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Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften | APuZ 48/1954 | bpb.de

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APuZ 48/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften

Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften

Wolf von Baudissin

standen, welche ungeheuren Torheiten und Mißgriffe am Körper unserer gemeinsamen abendländischen Kultur sie eigentlich waren. Viel besser, als daß die Alliierten 1917 die Russen wieder zum Krieg hetzten, wäre es gewesen, wenn wir uns damals schon alle — Deutsche und Amerikaner zusammen — unserer Gemeinschaft als Mitglieder einer einzigen Kulturwelt erinnert, uns demütig und gesenkten Hauptes von diesen traurigen Schlachtfeldern entfernt und den dringenden Aufgaben des Friedens zugewandt hätten.

Aber so wollte es das Schicksal nicht haben. Der Krieg dauerte noch an. Mit ihm entstand, als unerbittliche Gottesstrafe für den unverzeihlichen Bruderzwist innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft, der Bolschewismus. Und die traurigste von allen Tatsachen, die wir heute festzustellen haben, ist nun diese letzte, daß auf beiden Seiten die Menschen, die damals an der großen Politik mitwirkten, von allen diesen Realitäten eigentlich keine Ahnung hatten, und daß insbesondere die amerikanischen Staatsmänner, die es mit der bolschewistischen Revolution im November 1917 zu tun hatten, am wenigsten verstanden, wie es eigentlich dazu gekommen war, worin ihr eigener Fehler bestand und welche enorme und verhängnisvolle Bedeutung für die ganze Welt diese russische Revolution am Ende haben sollte.

In der nächsten Vorlesung werden wir uns nun den Ereignissen zuwenden, die in der Zeit unmittelbar nach der bolschewistischen Machtübernahme die Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestimmten.

Vortrag vor der Studiengesellschaft für praktische Psychologie in Essen am 29. Oktober 1954.

Jeder, der Menschen führen will oder soll, muß versuchen, sich darüber klar zu werden, welche Menschen er führt, wohin und wozu er sie führen will. Wir müssen also zunächst nach den Aufgaben des zukünftigen Soldaten fragen, nach den inneren Voraussetzungen, die er mitbringt, bzw. die ihn erst zur Erfüllung seines Auftrages befähigen. Die Verflechtung aller Lebensausschnitte unserer arbeitsteiligen Welt miteinander läßt auch in den Streitkräften gleiche Probleme praktischer Menschen-führung erwachsen wie in allen anderen Gemeinschaften, in welchen mit-menschliche Beziehungen und gemeinsames Handeln eine hervorragende Rolle spielen. Die besondere Zuspitzung der Forderungen und die damit verbundenen Schwierigkeiten, die den soldatischen Bereich kennzeichnen, werden deutlich, wenn man von den Anforderungen ausgeht, die der kalte und heiße Krieg an den Soldaten in gesteigertem Maße stellt.

Es ist gewiß ein fragwürdiges Unterfangen, zwei so komplexe und in ihrer Vielschichtigkeit verwirrende Fragenkreise mit wenigen Strichen zu umreißen, wie ausgerechnet den Krieg und die Jugend. Der Krieg ist — wie uns die atomaren Vernichtungsmittel mit größter Eindringlichkeit zeigen — längst unserem Vorstellungsvermögen und unseren Führungskünsten enteilt und hat uns als hilflose Zauberlehrlinge zurückgelassen. Die Jugend ist so differenziert nach Herkunft, Erleben, Beruf und Alter, daß jedes Urteil in unzulänglicher Weise vereinfachen muß. Dennoch ist der Versuch einer begrifflichen Fixierung notwendig, will man nicht in jenen Vorstellungen und Erfahrungen der Vergangenheit Steckenbleiben, die den Gegebenheiten von morgen nicht mehr entsprechen. Nur so lassen sich die Fragen praktischer Menschenführung in den zukünftigen. Streitkräften sachgemäß betrachten und beantworten.

Die Aufgabe des Soldaten Aufstellung und Ausbildung zukünftiger deutscher Streitkräfte vollziehen sich inmitten einer Auseinandersetzung, deren Charakter der Begriff „Permanenter Bürgerkrieg" treffend bezeichnet. Die Menschheit — insbesondere unser Volk — ist durch das Totalitäre in seiner Existenz gefährdet, d. h. durch ein Lebensprinzip bedroht, das die totale Unterwerfung des Einzelnen unter eine Ideologie oder einen Menschen fordert und alle personalen Werte leugnet. In dieser Auseinandersetzung gibt es keine räumlichen, zeitlichen oder sachlichen Grenzen; in ihr ist jeder Träger, Mittel und Ziel zugleich. Neutralität ist nicht möglich; ihr Versuch bedeutet im Grunde bereits Option für die Gegenseite.

In diesem Sinne ist auch die Aufstellung der Streitkräfte nur ein Akt der großen Auseinandersetzung; auch sie müssen einen wichtigen Abschnitt der inneren Front bilden und halten. Es geht darum, mit und hinter ihnen etwas aufzubauen, das möglichst allen Menschen verteidigungswert erscheint; das einen Angriff von außen nicht heraus-lockt, weil es das Totalitäre innerlich überwunden hat.

Wir meinen, daß auch der einzelne Soldat aus diesen Zusammenhängen schon deshalb nicht ausgeklammert werden kann, weil gerade sein Tun und Handeln eminent politisch geworden ist. Wenn zwar alle Menschen — SoIdatundNichtsoldat— herausgefordert, bedroht und beteiligt sind, so ist es der Soldat doch in besonderer Weise. Er soll eine Gemeinschaft sichern, welcher er weitgehend entfremdet ist. Er soll sie vor Gefahren schützen, die zu jeder Zeit, aus allen Richtungen und in zahllosen Verkleidungen zugleich ihn selber bedrohen. Und das alles in der Verworrenheit einer Welt der aufgeklafften, begrifflichen, staatlichen, politischen und taktischen Fronten, in welcher der Soldat im Nebel der Propaganda oft nur auf sich selbst und seine nächste Umgebung zurückgeworfen ist.

In solcher Dschungelsituation ist der „blinde Staatsbürger“ als Kämpfer auf die Dauer nicht mehr kriegstüchtig. Hier kann im Grunde genommen nur der bestehen, der aus eigener Entscheidung den Maßstab fand für Freund und Feind. Isolierte Nester sind zudem bei der Härte und Weltweite des Kampfes weder im Geistigen oder Politischen, noch im Wirtschaftlichen oder Militärischen zu halten. Sie werden umgangen, sofern ihre Verteidiger — im Bewußtsein ihrer Verlorenheit — nicht schon vorher aufgeben.

So fordert die zukünftige Ausgabe — die Gefechtssituation werde ich später noch beleuchten — vom Soldaten erheblich mehr an Einsicht, Übersicht, Entscheidung und Dienstbereitschaft, als es die Vergangenheit tat. Sie ruft ihn aus einem Leben, das unsere Verantwortlichkeiten weitgehend überdeckt, ja, verantwortungsbewußtes Handeln Einzelner häufig fürchtet, zum letzten Einsatz seiner Existenz — ohne daß immer deutlich wird, vor wem eigentlich die Verantwortung zu tragen ist. Die Jugend Physisch besteht ein offensichtliches Mißverhältnis zwischen körperlichem Wachstum und geistiger Entwicklung. Meist hoch aufgeschossen — schlank und frühreif in den organischen Funktionen scheint ihr Denken und Empfinden gegenüber den Aufgaben der jeweiligen Altersstufe doch unzulänglich. Das schließt nicht aus, daß sie den vordergründigen Anforderungen der Signalwelt gegenüber recht sicher und routiniert antwortet. Die Technik ist ihnen vertraut; doch sie verfallen ihr leicht und ohne Abstand oder nachhaltige Überlegung. Hinter einer äußeren Sicherheit steht aber eine merkliche Unsicherheit gegenüber den tieferen Bereichen des seelischen und geistigen Lebens, ein verblüffender Mangel an Phantasie und Spieltrieb.

Die „Nestwärme“ der Familie fehlte ihnen oft in den entscheidenden Jahren. Sie waren vielfach auf sich zurückgeworfen und reagieren jetzt entsprechend. Ihre Einstellung zur Gemeinschaft ist zwiespältig. Sie geben sich ihr ungern hin, lassen sich auf keinen Fall von ihr vergewaltigen — trotz aller Sehnsucht nach festen Halten im menschlichen Kreis. Zur Familie steht die Jugend positiv, auch wenn sie nicht so sehr eine seelische, gottgewollte Gemeinschaft in ihr fühlt, als vielmehr eine kleine Zelle von zuverlässigen Partnern, die sich gegenseitig stützen. Anonymen Masseneinrichtungen und Gesellschaften gegenüber verharren sie in Skepsis. An kleine, überschaubare Gemeinschaften binden sie sich schon eher, wenn auch ohne Begeisterung.

Es ist ihr Wunsch, früh zu heiraten. Sehr bezeichnend ist die Beobachtung von Bednarik, daß die Jugendlichen zwar Mitglieder der Gewerkschaften sind, aber ohne tieferes Interesse. Ihre Zurückhaltung ist beinahe fatalistisch zu nennen. Ihr Bestreben, „schnell fertig zu werden“, um materiell gesichert zu sein und ihre hohe Einschätzung des Geldes geht oft bis zum krassen Materialismus. Der Ehrgeiz, im Berufsleben höher zu kommen, treibt sie zu Forderungen, die den Leistungen oft nicht entsprechen.

Ihr Abstand zur älteren Generation, die ihnen nicht sonderlich glaubwürdig erscheint, ist groß. Sie fühlen sich oft nicht verstanden und suchen die Gesellschaft Gleichaltriger. Zur Geschichte haben sie kein Verhältnis. Neben einem Mangel an geschichtlichem Bewußtsein fehlen oft die primitivsten Kenntnisse. Traditionen aller Art bedeuten ihnen nicht viel, obwohl sie sie „mitmachen“, sobald es sich als lohnend erweist (Studentische Korporationen). Das Wort geht ihnen leichter vom Mund als früher. Aber sie reagieren mit Empfindlichkeit gegen Phrasen und demagogische Töne, hinter denen sie keine Haltung wahrzunehmen glauben. Ihr Bewußtsein für Autorität ist jedoch geschärft. Nichts erscheint ihnen beispielhafter als eine saubere Identität von Wort und Tat. Sie hungern im Grunde ihrer Seele nach souveräner Bestimmtheit des Charakters und nach Freimut — mit anderen Worten: nach Autorität in einer autoritätsfeindlichen Zeit.

Zum S t a a t ist ihre Einstellung noch skeptisch, obwohl sich deutliche Ansätze einer positiveren Haltung erkennen lassen. Von der Demokratie wissen sie im allgemeinen nur, daß sie ihnen Rechte sichert, auf deren Wahrung sie großen Wert legen. Über ihre sittlichen Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber denken sie nüchtern. Sie sind mißtrauisch gegen jede Beeinflussung von oben. Gewisse Notwendigkeiten, sich einzuordnen, erkennen sie aus praktischen Erwägungen an. Freiheit erscheint ihnen als Wert, obwohl sie sie noch oft mit Ungebundenheit verwechseln und kein rechtes Ziel in ihr sehen. Verantwortung nehmen sie ungern auf sich. Lieber bleiben sie ungebunden und für sich, obgleich 30% aller Jugendlichen organisiert sind.

Ihre Bildung wollen sie meist möglichst leicht durch Kino, Radio und Illustrierte erwerben. Es soll alles einfach, bildlich und schnell er-reichbar sein. Vor Logik und Abstraktion haben sie Scheu. Lange durchgehaltene Bemühungen einsamer Arbeit sind ihnen unerfreulich, weil sie wenig realen Nutzen darin sehen. Der Religion begegnen sie mit befremdeter Achtung, jedoch ohne Spott. Allerdings scheinen sich hier breitere Ansätze zum Tiefgang der Seele in unseren Jugendlichen zu finden. Sie vertrauen insgesamt lieber ihrer Einsicht, als ihrem Gefühl. Sie wollen ernstgenommen und anerkannt sein — das ist für sie entscheidend. Sie sind im Grunde genommen fleißig und bereit zur Leistung, erlahmen jedoch schnell.

Der soldatische Bereich ist ihnen fremd, irgendwie unerfreulich und unheimlich. Dennoch scheinen sich viele damit abgefunden zu haben, daß sie einmal dienen müssen. Die 08/15-Propaganda scheint nicht allzu stark bei ihnen anzukommen. So, wie die pathetischen Verherrlichungen des Militärs bei ihnen wenig Gegenliebe finden. Wenn schon Militär, dann soll es hart und fordernd sein, menschlich klar, ihnen ihre Freizeit lassend, und — wenn möglich — auch förderlich für den Zivilberuf. Den Bolschewismus lehnen sie gefühlsmäßig ab; jedoch haben nicht einmal die Flüchtlingskinder tiefere Kenntnisse über ihn. Sie anerkennen fremde Menschen und Völker und hassen nicht. Ob es sich lohnt, für das Leben, das sie umgibt und in dem sie stehen, zu sterben, ist für sie noch nicht entschieden. Sie sind nicht leicht durchschaubar, lassen ungern mit sich experimentieren und erscheinen im Guten wie im Bösen immer auf dem Absprung. Man könnte von der »wartenden Generation“ sprechen.

Zusammenfassend ist festzustellen: Das Bild der jungen Menschen unserer Zeit entspricht der Richtungslosigkeit der Umbruchsituation. Ziemlich deutlich lassen sich zwei Altersschichten unterscheiden. Die Jahrgänge, die den Krieg noch bewußt als Flakhelfer oder blutjunge Soldaten mitmachten; sie sind wesentlich skeptischer, verstörter, verkrampfter und ratloser als die Nachkriegsjahrgänge, die dafür naiver, treugläubiger und eher bereit sind, sich führen zu lassen. Man muß die Möglichkeit ins Auge fassen, daß eine straffe und klare soldatische Ordnungswelt mit ihrer Überzeugungskraft in vielen jungen Menschen tatsächlich zum erstenmal ein Bewußtsein dessen wecken kann, was überhaupt menschliche Gemeinschaft und Ordnung ist. Das ist die große Chance, Verantwortung und Gefahr aller zukünftigen deutschen Führung.

AIs Soldat wird der junge Mensch allerdings noch manche Fragen stellen, deren Beantwortung ihm der Staat und die ältere Generation bisher schuldig blieben. Es sind die Fragen nach dem, was das Leben ausmacht, was eine Verteidigung lohnt; nach dem für alle Verbindlichen; nach Pflichten und Rechten des Einzelnen und der großen Gemeinschaft; nach der Stellung zum Kriege, dem letzten Sinn soldatischen Dienstes und damit nach dem Sinn des Lebens. Fragen, die früher bereits Elternhaus oder Schule beantworteten, vielleicht vielfach auch gar nicht bewußt gestellt wurden.

Erheblichen Einfluß auf die Menschenführung in den Streitkräften wird auch der Rückgang des agrarisch-handwerklichen Anteils unserer Bevölkerung haben, mit dessen Vorstellungswelt und Denkart die Methoden militärischer Ausbildung und Erziehung in der Vergangenheit rechneten. In Zukunft werden die Arbeiter und Angestellten der industriellen Betriebe den größeren Teil der Soldaten ausmachen.

Erziehung oder nicht?

Aus der Betrachtung der soldatischen Aufgabe und der inneren Situation unserer Jugend heraus erwächst die Frage nach Art und Methoden der Menschenführung in den Streitkräften.

Zwei Ansichten stehen sich extrem gegenüber: die eine, die dem Soldaten nur eine technisch-äußere Ausbildung geben will; die andere, die in den Streitkräften die Schule der Nation sieht. Hier soll durch den Staat alles das an Erziehung nachgeholt und vollendet werden, was frühere Instanzen versäumten. Wir meinen, daß beide Standpunkte die Dinge einseitig sehen. Die Verfechter bloßer Ausbildung übersehen, daß der soldatische Dienst den ganzen Menschen fordert und daß der Einzelne gerade darauf nicht genügend vorbereitet ist, wenn er die Kaserne betritt. Vor allem aber verschließen sie sich der Erkenntnis, daß ein so enges und intensives Zusammenleben mit Sicherheit Wirkungen auf den Menschen ausübt, die nachhaltig und nicht leicht zu überschätzen sind. Es wäre leichtfertig, diese erzieherischen Möglichkeiten treiben zu lassen, anstatt sie sorgsam zu pflegen — zumal uns bittere Erfahrung lehrt, daß jede Ausbildung ohne erzieherischen Aspekt den Menschen mißachtet und zum mechanischen „Abrichten“ wird.

Das andere Extrem wiederum — überfordert die Streitkräfte und führt zu einer Militarisierung des Lebens, die der Soldat ablehnen sollte. Er weiß, daß sowohl Wurzel als Gegenstand seiner Verteidigungsbereitschaft außerhalb der Streitkräfte liegen und daß er sich im Innersten aufgäbe, falls die Prinzipien der militärischen Ordnung den bestimmenden Einfluß auf das Leben der Gesamtheit gewännen.

Soll also militärische Ausbildung im Sinne des soldatischen Auftrags sachgemäß sein, soll sie den unabdingbaren Forderungen einer freiheitlichen und sittlichen Menschenführung entsprechen, dann kann sie nur erzieherisch durchdacht und angelegt sein. Dies aber bedeutet, daß die zukünftigen Offiziere — wie in gewissem Maße schon zu alten Zeiten — pädagogisch befähigt sein müssen. Solche Befähigung ist um so unerläßlicher, als — wie wir sahen — diesmal eine sehr andere Jugend, noch dazu mit erheblichem Mißtrauen, antreten wird. Früher war der Kompaniechef anerkannter Repräsentant einer anerkannten Ordnung; er knüpfte an gemeinsame Vorstellungen an und baute seine Erziehungsarbeit auf gültige Verbindlichkeiten. Sein etwaiges Versagen als Mensch oder Fachmann wurde hingenommen und führte jedenfalls nur selten zur Ablehnung des Ganzen. Heute dagegen erblicken weite Teile der Jugend im Vorgesetzten zunächst den Funktionär eines der großen anonymen und unheimlichen Apparate und werden sich nur zögernd, fast wider besseres Wissen, von seinem guten Willen und seinen menschlichen Qualitäten überzeugen lassen. Die Übertragung dieser Anerkennung auf die Streitkräfte als solche oder gar den Staat verlangt eine weitere Überwindung tiefeingewurzelter Vorurteile. Versagt jedoch der Vorgesetzte, so geschieht das Erwartete und wird zum willkommenen Vorwand, diesem Manne, dieser Situation und diesem Staat nur widerwillig und so wenig als irgend möglich zu dienen. Da erhebt sich mit Recht die Frage: Besitzen diese Offiziere — zunächst in der Mehrzahl doch ehemalige aktive und Reserveoffiziere der „Wehrmacht“ — können sie solche Fähigkeiten besitzen? Fähigkeiten, an denen es berufenen Erziehern an Schule und Universität, selbst vielen Eltern häufig genug zu mangeln scheint? Handelt es sich hier nicht um eine Begabung, die man hat oder nicht hat, um etwas, das sich nicht erwerben läßt, und muß man nicht damit rechnen, daß ein großer Teil der Offiziere diese Gabe nicht mitbringt? Kurz, stecken wir nicht in einem hoffnungslosen Dilemma, verschärft noch durch den beklagenswerten Stand unserer pädagogischen Wirklichkeit im allgemeinen? Gewiß— auch wir meinen, daß die Kunst zu erziehen weitgehend eine Frage der Begnadung ist, doch daß sie zu einem beträchtlichen Grade gelernt werden kann.

Damit sind wir beim ersten Problem der praktischen Menschenführung: der Auswahl und Ausbildung der zukünftigen soldatischen Führer, an deren pädagogische Vorbildung weit höhere Maßstäbe angelegt werden müssen, als es in vergangenen Zeiten geschah, und deren erzieherische Fähigkeiten als ein wesentliches Kriterium für ihre Eignung zu dieser Laufbahn erachtet werden müssen. Ohne in den Fehler unserer Zeit zu verfallen, auch hier durch die vielfach überforderte Pädagogik den mangelnden geistigen Gehalt ersetzen zu wollen, wird ein nachdrücklicher Hinweis auf die Problematik menschlichen Miteinanders und auf bewährte Methoden der Menschenführung vielen Vorgesetzten die Augen öffnen und ihnen brauchbare Hilfen für die Praxis bieten. Deshalb ist nicht daran gedacht, den Offizieren die pädagogischen Theorien von Platon bis Spranger und Litt vorzutragen oder die Universität als Vorbild zu nehmen. Es wären vielmehr in neuem Wurf, in Zusammenarbeit mit bewährten Erziehern aus allen Bereichen eigene Formen der pädagogischen Bildung an den zukünftigen Militärakademien zu entwickeln. Dabei sollten zur Ausbildung der militärischen Erzieher so viel als möglich auch nichtmilitärische Fachleute herangezogen werden. (Sie in der Truppe zu verwenden, verbietet sich allerdings von der Sache her.)

Hier stellt sich als nächstes die Frage, ob nicht der Charakter der soldatischen Gemeinschaft Vorbedingungen schafft, die selbst den pädagogisch minder Befähigten in den Stand setzen, auch mit geringeren Kenntnissen erzieherische Aufgaben befriedigend zu erfüllen.

Das eine ist sicher: kaum eine andere Gemeinschaft führt Menschen s 0 verschiedener Art nach Herkunft, Landsmannschaft und Bildung so intensiv zu gemeinsamem Handeln bei Tag und Nacht zusammen, wie es die Streitkräfte tun. Dem militärischen Dienst sind damit eminente Möglichkeiten sowohl zum Guten wie zum Bösen an die Hand gegeben, und nicht ohne Grund beschleicht den jungen Menschen kein gutes Gefühl bei der Vorstellung, diesem massiven Eigenbereich ausgeliefert zu werden. Seine Sorgen sind verständlich, und manche warnende Stimme ist auch aus anderen Richtungen erklungen, um auf die Gefahren hinzuweisen, die hier schlummern.

Es ist also aller institutionellen Planung soldatischer Ordnung aufgegeben, diese intensiven Möglichkeiten der Einwirkung positiv zu nutzen und gegen alle Unzulänglichkeiten einzelner so weit als möglich abzusichern. Hierfür lassen sich im Hinblick auf unser Thema folgende Forderungen aufstellen:

1. Der offenbar so bedrohliche Charakter der „Eigengesetzlichkeit" ist soweit zu beseitigen, als nicht unabdingbare Forderungen der militärischen Aufgabe dem entgegenstehen. Eine eingehende Untersuchung würde überraschend erweisen, daß Streitkräftesheute nur dann kriegstüchtig sind, wenn sie von den gleichen Impulsen gespeist werden, wie die Gemeinschaft, die es zu verteidigen gilt;

. wenn sie die gleiche Ordnung repräsentieren. Der demokratische Staat darf nicht darauf verzichten, auch in diesem Sektor des öffentlichen Lebens für seine Grundordnung zu werben. Diese Werbung sollte in der Sorge dafür bestehen, daß der Soldat während seiner Dienstzeit nicht selbst auf das verzichten muß, das zu verteidigen er sich entschlossen hat: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der menschlichen Würde. Diese Werte der freiheitlichen Welt, manchen vielleicht zum ersten Male bewußt erleben zu lassen, ist eine Chance für den Staat, die er sich nicht entgehen lassen sollte.

2. Durch konsequente Delegierung von Verantwortung an den Einzelnen und kleinere Gruppen ist die Entfaltung der Person zu fördern, die ihre individuelle Eigenart zugunsten kollektiver Verwendbarkeit immer stärker einzubüßen droht.

So, wie die Demokratie wertvollste Impulse aus den staatsfreien Räumen empfängt, so dürfen auch moderne Streitkräfte nicht auf den Kräftezustrom aus „befehlsfreien“ Bezirken verzichten. Die hierarchische Ordnung nach Befehl und Gehorsam ist dem Soldatischen zugeordnet; doch sollte sie durch Bildung selbstverantwortlicher Bereiche soweit als irgend möglich abgestützt und belebt werden.

3. Auswahl und Erziehung besonders der soldatischen Führer haben unter einem Leitbild zu stehen, das einen ganz bestimmten Standort zum Sittlichen, Geistigen und Politischen bezieht und der Umwelt in rechter Weise zugeordnet ist. Sowohl der Charakter freiheitlicher Ordnung, als auch Vielfalt und Intensität der soldatischen Aufgabe verbieten es allerdings, als Leitbild einen bestimmten, verengten „Typ“ zu setzen, zu dessen „Züchtung“ jede andere Individualität vergewaltigt wird. Die Stärke freiheitlicher Streitkräfte liegt gerade in der Mannigfaltigkeit eigenständiger, ganzer Menschen.

Ohne ein solches Leitbild entwickelt sich bald ein Brei selbstgenügsamer Mittelmäßigkeit, fehlt jeder Maßstab für Haltung und Urteil, vor allem Anreiz und Richtung zur Selbsterziehung.

Selbstverständlich können nicht alle dem Leitbild entsprechen, das ist auch nicht sein Sinn. Doch ist Entscheidendes erreicht, wenn sich an den bestimmenden Stellen diejenigen auswirken können, die ihm am meisten entsprechen, während sich die anderen zumindest genieren, unter ein bestimmtes Niveau herabzusinken.

Der soldatische Dienst stellt dem einzelnen als mögliche Konsequenz das Opfer seines Lebens deutlich vor Augen; führt er nicht zur Besinnung auf letzte Werte, entartet er leicht in Nihilismus.

Einzelprobleme Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen möchte ich noch einige Spezialprobleme anreißen, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, sie im einzelnen vertiefen oder gar einen vollständigen Katalog aufstellen zu wollen.

Ich möchte ausgehen vom modernen Gefecht, auf das hin nun einmal der Soldat erzogen und ausgebildet werden muß — auch und gerade dann, wenn er es durch seine Existenz verhindern helfen soll. Auf dem Gefechtsfeld von heute sehen wir weder den allein verantwortlichen, die Aktion unmittelbar leitenden Feldherrn, der jedes Rädchen seiner Kriegsmaschine dirigiert und kontrolliert, noch aber den Einzelkämpfer, der seinen Kampf für sich allein besteht. Waffentechnik und Waffen-Wirkung haben das Gefecht aufgelöst und lassen es weithin durch Teams und kleine Gruppen führen, die ihre Waffen im Sinne der Gefechts-absicht zur Wirkung bringen. Damit wird bei steigendem Verzicht auf starre, bindende Kommandos und Aufsicht von oben die Verantwortung immer stärker nach unten verlagert. Entscheidende Entschlüsse und entschlossenes Handeln liegen bei diesen kleinen Gruppen, die nur noch mit knappen Funkbefehlen und Zeichen zum Zusammenspiel gebracht werden. Es liegt bei ihnen, nicht nur ihre Waffen technisch zu meistern und den ungeheuren Belastungen aller Art standzuhalten, sondern sich sinnvoll und den wechselnden Erfordernissen wendig angepaßt, dem Ganzen einzuordnen.

Je weiter im Gefecht die Entschlüsse nach unten delegiert werden, je mehr die Auftragstaktik zur allgemeinen Führungsmethode wird und je weniger das Handeln des Einzelnen zu überwachen oder gar mit Strafe zu erzwingen ist, desto größer wird die Bedeutung des Verantwortungsbewußtseins aller füreinander.

Gehorsam und Verantwortung erhalten eine ganz neue Relation. Der Gehorsam wird nur als Teil und Folge bejahter Verantwortung sinnvoll und belastbar sein. Nur eine sittlich fundierte Verantwortung ist tragfähig und glaubwürdig.

Je mehr sich die Funktionen differenzieren, je mehr sich das Können spezialisiert, je stärker die Existenz der Gruppe von dem Zusammenspiel aller Glieder abhängt, um so größere Bedeutung und Geltung erhält der Einzelne. Das Team funktioniert erst dann reibungslos, wenn seine Spezialisten und Einzelkämpfer auch menschlich zusammenwachsen. Der Wille, voreinander bestehen zu können, ist das stärkste Ferment der Truppe in Gefahr.

Folgen der Technisierung Mit der Technisierung aller Waffengattungen entsteht zunehmend eine Art „Sachdisziplin", die ihte innere und äußere Ordnung von der Sache her bezieht, d. h. von Waffe, Fahrzeug oder Gerät. Die Sache ist es, die hier ganz bestimmte Verhaltensweisen, Ein-und Zuordnungen, Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt. Es ist hier vieles vorgesehen, was früher Probleme der Etikette oder menschliche Spannungen aufwarf. So entsteht ein lautloser Gehorsam; der Kaserhenhofton verbietet sich von selbst. Auch der „Kriegsrat", der nur im taktischen Führungsbereich anerkannt war, ist für die sinnvolle Zusammenarbeit der untersten Instanzen erforderlich geworden. Er enthebt hier wie dort selbstverständlich nicht der Notwendigkeit abschließender, verantwortlicher und bindender Befehlsgebung.

Die Sachdisziplin läßt Spielraum für individuelle Lösungen innerhalb der Ordnung einzelner Teams. Die Aufgabenverteilung kann in letzter Feinheit erst nach den gegebenen Fertigkeiten der einzelnen Glieder vorgenommen werden. Es kommt nicht mehr wie in den Zeiten der Linear-taktik darauf an, daß alle Teile der geschlossenen Linie minutiös auf gleiche Bewegung zum gleichen Zeitpunkt gedrillt sind, sondern vielmehr darauf, daß jeder an seinem Platz sein Bestes leistet. Damit ist nicht nur ein sachlich-technisches Problem angesprochen, sondern auch ein menschlich-psychologisches, das entscheidende Bedeutung für die Dienstfreudigkeit des Einzelnen und die Schlagkraft der Truppe hat.

Hiermit wird aber nicht etwa die Einübung bestimmter, immer wiederkehrender Handgriffe und Verhaltensweisen abgelehnt. Gerade im Team, das hochtechnische und komplizierte Werkzeuge beherrschen soll, müssen ganz bestimmte Automatismen in Fleisch und Blut übergegangen sein. Nur ist hier der „Drill" von der Sache her begrenzt und damit einsichtig. Es verbietet sich von selbst, ihn zum Erziehungsmittel zu steigern.

Der Sachdisziplin gegenüber steht die Sachautorität dessen, der die Verantwortung für das Ganze trägt und das sachliche wie menschliche Zusammenspiel leitet. Eine innere Autorität muß dazukommen, wenn die menschlichen Qualitäten des Vorgesetzten anerkannt und verstanden sind. Doch schützt das enge Miteinander und die gemeinsame Leistung vor perfektionistischen Forderungen an den anderen.

Die Stellung des Vorgesetzten hat einen neuen Aspekt dadurch erhalten, daß er — mit aller Konsequenz im technischen Team — nicht mehr lediglich Befehlender ist, sondern einen funktionalen Stellenwert im Ganzen hat wie jeder seiner Untergebenen. Er steht damit in einer ganz anderen Nähe zu ihnen. Die „Oben-Unten-Position" in zwei getrennten Welten wird im übrigen noch dadurch eingeebnet, daß der Untergebene als Spezialist auf seinem Fachgebiet vielfach dem Vorgesetzten überlegen sein wird. So entsteht ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das zur partnerschaftlichen Kooperation zwingt. Der Vorgesetzte ist nicht das unfehlbare Vorbild bzw. braucht es nicht mehr zu spielen, sondern er ist derjenige, der in seinem Bereich und mit seinen Möglichkeiten beispielhaft Verantwortung übt und — was wahrscheinlich das wichtigste ist — Vertrauen schenkt, um Vertrauen zu gewinnen.

Erzieherisch ergibt sich hieraus, daß jede Gelegenheit genutzt werden muß, die dem Einzelnen oder den kleinen Gruppen die Möglichkeit zur Bewährung in Mitverantwortung gibt. Nur aus dem gemeisterten Auftrag entsteht der Mut zu neuen Aufgaben und das Selbstvertrauen, welches die Voraussetzung für alles Vertrauen zu anderen ist. Aus der Aufgabenstellung erwachsen Kräfte zu ihrer Bewältigung, die sonst unentdeckt und unentwickelt blieben. Aus dem Erlebnis'des Aufeinander-angewiesen-Seins entsteht die Einsicht in die Gleichwertigkeit — nicht etwa Gleichheit — verschiedenartiger Menschen und die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung.

Hier entwickelt sich Partnerschaft, die weiter und breiter reicht als Kameradschaft. Diese sucht ihre Bewährung vor allem im Augenblick der Not und Gefahr; jene erkennt die Person und Rechte des anderen als gleichberechtigt zu jeder Stunde an.

Die Gruppensituation läßt sich über den Ausbildungsdienst hinaus noch dahin ausbauen, daß die Gruppe gleichzeitig Wohngemeinschaft wird. Gerade hier kann sie wesentliche Erfahrungen sammeln und Impulse entwickeln, wenn man ihr mit fortschreitender Erziehung mehr und mehr die Regelungen des inneren Dienstes für ihren Bereich überläßt. Dadurch schafft man nicht nur erhebliche Reibungsflächen zwischen Unteroffizier und Mannschaft aus der Welt, sondern erzieht auch zu der Selbständigkeit, die Voraussetzung jeder Kriegstüchtigkeit ist.

Die Ausbildung für das moderne Gefecht kann nur den m i t d e n -kenden Soldaten zum Ziel haben. Sie wird daher grundsätzlich an seine Einsicht appellieren und, solange als irgend möglich, ihre Forderungen von der Sache her erklären und verständlich machen. Gerade Technisierung und Gruppe bieten manche Hilfe zur Lösung der in unserer psychologischen Situation zu heiklen Frage nach der notwendigen Härte. Der militärische Vorgesetzte ist mit außergewöhnlicher Machtfülle ausgestattet; er hat Forderungen zu stellen, die den Einzelnen bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit führen. Erst wenn der Vorgesetzte den Versuchungen seiner Stellung widersteht und den Untergebenen das Gefühl erspart bleibt, schutzlos ausgeliefert zu sein, ist das Problem gemeistert. Ein militärischer Ausbilder ist gescheitert, wenn er es dazu kommen läßt, daß der Untergebene in ihm seinen Feind sieht. Derartige Situationen gehören in den Bereich der Raubtierdressur. Für den heutigen Kämpfer genügt nicht eine stumpfe, passive, vorwiegend körperliche Härte, die im Grunde nur Gefühllosigkeit ist; was ihn tragen sollte ist vielmehr die innere Bereitschaft, mit den psychischen und physischen Belastungen fertig zu werden, und die Erfahrung der eigenen Bewährung. Nur wer es erreicht, von seinen Untergebenen verstanden zu werden, beflügelt sie zu sinnvollem Handeln und führt sie über die berüchtigte Minimalleistung des Gerade-nicht-auffallen-Wollens hinaus. Höchstleistungen sind auf die Dauer nicht nach dem Ludendorff-Rezept der Forderung des Unmöglichen zu erreichen; dies führt zwangsläufig zur Gleichgültigkeit und Sturheit. Mitverantwortung setzt Mitwissen voraus; Vertrauen das Wissen, daß nur das Notwendige gefordert wird. Man darf nicht übersehen, daß der moderne Mensch es einfach als selbstver-

ständlich und vernünftig ansieht, jede Leistung mit einem Minimum an Kraftaufwand zu erreichen. Anders gerichtete Forderungen empfindet er als unbillig und schikanös. Soldat und Demokratie Aus den Erfahrungen im Dritten Reich wissen wir, daß soldatische Existenz im totalitären Machtbereich eigentlich nur als latente Widerstandssituation denkbar ist. Solange der Soldat ein Mensch mit Gewissen und Verantwortung ist — und anders kann er sich nicht sehen, ohne sich aufzugeben — wird er heutzutage außerhalb freiheitlich und rechtsstaatlich organisierter Staaten in ständigem Konflikt zwischen innerer Verantwortung und dem geforderten Gehorsam stehen. Ein reduzierter Verantwortungsbereich verträgt sich nicht mit dem, was der Soldat von sich und anderen fordern muß. Selbstverständlich kann auch der Dienst in der Demokratie zu starken Spannungen und Krisen führen; doch gibt es da andere Lösungen als den Widerstand.

Aber im permanenten Bürgerkriege genügt keine verschwommene, theoretische Loyalität gegen Volk und Staatsform; sie gäbe nicht die notwendige Standfestigkeit gegen all die raffinierten Begriffsvernebelungen, Drohungen und Lockungen eines weithin erfolgreichen Gegners. Hier kann nur bestehen, wer sich als Staatsbürger mit dem Staat jetzt und hier, mit seiner Ordnung und den darin enthaltenen Gestaltungsmöglichkeiten identifiziert. Das geschieht dann, wenn der Einzelne erkennt, daß die Chance, lebenswichtige Entschlüsse nicht gegen sein Gewissen fällen zu müssen, ein letztes Kriterium menschlicher Ordnung ist. Da es erfahrungsgemäß zu spät ist, wenn wir diese Chance nur noch an der eigenen Haustür verteidigen können, liegt es im vitalen Interesse des Einzelnen, daß in der staatlichen Gemeinschaft entsprechende Lebensformen und Gesetze gelten. Er sichert somit seine eigene Existenz, wenn er sich dafür einsetzt, daß freiheitliche Kräfte das politische Leben bestimmen, und wenn er zusammen mit den Gleichgesinnten jeden Angriff von außen zum erheblichen Risiko werden läßt. Da aber nicht alle Menschen, die Soldat werden sollen und wollen, bereits bewußte Staatsbürger sein werden, entstehen auch hier wichtige Aufgaben der Menschenführung, denen sich die Streitkräfte im Interesse ihrer Schlagkraft nicht entziehen dürfen. Entscheidende Faktoren dieser Erziehung zur politischen Verantwortung werden Geist und Haltung sein, in denen der Dienst abgehalten wird, das Beispiel der Vorgesetzten und all die vielen oben angedeuteten Möglichkeiten, durch Übernahme von Verantwortlichkeiten Einblick in die Problematik gemeinschaftlicher Vorgänge zu bekommen. Wer die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit erfährt, erkennt sowohl die Grenzen des für ihn Erreichbaren als auch die Notwendigkeit persönlicher Mitarbeit.

Weiter wird es Sache der verantwortlichen militärischen Führer sein, durch eine Information, die dem Pluralismus unseres Lebens Rechnung trägt, die großen Zusammenhänge der militärischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen LImwelt aufzuhellen. Hierbei ist es wichtig, die sachliche Berechtigung und Notwendigkeit verschiedener Standpunkte in der praktischen Politik, die gegebenen Einflußmöglichkeiten des Einzelnen auf die Entwicklung der Gesamtheit und das alles überwölbende Gemeininteresse sichtbar zu machen. Allgemeines Erleben im Dienst gibt den geeigneten Anknüpfungspunkt, aber auch den Ort, das theoretisch für gut Befundene miteinander zu praktizieren. Damit entstehen* Verbindlichkeiten. Der Einzelne wird aus seiner Zuschauer-rolle herausgeführt und angereizt, einen Standort zu beziehen. Auch hier ergibt sich als besonderes Problem die Vorbereitung der Offiziere auf diese neue und nicht ganz einfache Aufgabe. Manche werden sich nur mit Unbehagen auf dieses schwer absteckbare Feld begeben. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, verschiedene Ansichten nebeneinander bestehen zu lassen. Für die Ausbildung und Unterstützung der Offiziere werden wiederum erfahrene Kräfte aus den nichtmilitärischen Bereichen heranzuziehen sein.

Das Bewußtsein, mitgestalten zu dürfen, gibt wesentlichen Anreiz zur Mitverantwortung. So erhebt sich auch vom erzieherischen Standpunkt aus die Forderung, dem Soldaten konsequent alle politischen Grundrechte zu belassen; sie nur dort, soweit und solange einzuschränken, wo es seine besondere Aufgabe unerläßlich fordert.

Alle Forderungen an die Menschenführung in den zukünftigen Streitkräften, von denen ich nur einen Teil anführen konnte, entspringen keiner Humanitätsduselei; denn dann hätten sie keine Aussicht auf Verwirklichung. Sie bieten sich vielmehr an als logische Konsequenz der Situation, die durch unsere freiheitliche Lebensordnung, den Charakter der Auseinandersetzung, die fortschreitende Technisierung und die Entfremdung des Einzelnen von der Gemeinschaft gekennzeichnet ist. Die geistige, politische und militärische Entwicklung stellt den Einzelnen vor Entscheidungen, die ihm früher weitgehend abgenommen wurden. Sich ihnen zu stellen, fehlt ihm aber häufig Kraft, Mut, Erkenntnis und Über-blick. Wir stehen daher vor der Alternative, vor einem angeblichen Unvermögen zu kapitulieren und totalitär den Menschen, aber auch die vielschichtige Wirklichkeit zu vergewaltigen, oder aber mit aller Konsequenz den Einzelnen auf diese Entscheidungen vorzubereiten. Mittelwege gibt es nicht; jedenfalls sind sie, wie alle Halbheiten, schief, unwahr und wenig belastbar. Soll die Menschenführung den einzelnen Soldaten für diese Entscheidungen befähigen helfen, so kann sie ihm kein spannungsloses Oasendasein vorgaukeln, sondern muß ihn dem scharfen Wind der Freiheit aussetzen, den der heutige Mensch nach Möglichkeit flieht. Die Menschenführung muß vom Soldaten fordern: einen klaren Standort in der freiheitlichen Welt, soldatische und politische Mitverantwortung, Partnerschaft als Grundhaltung menschlicher Begegnung und Kooperation als Arbeitsmethode. Dieser Weg ist sicher für Führer und Geführte schwerer, risikobeladener und gefährlicher; doch dürfen wir das Grauenvolle der Alternative nicht vergessen. Gleiche Notwendigkeiten scheinen auf allen Lebensgebicten aufgegeben. Wie weit sie außerhalb der Streitkräfte gesehen und gelöst werden, muß notwendigerweise einen entscheidenden Einfluß auf den Verwirklichungsgrad unserer Forderungen haben. Die Konsequenz, mit der man sich überall diesen Problemen stellt, wird den Ausschlag geben für Bestand oder Niederlage in der Auseinandersetzung mit dem Totalitären. „Notwendiges Übel“ freiheitlicher Lebensordnung Ich muß mir versagen, auf die besonders interessanten Probleme einzugehen, die die Freizeit für die Menschenführung stellt. Hier liegen weite Möglichkeiten der Entspannung, Bereicherung und Weiterbildung; sie werden recht genutzt, wenn sie den Einzelnen aktivieren.

Auf ein entscheidendes Problem darf ich zum Schluß noch deuten: das Verhältnis des Soldaten zum Krieg und damit zum Sinn seiner Aufgabe. Es ist unbestreitbar, daß der moderne Krieg kein ersehntes Feld der Betätigung männlicher Tugenden mehr bedeuten kann oder ein normales Mittel zum Durchsetzen politischer Absichten und Ziele. Diese beiden Blickrichtungen des 19. Jahrhunderts sind uns versperrt. Der absolute Krieg kennt und bringt nicht mehr Frieden, sondern endet mit weitgehender Vernichtung des Lebens. Sein Ausbrechen zu verhindern muß heute das Ziel aller Sehenden und Verantwortlichen sein. Gerechtfertigt erscheint er nur noch als Verteidigung letzter menschlicher, d. h.freiheitlicher Existenz.

So werden die Streitkräfte zum „notwendigen Übel“ einer freiheitlichen Lebensordnung; denn sie müssen im Interesse ihrer Wirksamkeit vom einzelnen Staatsbürger Opfer und Gefährdung seiner Freiheit, des rechtsstaatlichen Schutzes und seiner Würde verlangen. Aber ich meine, daß damit der einzelne Soldat nicht als eine notwendiges Übel angesehen werden darf. Er erhält gerade seine besondere Würde dann, wenn er dieses Risko im Interesse höherer Werte und der Gemeinschaft auf sich nimmt. Der Soldat kann seine Aufgabe nur noch darin erblicken, durch ein Höchstmaß an Kriegstüchtigkeit dem Politiker wesentliche Voraussetzungen für sein Bemühen zu geben, die geistigen und politischen Auseinandersetzungen nicht in die Unabsehbarkeit des heißen Krieges aus-ufern zu lassen.

Die Menschenführung geschieht damit in einem schwierigen Spannungsfeld: sie soll zur Kriegstüchtigkeit führen, die aus mehr besteht, als handwerklichem Können; aber dabei dem Einzelnen stets vor Augen halten, daß das eigentliche Ziel nur die Wahrung des Friedens sein kann. So divergierend diese Forderungen auch sein mögen: ein anderes und größeres Ziel kann sich der Soldat nicht stecken und ein anderer Weg zu diesem Ziel scheint nicht gegeben. Wer sich aber mit Menschenführung befaßt, der sollte bedenken, daß der Mensch erst in der Polarität Gestalt gewinnt.

Wolf Graf von Baudissin, geb. 1907 in Trier, ausgewachsen in Berlin und Westpreußen.

Im Kriege Generalstabsoffizier, zuletzt Major und Ic bei Rommel; 1941 Gefangenschaft in Afrika, dann Ägypten, Palästina und Australien. Seit Mai 1951 Referent „Inneres Gefüge* in der Dienststelle Blank.

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