß man sehr sorgfältig Obacht geben und jede Verwechslung vermeiden. Grundsätzliche Haltung und praktische Absichten sind durchaus zweierlei.

Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die sowjetische Führung zu irgendeinem Augenblick seit dem Ende des zweiten Weltkrieges — oder selbst vorher — einen allgemeinen Krieg zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Ländern herbeigewünscht oder einen solchen Krieg als geeignetes Mittel zur Verwirklichung ihrer Absichten betrachtet habe. Meiner Meinung nach ist man in Sowjetrußland zu der Ansicht gekommen, daß ein solcher Krieg, selbst wenn er in seiner militärischen Anfangsphase für Rußland erfolgreich verlaufen sollte, im ganzen genommen zu gefährlich und zu kostspielig sein würde, daß er schon deshalb kein sehr aussichtsreiches Instrument sowjetischer Politik darstelle, weil er die Russen dazu veranlassen würde, sehr plötzlich ungewöhnlich weitreichende politische Verantwortlichkeiten über eroberte Gebiete einzugehen. Auf der anderen Seite aber lehrt ihre Ideologie sie, daß die kapitalistischen Mächte, und allen voran die Vereinigten Staaten, möglicherweise den Krieg mit der Sowjetunion suchen werden, um auf diese Weise aus allen ihren Schwierigkeiten und aus der politischen Ausweglosigkeit herauszukommen, in die sie der Kapitalismus angeblich immer tiefer hineingeführt hat. Mit anderen Worten, sie glauben, daß wir durch die logische Weiterentwicklung unseres eigenen gesellschaftlichen Systems geradezu gezwungen werden, einen Krieg mit der Sowjetunion herbeizuwünschen, und daß wir uns nur noch nach dem besten Anlaß dafür umsehen — natürlich innerhalb der Grenzen, die uns Vorsicht und Strategie auferlegen.

Die wahren Angriffsziele der Sowjets

Angesichts dieser Gefahr beruhigen sie sich mit den folgenden beiden Überlegungen: einmal sind sie der Ansicht, daß der grausige Alpdruck der Atomwaffen sich durch die Möglichkeit der Vergeltung mit gleicher Münze gewissermaßen von selbst aufhebt, mit anderen Worten, daß diese Waffen gar nicht erst zum Einsatz kommen werden. Zweitens glauben sie, daß der Westen, ehe er überhaupt so weit kommt, einen Präventivkrieg ernstlich ins Auge zu fassen, durch die inneren Widersprüche der kapitalistischen Welt gespalten und geschwächt sein wird. Und diese inneren Schwierigkeiten im Schoße der westlichen Völkerfamilie, die es uns praktisch unmöglich machen würden, den theoretisch herbeigesehnten Krieg tatsächlich zu entfesseln, können natürlich von kommunistischer Seite durch geschickte Taktik und Propaganda noch intensiviert werden. Von allen Erwartungen, welche die Brust der Sowjets schwellen, kreisen die ernsthaftesten und aussichtsreichsten, die für uns gefährlichsten, um diese Hoffnung, im westlichen Lager Zwietracht zu säen. Uneinigkeit zwischen Klassen, Rassen und Weltanschauungen, Uneinigkeit der Verbündeten untereinander, eine Vertrauenskrise zwischen den Staaten und innerhalb der Staaten selbst, Desintegration und Demoralisation der westlichen Welt — auf dieser Ebene und nicht so sehr bei irgendwelchen komplizierten Aufmarschplänen, sind die wahren Angriffsziele der Sowjets zu suchen.

Und auf dieser Ebene kommen natürlich die kommunistischen Parteien der einzelnen Länder zur Geltung, deren besondere Aufgabe im Rahmen dieses sowjetischen Gesamtplanes man unbedingt im Auge behalten muß. Von seinen Anfängen an hat das Sowjetregime in Gestalt dei kommunistischen Parteien und ihrer Helfershelfer in den verschiedenen Ländern ein Arsenal politischer Waffen zu seiner Verfügung gehabt, die es jederzeit zusätzlich für die Verwirklichung seiner Ziele einsetzen kann. Bemerkenswert daran ist übrigens, daß die-sowjetische Führung in keinem einzigen Fall selbst die Grundlagen für das Vorhandensein und die Durchschlagskraft dieser Waffen zu schaffen braucht. Ja, man kann sagen, daß die nichtkommunistische Welt Asiens und Europas teilweise ganz von selbst für die Täuschung und Ausbeutung durch die Kommunisten herangereift ist, daß sie schon hinreichend geschwächt war, um den Bazillen der kommunistischen Zerstörung zur leichten Beute zu werden. In Europa bestand diese Anfälligkeit darin, daß die Völker ach zwei Weltkriegen von einmalig zerstörerischer Wirkung müde und verwirrt waren, daß die vielen technischen Neuerungen der Gegenwart auf eine reife und traditionsgebundene Kultur nur einen höchst beunruhigenden Einfluß haben konnten und daß endlich die Demokratie ihrer ganzen Natur nach leicht mit Hilfe eben jener Freiheit und Weitherzigkeit anzugreifen ist, die ihr Wesen ausmachen. Asiens Anfälligkeit bestand in der Entwicklung der Kolonialfrage, in der allgemeinen sozialen Unruhe und Unausgeglichenheit und vor allem in der Empfänglichkeit von Millionen von Menschen für ideologische Klischees, die ihnen zugleich einen Ersatz für die verhaßten Denkgewohnheiten des Kapitalismus wie einen wunderbar einfachen Zugang zu den begehrten Errungenschaften zu verschaffen scheinen.

So gründet sich der Erfolg der Kommunisten überall und zu jedem Zeitpunkt in erster Linie fast automatisch auf die krankhafte Schwäche und den mangelnden Tatsachensinn der anderen. Glücklicherweise scheint es jedoch fast überall gewisse Grenzen für diese Anfälligkeit gegenüber dem Kommunismus zu geben. Eine der bemerkenswertesten Tatsachen der Geschichte des internationalen, von Moskau kontrollierten Kommunismus ist, daß ihm bisher nur relativ wenige politische Erfolge beschieden gewesen sind. Bisher hat der Kommunismus noch in keinem Land eine echte Mehrheit der Wähler hinter sich zu vereinigen gewußt. Der höchste Stimmen-anteil, den die Kommunisten je bekommen haben, waren die 3 8 Prozent bei den letzten freien Wahlen in der Tschechoslowakei im Sommer 1946. In den meisten politisch mehr oder weniger gesunden Ländern gelingt es ihnen nur selten, mehr als fünf oder sechs Prozent der Wählerschaft für sich zu gewinnen. Dieser Prozentsatz erklärt sich zweifellos weitgehend dadurch, daß es nun einmal in der Natur mancher Menschen liegt, sich von fremden Kräften gegen die Interessen der eigenen Gesellschaft ausbeuten zu lassen.

Wo der Kommunismus breitere Schichten erfassen konnte, wie zum Beispiel in Frankreich und Italien, war dies das Ergebnis tiefer innerer Fehlentwicklungen, aus denen die Kommunisten den besten Gewinn zu ziehen wußten, weil sie über die skrupelloseste und politisch wirksamste Organisation verfügten. Es war jedoch nicht — oder doch nur in sehr seltenen Fällen— auf einen Erfolg der kommunistischen Idee an sich zurückzuführen.

Herrschaft der Bajonette

Die in der westlichen Welt oft vertretene Ansicht, die sowjetische Propaganda habe besonders in den letzten Jahren mehrere Siege für sich buchen können, ist durch keine Tatsachen zu beweisen. In Wirklichkeit hat die ideologische Anziehungskraft des Kommunismus seit der Mitte der dreißiger Jahre allgemein nachgelassen. Seine Theorien sind in zunehmendem Maße als die Dogmen einer außergewöhnlich primitiven und starren Scheinwissenschaft erkannt und verurteilt'worden, die sich heute in ihren meisten Hypothesen als falsch herausgestellt hat und deren Prophezeiungen in vielen Fällen von den tatsächlichen Ereignissen Lügen gestraft worden sind. Das Prestige der Sowjetmacht fußt heute in zunehmendem Maße auf ihrer Fähigkeit zu rücksichtsloser Organisation, ihrer strengen Disziplin und der furchterregenden militärischen Stärke, was nichts mit geistigen Qualitäten zu tun hat.

Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß Moskau die ausländischen kommunistischen Organisationen in vielen Fällen nur deswegen sich zu unterwerfen und sie zu kontrollieren verstand, weil es sich bei ihnen um schwache Oppositionsgruppen handelte, die in ihrem eigenen Land kaum Unterstützung fanden und deshalb um so mehr von auswärtigen Eingebungen abhängig waren. Der Kreml hat diese Tatsachen schon seit langem erkannt und weiß, daß jede dieser Parteien sich von Moskau lösen und in der einen oder anderen Form einen eigenständigen Titoismus entwickeln würde, wenn es ihr gelingen sollte, in dem betreffenden Land die Mehrheit zu erringen oder sogar die Macht zu ergreifen. Diese Entwicklung schließt sich praktisch nur dort aus, wo die sowjetischen Streitkräfte im Notfall unmittelbar eingreifen könnten.

Aus diesen Gründen wäre es völlig irrig anzunehmen, daß Moskau die ausländischen kommunistischen Parteien in ihren Ländern so schnell wie möglich an der Macht sehen möchte, denn das würde in vielen Fällen wahrscheinlich nur bedeuten, daß sie dem Kreml als politische Werkzeuge verlorengingen. Moskau braucht sie jedoch, um zwischen den einzelnen Ländern des Westens Uneinigkeit und Mißtrauen säen zu können, um das politische und militärische Potential des Westens zu schwächen und den Widerstand gegen die sowjetische Außenpolitik zu sabotieren.

Es ist interessant, daß der Kommunismus in den letzten dreißig Jahren nur Raum gewinnen konnte, wo er von sowjetischen Bajonetten eingesetzt und gestützt wurde. Die einzige Ausnahme war das chinesische Reich, und daraus läßt sich schließen, daß die Beziehungen zwischen China und dem Kreml, wie herzlich sie nach außen erscheinen mögen, keineswegs den Charakter einer echten, von keiner Unklarheit getrübten Freundschaft tragen dürften.

Man ist sich wohl allgemein darüber einig, daß die augenblickliche, unnatürlich weite Ausdehnung des sowjetischen Weltreiches zumindest aus den bereits oben erwähnten geopolitischen Erwägungen ungesund ist und für alle Betroffenen eine Gefahr darstellt. Man hat auch erkannt, daß eine weitere Expansion der sowjetischen Macht eine noch größere Bedrohung darstellen würde. Die Meinungsverschiedenheiten beginnen erst da, wo es darum geht, aus diesen beiden Feststellungen die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen.

Der Begriff der „Befreiung"

Uneinigkeit besteht erstens in der Frage, wie wir die sowjetische Macht zurückzudrängen hoffen können: durch das Wirken natürlicher Kräfte innerhalb der Sowjetunion oder durch einen Druck von außen. Es ist, mit anderen Worten ausgedrückt, die Frage der „Befreiung“. Zweitens müssen wir klären, wie wir eine weitere Ausbreitung der Sowjets unterbinden wollen, mit anderen Worten, wie wir uns die „Eindämmung“ der Sowjets vorstellen.

Diese beiden Konzeptionen schließen sich nicht gegenseitig aus, es geht auch nicht darum, welche von beiden wünschenswerter ist. Es gibt wohl niemanden, der nicht die „Befreiung“ vollen Herzens begrüßen würde, so wie sich keiner finden wird, der nicht eine neue Expansion der sowjetischen Macht verhindert sehen möchte. Meinungsverschiedenheiten entstehen erst, wenn die Mittel zur Erreichung dieser beiden Ziele erörtert werden.

Ich will mich zuerst dem Problem der Befreiung zuwenden, weil es hier leichter zu gefährlichen Mißverständnissen und Fehlurteilen kommen kann.

Die Stabilität der internationalen Beziehungen erfordert unbedingt die Zurückdrängung der sowjetischen Macht von ihren augenblicklichen unnatürlichen Grenzen, das ist eine der Hauptaufgaben der westlichen Politik. Mit dem Begriff „Befreiung“ können jedoch verschiedene Dinge gemeint sein. Es ist eines jener vagen Klischees, die ihre allgemeine Verwendung gerade ihrer Vieldeutigkeit verdanken. So wie der Begriff heute in den Vereinigten Staaten verstanden wird — und zwar besonders von denen, die sich als seine entschiedensten Verfechter bezeichnen —, werden darunter zwei Dinge verstanden: der gewaltsame Sturz der Sowjets in allen oder zumindest in weiten Gebieten, die augenblicklich unter ihrer Kontrolle stehen, und zweitens die Forderung, daß die Beseitigung der Sowjetmacht von der westlichen Welt und besonders von Amerika mit allen politischen Mitteln angestrebt werden soll. Mit anderen Worten, der Impuls zur Befreiung soll von außen kommen und sich nicht innerhalb der Sowjetunion selbst entwickeln. Wir sollten jedoch vor allem anderen erkennen, daß wir uns mit diesem Ziel — wenn es nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten verfolgt wird — auf einen Weg begeben, der aller Wahrscheinlichkeit nach früher oder später in einem Krieg enden wird. Die sowjetischen Führer werden nicht uns zuliebe einfach zulassen, daß wir ihre Herrschaft über Osteuropa abbauen. Ihre Macht beruht nicht auf der Zustimmung der Regierten und kann nicht ohne weiteres durch unsere propagandistischen Bemühungen um die unterdrückten Völker erschüttert werden — selbst wenn wir uns auf diesem Gebiet mit außergewöhnlichem Geschick bewegten. Bereits ein Versuch in dieser Richtung würde zeigen, daß die Sowjets unter keinen Umständen einer freiwilligen Aufgabe eines Teils* ihres Gebietes zustimmen. Man kann nun einmal nicht von totalitären Machthabern erwarten, daß sie um der Erhaltung des Friedens willen von der Weltgeschichte abtreten und der Vernichtung ihres politischen Systems untätig zuschauen. Es gibt für sie keine Ausweichmöglichkeit, denn sie dürfen nach einem Umsturz kaum hoffen, mit dem Leben davonzukommen. Wenn sie erst einmal auf Grund eines ausländischen Ultimatums einen Teil ihrer Macht aufgegeben haben sollten, wird es ihnen wahrscheinlich nicht gelingen, den Rest unberührt zu erhalten. Es ist eine der entscheidenden Tatsachen des politischen Lebens, daß jede politische Wandlung einen kumulativen Charakter trägt, daß jede Veränderung im politischen Prestige sich dynamisch ausbreitet und bald eine eigene Schwungkraft entwickelt. Die sowjetischen Machthaber wissen dies sehr wohl und darum werden sie sich nie bereit zeigen, etwas unter Druck aufzugeben, selbst wenn es sich um die entferntesten und unbedeutendsten Gebiete ihres Reiches handelt.

Andererseits kann ich mir durchaus vorstellen, daß die Sowjets sich eines Tages aus einigen besonders exponierten Stellungen zurückziehen werden, so wie sie es seit Kriegsende schon in Finnland, Nordpersien un Jugoslawien getan haben. Dieser Vorgang kann meiner Meinung nach nur dann eintreten, wenn das sowjetische Prestige von diesem Rückzug nicht zu drastisch und abrupt in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn der Wandel langsam und unauffällig eintreten kann und nicht durch ultimative Drohungen oder Manöver des Auslands veranlaßt wird, sondemn sich aus der Struktur der Sowjetmacht selbst zwangsläufig ergibt.

Wenn es nicht gelingt, den Übergang auf diese „sanfte“ Weise zustande zu bringen, muß jeder Versuch meiner Ansicht nach letztlich zu einem Weltkrieg führen. Sollte jedoch unsere eigene Politik jemals für einen Kriegsausbruch verantwortlich scheinen, würden wir die Auseinandersetzung von vornherein mit einem gewaltigen Handicap beginnen.

Totale Kriege sind unwahrscheinlich geworden

Im Fall der Amerikaner würde ein solches Verhalten überall dort Enttäuschung und Verzweiflung hervorrufen, wo die Menschen sich bisher als ihre Freunde empfunden und von ihnen eine vernünftige Führung der Weltpolitik erwartet haben. Ein von den Vereinigten Staaten provozierter Krieg würde wahrscheinlich sämtliche bestehenden Bündnisse . sprengen und würde für sie daher allein vom militärischen Standpunkt katastrophale Folgen zeitigen. Das russische Volk und auch die anderen Völker, deren Befreiung so vielen von uns am Herzen liegt, müßten es — nicht nur gegenüber den kommunistischen Machthabern, sondern auch gegenüber sich selbst — als eine entsetzliche und ungerechte Herausforderung auffassen, die sie zum äußersten Patriotismus anstachelt. Und die kommunistischen Führer würden überdies den politischen Vorteil genießen, als Organisatoren eines Widerstandes gegen einen unprovozierten Angriff auftreten zu können.

Schließlich könnte kein allein im Namen der Befreiung geführter Krieg militärisch oder politisch mit einem eindeutigen Erfolg enden, gerade weil seine Zielsetzung zu ehrgeizig und vieldeutig wäre. Es wird heute immer wieder behauptet, die Zeit der begrenzten Kriege sei vorbei. Ich vertrete jedoch die Ansicht, daß das genaue Gegenteil wahr ist: totale Kriege sind heute höchst unwahrscheinlich geworden, denn nur in jeder Hinsicht begrenzte militärische Operationen können noch irgendeinen Sinn und Erfolg haben.

Wir sollten nicht übersehen, daß Rußland niemals vollkommen besetzt werden kann. Wie erfolgreich militärische Operationen gegen die Sowjetunion auch sein mögen, es wird wahrscheinlich einen Punkt geben, wo es sich als zweckmäßig erweist, mit dem kommunistischen Gegner in Verhandlungen einzutreten und zu irgendeinem realistischen Übereinkommen zu gelangen. Wir dürfen im Gegensatz zu den letzten beiden Kriegen nicht mit einer „bedingungslosen Kapitulation“ rechnen.

Massenvernichtungswaffen künftig auf der Tagesordnung

Selbst in den „befreiten“ Gebieten werden wir vor das Problem gestellt sein, die alte politische Autorität durch irgendeine neue zu ersetzen. Sind wir für diese Aufgabe genügend vorbereitet? Im Fall der Sowjetunion habe ich zumindest die größten Zweifel. Wir würden eine ungeheure Verantwortung auf uns laden, wenn wir Gebiete besetzen würden, in denen wir nicht erwarten können, von einer lebensfähigen einheimischen politischen Bewegung unterstützt zu werden. Während unseres Eingreifens in den russischen Bürgerkrieg am Ende des ersten Weltkrieges befanden wir uns in einer ähnlichen Lage. Die traurige Geschichte dieses wenig durchdachten Abenteuers sollte noch heute eine Warnung sein. Die Amerikaner haben sich merkwürdigerweise kaum mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß jeder Sieg neue Verantwortungen mit sich bringt und man sich nicht zu große Verantwortung auflasten sollte.

Man wird mir nun von verschiedenen Seiten entgegenhalten, man dürfe nicht einfach die Tatsache außer acht lassen, daß die Sowjets heute im Besitz der Wasserstoffbombe seien und sie jederzeit gegen unsere Städte einsetzen könnten. Kann unter diesen Umständen überhaupt an etwas anderes gedacht werden als an die militärischen Aspekte des west-östlichen Gegensatzes?

Natürlich genießen wir heute keine absolute Sicherheit mehr — aber war das jemals der Fall?

Natürlich müssen wir uns mit der Tatsache abfinden, daß es in der Macht anderer Völker liegt — oder doch in Kürze liegen wird — unsere Städte in Trümmerfelder zu verwandeln. Ich sehe darin noch keinen Grund für morbide Überspanntheit. Kein Mensch könnte eigentlich ernsthaft der Ansicht sein, daß es in der heutigen, von der Atomenergie bestimmten Welt einem Volk auf die Dauer gelingen würde, sich das Monopol auf ein magisches Geheimmittel zu bewahren, mit dem cs in die Lage versetzt wäre, allen anderen Nationen seinen Willen aufzuzwingen.

Es geht nicht darum, zu welchen Entscheidungen und Taten andere Völker sich unter Umständen hinreißen lassen könnten. Wir sind auch im persönlichen Leben jedem Verrückten, Verfolgungssüchtigen, sogar jedem rücksichtslosen Autofahrer auf Gnade oder Ungnade ausgesetzt. Auch hier gilt das Gesetz der großen Zahl, des Durchschnitts, nicht die gegebenen Möglichkeiten. Glücklicherweise ist ein mit allen Atomwaffen vorgetragener Überraschungsangriff gegen die freie Welt aus der Sicht unserer Gegner ein ebensowenig sinnvolles Unterfangen wie ein Präventivkrieg von unserem Standpunkt. Auch er würde ihnen nicht die erstrebte ruhige und allmähliche Expansion ihres Machtbereichs garantieren. Außerdem dürfen wir nicht übersehen, daß auch uns Vergeltungswaffen zur Verfügung stehen, die jeden Überraschungsangriff zu einem höchst riskanten LInterfangen machen würden.

Man kann dem mit einem gewissen Recht entgegenhalten, daß man sich nicht auf die Vernunft und Einsicht anderer verlassen darf. In einem gewissen Grade ist das natürlich richtig. Mir scheint jedoch, daß man gerade vom Sowjetregime behaupten kann, es habe nie eine Neigung zu selbstmörderischen Unternehmungen gezeigt. Im Gegenteil, wie unerfreulich ihre Absichten gegenüber der westlichen Welt auch sein mögen, sie sind keine unkontrollierbaren Amokläufer, sondern auch nur — allerdings schlechtberatene und neurotische — Menschen, die mit den bei der Ausübung absoluter Macht unweigerlich auftretenden Schwierigkeiten besonders schwer zu kämpfen haben.

Wir werden uns nun einmal — so bedauerlich das an sich auch sein mag — daran zu gewöhnen haben, daß die Massenvernichtungswaffen zukünftig immer auf der Tagesordnung stehen werden. Ein Krieg ist niemals ausgeschlossen, denn er kann sich immer als das zwangsläufige Produkt der verschiedensten politischen Konstellationen ergeben. Ebensowenig können wir die Möglichkeit ausschließen, daß diese furchtbaren Waffen eines Tages eingesetzt werden. Wir müssen immer die entsprechenden Vorbereitungen treffen, dürfen dabei jedoch nicht so einseitig vorgehen, daß wir nur für diese und nicht für alle anderen Eventualitäten gerüstet sind. Es ist durchaus denkbar, daß es überhaupt nicht zu einem Krieg kommt oder daß beide Seiten es als zweckmäßiger ansehen, sich bei den militärischen Operationen auf die herkömmlichen Waffen zu beschränken oder die neuen Vernichtungsmittel nur in besonderen Fällen anzuwenden. Je schneller es uns gelingt, die Atomwaffen in erster Linie

Fussnoten

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