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Das Deutschlandbild der Briten | APuZ 42/1954 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 42/1954 Das Deutschlandbild der Briten Der kulturelle Konflikt in Afrika Unsere Politik heißt: Frieden durch Stärke Gegen die Aggression Aufstand des Gewissens

Das Deutschlandbild der Briten

Walter H. Johnston

Mit Genehmigung des Verlages entnehmen wir der Zeitschrift im Dienst übernationaler Zusammenarbeit „DOKUMENTE", Oktober 1954, 5. Heft, den folgenden Artikel von Walter H. Johnston:

Verglichen mit unserer Gegenwart, lebten die Menschen in Großbritannien zu Beginn des Jahrhunderts in einem Zeitalter der Unschuld — wenigstens was die Beziehungen zu anderen Ländern betraf. Die große Masse des Volkes hatte weder die Zeit noch das Geld, um ins Ausland zu reisen. So begnügte sie sich mit Beschreibungen, wie sie etwa ein Thackeray fast ein Jahrhundert vorher gegeben hatte. Der Deutsche war ein dicker, gut. mütiger Bursche, der gern Bier trank, langgestielte Pfeifen rauchte, wenig von Politik verstand und der vor allem harmlos war. Die Deutschen, die ins Land kamen, veränderten das Bild nicht. Da waren die fahrenden Musiker, die mit ihren Blechinstrumenten von Straße zu Straße zogen und für die paar Pfennige, die sie einnahmen, viel mehr boten als der italienische Drehorgelmann mit seinem Äffchen. Da war gelegentlich ein deutscher Kellner, der die sonderbare Laune hatte zu arbeiten, während er eine fremde Sprache lernte. Aber niemand nahm diese Leute ernst; denn sie schienen in der untergeordneten Stellung, welche die Vorsehung den Fremden zu-wies, vollkommen zufrieden zu sein.

Natürlich war das nur die eine Seite der Medaille. Was der Mann auf der Straße dachte, war gar nicht so wichtig. Die Macht lag viel mehr in den Händen der großen landbesitzenden Aristokratenfamilien und der reichen Männer in der City als bei den Millionen von Parlamentswählern. Diese Kreise wußten, daß andere Deutsche unter ihnen lebten als nur wunderliche Musiker und Kellner -Männer wie der große Finanzier Schröder oder Pioniere der chemischen Industrie wie Brunner und Mond, die Vorläufer der riesigen Chemiekonzerne. Vielleicht hätte man diese Leute mit mehr Mißgunst betrachtet, wäre da nicht der berühmte britische Snobismus gewesen. König Eduard VII. mochte in Paris nach Freundinnen Ausschau halten; aber wenn es um Männer ging, legte er eine gewisse Sympathie für die Deutschen an den Tag, die in Südafrika und anderswo große Vermögen machten. Und wo der König führte, da folgte die Aristokratie. Es gab auch Gelehrte im Lande, die wußten, daß man die deutsche Wissenschaft und die deutsche Philosophie nicht unterschätzen dürfe. Aber sie bewun-derten nur, sie fürchteten nicht. Haldane gab offen zu, daß Deutschland seine geistige Heimat sei, und als ihm 1905 das Kriegsministerium übertragen wurde, versicherte er seinen erstaunten Zeitgenossen, daß er eine hegelianische Armee aufstellen wolle.

Obwohl die Nation im ganzen nichts Übles dachte, war doch eine Anzahl von Männern in verantwortlichen Stellungen darum besorgt, Großbritannien Deutschland gegenüber nicht in eine Position der Unterlegenheit geraten zu lassen. Hier wirkte die Lektion des Burenkrieges allerdings viel stärker als irgendwelche Befürchtungen hinsichtlich möglicher deutscher Absichten. Es war viel mehr die nationale Lethargie, die diese Leute plagte, als der potentielle Feind jenseits des Kanals. Kipling schrieb von den „in Flanell gekleideten Narren beim Kricket, den schmutzigen Tröpfen im Tor“. Lord Roberts agitierte für die allgemeine Wehrpflicht. Und der hervorragende Soldat, der unter dem Pseudonym Ole Luke-Oie schrieb, versuchte seine Leser davon zu überzeugen, daß eine Invasion der Insel möglich und es geraten sei, sich vorzubereiten. Aber im großen und ganzen gab es weder Nervosität noch Angst vor den Absichten Deutschlands.

Der Wandel von 1914

INHALT DIESER BEILAGE: Walter H. Johnston:

Das Deutschlandbild der Briten Peter Abrahams:

Der kulturelle Konflikt in Afrika (S. 544) Winston Churchill:

Unsere Politik heißt:

Stärke (S. 548) John Foster Dulles:

Gegen die Aggression (S. 551) Josef Rommerskirchen:

Aufstand des Gewissens Frieden durch (S. 553)

All das änderte sich, und zwar sehr rasch, als 1914 der Krieg ausbrach. Der Haß gegen Deutschland schoß aus dem Boden wie eine Brut von Pilzen, fast über Nacht. Psychologisch ist das leicht zu erklären. Das Land war, wie die oben erwähn, ten Schriftsteller gewarnt hatten, verschlafen und die Deutschen das Volk, das es aus seiner Lethargie wachrüttelte. Darum wurden die Deutschen gehaßt. Daher glaubte man so bereitwillig an Greuelgeschichten, was in einem Lande, wo die Leute ernsthaft meinen (und an die Times schreiben) konnten, daß Engel vom Himmel herabgestiegen seien, um den Rückzug der Divisionen von Mons zu schützen, nicht überraschen darf. Es ist bezeichnend, daß niemand sonderlich die Österreicher haßte, obwohl wenige historische Fakten besser gesichert sind als die Schuld der Wiener Regierung am Kriegsausbruch.

Aber Deutschland hatte nicht nur einen unangenehmen Schock ausgelöst: durch Deutschland erfuhren die Briten auch einiges über die Realitäten des internationalen Lebens, wie sie sich im Kriege zeigen. Da war jener Zwischenfall in der ersten Zeit des Ringens: ein deutsches Unterseeboot hatte einen englischen Kreuzer torpediert, und als die beiden Begleitschiffe die Überlebenden aufnehmen wollten, torpedierte das U-Boot auch diese Schiffe. Da war, wie unwahrscheinlich das heute auch erscheinen mag, die Anwendung von Stacheldraht und später von Gas. Und da war jene Gesamteinstellung zum Krieg, die, wie erzählt wird, einen gefangenen deutschen Offizier zu der Bemerkung veranlaßte: „Ihr (Briten) werdet immer Narren und wir werden nie Gentlemen sein."

Northcliffes Propaganda baute auf diesen Gefühlen und Entdeckungen auf. Vom Gesichtspunkt der ernsten Historie hatte er natürlich unrecht. Das Preußentum war nicht der eigentliche Feind und die Junker bei weitem nicht die gefährlichste Klasse im Deutschen Reich. Aber indirekt hatte er doch ein wenig recht. Er hatte die verkehrten Symbole gewählt, aber die Eigenschaften, für die diese Symbole standen, waren real genug. Deutschland war -ein starker Staat, die deutsche Politik kraftvoll, und Deutschland verfügte über große Hilfsquellen und wußte sie zu nutzen. Das war Northcliffes eigentliche Lehre, und vieles davon traf.

Die Northcliffesche Deutung hat den Krieg nicht lange überlebt. Der Wandel in der britischen Haltung wurzelt in der tiefen Erfahrung des Krieges selbst. Als Großbritannien in den Krieg eintrat, besaß es eine soziologische Struktur, die Disraeli ein halbes Jahrhundert vorher mit dem Wort von den „zwei Nationen“ beschrieben hatte: der großen herrschenden Klasse mit ihrem breiten Saum des gehobenen Mittelstandes auf der einen und den Regierten auf der anderen Seite. Diese Struktur blieb auch während des Krieges bestehen. In der öffentlichen Meinung war das Land in zwei Lager geteilt: das Lager der Offiziere und das der gemeinen Soldaten, der Privilegierten und Nichtprivilegierten, derer, denen es fern vom Kriege gut ging, und derer, die in den Tod getrieben wurden. Dieses Bild entsprach der vollen Wirklichkeit keineswegs, aber das war kaum wichtig. Wichtig war die Tatsache, daß die sogenannten nichtprivilegierten Klassen eine Sympathie für ihre Leidensgenossen im deutschen Lager entwickelten, die sie ebenfalls als Opfer der Kriegshetzer betrachteten. Solange der Krieg andauerte, wurde dieses Gefühl weitgehend von der Propaganda vertuscht. Aber es war da, bereit, jederzeit aufzubrechen. Während des Krieges konnten diese Emotionen natürlich keinen politischen Ausdruck finden. Der Krieg wurde von einer Koalition geführt, in der die Liberalen die maßgebliche Rolle spielten, und Lloyd George war bestimmt nicht der Mann, der mit deutsch-freundlichen Ideen spielte. Jene latente prodeutsche Haltung mußte ihre Zuflucht bei den spärlichen Vertretern der Labourpartei suchen, und die waren nicht so sehr für Deutschland wie gegen den Krieg. Diese Entwicklung sollte später ihre Früchte tragen. Sie erklärt die Deutsch-freundlichkeit der englischen Pazifisten in den ersten Jahren nach dem Krieg.

Bei den Konservativen verlief die Entwicklung in der entgegengesetzten Richtung. Während die Labourleute gefühlsmäßig prodeutsch empfanden, waren die Konservativen ebenso profranzösisch eingestellt. Die Disziplin mußte aufrechterhalten und der böse Angreifer bestraft werden. Lloyd George sagte bei einer Gelegenheit: „Wir werden den Deutschen zusetzen, bis ihnen die Augen übergehen.“ Die Konservativen halfen ihm dabei.

Die revolutionäre Entwicklung nach 1914

Der Krieg und die Jahre danach brachten revolutionäre Veränderungen mit sich. Das Wahlrecht wurde beträchtlich erweitert und nahm bald praktisch allgemeinen Charakter an. Die Folge war, daß die Ansichten der großen Masse der Bevölkerung einen wachsenden Einfluß auf die Politik gewannen. Zur gleichen Zeit setzte eine langsame Neuverteilung des Einkommens ein, so daß viele Leute ins Ausland reisen und sich ihre eigene Meinung über Deutschland bilden konnten. Diese Eindrücke verstärkten die Erfahrungen aus erster Hand, die viele Soldaten während der Besetzung des Rheinlandes gemacht hatten. Die daraus sich ergebende deutschfreundliche Stimmung steigerte sich noch, als Keynes'unbestechlich-kühle Analyse des Versailler ‘Systems erschien, seine Economic Consequences of the Peace (Wirtschaftliche Folgen des Friedens), ein Werk, das manchem Briten die willkommenen statistischen Belege für seine rein emotionale Reaktion gegen die französische „Hybris" lieferte. Vernünftige Leute unter den gebildeten Schichten teilten Keynes'Ansicht. Die Times, die sich von Northcliffe distanziert hatte, verglich die französische Ruhrinvasion mit der Ermordung Dcsdemonas durch Othello. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt mit Locarno, wo ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen Deutschland und Frankreich geschaffen wurde.

Locarno hatte ein jedenfalls zeitweiliges Nachlassen der Angst zur Folge und bedeutete, daß die Menschen in Großbritannien, von der Rechten wie von der Linken, sich dem Glauben hingeben konnten, der Friede sei endlich wirklich gesichert und für eine Abneigung gegen Deutschland oder Frankreich daher kein Grund vorhanden. Jene geistige Haltung, die später nach München führen sollte, nahm hier ihren Ausgang. Inzwischen gewann eine starke Neigung, den friedlichen Erfolgen der Weimarer Republik Beifall zu zollen, mehr und mehr an Boden. Kleine Jungen zeichneten voller Bewunderung die Umrisse des Dampfers „Europa". Weiter kann die Popularität nicht gehen . . .

Die Existenz der neuen Demokratie machte sich mit Hitlers Machtergreifung deutlicher bemerkbar. Hitler, stark, brutal und scheinbar erfolgreich, fand die Billigung der Rechten und wurde von der Linken abgelehnt. Soziologische Faktoren beeinflußten dieses Urteil. Der Rechten (mehr der industriellen als der agrarischen) gefiel ein Mann, der die Arbeiter in ihre Schranken wies. Die Linke lehnte ihn aus dem gleichen Grunde ab. Die Daily Mail übertrug mindestens einen Teil ihrer Sympathien von den Schwarzhemden auf die Braunhemden. Der Daily Mail Expreß sagte allen, die es wissen wollten (und viele wollten es wissen), daß es keinen Krieg geben werde.

Eine gesundere Meinung

Entgegen dem, was man hätte erwarten mögen, offenbarte der Zweite Weltkrieg eine bemerkenswerte Reife der öffentlichen Meinung. Vielleicht konzentrierte sich der ganze nationale Haß auf Hitler, der sich so sehr in den Vordergrund gedrängt hatte, und blieb deshalb für den Rest des deutschen Volkes nur noch wenig Erbitterung übrig. Außerdem waren die Kriegsverluste verhältnismäßig gering. Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Faktoren ist der Wandel in der öffentlichen Meinung erstaunlich. Er hat seinen Grund wahrscheinlich in der Besserung der Lebensverhältnisse seit 1918, in dem Übergang von einer primitiven Landwirtschaft zur Mechanisierung auf dem Lande und in der Industrie und schließlich in der allgemeinen Befriedigung über vernünftigere Arbeitslöhne. Hinzu kommt, daß bereits vor Kriegsende manche Leute sich zu fragen begannen, ob nicht viel eher Rußland als Deutschland der eigentliche Feind sei, und diese Frage seither die öffentliche Meinung beherrscht hat.

Das Ende des Krieges ermöglichte auch ein ethisches Urteil. Die Tatsachen kamen ans Tageslicht, und vieles über das wahre Wesen des Nationalsozialismus wurde bekannt. Die daraus resultierenden Gefühle hielten sich allerdings nicht lange, und es ist seltsam festzustellen, wie rasch politische Erwägungen an die Stelle ethischer Urteile traten. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Mann, dessen Einheit eine der ersten war, die in das KZ Belsen einzogen. Alle, die sahen, was war und was vor sich gegangen war, wurden von einer ehrlichen Wut gepackt. Ihr erster Gedanke war Vergeltung, und die SS-Wachen des Lagers wurden von ihnen -nach meinem Gewährsmann -so behandelt, daß sie darum baten, man möge sie erschießen. Aber mein Fieund fuhr fort und sagte: „Ja, die SS war böse. Aber ich sehe darum noch nicht ein, warum wir uns nicht mit den Deutschen verbünden sollten, um die Russen, bevor es zu spät ist, aus Europa zu verjagen.“ Diese enge Verflechtung von ethischem und politischem Urteil ist für die britische Haltung typisch. Sie ist heute wahrscheinlich enger und wirksamer als je zuvor.

Ein Grund dafür liegt darin, daß die Zahl derjenigen, die das Geld, die Muße und die Bildung haben, um die Deutschen objektiv zu studieren, geringer ist als vorher und wohl noch mehr abnehmen wird. Man denke an den Fall der begabten, aber verbitterten Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym „Elisabeth“ schrieb. Wirklicher Zorn und wirkliche Abscheu sprechen aus ihrer Beschreibung der oberen Gesellschaftsklasse im wilhelminischen Deutschland, dieser „grausamen, streitsüchtigen, rechthaberischen Klasse, die von ihrer eigenen Überlegenheit und von der Minderwertigkeit der Frauen und schwächeren Nationen überzeugt ist". Es ist eine grausame Beschreibung, und zuletzt hat man fast Mitleid mit dem armen Kaliban.

Ein in etwa analoger Wandel vollzog sich in den politischen Urteilen. Der Graf Tattenbach, der zweite deutsche Delegierte auf der Konferenz von Algeciras, hatte im realen Leben eine ge-wisse Ähnlichkeit mit einer von „Elisabeths" literarischen Gestalten. In einem gewissen Stadium der Konferenz wandte er sich an Sir Arthur Nicolson mit dem Vorschlag, daß die Briten sich mit den Deutschen gegen die Franzosen verbünden sollten. Man höre Nicolsons Reaktion: „Ich fühlte midi schwer beleidigt und war wirklich wütend. Ich war äußerlich ganz ruhig, aber der Gedanke, daß ich auf einer Ebene mit Ojeda stehen und Revoil treulos hintergehen sollte, setzte mir so zu, daß ich hinterher nichts essen konnte. Idi war krank und bestürzt. Er ist wirklich ein entsetzlicher Kerl, angeberisch, roh und verlogen. Der schlimmste Typ des Deutschen, dem ich je begegnet bin."

Heute sind solche Urteile viel seltener zu hören. Immerhin sind sie noch nicht ganz ausgestorben. Die Haltung, aus der sie kamen, verkörpert zum Beispiel noch Lord Halifax, ein ehrlicher Christ. Aber er scheint Komplexe zu haben. Vielleicht leidet er unter der Erinnerung an den sehr unmoralischen Druck, den er vor sechzehn Jahren auf die Tschechen ausübte, um sie zur Annahme der Münchener Bedingungen zu zwingen. Er würde heute ungern über die Deutschen zu Gericht sitzen. In Wahrheit sind nicht nur sehr wenige Menschen qualifiziert, ein intelligentes ethisches Urteil zu fällen: auch viele der dafür Qualifizierten fühlen sich unsicher. Das war bei ihresgleichen vor dem Kriege nicht der Fall.

Gleichgültigkeit der breiten Masse

Die große Masse des Volkes ist ganz einfach Uninteressiert. Die Frage nach den Kriegsgreueln und der Kriegsschuld fand 1945 lebhaftes Interesse; aber dieses Interesse nahm bemerkenswert schnell ab. Die Regierung machte viel Propaganda mit den Nürnberger Prozessen und unterstützte die Presse in jeder Weise; aber das Publikum zeigte wenig Neigung, die wochenlangen Verhandlungen zu verfolgen. Heute verstauben einige zwanzig Bände von Verhandlungsberichten auf den Regalen der öffentlichen Bibliotheken. Es ist zuzugeben, daß den grundlegenden Fragen, um die es bei diesen Verhandlungen ging, eine Zeitlang ein gewisses Interesse begegnete, vor allem dem Problem, wie der Konflikt zwischen Verpflichtung gegenüber dem Staat und Verpflichtung gegenüber dem eigenen Gewissen zu lösen sei. Darüber gab es einige Leitartikel und Briefe an die Herausgeber. Aber im großen ganzen erhoben sich die Diskussionen nicht über das Niveau der alljährlich wiederkehrenden Hundstagsthemen. Die Briten sind nicht geschaffen für metaphysische Spekulationen, und heute ist es den meisten gleichgültig, ob Deutschland oder ob einzelne Deutche in einem tieferen Sinne schuldig waren. Es gibt eine Ausnahme, die aber die Regel zu bestätigen scheint: man begegnet zuweilen dem Ausdrude der Entrüstung über das Bemühen des durchschnittlichen Deutschen, einen Schleier über die Schrecken der Vergangenheit zu breiten und sich auf den Standpunkt zu stellen, daß man persönlich weder indirekt noch direkt mit den unter Hitler begangenen Greueln etwas zu tun hätte. Aber dieser Vorwurf kommt weitgehend aus jüdischen oder Emigrantenkreisen. Der Durchschnittsbürger betrachtet das Problem als ein metaphysisches und lehnt es ab, sich damit herumzuschlagen.

Das mag als ein enttäuschend negatives Ergebnis erscheinen. Trotzdem ist es von Bedeutung. Es ist, wie schon angedeutet, der Reflex eines soziologischen Wandels: die Persönlichkeiten, die dafür qualifiziert waren, sich eine fundierte Meinung zu bilden und ernst zu nehmende Urteile abzugeben, wurden weggeschwemmt von der großen Masse der verhältnismäßig gutsituierten (und politisch einflußreichen) Wähler, die diese Qualifikation nicht besitzen. Mehr als je zuvor hat das Bild, das man sich von den Deutschen macht, eine rohe politische Färbung angenommen. Aber da dieses politische Urteil ein Massenurteil ist, folgt daraus, daß es sich, wo es um Fragen der Opportunität geht, in die Begriffe von gut und böse kleidet. Die Grundfrage ist die militärische: ist es zum Beispiel opportun oder nicht, Deutschland wiederzubewaffnen? Wenn die Leute argumentieren, daß die Deutschen böse sind, dann meinen sie damit nichts anderes, als daß man die Deutschen nicht wiederbewaffnen sollte. Das Umgekehrte gilt für die Wiederbewaffnung.

An dieses Thema ist viel Druckerschwärze verschwendet worden, am meisten natürlich in der Massenpresse. Bei seiner gewaltigen Auflage hat der Daily Mail Expreß besonderen Eindruck gemacht. Er veröffentlichte bekanntlich vor einiger Zeit eine Serie von recht unfreundlichen Artikeln aus der Feder Sefton Delmers. Vielleicht dürfen wir nebenbei sagen, daß die deutsche Reaktion auf die’Artikelreihe ein tiefes Unverständnis der britischen Mentalität bewies. In Deutschland begann man mit großem Ernst nach dem Grund für eine so unerklärliche Haltung zu fragen. Dabei ist die Antwort doch sehr einfach. Die Artikelserie entsprach der politischen Tendenz der Zeitung, und die einzig interessante Frage ist also, warum die Zeitung diese Tendenz verfolgt.

Die Massenpresse

In der jüngsten Zeit hat die Kritik an Deutschland in der Massenpresse zugenommen. Es lohnt sich, sie im einzelnen zu untersuchen, denn sie zeigt, wie sehr das Deutschlandbild der Briten von politischen Erwägungen beherrscht wird. Deutschland wird nicht darum in einem ungünstigen Licht dargestellt, weil die Deutschen sich tatsächlich entsprechend benommen hätten: die Deutschen werden in einem ungünstigen Licht geschildert, weil Deutschland im Begriff ist (oder im Begriff zu sein scheint), eine Gefahr zu werden. Wir haben hier ein Beispiel der sogenannten britischen Heuchelei, die aber in Wirklichkeit keine Heuchelei ist, sondern ein Versuch, die zwingendsten Entschuldigungen für eine gegebene Politik zu finden. Das ist eine psychologische Schwäche, die auch in anderen Ländern existiert, der man sich aber in England mit einer bemerkenswert naiven Unbewußtheit hingibt.

Man nehme also zum Beispiel den Fall der deutschen Wiederbewaffnung. Sie bedeutet unter anderem, daß der politische Horizont sich verdüstert, wenn nicht gar verfinstert. Aber das paßt Lord Beaverbrook nicht, der die Politik des Daily Express bestimmt und dessen Regel es ist, seine Leser allmorgendlich mit sonnigen Nachrichten zu versorgen. Er argumentiert: wegen der möglichen Komplikationen, die sich daraus ergeben könnten, darf Deutschland nicht wiederbewaffnet werden. Nun ist die populärste, die einleuchtendste Begründung gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands die Behauptung, daß sie zu einem neuen Krieg führen würde -denn der Krieg ist noch nicht vergessen. Und so lesen wir im Daily Express vom 11. August: „Die einzige Lösung besteht darin, die irrsinnige Wiederbewaffnung Deutschlands zu verhindern, denn die Wiederbewaffnung bedeutet unausweichlich die Rückkehr der Nazis. Und die Rüdekehr der Nazis bedeutet Krieg.“ Aber daraus folgt nicht im geringsten, daß die Leute ernstlich glauben, Deutschland sei plötzlich ein neonazistisches Land geworden. Umgekehrt schrieb das gleiche Blatt am 10. August (im Zusammenhang mit den deutschen Streiks): „Faire Gewinnbeteiligung für Fritz bedeutet fairen Handel für Großbritannien.“ Das ist wenigstens ehrlich. Höhere Löhne in Deutschland bedeuten geringere Konkurrenz für den britischen Arbeiter.

Dann der Fall des Daily Herald. Für die Labourpartei ist an der Frage der deutschen Wieder-bewaffnung im wesentlichen die Tatsache von Bedeutung, daß sie dazu zwingt, die wirkliche Lage auf dem Kontinent ins Auge zu fassen, daß sie auf die russische Gefahr, so wie sie ist, aufmerksam macht und daß sie die Leute an die Notwendigkeit hoher Steuern und des Militärdienstes erinnert. (Natürlich existiert auch ein ideologisch beeinflußtes prorussisches Gefühl, das in Betracht gezogen werden muß.) Aber die Leute hören es nicht gerne, daß ihre Idee einer billigen Einigung mit Rußland ein Hirngespinst ist. Was man ihnen -in voller Harmonie mit dem Daily Express -sagt, ist folgendes (Daily Herald, 18. August): „Westdeutschland ist -wie Hitlers Deutschland -sehr gut für die Arbeitgeberklasse und sehr schlecht für die Arbeitnehmerklasse.“ Aber in einem späteren Absatz läßt man die Katze aus dem Sack: „Was wir brauchen, ist ein Abbau der Aufrüstung."

Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, warum Lord Russells Buch in diesem Augenblick so willkommen war und warum der erzwungene Rücktritt des Autors dieser Sorte von Zeitungen die eifrig ergriffene Gelegenheit bot, tugendhafte Entrüstung an den Tag zu legen. Am 11. August schrieb der Daily Express: „Lord Russell wählte die Freiheit" -die Standardformel für abtrünnige Kommunisten. Am 12. August sprach News Chronicle von „dieser schamlosen Zensur“. In erfreulichem Gegensatz dazu veröffentlichte die Times eine Untersuchung über die juristischen Aspekte des Falles.

Es schien uns der Mühe wert, die jüngste Haltung der britischen Öffentlichkeit gegenüber Deutschland etwas ausführlicher zu analysieren, weil sie einige konstante Züge offenbart. Zuerst muß man begreifen, daß, sofern heftige und leidenschaftliche Gefühle gegenüber den Deutschen existieren, diese Gefühle nicht das Ergebnis eines

Fussnoten

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