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Umdenken in der Verbannung. Ein neues Verhältnis zu Ostmitteleuropa? | APuZ 11/1954 | bpb.de

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APuZ 11/1954 Umdenken in der Verbannung. Ein neues Verhältnis zu Ostmitteleuropa?

Umdenken in der Verbannung. Ein neues Verhältnis zu Ostmitteleuropa?

Eugen Lemberg

Der nachfolgendeAufsatz stellt eine von Prof. Lemberg selbst vorgenommene Umarbeitung seiner in der Schriftenreihe der Ackermanngemeinde erschienenen Schrift: „VÖLKER UND VOLKSGRUPPEN IM EXIL* Heft 5, München 1953, dar.

Acht Jahre sind vergangen, seit die Deutschen aus Ostmitteleuropa vertrieben worden sind. Um weniges kürzer ist die Zeit, die beträchtliche Teile auch der übrigen ostmitteleuropäischen Völker in der Verbannung verbringen. Das Jahrzehnt, das damit beinahe vergangen ist, bedeutet einen Zeitabschnitt nicht nur der bittersten Not und Verzweiflung, des leidenschaftlichen Kampfes um eine neue Existenz, der Eingliederung und des Wurzelschlagens insbesondere für die deutschen Heimatvertriebenen, sondern auch der Orientierung in einer neuen Umwelt, des Nachdenkens und der Überprüfung ihrer bisherigen Begriffe, Denkmethoden und Zielsetzungen:

Eine junge Generation wächst unter den Verbannten heran. Sie hat die alte Heimat nicht oder kaum mehr bewußt erlebt und hat darum zu ihr ein anderes Verhältnis als die Alten, die von ihr erfüllt und geprägt sind.

Eine baldige Rückkehr in die verlorene Heimat ist unwahrscheinlich geworden und damit auch die Aussicht, daß eine solche Rückkehr Wiederherstellung gewohnter Verhältnisse und Fortsetzung des früheren Lebens mit all seinen Bindungen, Denkgewohnheiten und Problemen bedeuten würde.

In der Zerstreuung haben sich die Bindekräfte der früheren Stämme und Volksgruppen gelockert, neue Bindungen sind neben die der gemeinsamen Herkunft getreten und beginnen insbesondere die junge Generation zu prägen. Überlieferte und scheinbar unversöhnliche Gegensätze von Volk zu Volk verlieren in der gemeinsamen Verbannung an Schärfe, selbst wo sie sich ins Groteske und damit Unwirksame übersteigern. Vertreter verschiedener Völker, Vertreiber und Vetriebene, kommen miteinander ins Gespräch, beginnen ihr Zerwürfnis als Tragik zu begreifen und erörtern künftige Ordnungen eines Zusammenlebens.

Damit ist die Geschichte der verbannten Völker und Volksgruppen in ein neues Stadium getreten. Auf die Phase der nackten Lebensrettung, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eingliederung — mag sie auch bei weitem noch nicht vollendet oder gelungen sein — folgt eine Phase des Umdenkens, der Überprüfung und Revision, der geistigen Bewältigung der aus Heimatverlust und Verbannung entstandenen Probleme.

Diese geistige Bewältigung der großen Völkerkatastrophe aber ist schwer. Sie ist viel schwerer und bitterer als die natürliche, gefühls— “ ßige Reaktion, nämlich Anklagen zu erheben und Forderungen zu stellen, nach Revanche und Wiedergutmachung zu rufen. Sie stellt an die Verbannten, an ihre Fähigkeit, die gewohnten Denkgeleise zu verlassen, an ihre Selbstverleugnung, ihre politische Ethik und Reife unerhörte Anforderungen. Aber sie muß geleistet werden. Sie ist die eigentliche Bewährungsprobe vor der Geschichte.

Die folgenden Überlegungen wollen zu diesem geistigen Prozeß einige Beobachtungen und Gedanken beisteuern. Da es sich um einen Prozeß handelt, der von den Vertriebenen und Exilierten nicht allein bewältigt werden kann, sondern — ebenso wie das große Werk der Eingliederung — der Hilfe und der Partnerschaft der in ihrer Heimat verbliebenen west•liehen Deutschen und Europäer bedarf, sind sie nicht nur an die vertriebenen Deutschen und an die Exilgruppen der anderen ostmitteleuropäischen Völker gerichtet, sondern auch an die übrigen Deutschen, insbesondere an die, die an der geistigen und politischen Erziehung ihres Volkes — und der übrigen europäischen Völker — interessiert und beteiligt sind.

Daß diese Gedankengänge dabei von dem Begriff der Heimat ausgehen — was bei Fernerstehenden den Verdacht einer gefühlsmäßigen und romantischen Einstellung erwecken kann — möge aus der Einsicht verstanden werden, daß Heimat die Grundtatsache im Leben von Menschen und Gruppen bedeutet, die daraus vertrieben oder verbannt worden sind. An dem Wandel, den der Heimatbegriff im Exil erfährt, wird Tatsache und Wesen jenes geistigen Prozesses, von dem hier die Rede ist, offenbar. Der gestörte Bezug zur Heimat — ein Erlebnis nicht nur der Heimatvertriebenen, sondern unseres technischen Zeitalters überhaupt — weckt Kompensationskräfte, die für eine politische Erziehung und Ethik von hoher Bedeutung sind. Auch bei Völkern, die ein genau entsprechendes Wort für Heimat nicht in ihrem Wortschatz haben, ist das was Heimat meint, ein Grundelement der Persönlichkeitsbildung und des abendländischen Menschenbildes.

Von da aus mögen die Vorbedingungen einer Wiedergewinnung der Heimat untersucht werden, die hier tiefer verstanden wird als nur die Rückführung in ein früher einmal innegehabtes Gebiet: es geht nämlich um die Wiederherstellung, besser Neuschöpfung eines Ordnungsgefüges — dies eben ist die tiefste Bedeutung von Heimat — und um die Gewinnung der Idee, aus der allein ein solches Ordnungsgefüge leben kann.

Die Grundtatsache: Heimat

Sinn und Lebensberechtigung einer Gruppe im Exil, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen hat, um sie gegen eine bessere einzutauschen, beruht in der Hoffnung auf die Heimkehr und in der Vorbereitung darauf. Diese Heimkehr ist ja nicht nur der begreifliche Wunsch einer in ihrem Recht geschädigten Gruppe nach Wiederherstellung ihres Rechtes, sondern eine Forderung der objektiven Gerechtigkeit und der sittlichen Werteordnung. Die Vertriebenen und Flüchtlinge aller Völker sind lebendige Mahn-und Warnzeichen für das Gewissen der Menschheit und darum nicht nur Kämpfer in eigener Sache, sondern zugleich Beauftragte einer höheren Macht.

Nur liegen die Dinge nicht so einfach, wie sich das viele vorstellen. Mit fester Organisation und straffer Führung, mit dem einheitlichen Willen einer möglichst großen Zahl, mit Glauben und Leidenschaft ist es nicht getan. Größenverhältnisse und Struktur der Welt haben sich verändert, die Voraussetzungen einer Machtentfaltung sind im Exil völlig verschieden von denen, die das geschlossene Siedlungsgebiet der alten Heimat geboten hat. Viel eher als dort ist der Politiker in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren, mit Begriffen zu arbeiten, die nicht mehr stimmen, Gefühle ansprechen zu wollen, die verraucht sind, Illusionen zu nähren, denen vernichtende Enttäuschungen folgen müssen.

Soll das, was die Völker und Volksgruppen im Exil im Tiefsten wünschen und brauchen, in Erfüllung gehen, dann ist es notwendig, in die Tiefe hinabzusteigen, auf weite Sicht zu arbeiten, nicht mit unverarbeiteten Ressentiments und Nationalismen an den Entwurf der neuen Ordnung zu gehen, die einer Rückkehr vorschweben muß, wenn diese Rüdekehr einen Sinn haben soll. Hier hilft nichts, woran man nicht selber glaubt. Hier wirkt nichts, was nicht ehrlich und echt ist. Hier läßt sich nicht mit Begriffen arbeiten, die nicht bis in ihre letzten Konsequenzen überprüft sind.

Wer etwa den Begriff Heimat als politisches Stimulans verwendet, ohne sich über das Wesen der Heimat und über den gegenwärtigen Wandel des Heimatbegriffes klar zu sein, schadet mehr als er nützt. Wer Forderungen aufstellt und Zielbilder entwirft, ohne die große Weltlage und die Entwicklungstendenzen unserer Epoche über Jahrhunderte hin zu verstehen, führt sich und die von ihm Geführten in ein Reich von Illusionen. Wer nicht bereit ist, die Existenz selbst der Gruppe, für die er kämpft, in Frage zu stellen, um sie erst aus einer höheren Ordnung zu rechtfertigen, der hat sie zu wenig unterbaut.

Zwei Umstände machen uns nachdenklich über den Begriff der Heimat, wie er heute — manchmal aus einem echten Gefühl heraus, manchmal als unbedachtes Schlagwort — unter Vertriebenen verwendet wird:

Einmal die Tatsache, daß es heute neben dem Heimatverlust durch Flucht und Vertreibung noch einen zweiten, und alle Menschen fast unseres Kulturkreises betreffenden Heimatverlust gibt, nämlich den Verlust der Heimat durch die Industrialisierung und ihre Folgen, durch die Entwicklung der modernen Großstaaten und Großwirtschaftsräume und durch die Auflösung so vieler Bindungen, darunter auch der vielfältigen Bindung an die Heimat.

Der zweite Umstand aber ist die Beobachtung, daß der unter uns heranwachsenden Jugend die neue Umwelt zur Heimat wird, eine Entwicklung, gegen die keine Predigt und keine Ermahnung und kein noch so guter Unterricht über den deutschen Osten, wenn es ihn überall gäbe, etwas Wesentliches helfen kann.

Meist wird nur dieser zweite Umstand mit Sorgen erörtert. Daß der Heimatverlust nicht nur ein Ergebnis der Vertreibung, sondern ein Kennzeichen unserer Epoche überhaupt ist, scheint kaum erwägenswert. Und doch ist es für unsere Fragestellung bedeutsam: denn die Menschen reagieren auf diesen Verlust der Bindungen an die räumliche Heimat mit einem Wandel des Heimatbegriffs von seinen räumlichen zu seinen menschlichen Komponenten.

Die räumliche und die menschliche Komponente des Heimatbegriffs Haben wir uns unter Heimat zunächst die Landschaft vorgestellt, in der wir unsere Kindheit und die entscheidenden Jugendeindrücke erlebt haben, an die uns tausend Fäden der Gewohnheit und der Erinnerungen binden, so ist diese Art Heimat nicht nur den Vertriebenen und Flüchtlingen problematisch geworden. Nur wenigen Menschen unseres Kulturkreises ist es heute vergönnt, an dem Ort ihrer Geburt, ihrer Kindheit und Jugend zu bleiben. Man zieht vom Dorf in die Stadt, um sich auszubilden und einen Beruf zu finden, man wird als Beamter hierhin oder dorthin versetzt, man ist aus wirtschaftlichen oder beruflichen Gründen gezwungen, ein unstetes Wanderleben zu führen. Den Kindern solcher Leute ist oft nicht einmal eine bestimmte Gemeinde oder Landschaft als Ort ihrer Kindheits-und Jugenderlebnisse vergönnt. Sie folgen ihren Vätern dorthin, wohin sie gerade deren Beruf verschlägt. Wer von ihnen will nachher sagen, welcher der vielen Orte, an denen er als Kind gelebt hat, seine eigentliche Heimat sei?

In einer solchen Heimat lebt heute fast nur noch der Bauer. Aber auch er ist im Begriff, über sie hinauszuwachsen; ja, er muß es tun, er muß sich der modernen Maschinen, der Verkehrsmittel und Geschäftsbeziehungen bedienen, will er nicht in dem allgemeinen Wettbewerb unterliegen. In kurzer Zeit wird uns, so kann man vermuten, jene Gleichsetzung von Heimat mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Landschaft wie die Erinnerung an ein versunkenes Zeitalter erscheinen.

Es ist ein gutes Zeichen, daß der Mensch, durch den Verlust der Heimat im Innersten bedroht, diesen Verlust irgendwie zu kompensieren sucht. So aber erweitert sich sein ursprünglich ortsgebundener Heimatbegriff. Wir brauchen nur zu beobachten, in welcher Richtung der Fremde, der Reisende, der Ausgewiesene, der seine Heimat für immer oder zeitweilig verloren hat, den Ersatz dieser Heimat sucht.

Er fühlt sich wohl, wenn die Landschaft, in der er lebt, einen ähnlichen Charakter hat wie die seiner Heimat. Er strahlt auf, wenn er die Mundart seiner Heimat hört. Er ist glücklich, einem Menschen zu begegnen, den er persönlich gar nicht kennt und der ihm vielleicht nicht einmal sympathisch ist, wenn er nur aus der gleichen Heimat stammt oder an die Heimat erinnert. Gruppen von Menschen, die aus irgendeinem Grunde die Heimat verlassen mußten, ausgewiesen wurden oder emigrierten, trösten sich immer wieder mit dem gleichen Argument: „Haus und Hof, Steine und Bäume mußten wir zurücklassen, aber die Menschen haben wir mitgenommen; in ihren Herzen lebt die Heimat." So hatten es die polnischen Emigranten im 19. Jahrhundert formuliert, so die russischen nach dem Bürgerkrieg von 1917 und so sehen es auch die Flüchtlinge und vertriebenen Deutschen von heute.

Daraus geht eines hervor: es ist nicht der Ort und die Landschaft allein, an die der Begriff der Heimat gebunden ist. Es sind auch andere Eigentümlichkeiten — der Sprache, des Brauchtums, der Sitte — die wir an diesem Ort erlebt haben, es sind auch die Menschen, die wir dort kannten. Alle diese beweglichen Dinge, die wir mitnehmen, die wir auch andernorts antreffen können haben etwas von Heimat an sich, können in der Fremde etwas von der Heimat lebendig machen.

Nicht der Ort also, an dem man lebt, nicht die Landschaft, in der man Kindheit und Jugend verbracht hat, machen an sich schon das Wesen der Heimat aus. Es müssen vielmehr Kräfte am Werke sein, die einem diesen Ort und diese Landschaft zur Heimat machen. Auf diese Kräfte kommt es an. Sie können überall wirken, nicht nur an dem Ort, an dem man geboren ist. Aber sie brauchen ihre Zeit, und wenn sie lange und stark genug gewirkt haben, dann können sie wohl eine solche Heimat so fest in dem Herzen des Betreffenden verankern, daß daneben kein anderer Ort mehr diesen Charakter annehmen kann.

Diese bestimmte Landschaft also, ihre Berge und Täler, ihre Wälder und Flüsse, ihre Menschen und deren Gewohnheiten, sie alle sind nur Sinnbilder, die uns in ihrer Eigenart, in ihrem Verhältnis zu uns, das Erlebnis des Vertrauten, des Bergenden, des Umschließenden vermitteln. Auf dieses aber kommt es an: das Traute, das Bergende, worin man sich eingeordnet und aufgehoben fühlt. Nur so erklärt es sich, daß wir Heimat finden können auch an Orten, die mit dem Ort unserer Kindheit und Jugend nichts zu tun haben.

Damit ist ein neues und wesentliches Element für den Heimatbegriff gewonnen: der Mensch. Ort und Landschaft haben nur Symbolcharakter. Sie wären bedeutungslos, hätten sie nicht durch das Leben mit lieben und vertrauten Menschen Heimatcharakter gewonnen und die Kraft, etwas von diesem Leben wachzuhalten, wieder hervorzuzaubern. Vieles von der schwärmerischen Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat würde schwinden, wenn der, den diese Sehnsucht in die verlorene Heimat zurücktreibt, an dem Ort seiner Heimat fremde Menschen mit einer fremden Sprache und einem fremden Brauchtum wiederfände. Wenn er gar völlig einsam, ohne Menschen, an diesem Ort seiner Heimat leben müßte, er würde voll Entsetzen fliehen in eine Gegend, in der er Menschen findet, die ihm vertraut sind oder vertraut werden können.

Vielleicht hat uns dies die unglückliche Zeit der gestörten Beziehungen zu einer bestimmten Landschaft als Heimat erst gelehrt: wesentlicher als der Ort ist der Mensch, der Mitmensch, der einen bestimmten Ort erst eigentlich zur Heimat macht. Darum bindet sich das Heimaterlebnis unserer Zeit, je mehr es sich von einer bestimmten Landschaft löst, um so stärker an den Menschen oder Menschenkreis. Der berufstätige Mann in der großen Beweglichkeit des industriellen Zeitalters, in dem Hin und Her der Kriege und der politischen Schicksale, verlegt seine Heimat dorthin, wo er Frau und Kinder weiß. Er hat als Soldat, als Kaufmann, als politisch Verfolgter geradezu eine besondere Fähigkeit entwickelt, sein Heimaterlebnis von der Landschaft auf den bestimmten Menschen-kreis zu übertragen, der ihm lieb und vertraut ist. Viel schneller als je dem bäuerlichen Menschen der vorindustriellen Zeit erwächst ihm aus menschlichen Beziehungen das Erlebnis der Heimat.

So kann ein Mensch dem anderen Heimat geben. Zwei Menschen werden einander Heimat in der Liebe und in der Ehe. Eine Gemeinschaft von Menschen, die an einem gemeinsamen Werk arbeiten, in einem Betrieb stehen, ein gemeinsames Ziel erkämpfen, eine gemeinsame Sorge haben, formt neue Heimat, gibt ihren Gliedern einen geistigen Ort, an dem sie zu Hause sind, umschließt und umhüllt sie gegen eine feindliche Umwelt, birgt sie und läßt sie das Vertraute erleben.

Unter den Menschen ist es die Frau, die am stärksten diese heimat-bildende Kraft besitzt. Gott hat sie ihr von Anfang an gegeben. Sie birgt, sie umschließt und umhüllt. Der Mann gibt Richtung und Halt, die Frau gib-Heimat. Ehre den Frauen der Flüchtlinge und Vertriebenen! Vom ersten Tage an haben sie, ohne viel darüber zu reden, Heimat um sich verbreitet.

So ist uns Heimat über ihren ursprünglichen Sinn hinaus als soziologisches Gebilde bewußt geworden. Kurt Stavenhagen, der Baltendeutsche, hat sie als solches in seinem Buch „Heimat als Lebenssinn“ beschrieben. Wir können hinzufügen: ein soziologisches Gebilde eigener Art, neben den festen, juristisch faßbaren, umgrenzten und ausschließenden gesellschaftlichen Gebilden wie Staat, Gemeinde, neben den Formen und Organisationen der Wirtschaft, der politischen Macht, der ideologischen Ziele und Zwecke. Neben ihnen, den männlich gedachten und aufgebauten, ist Heimat das weibliche Prinzip, weicher und freier, aber näher der Natur, dem Ursprung und den Müttern.

Daß sich der Heimatbegriff mehr auf den Menschen verlagert, daß wir in unserer Heimatlosigkeit die heimatbildende Kraft des Menschen erkennen, der vertrauten Menschen um uns und insbesondere der Frau, das ist die Gnade in all dem Verlust an Heimat, den die Technik, Industrialisierung und Großraumwirtschaft und den die Kriege mit ihren Vertreibungen und Völkerwanderungen hervorgerufen haben.

Heimat als gesellschaftliches Ordnungsgefüge Wir haben die Heimat als eine Ordnung erkannt, die jedem von uns Menschen seinen Ort und seine Bahn vorschreibt, wie jeder Stern seinen Ort und seine Bahn hat. Wir wissen, daß der Mensch ohne diese Ordnung oder außerhalb dieser Ordnung gar nicht leben kann, und wir stehen mit dieser Erkenntnis dem Problem gegenüber, daß Millionen die Heimat verloren haben und daß andere, noch weit mehr Millionen, durch das Nomadentum des technischen und großräumigen Zeitalters, selbst wenn sie zufällig am Ort ihrer Kindheit leben, irgendwie aus dem Ordnungsgefüge, das wir Heimat nennen, herausgelöst sind. Was ist da zu tun?

Wir müssen ihnen Heimat geben und wir müssen in uns selber Heimat entwickeln und reifen lassen. Alles was nun uns geschieht, im besonderen aber Flucht und Ausweisung ganzer Völker und Volksgruppen, ist ein einziger Aufruf an alle unsere heimatbildenden Kräfte, die wir als Menschen unseres Zeitalters noch in uns haben.

Am Beispiel der Flüchtlinge und Vertriebenen läßt sich am deutlichsten zeigen, was hier gemeint ist. Sie haben den Ort und die Landschaft verloren, die ihnen Heimat bedeutete. Sie sind auch aus dem Gefüge der menschlichen Gemeinschaft, der Wirtschaft und des Berufes herausgerissen, das ihnen ebensosehr wie jene Landschaft Heimat war. Es zeigt sich in vielen Untersuchungen, wie sehr der Verlust der einen Gruppe von Bindungen, also etwa der landschaftlichen oder beruflichen, auch alle anderen Bindungen in Gefahr bringt, die den betroffenen Menschen in seine Ordnung, in das, was wir hier Heimat nennen, gebunden hatten. Der Bauernsohn, einmal aus seinem Boden gerissen, findet kein Verhältnis mehr zum Boden überhaupt. Er geht in die Industrie und wird dem bäuerlichen Leben entfremdet. Bindungen auch der Ehe und der Familie lockern sich, und es kommt zu Krisen, die in der gewohnten Umgebung der alten Heimat wahrscheinlich nicht gekommen wären. Es zeigt sich ferner, daß zum Aufbau der sittlichen Persönlichkeit und einer das Leben bestimmenden Werteordnung nicht so sehr Predigt und Ermahnung der Erzieher beigetragen haben, als das Leben in der gewohnten Gesellschaftsordnung, das Leben in der Heimat. Man dachte und verhielt sich in einer bestimmten Art, weil es die gewohnte Umwelt von einem so erwartete. Die Heimat hatte erzieherische Kraft. Sie errichtete Wertmaßstäbe. Sie war die Gußform, in der die menschliche Persönlichkeit ihre Gestalt erhielt.

In der fremden Umwelt ist diese Form zerbrochen. Das Urteil der Menschen dieser fremden Umwelt, die ja andere Sitten und Bräuche haben, wird von den einzelnen Flüchtlingen, Familien oder kleineren Gruppen, wie sie im Lande verstreut sind, trotzig abgelehnt: „Was geht es mich an, wie die über mich denken; sie verstehen mich ja doch nicht!“ So fällt — und gerade für junge Menschen ist das verhängnisvoll — die formende Kraft der Heimat, ihrer Sitte und ihrer Werteordnung weg. Hier zeigt sich, was ein gutes Elternhaus auch in früher Kindheit an formender Kraft, selbst über diese Krise hinweg, jungen vertriebenen Menschen mitgeben konnte. Wir haben das an zahlreichen Biographien äußerlich entwurzelter Jugendlicher verfolgen können.

Aber es ist — wir sehen das jetzt viel deutlicher als von der bloßen politischen Forderung nach der Rückkehr in die Heimat aus — unumgänglich notwendig, daß diese Menschen nicht lange ohne Heimat bleiben. Es geht nicht so sehr um ihre äußere Existenz und Entwicklungsmöglichkeit, sondern es geht einfach um ihre sittliche Persönlichkeit, um jenen Ort in der menschlichen Gesellschaft, um den Sinn und um die Erfüllung ihres Lebens.

Von da aus ist die Frage zu beurteilen, was denn die richtige Politik in Sachen der Vertriebenen sei. Manche haben gemeint, man müsse sie geschlossen beisammenhalten, von der neuen Umwelt getrennt; manche haben versucht, Heiraten zwischen Vertriebenen und Einheimischen zu verhindern; nicht wenige Mütter haben in falsch verstandener Heimat-liebe ihren Kindern verboten, die Mundart der neuen Umwelt zu sprechen. Soweit es galt, unter den Vertriebenen, auch unter ihren Kindern, das Erbe der verlorenen Heimat zu pflegen, war solche Einfriedung gut und richtig. Landsmannschaften und Vertriebenenverbände haben damit Wertvolles an Heimatordnung lebendig und wirksam erhalten, was dem Menschen notwendig ist, was ihn vor Vermassung bewahrt und nicht Flugsand zu werden läßt.

Aber der Mensch kann ohne Ort und ohne Bindung nicht existieren. Er kann nicht in ständigem Gegensatz gegen seine Umwelt leben, sich von ihr verkannt und mißverstanden fühlend, ihr Urteil und ihre heimat-bildende Kraft ablehnend. So geht er einfach zugrunde. Darum ist die einzige Hilfe gerade für die Vertriebenen und Flüchtlinge: Bindungen schaffen, gleichgültig welcher Art, sei es durch Beteiligung an einer Laienspielgruppe, einer Singgruppe, einem Sportverein, einer gesinnungsund glaubensverwandten Gruppe von Menschen, aber auch durch Verankerung in einem den Wünschen und Möglichkeiten doch einigermaßen entsprechenden Beruf oder wenigstens Arbeitsplatz, durch menschliche Beziehungen jeder Art in der neuen Umwelt. Das ist nicht Verrat an der alten Heimat, wie manche glauben, sondern das ist gerade die Möglichkeit, das was von der alten Heimat noch wirklich lebendige, heimat-bildende, erziehende, einordnende Kraft besitzt, mit hereinzunehmen in den neuen Lebensabschnitt, erst eigentlich fruchtbar und wirksam werden zu lassen, damit der Vertriebene oder Flüchtling mit dem Verlust der Heimat nicht zugleich auch seine Heimatfähigkeit verliert. Die Heimatfähigkeit Für die Völker und Volksgruppen im Exil ist diese Heimatfähigkeit ihrer Menschen die erste und notwendigste Voraussetzung der Rückkehr in die verlorene Heimat. Denn diese Rüdekehr ist nicht einfach dadurch zu bewerkstelligen, daß man die vertriebenen Menschen wieder an den Ort zurücktransportiert, den sie vor Jahren verlassen haben. Damit Heimat werde, dazu ist eben jene Heimatfähigkeit vonnöten, die heute angesichts der Auflösung so vieler und gerade der tiefsten Bindungen gefährdet ist — nicht nur bei den Vertriebenen, sondern bei den Menschen unserer Zeit überhaupt.

Es ist eigentümliches und tragisches Paradox, unter dem die ein fast Vertriebenen und Exilierten stehen: Die Heimatfähigkeit, deren sie zu einer sinnvollen Wiedergewinnung ihrer Heimat bedürfen, läßt sich — wie jede körperliche oder seelische Kraft des Menschen — nur durch ständige Übung und Bewährung lebendig erhalten. Diese Übung und Bewährung aber besteht eben darin, daß sie die neue Umwelt, die Fremde, unaufhörlich mit Ordnungs-und Heimatelementen erfüllen, zur Heimat machen.

Heimat haben bedeutet ja nicht einfach irgendwo sein, wo man hin geboren oder frühzeitig gebracht worden ist. Heimat haben bedeutet ein höchst aktives Verhalten des Menschen, eine schöpferische Tätigkeit, vergleichbar dem Schaffen des Künstlers.

Die Zeit ist vorbei, in der wir das Nachbilden der Natur als die eigentliche Aufgabe der Kunst ansahen, in der wir ein Gemälde, eine Erzählung, ein Musikstück deswegen priesen, weil es so genau und erkennbar das wiedergab, was Gott oder die Natur erschaffen hatt?. Wir wissen heute wieder, wie schon Thomas von Aquin, daß die Kunst eine creatio secunda ist, eine zweite Schöpfung. Gott hat die Dinge erschaffen. Der Künstler bildet sie nicht ab, sondern er schafft sie neu. Jedes wirkliche Kunstwerk ist eine solche zweite Schöpfung. Das andere ist Photographie.

So auch schafft sich der Mensch, in einer zweiten Schöpfung, in einer höchst aktiven und schöpferischen Tätigkeit, Heimat, indem er die Dinge seiner Umwelt in Heimat verwandelt. Es gibt Menschen, die das mehr, und es gibt solche, die das weniger können. Heimatfähigkeit ist eine Gnade wie die Gabe künstlerischen Gestaltens. Und es ist eine Rettung und Gnade in unserer Zeit, daß diese heimatschaffende Fähigkeit des Menschen nicht an ästhetisch schöne Gegenstände und nicht nur an Ort und Überlieferung gebunden ist, ja daß wir gerade in unserer, der Heimat im ursprünglichen Sinn vielfach beraubten und entwurzelten Zeit neue Quellen für diese heimatschaffende Kraft entdecken: den Menschen, die Gemeinschaft, das Werk, die Aufgabe und Ordnung.

Solche Heimat schaffende und prägende Kraft entwickelt sich gerade auch dort, wo Heimat verloren gegangen ist, bei Vertriebenen und Verbannten. Es ist, wie wenn sich im menschlichen Körper die regenerierenden weißen Blutkörperchen gerade an der verwundeten und bedrohten Stelle sammeln.

Wer hat nicht die Kreuze gesehen, die die Vertriebenen in verschiedenen Kreisen, unter Zustimmung und Mitwirkung der einheimischen Bevölkerung, an bemerkenswerte Aussichtspunkte gesetzt haben, damit sie weit über das Land leuchten? Mit diesen Kreuzen haben die Vertriebenen, die ihre Toten von zu Hause nicht mitnehmen konnten, den Friedhof ihrer Heimat hierher verpflanzt, eine Stelle gefunden, an der sie die Ruhestätte ihrer Lieben lokalisieren können. Diese Toten liegen gar nicht da. Viele sind auf dem Treck oder in der Gefangenschaft umgekommen. Kein Mensch weiß, wo sie liegen. Hierher aber, unter dieses in der neuen LImwelt aufgepflanzte Kreuz, versetzt sie die heimatschaffende Kraft der Verbannten. Und sie haben damit einen der stärksten Hebel in Bewegung gesetzt, der eine beliebige Umwelt zur Heimat macht.

Solche Beobachtungen tragen die Verheißung, daß es doch möglich ist, jenes tragische Paradox der Vertriebenen und Exilierten zu bewältigen, nach dem die Heimatfähigkeit, Voraussetzung einer sinnvollen Rückkehr, nur dadurch erhalten werden kann, daß wir sie in der neuen Umwelt üben und bewähren, indem wir diese Umwelt unaufhörlich mit Ordnungs-und Heimatelementen erfüllen und damit zur Heimat machen.

Das Heimaterlebnis der jungen Generation Von hier aus gewinnt die so oft mit Sorgen erörterte Tatsache, daß die Jugend der Vertriebenen zur verlorenen Heimat kein rechtes Verhältnis mehr hat, ein neues Gesicht. Was wir an den nach Amerika ausgewanderten Deutschen zu beklagen pflegten, daß ihre zweite, drüben ausgewachsene Generation die Heimat ihrer Eltern vergesse, um sich so rasch wie möglich zu amerikanisieren, und was uns jetzt an der eigenen Jugend befremdet: vom Gesichtspunkt der Lebenstüchtigkeit und Leistung eines Volkes, seiner gemeinschaftsbildenden Kraft und seiner Heimatfähigkeit aus gesehen, ist es ein gutes Zeichen. Es wäre falsch, hier einen moralischen Maßstab anlegen zu wollen etwa Treue zu etwas zu und verlangen, was diese Jugend gar nicht kennen kann. Man wird es hinnehmen müssen, daß für sie — und gerade für ihre lebendigsten Glieder — die Tatsache der Vertreibung ihrer Eltern keinen hinreichenden Grund zur Gruppen-und Gemeinschaftsbildung darstellt, und daß sie sich lieber nach Gesichtspunkten der gemeinsamen Weltanschauung, der Berufsgemeinschaft, gemeinsamer Erlebnisse und Interessen mit einheimischen Jugendlichen zusammenschließt. Ja wir mögen es mit Stolz vermerken, daß sie sich gerade in solchen übergreifenden Organisationen schnell und gut durchsetzt. Sie hat ihnen neues Blut und neue Ideen zugeführt und findet auch darin schon eine verständliche und gesunde Befriedigung.

Es wäre freilich zu wünschen, daß nicht nur unter dieser Jugend der Vertriebenen, sondern gerade auch unter der einheimischen Jugend die Kenntnis des deutschen Ostens und seiner Probleme und der Wille sie zu lösen verbreitet und verwurzelt würde. In dieser Richtung ist viel zu wenig geschehen, teils aus Unkenntnis, teils aus der in der Nachkriegs-psychose verständlichen Furcht, eines Nationalismus bezichtigt zu werden. Wie töricht diese Furcht ist und welcher Versäumnisse sich damit die westdeutsche Erzieherschaft schuldig macht, ist des öfteren dargelegt worden.

Allein ein forcierter Unterricht über den deutschen Osten würde nicht die erwartete Lösung bringen. Etwas, wozu die Jugend keine innere Beziehung, woran sie kein natürliches Interesse hat, kann man ihr durch Unterricht sehr leicht entfremden. Die leidenschaftlichsten Gottesleugner sind aus geistlichen Erziehungsanstalten mit intensiver religiöser Unterweisung hervorgegangen. Als Unterrichtsgegenstand wird die verlorene Heimat kaum einen Zugang zu den Herzen und zum Interesse der deutschen Jugend, insbesondere der Vertriebenenjugend finden; ganz abgesehen davon, daß es eine falsche und verhängnisvolle Zielstellung wäre, etwa die Jugend der Vertriebenen besonders intensiv über den deutschen Osten zu informieren, statt die einmalige Gelegenheit zu nützen, endlich einmal der gesamten deutschen Jugend ein Bild vom gesamten deutschen Volk, seiner Leistung in der Geschichte und seiner Probleme in der Gegenwart beizubringen.

Solche Erkenntnisse haben auch schon pädagogische Kreise bestimmt, den Wünschen mancher Vertriebenenorganisationen gegenüber, die auf eine unterrichtliche Behandlung der ostdeutschen Geschichte und der zugrundegegangenen Struktur des deutschen Ostens drängten, darauf hinzuweisen, daß es sich bei der Behandlung des deutschen Ostens in Erziehung und Unterricht nicht so sehr um eine kulturhistorische Angelegenheit handeln dürfe, als vielmehr um eine Sache der Gegenwartskunde, der Soziologie, der erzieherischen und unterrichtlichen Durchdringung des Flüchtlingsproblems und der in der neuen Heimat entstandenen Strukturen, der politischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Zukunft, die sich daraus ergeben. Diese Wendung ist um so nötiger, als uns in der heutigen Jugend eine Generation gegenübersteht, die sich sehr deutlich von dem in unserer Altersschicht aus der Zeit der Romantik und Jugendbewegung noch wirksamen Historismus entfernt hat. Auch im öffentlichen Leben und in der großen Politik haben historische Argumente an Beweiskraft verloren.

Was aber die Frage der Rückkehr in die alte Heimat anlangt, liegen die Dinge bei dieser jungen Generation noch schwieriger. Mit der Kenntnis des deutschen Ostens, seiner Geschichte und seiner Probleme ist — selbst wenn sie im wünschenswerten Maße vorhanden wäre — der Wille zu einer Rüdekehr in die Heimat der Eltern noch nicht gegeben. Wir müssen uns darüber klar sein, daß das, was für uns Rückkehr in eine verlorene Heimat bedeutet, dieser Jugend als Auswanderung in ein unbekanntes Land erscheinen muß, genau so fremd und — angesichts des grundstürzenden Wandels, der sich dort vollzieht — noch viel unheimlicher als etwa eine Auswanderung nach Amerika.

Darum muß die Vorbereitung einer Rückkehr in die Heimat bei der jungen Generation mit ganz anderen Motiven erfolgen als bei den Alte-ren, denen die verlorene Heimat noch wirklich Heimat ist: nicht mit dem Motiv der Heimatliebe — denn zur Heimat ist gerade den Gesunden und Lebenstüchtigen die neue Umwelt geworden; nicht mit der Treue zur Heimat der Väter — denn das ist für die nicht mehr romantisch-historisch denkende Jugend unserer Zeit kein Gesichtspunkt; nicht auch mit den Gedankengängen des Volkstumskampfes, die für uns so selbstverständlich und so bestimmend waren — denn das Verhältnis dieser Jugend selbst zu den Austreibern ist erstaunlich sachlich und ohne Groll. Die ganze kleinbürgerliche, verbitterte und eifersüchtige Atmosphäre des Nationalitätenkampfes ist dieser Jugend fremd, und das ist gut so. Wie eine Reaktion auf die Enge der kleinen Nationalstaaten wirkt ihr Streben, in Studien, Lagern und Fahrten möglichst viel auch über die Grenzen Westdeutschlands hinauszukommen. Es erinnert an die besten Söhne der deutschen Volksgruppen, die auch immer wieder aus der verzweifelten Enge der Heimat nach Deutschland oder in die übrige Welt hinausstrebten und dort erst mit ihrem Talent und Leistungswillen zur Geltung kamen.

So weist uns alles darauf hin, bei der Vorbereitung einer Rückkehr in die Heimat tiefer und weiter auszuholen, als das aus dem Schmerz über die Vertreibung und aus der Erbitterung über das erlittene Unrecht möglich ist. Ein Bild muß entstehen, einleuchtend und werbekräftig genug, um auch die in seinen Bann zu ziehen, denen die alte Heimat wenig mehr bedeuten kann, wofern sie nur bereit sind, um der Zukunft des ganzen deutschen Volkes und Europas willen etwas zu tun und zu wagen. Eben diese Bereitschaft, die in den Besten der deutschen und nicht nur der ostdeutschen Jugend lebt, muß angesprochen werden, soll die Wiedergewinnung der Heimat nicht nur eine Rückkehr enttäuschter, verbitterter, in der neuen Umwelt nicht mehr wurzelfähiger Menschen werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt, sondern der Bau einer neuen Ordnung, großzügig und auf eine ganz anders geartete Epoche angelegt als die der engen und bitteren Nationalitätenkämpfe: ein wirkliches Ver sacrum, ein heiliger Frühling der geläuterten und weise gewordenen Nation.

Die verlorene und die verheißene Heimat Und wiederum kommt uns hier ein tiefangelegtes Bedürfnis der menschlichen Seele entgegen. Wie nämlich der Mensch nicht leben kann ohne das Eingeordnetsein in das Vertraute, Umschließende der nahen Heimat, ebenso braucht er auch das Korrelat dieses Heimatbegriffs: die ferne, die verlorene, die ersehnte oder die verheißeneHeimat. Wie wir einen festen Ort und eine vorgeschriebene Bahn in einem Gefüge der Dinge, der Menschen und der Kräfte nötig haben, so bedürfen wir auch der Spannung auf etwas Fernes hin, auf ein Ziel in der Zukunft, auf einen seligen Zustand, ob der irdischen Glückseligkeit und Ordnung oder der ewigen Glückseligkeit im Jenseits. Wir bedürfen einer Eschatologie.

Woher aber soll der Mensch die Vorstellung von diesem Endzustand, von dieser verheißenen oder dieser himmlichen Heimat gewinnen, wenn nicht aus der Erinnerung an eine verlorene Heimat, an ein goldenes Zeitalter, das vergangen ist, an ein Paradies, aus dem die Menschheit vertrieben wurde? Zwischen diesen beiden Heimaten spannt sich unser Leben wie eine Pilgerschaft. Die Bibel, die Dichtung, die Kunst der Völker hat dieses Bild der Pilgerschaft und der verlorenen wie der verheißenen Heimat immer wieder beschworen. Sie erzählt vom Paradies, sie träumt von einem Land Orplid, sie entwirft in Utopien Gesellschaftsordnungen und Zustände, die sein sollten. Schon das zeigt, daß wir es hier mit einem Urerlebnis der Menschheit wie des einzelnen Menschen zu tun haben. Diese Sehnsucht und Spannung, unter der das Leben des einzelnen, der Völker wie der Menschheit steht, ist aber die eigentliche Quelle alles Großen, was unter den Menschen geschieht.

Darum haben alle großen Religionen, alle bedeutenden politischen Bewegungen, alle sozialen Revolutionen und Reformbestrebungen eine solche Eschatologie, das Bild eines zu erreichenden Endzustandes, der in seiner Seligkeit alle Opfer und Leiden rechtfertigt, die auf dem Wege dahin ertragen werden müssen. Und alle diese Religionen, Bewegungen und Revolutionen berufen sich auf ein verlorenes Paradies, auf einen ursprünglichen Zustand, der richtig und gut war und zu dem man — sei es auch auf einer höheren Stufe — wieder zurückkehren müsse wie in eine verlorene Heimat.

Wer sieht nicht, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen aller Nationen in einem doppelten, besonders tiefen und sehr realen Sinne Träger dieser Spannung zwischen zwei Heimaten, der verlorenen und der verheißenen Heimat sind? Elisabeth Pleil, die zuerst die Vertriebenenfrage als ein psychologisches Problem dargestellt hat, nennt den Flüchtling die Gestalt einer Zeitenwende. Als Träger des Schicksals unserer Zeit, mit ihrer Gnade und ihrem Fluch in besonderem Maße belastet, müssen die im Exil lebenden Flüchtlinge und Vertriebenen, und eben auch ihre Völker und Volksgruppen, dieses Schicksal wirklich ausschöpfen. Das bedeutet, daß sie nicht nur leiden, Sehnsucht empfinden und Forderungen erheben, sondern daß aus ihrer Mitte das Bild einer verheißenen Heimat entsteht, der andere Pol jener Spannung, der allein erst ihrem Leide Sinn und Richtung geben kann, der sie aus Opfern zur Märtyrern macht, aus Enterbten zu Propheten, aus Vertriebenen zu Pionieren.

Hier liegt ein Mißverständnis nahe, das von vornherein ausgeschaltet werden muß. Manche glauben, sie hätten ein solches Bild, wenn sie, in der Emigration sitzend, Ministerposten verteilen und in Memoranden an die Staatsmänner der Welt die Grenzen ihrer künftigen Staaten wie die Reichweite ihrer erstrebten Gerechtsame festlegen. Um solche Projekte geht es hier nicht. Wohl aber um die Ordnungsidee, die solchen Projekten zugrundeliegen muß, sollen sie nicht Restauration und Rückschritt bedeuten, sondern eine Weiterentwicklung aus den leidvollcn Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit heraus.

Ein solches Bild muß darum einige grundsätzliche Forderungen erfüllen: Es darf nicht entworfen werden aus den unbefriedigten Wünschen der vergangenen Epoche heraus, die jetzt etwa nachzuholen wären. Es darf nicht mit der Absicht entstehen, eine bessere Ausgangssituation für die Weiterführung der gleichen sozialen und Nationalitätenkämpfe zu schaffen, die den Raum schon bisher zerrissen und den Zusammenbruch eigentlich herbeigeführt haben. Es darf nicht von der Situation ausgehen, die wir (die Deutschen sowohl wie die anderen ostmitteleuropäischen Emigrationen) dort verlassen haben; denn diese Situation hat sich inzwischen grundlegend geändert. Es ist nicht möglich, gegen einen großen Trend der Weltgeschichte, wie er sich in der Bevölkerungs-und Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte abzeichnet, anzukämpfen, denn das wäre nicht heroisch, sondern dumm: man muß ihn vielmehr in die Rechnung einsetzen. Schließlich darf der Entwurf dieses Bildes nicht unter Zeitdruck stehen, nicht kleinbürgerlich, ängstlich, auf das Selbsterleben noch des Erfolges bedacht, sondern mit hinreichend langem Atem — was freilich in unserer Epoche, die nicht mehr in Geschlechterfolgen, sondern nur noch in Einzelpersonen denkn kann, nicht leicht fällt.

Und die positiven Forderungen an dieses Bild der verheißenen Heimat? Sie ergeben sich aus dem, was dieses Bild nicht sein soll. Darüber hinaus aber muß es erstens jene Jugend ansprechen, von der vorhin die Rede war; und nicht nur die Jugend der Vertriebenen, sondern die gesamtdeutsche junge Generation. Zweitens muß es ein Bild für alle Völker Ostmitteleuropas sein: das Bild einer Ordnung, die ihnen allen ein Miteinanderleben in ihrer eigenen Kulturatmosphäre und ohne Angst vor Entnationalisierung gewährleistet, das heißt: die Nationalitätenfrage auf einer mittleren Ebene löst. Auf einer mittleren Ebene, weil die lezte Instanz und höchste Gewalt in diesem Vielvölkerraum nicht die Nationalität sein kann: weder die Hegemonie eines dieser Völker über die andern, noch auch das Prinzip der Nationalität überhaupt. Es geht um eine ordnende und bindende Gewalt aus einer anderen Sphäre als aus der der Nationalität. Schließlich aber wird man in Ostmitteleuropa niemals mehr unter sich sein. Wie verlockend auch dem einen oder andern Volk dieses Raumes eine gewisse Vormachtstellung in einer ostmitteleuropäischen Föderation erscheinen mag: eine solche Föderation wäre zu schwach, um außerhalb einer der beiden Welten existieren zu können. Sie ist nur denkbar im Rahmen einer gesamteuropäischen Konzeption — oder eben im Banne des Sowjetsystems. Etwas Eschatologisches, etwas von einer Utopie wird ein solches Bild immer haben. Das schadet nichts. Eine solche Utopie hat auch die Lehre von Karl Marx enthalten, und sie hat gerade mittels dieser Utopie ganze Völker in Bewegung gesetzt. Aus ihr rechtfertigt sich heute noch das sowjetische System. Wer wird schließlich verkennen, daß auch die westliche Welt aus einer solchen Utopie lebt: aus dem Glauben an eine freie, aus tausend kleinen Antriebsmotoren gesteuerte Welt der Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung, an eine Welt, der die im 18. Jahrhundert entdeckten Gesetze der Natur und der Gesellschaft zugrundeliegen, der Glaube an die Selbstregulierung durch fairen Austrag der Gegensätze, an die Humboldt’sche, stets von neuem wiederherzustellende „Harmonie dessen, was erst stritt".

Das bedeutet nicht, daß das Bild der verheißenen Heimat ein Phantasieprodukt weltfremder Ideologen sein dürfte. Im Gegenteil: die geschichtlichen und soziologischen Voraussetzungen eines solchen Entwurfes müssen sehr genau, aber auch sehr kühl und sachlich studiert werden. Was im folgenden dazu zu sagen sein wird, ist nur ein Beitrag zum Studium dieser Voraussetzungen und möge die Ebene zeigen, auf der sich der Entwurf bewegen sollte.

Die hier nur angedeutete Lehre von dem notwendigen Korrelat unseres Heimatbegriffes aber, von der Spannung von der verlorenen auf eine verheißene Heimat hin, mag der geistigen Führung der Völker und Volks-gruppen im Exil helfen, ihr schwerstes Problem zu überwinden: den Zwang nämlich, mit einer allmählich aussterbenden Erinnerung und einer immer mehr verstummenden Sehnsucht arbeiten zu müssen, den Zeitdruck, der daraus entsteht, und die Gefahr, im Mechanischen und an der Oberfläche zu bleiben und schließlich zu kurz zu springen.

Voraussetzungen einer Wiedergewinnung der Heimat

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die es in diesen Dingen nicht geben kann, und notwendigerweise vereinfachend und vergröbernd, seien hier einige Überlegungen skizziert, die insbesondere die vertriebenen deutschen Volksgruppen Ostmitteleuropas anstellen sollten, wenn sie sich um die Wiedergewinnung ihrer verlorenen Heimat bemühen.

Das Weiterleben der Stämme und Volksgruppen Ein erstes Problem stellt schon die Frage dar, aus welchen Kräften die über ganz Deutschland verstreuten Stämme und Volksgruppen des östlichen Deutschtums als geprägte Gruppen mit einer gewissen Einheit und Eigenart am Leben bleiben sollen.

Hat eine solche Gruppe einen eigenen Nationalstaat oder wenigstens eine Selbstverwaltung für sich, dann ist ihr Dasein relativ gesichert. Schwieriger ist es schon, wenn sie als nationale oder religiöse oder sonstwie abgegrenzte Minderheit innerhalb eines aus anderen Prinzipien aufgebauten Staates leben muß.

Der Staat, in dessen Bereich eine solche Gruppe lebt, hat im allgemeinen kein Interesse, sie besonders hervorzuheben oder zu stabilisieren. Zumal wenn er in ihr eine Bedrohung seiner religiösen bzw. sprach-lieh kulturellen Einheit, einen Gegenbeweis gegen die Rechtfertigung seiner Existenz, eine Schwächung seiner Kraft und Verteidigungsfähigkeit sieht, ist er bestrebt, diese religiöse oder nationale Minderheit seiner staatstragenden Mehrheit anzugleichen. Daß eine solche Gruppe dann existiert, daß sie sich ihres Zusammenhangs bewußt bleibt und eine gemeinsame Politik verfolgen kann, ist in einem solchen Falle hauptsächlich ihr eigenes Verdienst. Keine staatliche Macht, keine Polizei, und oft auch keine wirtschaftlichen Druckmittel stehen ihr zur Verfügung, diese ihre Einheit und dieses ihr Zusammengehörigkeitsbewußtsein zu erzwingen. Worauf beruht in einer solchen Gruppe die innere Bindung und die Möglichkeit einer Führung?

Ist diese Gruppe eine religiöse Gemeinschaft, eine Sekte oder Kirchengemeinde, dann hat sie es leicht: die Verankerung in einem nur ihr gemeinsamen Jenseits und der gemeinsame Kult bilden das stärkste Bindemittel, das man sich vorstellen kann. Weniger einfach liegen die Dinge bei Nationalitätengruppen dieser Art. Hier ist die Kleinheit der Gruppe ein Vorteil. Die kleineren Sprach-und Volksinseln des östlichen Mitteleuropa, zumal wo sie durch kulturelle oder konfessionelle Unterschiede von ihrer Umgebung abgehoben waren, boten immer das Bild einer beneidenswerten Einheit und Geschlossenheit. Auch ohne formellen Beschluß, ohne Befehlsausgabe oder Befehlsübermittlung reagierten die Menschen dieser Gruppen im allgemeinen gleich, weil sie unter den gleichen Bedingungen lebten, von ihrer Umgebung auf gleiche Weise behandelt und angesehen wurden, und weil sie ihre Anschauungen und Wünsche oft und oft miteinander ausgetauscht hatten. Bei größeren Gruppen, wie bei den Siebenbürger Sachsen, war die Kirche das bindende Element, und wer will abwägen, wieviel von der Einheit und Instinktsicherheit dieser Volksgruppe ihrer kirchlichen Organisation, wieviel davon ihrem sprachlich-völkischen Gemeinschaftsgefühl zuzuschreiben ist.

Schwerer haben es die größeren Gruppen. Das klassische Beispiel für eine solche Volksgruppe sind die Sudetendeutschen in der alten Heimat. Die dreieinhalb Millionen waren nur schwer überschaubar. Sie gehörten verschiedenen Stämmen an und sprachen verschiedene Mundarten. Sie hatten in verschiedenen Kronländern der alten Monarchie und also unter verschiedener Verwaltung gelebt und hatten bis 1918 eigentlich keinen gemeinsamen‘Namen. Einen gemeinsamen Mittelpunkt kannten sie nicht. Was sie aneinander band, war das gemeinsame Schicksal und der Druck von außen. Als sie 1918 beim Zusammenbruch der Donaumonarchie plötzlich zum Handeln aufgerufen waren, da wirkte in ihren politischen Entwurf die bindende Kraft des alten Oesterreich noch maßgebend hinein. Es bedurfte langer Jahre einer von Prag ausgeübten tschechischen Herrschaft und eines ohnmächtigen Kleinösterreich, um sie zu einer geprägten und durchgegliederten Gemeinschaft zu machen, die man noch lange als eine bloße Notgemeinschaft bezeichnete.

Durch die Ausweisung hat sich die Situation der ostdeutschen Stämme und Volksgruppen radikal geändert:

Die ostdeutschen Stämme und Volksgruppen lebten im Exil, in alle Winde zerstreut, auf die wirtschaftliche und kulturelle Eingliederung in die neue Umwelt angewiesen, in eine Umwelt, von der sie kein Unterschied der Sprache, der Zivilisation und der nationalen Zugehörigkeit trennt, höchstens ein Unterschied der wirtschaftlichen Stellung, der aber, gerade bei den Tüchtigsten, von Jahr zu Jahr mehr verschwindet. Damit sehen die Volksgruppen schließlich einer unvermeidbaren Angleichung der jungen, hier ausgewachsenen Generation ins Auge. In dieser völlig verschiedenartigen Situation sind auch die Voraussetzungen für eine Führung der Volksgruppen, für ihre Einheit und Geschlossenheit, andere geworden.

Im Exil steht der Volksgruppe keine staatliche Macht zur Verfügung. Die staatliche Macht ist hier aber auch nicht gegen sie. Das bedeutet, daß der nötige Drude von außen fehlt. Was ihn ersetzt, ist die wirtschaftliche Notlage, in der die Heimatvertriebenen in ihrer neuen Umwelt leben. Aber diese wirtschaftliche Notlage ist — sollen wir sagen leider oder Gott sei Dank? — kein dauerndes oder auschließliches Unterscheidungsmerkmal. Sollen wir sie zu überwinden suchen oder künstlich aufrecht erhalten? Wer mit den Methoden des Volkstumskampfes der alten Heimat an diese Frage herangeht, sieht sich vor ein unlösbares Dilemma gestellt. Manche haben zunächst allen Ernstes versucht, ihre Landsleute vor der Eingliederung in das hiesige Wirtschaftsleben zu warnen, Mischheiraten mit Einheimischen zu verhindern. Ohne sich darüber klar zu sein, haben sie die Abschirmung gegen die fremdnationale Umwelt, die zu Hause Volkstumsarbeit bedeutete, auf das Verhältnis zur neuen, demselben Volk angehörenden Umwelt übertragen. Hier aber mußte wahre Volkstumsarbeit gerade das Gegenteil davon bedeuten. Denn hier war dem Vertriebenen oder der kleinen Vertriebenengruppe, insbesondere aber dem jugendlichen Vertriebenen, zum Aufbau seiner sittlichen Persönlichkeit und zu seiner Lebenserfüllung die Teilhabe am Denken und Werten der ihn umschließenden Gesellschaft notwendig. Ewig ausgestoßen, dauernd deklassiert, in ständiger Auflehnung gegen die Umwelt zu leben, darin bestand hier die Gefahr. Denn das hieß die Zerstörung alles dessen, was uns Volkstum bedeutet. Diese Gefahr zu bekämpfen war also hier der Sinn jeglicher Volkstumsarbeit. Darum ist es auch der Prüfstein des Politikers und Volkstumsarbeiters einer Volksgruppe im Exil, ob es ihm mehr auf die Schaffung scharf abgegrenzter, leicht dirigierbarer Formationen ankommt oder auf die menschliche Hilfe, auf die Genesung, auf das Wachsen und Reifen organischen Volkstums, das allein einen wirksamen Schutz gegen Proletarisierung und Vermassung bedeutet.

Wohl ist in der gegenwärtigen Lage der Stämme und Volksgruppen eine gegenseitige Hilfe notwendig, und diese gegenseitige Hilfe bedarf derOrganisation. An Stelle der früheren Volkstumsverbände mögen also Landsmannschaften und Heimatvertriebenenorganisationen treten. Aber sie müssen sich über die grundlegend andere Rolle klar sein, die ihnen im Aufbau und in der Führung der Volksgruppe zum Unterschied von den Volkstumsverbänden der alten Heimat zukommt: Dort haben sie umschirmt und abgegrenzt, um im Inneren ein Leben in der eigenen Sprache und Kultur zu ermöglichen. Hier wäre das sinnlos. Dort haben sie Kultureinrichtungen geschaffen, Volksbildung betrieben, Brauchtum und Eigenart gehütet und dokumentiert. Hier sollen sie das gleiche tun, aber mit einer anderen Zwecksetzung: dieses Kulturerbe fruchtbar zu machen über den Kreis der Landsleute hinaus für das ganze Volk. Dort haben solche Volkstumsverbände — zumal in kleineren Volksinseln — gelegentlich ein Kriterium der Zugehörigkeit zur Volksgruppe bedeutet.

Im Falle der estländischen Kulturautonomie war etwa die Aufnahme in den Volksgruppenkataster die Voraussetzung für die Teilhabe an den nationalitären Kultureinrichtungen. Wenn aber die Mitgliedschaft eines oder des anderen Volkstumsverbandes schon im alten Sudetendeutschtum wegen seiner zahlenmäßigen Stärke und seiner Unüberschaubarkeit kaum zur Bedingung der Volksgruppenzugehörigkeit gemacht werden konnte, so ist das bei einer großen Volksgruppe im Exil vollends unmöglich.

Das bedeutet nicht, daß einer solchen Organisation nicht eine maßgebende Aufgabe in der Führung und außenpolitischen Vertretung einer solchen in der Zerstreuung befindlichen Volksgruppe zukommen könnte. Im Gegenteil: eine solche Repräsentation und Führung ist notwendig. Denn auch eine Volksgruppe im Exil hat eine Politik zu betreiben, und diese Politik muß Gesicht und Linie haben, mehr noch als die Politik eines Staates, der es sich eher erlauben kann, mit dem Schwergewicht seiner Tradition und Macht eine Zeitlang „fortzuwursteln". Vor allem braud. t eine solche Volksgruppe eine klare und weitblickende Außenpolitik, und diese Außenpolitik muß auf einer allgemeingültigen, auch andere überzeugenden, sittlichenIdee beruhen; denn hinter dieserAußenpolitik einer vertriebenen Volksgruppe stehen keine Bataillone und kein Kriegspotential, sondern einzig die Glaubwürdigkeit und Werbekraft jener sittlichen Idee. „Es ist doch alles Vergangenheit“

Was aber bindet die Menschen an ihre im Exil befindlichen Volks-gruppen, die doch kein Territorium, keine Verfassung mit Zwangs-charakter für sich geltend machen können?

Sehr stark sind die Bindekräfte der kleinen, durch lange Jahrzehnte oder Jahrhunderte in fremder Umgebung zu leben gewohnten, sprach-inselartigen Volksgruppen des baltischen, russischen und des ungarischen Raumes. Hier ist die prägende Kraft ursprünglichen Volkstums, der Instinkt, in fremder Umgebung zu bleiben was man ist, noch ungebrochen am Werke. Es ist die gleiche Kraft, die den Völkern und Volksgruppen des östlichen Europa — gerade auch den nichtdeutschen — gestattet hat, unter verschiedenen staatlichen Formen und Regimen in ihrer Eigenart am Leben zu bleiben: eine Fähigkeit, die östliche Machthaber immer wieder zwang, ganze Völker zu deportieren und in alle Winde zu zerstreuen, wenn sie mit ihnen fertig werden wollten. Freilich, hier in der deutschen Umwelt, nicht selten unter Menschen verwandter Mundart und Volksüberlieferung, ist der Anreiz zur Angleichung und zur Auflösung der bisherigen Gruppe sehr groß.

Lange noch wirkt die Bindekraft der engeren Heimat, was sich an den zahlreichen Treffen engerer Landsmannschaftsbezirke, an der Beliebtheit der Heimatblätter und — blättchen ablesen läßt. Aber auch ihr Ende ist angesichts des Heranwachsens einer neuen Generation, die sich gerade durch das Lokale und Vergangene nicht binden lassen will, schon abzusehen.

Problematisch ist auch das Weiterleben der für den Zusammenhalt der Stämme und Volksgruppen aufgebauten Organisationen. Es hat sich gezeigt, daß die Tatsache, aus der alten Heimat vertrieben zu sein, bei der Jugend kein ausreichendes Motiv des Zusammenschlusses bildet. Viel stärker binden weltanschauliche oder berufliche Gemeinsamkeiten oder die engere Gruppe, der Bund, mit bestimmten Erinnerungen des Brauchtums, der Erlebnisse, oft über die Grenzen der vertriebenen Volksgruppe hinweg.

Auch die stolze Tradition der alten Heimat, ihre deutschen Leistungen in Politik und Kultur, in Wirtschaft und Kunst und ihre großen Männer, binden und verpflichten wenig. Hier hat gerade das Schicksal der Vertriebenen und das Erlebnis der Vertreibung gezeigt, wie sehr der Stolz auf die politische, kulturelle und wirtschaftliche Leistung des eigenen Volkes einem allmählich absterbenden, bürgerlichen Volksbegriff zugehört. Diese Werte haben höchstens zur Selbstrechtfertigung vor der neuen Umwelt, zur Wiederherstellung des schwer erschütterten Selbstbewußtseins dienen können. Viel stärker band die Familie, die engere Heimat, das gemeinsame Schicksal, der gemeinsame Gegensatz gegen die neue Umwelt.

Allein auch dies gilt für die junge Generation nur wenig. Sie hat einen anderen Heimatbegriff. „Was wollt ihr uns mit den Bauten und Leistungen der alten Heimat“, so drückt das ein jugendlicher Vertriebener etwa aus, „das ist doch alles Vergangenheit. Wie es jetzt dort aussieht und was die Zukunft bringen soll, wollen wir wissen!" Ein anderer definiert die Heimat: „Heimat ist, wo man sich auf die Leute verlassen kann! * und „Was wir brauchen, ist Rückendeckung“.

Das zeigt deutlich genug, worin die eigentliche Bindekraft für die junge Generation der Vertriebenen liegt: nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart und Zukunft; nicht in der Erinnerung an die gemeinsame Heimat im Osten, sondern in der gemeinsamen Aufgabe. Daß diese Aufgabe aus dem Anliegen und den Möglichkeiten der verlorenen ostdeutschen Heimat geschöpft sei, darin wird die Bindung der jungen Generation an ihre im Exil befindliche Volksgruppe liegen.

Aus aus diesem Grunde also unterliegt das Leben einer Volksgruppe im Exil anderen Gesetzen als im geschlossenen Siedlungsgebiet der alten Heimat. Die engere, durch andere als nationale Binde-kräfte in sich gebundene Gruppe einer gemeinsamen Weltanschauung, eines Bundes, eines gemeinsamen Stils, wie bestimmte Gruppen der Jugendbewegung, eines gemeinsamen Berufs und einer gemeinsamen Aufgabe bindet tiefer und inniger. Sie nicht im Gegensatz zur Bindekraft der Volksgruppe zu sehen, sondern diese Volksgruppe aus all den so innig gebundenen Gemeinschaften durch die gemeinsame Aufgabe oder Sendung zu einer losen, aber um so schmiegsameren und zäheren Einheit zu binden, darauf kommt es an.

Im Ganzen aber wird es notwendig sein, sich zu einer klaren Werte-skala dessen durchzuringen, was — als höchster Zweck — unbedingt erhalten werden muß, und was — als Mittel — erhaltenswert, aber doch nicht das letztlich Entscheidende ist.

Die Erhaltung und Pflege des geprägten Volkstums der ostdeutschen Stämme und Volksgruppen ist ein hoher und wesentlicher Wert. Daß sie, unter anderem durch das Verdienst der landsmannschaftlichen und anderen Organisationen, bisher in so hohem Grade gelang, daß also aus dem Elcndsheer der Vertriebenen keine amorphe Masse und darum aus ganz Deutschland kein Chaos geworden ist, dafür haben wir in erster Linie jenen bindenden und prägenden Kräften des stammlich gegliederten Volkstums zu danken.

Trotzdem werden wir, wenn das Leben in der Verbannung noch lange dauert und vor allem, wenn neue Generationen das Erbe der Heimatvertriebenen antreten, einer allmählichen Auflockerung und Auflösung der ursprünglichen Stämme und Gruppen ins Auge sehen müssen. Wenn sie erfolgt, darf das Ganze nicht verloren sein. Worauf es ankommt ist, daß inzwischen ein gesundes und lebenskräftiges Volk aus Einheimischen und Vertriebenen entstanden ist, das ein neues und gesundes Verhältnis zu den übrigen Völkern, insbesondere Ostmitteleuropas, gefunden hat, und bereit und fähig ist, gemeinsam mit ihnen langsam und von vorne an einer Ordnung Mitteleuropas zu bauen. Revision der nationalen Geschichtsbilder Solange man sich auf der Ebene der eigenen nationalen Ideologien, Zielvorstellungen und Wünsche und der Ressentiments aus der eigenen Geschichte bewegt, und solange man diese Ebene und den eigenen Standort auf ihr nicht als relativ erkennt, ist es unmöglich, die nächsthöhere Ebene, den archimedischen Standpunkt, jenes „Dos moi pu sto" zu gewinnen, von dem aus allein die Welt aus den Angeln gehoben werden kann.

Darum bedarf es einerBesinnung auf die Gesetze derEmigration, denen wir alle unterliegen, ob wir es wahr haben wollen oder nicht. Wir kennen diese Gesetze aus der Geschichte. Wir können sie an allen bedeutenden Emigrationen der letzten Jahrhunderte, an den religiösen Exulanten des 17. Jahrhunderts, an den polnischen Emigrationen von 1795 und von 1830, an der russischen und ukrainischen Emigration von 1817 und 1921 studieren. Welches sind diese Gesetze?

In der Emigration nehmen die Auseinandersetzungen der Ideologien und Machtgruppen, der Parteien und Organisationen groteske Formen an. Je weniger Realität die Idee besitzt, um die man kämpft, um so leidenschaftlicher wird der Kampf geführt. Persönliche Gegensätze oder Konkurrenz der Organisationen um ihre Mitglieder werden ideologisch unterbaut und erscheinen über Nacht als Gegensätze verschiedener Weltanschauungen und Religionen. Der Kampf der Ideologien aber spielt sich jenseits aller wirklichen Macht ab. Darum unterliegt er auch nicht den vergröbernden und vereinfachenden Gesetzen der Macht. Er wird unüberschaubar und sinnlos, gespenstisch wie ein Kampf im Schattenreich. Gerade dort, wo es um zukünftige Gestaltungen, um die nach der Heimkehr einzuschlagende Politik, um die künftigen Grenzziehungen und Völkerordnungen geht, hat dieser Kampf scheinbar alle Verbindlichkeit und Schwere verloren. Worum gekämpft wird, sind keine realen Positionen. sondern Träume. In der Welt der Träume aber fehlt der Zwang zum Kompromiß, die Probe auf die wirkliche Durchführbarkeit, auf die Haltbarkeit und Menschlichkeit der Entwürfe.

Ein zweites Gesetz schwebt über jeder Emigration, auch dieses in der Geschichte vielfach belegt: Für die Emigration bleibt die Geschichte im Augenblick der Auswanderung oder Austreibung stehen. Darum führen die emigrierten oder vertriebenen Gruppen im Exil die geistigen Auseinandersetzungen weiter, wie sie sie zu Hause abgebrochen haben: mit den Gegnern von damals, mit den Argumenten, die damals wirkten, mit den Zielstellungen und Lösungsversuchen, die damals richtig schienen, und in den Denkkategorien und Weltstrukturen, die damals galten. Aber all das hat sich inzwischen verändert, rascher und gründlicher, als je in normalen Zeiten: die Gegner sind nicht mehr da oder sie sind andere geworden, die Argumente von damals haben ihre Wirkung verloren; die Ziele, die damals eine bessere Welt versprachen, sind gegenstandslos und die Struktur der Welt von damals gilt nicht mehr: andere Größenverhältnisse, andere Gesetze, Kräfte und Ideale beherrschen sie, eine Umwertung der Werte hat stattgefunden. Darum wird von einer Emigration mehr gefordert als von Menschen und Völkern, die in ihrer normalen Umwelt leben: Sie muß über sich selbst und über dieses ihr Gesetz hinauswachsen und in ihren Denkkategorien und Entwürfen eine kommende Epoche anvisieren, die sich eben erst in unklaren Umrissen am Horizont der Zukunft abzeichnet, statt in den Wunschbildern und Strukturen der Vergangenheit weiterzudenken.

Auf Ostmitteleuropa angewendet aber bedeutet das folgendes: Wir haben es alle verlassen in einer Zeit, da es in eine Reihe von souveränen, aus den nationalen Wiedergeburtsbewegungen des 19. Jahrhunderts emporgestiegenen oder neubelebten, einander nach Art der europäischen Großmächte mißtrauisch bewachenden Nationalstaaten eingeteilt war oder in der es doch um die Erhaltung oder Wiedergewinnung dieser Nationalstaaten und ihrer Souveränität ging. Diese Zeit ist vorbei. In der Welt herrschen andere Größenverhältnisse. Zwei Weltmächte teilen sich in die Herrschaft über die Erde, und alles, was dazwischen liegt, nimmt immer deutlicher den Charakter von Provinzen, Satellitenländern, Bundesgenossen oder Freunden an und muß sich für die eine oder andere Seite entscheiden. Selbst die großen Nationalstaaten des westlichen Europa, einst Vorbilder der kleinen Staatenwclt Ostmitteleuropas, sind zu klein geworden, um im Zeitalter der modernen Großraumwirtschaft allein aus ihrem Volksboden zu leben. Sie mußten sich Kolonialreiche aufbauen 'und sind dadurch über den Status der Nationalstaaten hinausgewachsen.

Trotzdem müssen auch sie sich für eine oder die andere Hälfte der Welt entscheiden und auch ihre Souveränität ist im Kurswert gesunken. Heute geht es um ihre Integration in ein größeres Ganzes, wie es vor 100, 200 oder 400 Jahren um die Integration jedes dieser Nationalstaaten für sich aus einer Reihe einander bekämpfender dynastischer Kleinstaaten gegangen war. Man hat eine Montanunion errichtet, man spricht von einer Agrarunion und einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft und alles, was an Mißtrauen und Nationalismus dagegen mobilisiert wird, macht — so sehr es die Gefahr des Scheiterns heraufbeschwört -den Eindruck von Rückzugsgefechten einer gestrigen Welt. Jenseits des Eisernen Vorhangs aber hat die Sowjetunion die ostmitteleuropäischen Staaten mit ganz anderen Mitteln und Methoden darüber belehrt, wie und unter wessen Führung sie, nach ihrer Auffassung, zusammengehören.

Wenn angesichts dieser Veränderungen der Größenverhältnisse und Strukturen der Welt die ostmittele:. ropäischen Emigrationen über eine Neuordnung ihrer Heimat nachdenken, und dabei von den Souveränitätsverhältnissen und Strukturen der zwanziger Jahre — mögen diese (worüber sich streiten läßt) noch so schön und den Wünschen ihrer Völker entsprechend gewesen sein — ausgehen, so ist das ein Anachronismus. Damit unterwerfen sie sich eben jenem Gesetz der Emigration, wonach die Geschichte mit dem Augenblick ihrer Ausweisung oder Austreibung stehenbleibt. Was sie erstreben, ist eine Restauration. Daß aber eine Restauration nie gelingt, hat die Geschichte hundertfach bewiesen. Gerade ihren eigenen Völkern würden diese Kreise damit den schlechtesten Dienst erweisen. Sie hätten sie damit nämlich in die Struktur einer vergangenen Epoche hineinmanövriert, und das bedeutet: zu einem nochmaligen und nur noch verhängnisvolleren Zusammenbruch verurteilt.

Hier läßt sich der Einwand erheben, daß aus diesen Argumenten ein aus Ostmitteleuropa vertriebener Deutscher im Interesse seiner Volksgruppen spreche. Allein was hier an Kritik gesagt ist, richtet sich ebenso sehr gegen diese deutschen Volksgruppen: Sie leben zwar in ihrem Exil ohne die Möglichkeit, souveräne Nationalstaaten anzustreben und sind damit vor der Versuchung jener Staatsnationen der zwanziger und dreißiger Jahre bewahrt. Aber sie laufen Gefahr, ihren Beitrag zu der neuen Ordnung ebenfalls aus der Rolle der um ihr Recht kämpfenden nationalen Minderheit von 1918— 38 zu verstehen, d. h. aus der Rolle einer zu ewiger Opposition verurteilten Gruppe, die sich einfrieden will, von vornherein defensiv und isolationistisch denkend und auf den Schutz eines hinter ihr stehenden Staates eigener Nationalität bauend, der wiederum das Mißtrauen jener ganzen Staatengesellschaft gegen sich und die unglückliche Volksgruppe wachrufen muß.

Alle diese Gruppen im Exil, die Angehörigen der ehemaligen Staats-völker wie die der vertriebenen deutschen Volksgruppen, wären gut beraten, wenn sie das richtige Vorhaltemaß für die kommende Epoche nähmen, statt in ihren Träumen und Projekten eine Epoche anzuvisieren, die vergangen ist. Das heißt, sie setzten sich alle zusammen und berieten die Grundzüge einer Föderation neuen Stils, was natürlich, ohne wesentliche Abstriche an nationalen Lieblingswünschen und Prestigebedürfnissen, Rechts-und Gebietsansprüchen nicht möglich ist.

Eine erste Voraussetzung dafür mag der Versuch bilden, einige gemeinsame Züge der ostmitteleuropäischen Geschichte herauszuarbeiten, die Kräfte und Gesetze zu zeigen, die in der Geschichte aller hier wohnenden Völker und Volksteile wirksam waren und sind. Angesichts der vielen, in diesem Raum herrschenden, voneinander sehr verschiedenen, ja einander ausschließenden nationalen Geschichtsbilder ist das ein schwieriges Unterfangen.

Aber es hilft nichts. Jedoch über kurz oder lang wird eine solche großräumige Betrachtung der Geschichte an Stelle der vielen nationalen Geschichtsbilder notwendig werden. Diese nationalen Geschichtsbilder sind ja selbst erst neueren Datums: ein Ergebnis der nationalen Wiedergeburtsbewegungen des 19. Jahrhunderts, epochenbedingt und in einer anders strukturiertenEpoche zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Wir sind ja auch sonst in der Welt am Ende der nationalen Geschichtsbilder angelangt. Es wird wieder möglich und notwendig, was das ganze 19. Jahrhundert hindurdh nicht möglich war, in übernationalen Kulturkreisen zu denken und Geschichte zu schreiben, wie das die Gesamtschau von Spengler, Breysig, Toynbee und anderen zeigt. Ja, die Zeit ist schon da, in der es die Rettung und Rechtfertigung des nationalen Bewußtseins bedeuten wird, das eigene Volk in einen größeren Funktionszusammenhang eingeordnet zu sehen, weil sich die Nationalgeschichte in einer großräumiger gegliederten Welt idyllisch und belanglos wie Lokalhistorie ausnehmen wird. Schon Palacky hat, mitten im 19. Jahrhundert, diese Entwicklung vorausgesehen.

Versuche zu einer Zusammenfassung Ostmitteleuropas Ostmitteleuropa ist als ein geschichtliches Ganzes schwer zu fassen. Es hat keinen eigenen Schwerpunkt oder Machtmittelpunkt. Aber es hat ein eigenes Gesetz, dem etwa auch die Ostdeutschen, im Gegensatz zu den westlichen Deutschen, unterlagen. Es ist ein Raum, der Völker und Teile von Völkern geprägt hat, dessen Geschichte gewisse gemeinsame Züge aufweist, und in dem gesamteuropäische Bewegungen und Entwick-Jungen jeweils ein charakteristisches Gepräge erhalten haben. Wir müssen versuchen, das Gesetz dieses Raumes und seiner Völker aus der Vielfalt der Ereignisse herauszulösen.

Das erste kennzeichnende Merkmal ist das Fehlen eines eigenen Schwerpunktes. Ostmitteleuropa ist wie zwischen zwei Pole eingespannt: Rom und Byzanz und deren Erben (Römisches Reih des Mittelalters und „Westliche Welt" auf der einen Seite, Moskau auf der anderen). Unter verschiedenen Formen spielten sich hier die Versuche ab, die beiden magnetischen Kraftfelder gegeneinander abzugrenzen. Sie führten immer wieder zu Eisernen Vorhängen, die tiefer gingen als bloß nationale Unterschiede.

Ein zweites kennzeichnendes Merkmal Ostmitteleuropas sind die wechselnden Versuche zu großräumiger Machtballung durch Kombination verschiedener Länder, die wie große, zu verschiedenen Bauplänen verwendete Bausteine wirken. Diese Machtballungen haben nie den ganzen Raum erfaßt und sind nur selten von innen heraus erfolgt, um so häufiger aber von außen, vom Osten oder vom Westen her.

Heute ist es die Sowjetunion, die das Erbe aller Versuche der Zusammenballung Ostmitteleuropas übernommen hat. Vorbedingung dafür war, daß alle jene Versuche der großräumigen Machtballung auf dynastischer Grundlage seit dem 19. Jahrhundert von einem völlig entgegengesetzten Prinzip abgelöst worden waren: von dem aus den nationalen Wiedergeburtsbewegungen des 19. Jahrhunderts aufgestiegenen Nationalitätsprinzip. Dieses Prinzip, nah dem jede sih als Volk mit eigener Sprahe und Kultur erkennende Gemeinshaft einen souveränen Staat haben sollte, hat Ostmitteleuropa, statt es zu einen, in eine große Anzahl verhältnismäßig kleiner Staaten zersplittert, die — nah dem Vorbild ihrer größeren westeuropäishen Brüder — einander mißtrauish bewahten und stets zu Kombinationen gegeneinander, aber auh zur Anlehnung an eine der zufällig in der Nähe befindlihen Großmähte bereit waren. An sih bedeuten die nationalen Wiedergeburtsbewegungen eine große und belebende Epoche für Ostmitteleuropa. Es wäre falsh, nur den blinden und selbstzerstörerishen Nationalismus zu sehen, der den Gipfelpunkt und zugleich das Ende dieser Epoche bezeihnet. Diese Wiedergeburtsbewegungen haben in Ostmitteleuropa eine solche Fülle von eigenständigen Kulturen und nationalen Individualitäten entwickelt, daß sie schon darum einen wesentlichen Beitrag zur Geshihte des Abendlandes und der Menschheit bedeuten.

Aber diese Epohe der nationalen Wiedergeburten ist heute für Ost-mitteleuropa vorbei. Die bewegenden Kräfte, denen sie zu verdanken sind, und die Energien, die sie ausgelöst haben, sind verraucht, und die Aufgabe, die diesen Völkern heute gestellt ist, lautet anders. Wir haben die Zeit der nationalen Wiedergeburten als eine abgeshlossene Epohe hinter uns und können auh an ihnen besser als bisher die gemeinsamen Züge studieren, die ihnen das Gesetz des Raumes Ostmitteleuropa aufprägt.

Auh diese Epohe steht nämlih unter dem für Ostmitteleuropa harakteristischen Gesetz. Die Wiedergeburten der ostmitteleuropäishen Völker aber sind nur ein Ausshnitt aus einem gesamteuropäishen, heute shon globalen Vorgang, dem Erwachen der Nationen. Hier in Ostmitteleuropa hat er — wie andere gesamteuropäishe Bewegungen auh — Formen und Inhalte angenommen, die eben für Ostmitteleuropa typish sind und damit die Einheit dieses Raumes beweisen.

Hier in Ostmitteleuropa nämlich hat diese Bewegung andere Bedingungen vorgefunden als im Westen: während im Westen zielbewußte Dynastien Hohsprahe und Kultur der Bewohner ihres Mahtbereihes zu einer annähernden Einheit geformt und damit diese Bewohner zu einer Nation erzogen hatten, war dies den Dynastien Ostmitteleuropas angesihts der wehselnden Länderkombinationen und der verzahnten und übershihteten Siedlungsverhältnisse nicht gelungen. Das Erwachen des sprachlich-kulturell orientierten Nationalbewußtseins, das im Westen die Bindekraft der dynastishen Staaten wesentlih verstärkt hatte, mußte sih hier gegenteilig auswirken: die dynastishen Staaten und Reihe Ostmitteleuropas wurden, wo sie mehrere Sprachvölker umfaßten, zersprengt, wo sie nur Teile größerer Völker beherrshten, nah Maßgabe der sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeit zu größeren Nationalstaaten zusammengefaßt.

All diesen Ereignissen liegt der von dem westeuropäishen, staatlich orientierten Volksbegriff so grundvershiedene Volksbegriff J. G. Herders zugrunde, nah dem niht die Staatszugehörigkeit, sondern Sprahe, Kultur, wirklihe oder vermeintlihe Abstammung für die Nationalität des Menshen ausshlaggebend sind. Darum haben die Völker dieses ostmitteleuropäishen Raumes, selbst wo sie einen Nationalstaat gewannen, im Grunde nie Staatspolitik betrieben, sondern immer nur Volks-politik, d. h. für sie war niht der Staat der höhere Begriff, sondern das durh gleihe Sprahe und Kultur geeinte Volk, der Staat aber nur ein Mittel, dieses Volk zu fördern und seine Existenz zu sihern. Ebenso haben in Ostmitteleuropa — im Gegensatz zu den Westdeutshen — die Ostdeutshen gedaht, soweit sie niht 1871 in das Bismarcksche Reih einbezogen und damit zum etatistishen Denken erzogen worden waren.

Das Ergebnis dieser Entwicklung war — neben jener Zersplitterung Ostmitteleuropas in eine Reihe verhältnismäßig kleiner, einander mißtrauish überwachender Nationalstaaten — daß dieser Raum zum klassishen Gebiet der Nationalitätenfrage geworden ist, d. h.: in allen Staaten und Ländern Ostmitteleuropas, auh noh in den alten dynastishen Reihen oder in den neuen Nationalstaaten gab es, da bei der vielfachen Verzahnung und Übershihtung der Siedlungsverhältnisse eine saubere Abgrenzung niht möglih war, Volksgruppen vershiedener Nationalität in einem Staat beisammen, neben dem jeweiligen Staatsvolk die sogenannten nationalen Minderheiten.

Das Groteske an der Situation war, daß dasselbe Volk, in einem Staat Träger der Staatsgewalt, in den benachbarten Staten als nationale Minderheit auftrat. Während in dem einen Staat sein Interesse auf eine möglichste Homogenität der Staatsbewohner, und das bedeutete eine Assimilierung oder Zurückdrängung der nationalen Minderheiten, gerihtet war, mußte dasselbe Volk für seine Angehörigen im Nahbarstaat möglihste Autonomie der nationalen Minderheiten und Bewahrung ihrer nationalen und sprahlihen Eigenart anstreben. Es gab eine ungeheuere Literatur über die Nationalitätenfrage und die Verhandlungen etwa in den Minderheitenkommissionen des Genfer Völkerbundes sind voll von diesem inneren Widerspruh. Es gab Staaten, die zur einen Hälfte auf dem Nationalitätsprinzip errihtet waren, d. h.der Nationalstaat eines Sprach-Volkes sein sollten, zur anderen Hälfte aber sih als Weiterführung irgendwelher altüberlieferten historishen Staatsrehte keineswegs nationalitärer, sondern dynastisher Herkunft rehtfertigten. Solhe inneren Widersprüche, in die die Völker dieses Raumes — und zwar einshließlich der Deutshen — verwickelt waren, bargen den Todeskeim für all diese Völker und Staaten in sih.

Es ist klar, daß hier eine gemeinsame Aufgabe der ostmitteleuropäishen Völker vorliegt und daß diese Aufgabe niht von der nationalen Ideologie eines dieser Völker aus oder von dem, was es als sein heiliges Reht ansieht, zu lösen ist. Es kann sih nur um eine neue oder auf einer neuen Stufe konzipierte Ordnung des Zusammenlebens von Völkern handeln, die auf einer für alle gleichermaßen gültigen, sittlihen und rechtlichen Grundlage beruhen muß.

Diesen skizzenhaften Hinweisen auf cinige Grundzüge, die der Geshihte der ostmitteleuropäishen Völker, einshließlih der aus diesem Raum kommenden Ostdeutschen, gemeinsam sind, wären noch viele andere hinzuzufügen. Es würde sich daraus auch Näheres über die gemeinsame Aufgabe ergeben, die diesen Völkern heute und für die Zukunft gestellt ist.

Aber es kann hier nicht darum gehen, Projekte zu machen. Sie wären verfrüht und fragwürdig. Es gilt zunächst, über die romantischen, aus den Wiedergeburtsbewegungen des 19. Jahrhunderts aufgestiegenen nationalen Geschichtsbilder der einzelnen hier beteiligten Völker hinauszukommen zu einem von einer neuen Ebene aus entworfenen Geschichtsbild des gesamten Raumes, seiner Gesetze, seiner Tragik und seiner Möglichkeiten.

In einem solchen Geschichtsbild dürften natürlich auch die Spannungsmomente nicht fehlen, die Ostmitteleuropa erfüllen, insbesondere etwa die Geschichte der deutschen Ostsiedlungsbewegung und der Gegen-schläge dagegen. Gerade dieses Beispiel würde zeigen, wie dabei vorgegangen werden müßte: ohne die, vom Standpunkt der nationalen Geschichtsideologie aus übliche und notwendige Apologie oder Anklage.

Diese Art von Argumentation mit historischen Beweismitteln ist eben typisch für die romantische Denkweise und verliert heute zusehends an Sinn und Beweiskraft.

Wieviel rührender Eifer ist nicht auf den Nachweis verwendet worden, daß in dem oder jenem Jahrhundert in diesem oder jenem Gebiet Polen oder Tschechen, Magyaren oder Deutsche gesiedelt haben, daß die Vorfahren dieses oder jenes Volkes dagesessen wären, daß der oder jener berühmte Mann Tscheche oder Deutscher oder Pole gewesen sei. Das alles sind Beweisführungen, die aus dem romantischen Denken der Wiedergeburtsepoche stammen, in der sich jedes der erwachenden Völker durch den Nachweis seiner Ureinwohnerschaft, seiner alten Kultur und seiner zivilisatorischen Leistung glaubte legitimieren zu müssen. Heute muß bekanntlich jeder bedeutende Erfinder Russe gewesen sein — ein Zeichen, daß sich jene große Welle der nationalen Wiedergeburten im russischen Nationalismus der stalinistischen Epoche fortsetzt. Über diese Pubertät müssen die europäischen Völker endlich hinauskommen.

Solche historischen Argumente verlieren heute offensichtlich an Wirkung. Mit ihnen konnte man noch um die Zeit der Friedensverträge von 1919 arbeiten. Bei einer heutigen Friedenskonferenz hätten die Historiker viel weniger zu sagen.

Diese Umstände lassen es, glaube ich, heute schon möglicher erscheinen als noch vor wenigen Jahren, eine solche Revision der nationalen Geschichtsbilder und Ideologien der ostmitteleuropäischen Völker, einschließlich der dortigen Deutschen, in Angriff zu nehmen, eine Revision, die die gemeinsamen Züge, Gesetze und Tendenzen der ostmitteleuropäischen Geschichte stärker zu ihrem Recht kommen ließe, als das den aus den Wiedergeburtsbewegungen des 19. Jahrhunderts entwickelten nationalen Geschichtsbildern mit ihrem Streben nach Herausarbeitung der völkisch-individuellen Züge möglich war.

Das Geschichtsbild der vertriebenen Deutschen Aber es ist notwendig, bei uns selbst zu beginnen, das heißt unser Geschichtsbild zu revidieren, und nicht nur unser Geschichtsbild, sondern das Bild, das wir von uns selbst, von unserer Rolle in der Geschichte und von unserer Aufgabe in der Gegenwart haben. Es ist klar, daß eine so grundstürzende Veränderung der Lage und des Ortes ein neues Bild der Welt überhaupt und der eigenen Rolle darin zur Folge haben muß. Wer nach einer solchen Änderung der Epoche und des Standortes in dem gleichen Geschichtsbild weiterdenkt, hat nicht begriffen, was geschehen ist. Hier geht es vor allem um die Volksgruppen, die in ihrem Selbsterhaltungskampf gegen die wiedererwachenden Völker Ostmitteleuropas eigene Geschichtsbilder und Sendungsideen entwickelt haben.

Diese Geschichtsbilder und Sendungsideen waren notwendigerweise von dem defensiven Charakter ihres Anlasses bestimmt. Selbst wo sie aggressive und imperialistische Züge hatten, waren diese Züge doch nur Über-kompensationen aus dem Gefühl einer Bedrohung. Es ging immer wieder darum, das Recht auf den Boden, auf die politische oder rechtliche Stellung durch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Leistung der betreffenden Gruppe zu beweisen. Für alle Geschichtsdarstellungen aus dem Kreise dieser Volksgruppen ist deshalb ein apologetischer Zug charakteristisch, ja er beherrscht sie geradezu. Er ist Ursache bedeutender Leistungen der Geschichtsschreibung und Dichtung dieser Gruppen.

Die Geschichte stellt sich dem Angehörigen dieser ostdeutschen Volks-gruppen dar als eine Kette großartiger kolonisatorischer, politischer und geistig-kultureller Leistungen des Deutschtums, Leistungen, die in ständiger Auseinandersetzung mit den in Ostmitteleuropa um das 6. Jahrhundert eingedrungenen slawischen und anderen Volkstümern erfolgt seien, sie zu dynastisch-feudalen Staatenbildungen, zur Übernahme abendländischer Rechts-und Wirtschaftsformen, ja zum eigenen nationalen Erwachen und zur Ausbildung von Nationalstaaten angeregt haben. Diese deutschen Volksgruppen fühlen sich verkannt, mit Undank belohnt und von einem Haß verfolgt, der ihnen ungerecht erscheint, für den aber die Angehörigen jener anderen Völker hundert Gründe anzuführen pflegen. Wie jedes Volk in seinem Geschichtsbild und seiner Selbstbeurteilung sich das feindliche Verhalten der andern nur aus einem moralischen Defekt erklären kann, so neigen auch die ostdeutschen Volksgruppen zu einer solchen Erklärung. Das gleiche tun jene Nachbarvölker, wenn sie die politischen und wirtschaftlichen Gestaltungen der Deutschen aus Herrschgier, Überheblichkeit und Gewinnsucht ableiten und ihre geistig-kulturellen Leistungen nicht wahrhaben wollen oder auf das Konto eigener Volksangehöriger zu setzen streben.

Die Abgeschlossenheit in den kleinen Nationalstaaten, die erzwungene Konzentration auf den Kampf um die Erhaltung des eigenen Volkstums, hat zu diesem apologetischen Zug der ostdeutschen Geschichtsbilder noch einen anderen gefügt: die Überschätzung der eigenen Kampfsituation. Alle übrigen Weltprobleme traten in den Hintergrund gegenüber dem eigenen Anliegen. Der rechte Maßstab für die zeitlich und räumlich begrenzte Bedeutung des eigenen Volkstumskampfes war verlorengegangen. Was sich in all dem äußerte, war die Psychose einer belagerten Festung, in der alle übrigen Weltprobleme uninteressant sind bis auf das eine, wann und in welcher Stärke Entsatz zu erwarten sei.

Die Austreibung und Zerstreuung all dieser Volksgruppen bietet — bei all dem Furchtbaren, was sie in sich schließt — die eine Möglichkeit, die Relativität dieser Geschichtsbilder und Selbstbeurteilungen zu erkennen und die Psychose der belagerten Festung zu überwinden, wenn auch das schwere Schicksal neuen Anlaß bietet, das eigene Leid und das erlittene Unrecht in den Mittelpunkt des Weltgeschehens zu versetzen.

Es gilt trotzdem die Möglichkeit des erweiterten Blickfeldes zu nutzen und die ganze Welt zu sehen, zunächst so, als ob wir gar nicht darin wären oder doch nur eine Gruppe von Hingeworfenen neben vielen anderen ähnlichen Gruppen. Da sieht die deutsche und europäische Geschichte auf einmal anders aus:

Der deutsche Versuch, eine Hegemonie über die europäischen Völker zu errichten, bedeutet, im Großen gesehen, ein vergebliches und letztes Aufbäumen gegen eine Entscheidung der Geschichte, die schon Jahrhunderte vorher gefallen war: Mit der Entdeckung der überseeischen Länder und der Verbindungswege dahin war nämlich der Schwerpunkt der Weltgeschichte auf den Atlantik verlagert worden. Die daran grenzenden Mächte Spanien, Frankreich, England hatten allein noch teil an den neuen Reichtümern und Möglichkeiten der Welt. Mitteleuropa war in die zweite Linie, in das Brackwasser der Geschichte zurückgefallen. Daher die frühe und mächtige Ausbildung der westlichen Nationalstaaten, der zunähst in Mitteleuropa nichts Ähnliches entsprach; daher die Ausbildung der Imperien durch diese Nationalstaaten; daher auch die Tragik Mitteleuropas, das zum Schlachtfeld für die Kämpfe der großen westlichen Nationalstaaten um ihre Kolonialreihe wurde.

Diese Zurückdrängung Mitteleuropas auf einen Nebenshauplatz der Geshihte hat hier allerdings ungeheure und explosive Energien geweckt. Sie äußerten sih in den leidenshaftlihen Bewegungen des nationalen Erwahens aller hier wohnenden Völker, voran der Deutshen und Italiener, im Zusammenhang damit aber auh der ostmitteleuropäischen Völker. Das nationale Erwahen, das zur Bildung des deutshen und italienishen Nationalstaates und zur Zersplitterung der alten dynastishen Reihe Ostmitteleuropas in viele kleinere Nationalstaaten führte, diese ungeheuere Energieentfaltung, von der die Industrialisierung Mittel-europas und der große deutshe Hegemonialversuh getragen war, hat aber gerade die Deutschen und die übrigen Bewohner Mitteleuropas und Ostmitteleuropas über die wahre Lage und ihre Ausweglosigkeit getäuscht. War die Entstehung der westeuropäischen großen Nationalstaaten eine Folge des aus Übersee hereinströmenden Reichtums gewesen, so war die Entstehung des mittel-und ostmitteleuropäischen Nationalstaaten-systems, die Industrialisierung dieses Raumes und die Bevölkerungsentwicklung darin eher ein Ergebnis der Armut, der Krise, der Entfaltung von Energien aus Verzweiflung.

Dazu kamen die Wirkungen der in Westeuropa zuerst und standort-mäßig besonders begünstigt aufsteigenden Industrialisierung. Sie hat eine Bevölkerungsbewegung ausgelöst, die man als einen Gegenstrom gegen die große deutsche Ostsiedlungsbewegung des Mittelalters und des Barock betrachten kann. Wenn diese Ostsiedlungsbewegung durch den Bevölkerungsüberdruck des damaligen Westeuropa, insbesondere Westdeutschlands, und durch den Sog des wirtschaftlich unaufgeschlossenen Ostmitteleuropa auf die im Westen inzwischen herausgebildeten neuen Wirtschafts-, Rechts-und Gemeinschaftsformen hervorgerufen worden war, so hat die Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts durch ihren Bedarf an Arbeitskräften eine Ost-West-Bewegung zunächst ostdeutscher, dann zunehmend slawischer Bevölkerungsgruppen bewirkt. Die Agrarkrise, die seit dem Einströmen überseeischen Getreides nach Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa chronisch wurde, hat zu dieser Ost-Westwanderung beigetragen.

Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung aber stellen sich die deutschen Volksgruppen Ostmitteleuropas dar wie Inseln in einem langsam ansteigenden Meer. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist in dem säkularen deutschen und europäischen Ostsiedlungsvorgang eine rückläufige Bewegung im Gange, ein allmähliches Zerbröckeln all der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüge, die jene Ostsiedlungsbewegung hier aufgebaut hatte. So aber erscheint die Austreibung der Deutschen in den Jahren 1945 und 46 und — da die bürgerliche Gesellschaft auch der übrigen ostmitteleuropäischen Völker dem gleichen Schicksal verfiel — der Zusammenbruch des durch Jahrhunderte aufgebauten Ostmitteleuropa wie der Abschluß einer jahrzehntelangen, ja über mehr als ein Jahrhundert sich erstreckenden Entwicklung.

Wie immer die Rechtslage sei und wie heilig der Anspruch auf eine Wiederherstellung des Rechtes und Rückgabe der Heimat an die so unmenschlich daraus Vertriebenen: eine solche säkulare Entwicklung läßt sich durch eine Rückerstattung von Siedlungsräumen und Zurückführung von Menschengruppen nicht einfach zum Stillstand bringen oder in ihr Gegenteil verkehren. Dazu bedarf es ganz anderer Voraussetzungen. Sind diese nicht gegeben, dann ist jede Restitution oder Rückführung auf Sand gebaut, zu neuerlichem Abbröckeln zu einem und zweiten, dann aber endgültigen Zusammenbruch vielleicht verurteilt. Die Rückkehr der Vertriebenen — nicht nur der Deutschen, sondern auch der emigrierten Gruppen der anderen Völker — in ihre ostmitteleuropäische Heimat erfordert also nichts geringeres als einen Wendepunkt der Weltgeschichte.

Das ist nicht gesagt, um mutlos und untätig zu machen. Im Gegenteil: es will zeigen, in welch tiefen Schichten die Frage der Rückkehr in die Heimat verankert ist. Es geht nicht nur darum, daß die vertriebenen Völker und Volksgruppen mit dem ständigen Hinweis auf ihr Recht, mit der Stimmenzahl geschlossener und imponierender Gruppen, vielleicht mit kluger Taktik und Ausnützung der weltpolitischen Lage die Möglichkeit einer Rückführung in die Heimat erkämpfen — um dieses freilich auch —, sondern noch um etwas ganz anderes: darum nämlich, daß sie, zunächst als Bringer der Krise und Auflösung in die europäische Gesellschaft gedacht, in Wirklichkeit zu Fermenten der Erneuerung, der Heilungskrise dieser Gesellschaft werden. Die tiefsten Kräfte, Volkstum, Heimat, der Sinn des Sozialgefüges, die religiösen Grundkräfte, sind bei ihnen zur Diskussion gestellt und der Überprüfung unterworfen; Energien der Verzweiflung sind wachgerufen worden und haben schon zu einer Revolutionierung des westdeutschen Wirtschaftslebens beigetragen. Sie müssen nur, mit einer Neuorientierung ihres Geschichtsbildes und ihres Sendungsglaubens, diese erneuernde und heilende Funktion als ihre Aufgabe auf sich nehmen und — in einer scheinbaren Abkehr von der sie noch so sehr im Bann haltenden Heimat — jetzt und hier an dem Bau der lebensfähigen Gesellschaft, des gesunden Sozialgefüges, des aus der Tiefe lebenden Volkstums arbeiten, die allein imstande sein werden, eine neue Ordnung Mittel-europas und Ostmitteleuropas aufzurichten und durchzuhalten. Diese Bewährung hier steht in unmittelbarem, ursächlichem Zusammenhang mit der Wiedergewinnung der Heimat, ist eine Voraussetzung der Rückkehr dahin, so widerspruchsvoll das auf den ersten Blick scheint.

Die Aufgabe heißt also: nicht auf der tausendjährigen großen Leistung der Ostdeutschen liegen bleiben wie gestrandete Wale; nicht sich auf dem billigen Glauben ausruhen, man möge uns nur wieder in die alte Heimat zurückführen, dann sei alles gut! Sondern umgekehrt: die verlorene Heimat wieder verdienen durch die geschichtliche Leistung, die das Schicksal und die Stunde hier und jetzt von uns verlangt.

Kein „deutscher Drang nach dem Osten“

Woran ist Deutschland in Ostmitteleuropa gescheitert? An dem falschen ideologischen Ansatz, mit dem es an die Ordnung dieses Raumes ging, der ihm ja nicht nur durch Hitlers Eroberungsdrang, sondern auch durch die Krise des Versailler Systems und der von diesem geschaffenen Kleinstaatenanarchie zwischen Deutschland und Rußland zugefallen war.

Die neuere Geschichte Europas und seiner Hegemonialkriege hat es gezeigt: wie jedes der Völker des Kontinents sowohl als machtpolitische wie als ideologische Basis für eine europäische Ordnung zu schmal ist, so ist auch das deutsche Volk, bei all seiner Größe und selbst im Falle seiner immer wieder mißlungenen Geschlossenheit, als machtpolitische, besonders aber als ideologische Basis zu schmal für eine Ordnung des ostmitteleuropäischen Raumes. Die nationalsozialistische Ideologie mußte, da sie die deutsche Sprachgemeinschaft als zur Führung über die anderen Völker bestimmt proklamierte, den leidenschaftlichen Widerstand aller dieser, eben aus ihrer nationalen Wiedergeburt aufsteigenden und darum von einem mühsam errungenen, äußerst empfindlichen Selbstbewußtsein erfüllten Völker hervorrufen. Zu spät und im Grunde unaufrichtig war die ideologische Begründung des ganzen Unternehmens als eines antibolschewistischen Kreuzzuges, der gleichwohl noch wertvolle Kräfte dieser Völker wachgerufen hat.

In Wirklichkeit wäre eine Ordnung dieses Raumes nur auf der Grundlage einer übernationalen Idee möglich gewesen, einer Idee, in deren Namen sich die Völker Ostmitteleuropas, einschließlich der Deutschen, in Ehre und Selbstbewußtsein, als gleichberechtigte Partner hätten frei vereinigen können. Im Zeitalter des Nationalismus und des Nationalstaates war so etwas unmöglich. Die Möglichkeiten, die in dieser Richtung etwa die österreichisch-ungarische Monarchie bot, waren in dem leidenschaftlichen Ringen der erwachten Völker um das Selbstbestimmungsrecht der Sprachnationen außer acht gelassen worden. Auch die Deutschen hatten ja, selbst von jenem Erwachen der Sprachvölker ergriffen, ihrem Volk durch die Einfriedung in einen Nationalstaat am besten zu dienen geglaubt.

Ich möchte nicht in den Chor derer einstimmen, die die nationale Differenzierung der Völker Mitteleuropas an sich schon als einen Irrtum ansehen. Die dynastischen Staaten und Reiche dieses Raumes haben eben nicht die Elastizität besessen, um diese unvermeidbare Entwicklung aufzufangen, geistig und politisch zu verarbeiten, und sind daran zugrunde gegangen. Niemand kann — so schmerzlich heute auch das Fehlen eines solchen übernationalen Prinzips überall bewußt wird — hinter diese Entwicklung zurück. Die Sehnsucht der Sprachvölker, einschließlich der Deutschen, mit den Ihren in einem Staate vereint zu sein, ist ein Faktor, der in jede Neuordnung Mitteleuropas wird einbezogen werden müssen.

Allein das eine ist für unsere Fragestellung aus der jüngsten Geschichte klar geworden, daß eine Rückkehr in die verlorene Heimat nicht um der Gewinnung beziehungsweise Wiedergewinnung deutscher Positionen willen möglich ist. Das wäre eine zu schmale ideologische Basis. Es würde den Widerstand aller betroffenen Völker herausfordern und es würde nur eine Wiederholung bzw. Weiterführung jenes Mißverständnisses bedeuten, dem die ganze deutsche Ostsiedlungsbewegung verfallen ist, als sie — von den anderen Völkern wie von den Deutschen selbst — als eine Aktion des deutschen Volkes um deutscher Belange willen aufgefaßt wurde. Als eine solche hätte sie — das wird uns heute, da das Zeitalter des Nationalismus zu verdämmern beginnt, immer deutlicher bewußt — nie gelingen können. Aber die ganze große deutsche Ostsiedlungsbewegung von 850— 1850 war — und das ist das Geheimnis ihrer großen Leistung — im innersten Wesen etwas ganz anderes als eine solche Aktion um deutscher Belange und Positionen willen.

Eine der vordringlichsten Aufgaben der deutschen Ostvertriebenen in ihrer Verbannung wird es darum sein, über ihren, im Gefühl der Bedrohung durch das Erwachen der Nachbarvölker eng und geradezu monoman gewordenen Nationalismus hinauszuwachsen und ihr Dasein wie ihre Rolle in Ostmitteleuropa aus viel tieferen Schichten und Antriebskräften zu begründen als nur aus der Wahrung deutscher Belange oder aus der Verteidigung des großen nationalen Erbes.

Was hier gefordert wird, ist die intensive geistige und seelische Erziehung eines Volkes oder eben der vertriebenen Volksgruppen an sich selber. Es geht darum, Kategorien des Denkens und Seins, die in dem durch das Erwachen der Völker notwendig gewordenen nationalen Verteidigungskampf der letzten Jahrzehnte verschüttet und vergessen worden sind, wiederzugewinnen. Ohne diese geistige Leistung der vertriebenen Ostdeutschen würde selbst eine Verbreiterung der ideologischen Basis auf ein allgemein abendländisches, etwa antibolschewistisches Anliegen nur eine taktische Verbrämung von Zielen aus der vergangenen und verlorenen Epoche bedeuten, eine Selbsttäuschung oder Verlogenheit, die sich binnen kurzem bitter rächen müßte.

Vielleicht ist der Umstand, daß die vertriebenen deutschen Volks-gruppen Ostmitteleuropas durch die Vertreibung aus dem verengenden und einseitig machenden Volkstumskampf der letzten Jahrzehnte herausgenommen worden sind, eine Hilfe zu dieser ihrer Sclbsterziehung, zur Wiederentdeckung der tieferen Schichten und Quellgründe des nationalen Daseins, die eben nicht nationaler Natur sind, sondern allgemein menschlich und religiös.

Der Wink des Schicksals, der in der Herausnahme aus den jahrzehntelangen, erbitterten und verzerrenden Nationalitätenkämpfen liegt, wäre unverstanden und vergebens, würde er nicht eine Überprüfung des Völkischen auf seine Tragfähigkeit und auf seine tiefsten Quellen veranlassen. Solange die Verteidigung des Volkstums gegen die ständige Gefahr der Entnationalisierung, gegen die wirtschaftliche und geistige Auslaugung und Entpersönlichung notwendig war, konnte sie alle Kräfte einer minderheitlichen Volksgruppe oder eines Grenzstammes so sehr in Anspruch nehmen, daß daneben keine reife und große Leistung von allgemein menschlicher Gültigkeit möglich war. Solange dieses Gesetz galt, mußte es hingenommen werden, daß bedeutende Gestalten wie Stifter, Rilke, Kubin, Metzner, Lederer, Porsche — um nur einige Beispiele und nur aus dem Sudetendeutschtum zu nennen —, obwohl von ihrem Volkstum geprägt wie jeder bedeutende Mensch, doch in mancher Hinsicht aus dem Rahmen ihrer Volksgruppe herausfielen und mit der Bezeichnung „sudetendeutsch" irgendwie usurpiert und nicht hinreichend gekennzeichnet waren. Damals konnte es sogar als der Auftrag der ostdeutschen Volksgruppen gelten, dem in diesen Dingen oft ahnungslosen Binnendeutschtum gegenüber die tiefe Bedeutung des Volkstums als der Quelle aller großen, auch der über die eigene Nation weit hinausreichenden Leistungen zu betonen und zu verteidigen. Auch heute, im Exil unter den Binnendeutschen, ist etwas von diesem Auftrag in Geltung geblieben: die Vertriebenen tragen dazu bei, daß im gesamten deutschen Volk die im Schutze eines starken Nationalstaates zugunsten des äußeren Machtapparates gern vergessenen tieferen Kräfte des Volkstums besser verstanden und gewürdigt werden. Gleichzeitig aber muß doch klar werden, daß Volk und Volkstum nicht Selbstzweck sein kann, daß es sich dabei doch nur um Nährboden und Quellgrund handelt, der freilich in unserer Zeit erhöhter Sorgfalt und Pflege bedarf, der aber — trotz Lagarde — nicht ausreichender Grund und Inhalt einer Philosophie und einer Weltanschauung ist.

Hier waltet eine eigentümliche Heteronomie der Zwecke: Herder hat einen ganzen Kulturkreis von Völkern zu eigenem Leben und persönlicher Prägung erweckt, indem er sie nicht als letzten und höchsten Wert unter den Gestaltungen der Menschheit proklamierte, sondern gerade dadurch, daß er sie aus einer besonderen Leistung für ein höheres Ganzes, eben für jene Menschheit, und aus einer ihnen zugewiesenen Rolle im Schöpfungsplan Gottes rechtfertigte. In dem Augenblick aber, als der integrale Nationalismus einer darwinistisch denkenden Epoche aufhörte, nach dieser Rechtfertigung aus der nächsthöheren Ebene zu fragen, als er die Nation zum letzten und höchsten Wert erhob und zum Selbstzweck mähte, da hatte er ihr die geistige und sittliche Grundlage entzogen und sie im tiefsten unschöpferisch gemäht. Daher die Enge und Sterilität, der öde Provinzialismus gerade der sih im Verteidigungskampf um ihr Volkstum verzehrenden grenzdeutshen Volksgruppen und der kleinen Völker Ostmitteleuropas in der zweiten, vom integralen Nationalismus geprägten Phase ihres nationalen Erwachens. Es war jene Enge, die gerade die besten Geister jener Gruppen und Völker zwang, über ihre Heimat hinauszuwachsen und sih ihr niht selten zu entfremden.

Diesen epochen-und situationsbedingten Nationalismus zu überwinden, ist uns heute aufgegeben und — möglih. Er ist niht überwunden durh einen wurzellosen Internationalismus, der gar niht weiß, um was wir jahrzehntelang gekämpft haben und um wessen willen wir aus der Heimat vertrieben worden sind. Die jüngere Generation der Vertriebenen sollte sih diese Überwindung des Nationalismus niht zu billig machen. Denn der Nationalismus — das ist die große Täuschung seiner Gegner — ist gar niht überwunden, wenn man sein Anliegen niht kennt oder ignoriert, sondern erst, wenn man es mithereinnimmt und einordnet in eine Hierarhie der Werte und Zwecke.

Dies zu tun, den Nationalismus auf jene tiefere Weise zu überwinden, und diese Art von Überwindung dem deutschen Volke und der westlihen Welt vorzuleben, ist Aufgabe der vertriebenen Volksgruppen und Vorbedingung ihrer Rückkehr in die verlorene Heimat. Diese Rückkehr aber muß tiefer begründet werden als aus dem Bereih nationaler Belange und Rechte: Nirgends so sehr wie im östlichen Mitteleuropa stehen nationale Belange gegen nationale Belange, wirklihe oder vermeintliche Rehte gegen wirklihe oder vermeintliche Rehte. Dies ist niht einfah mit einem moralishen Defekt, etwa einem vermessenen Nationalismus der beteiligten Völker zu erklären, sondern ein Ergebnis des nationalen Erwachens aller dieser Völker im 19. Jahrhundert. Es ist nur zu lösen mit Hilfe einer Ordnungsidee, die aus einer höheren als eben der nationalen Ebene stammt. Und eben darum die Notwendigkeit einer Gewinnung dieser Ebene als Voraussetzung der Rückkehr.

Blick nach dem Osten Neben diesem weiteren Blick über die geshihtlihen und ideologishen Grundlagen und Voraussetzungen einer Rückkehr in die Heimat ist aber auh eine Klarheit darüber notwendig, was dort gegenwärtig geshieht.

Viel zu sehr gehen Presse und Nachrichtenwesen der vertriebenen Volksgruppen und der Emigrationen von dem begreiflihen Wunsch $ihrer Leser und Hörer nah Gerehtigkeit und Genugtuung aus. Die Deutshen und die Führungsshihten der anderen ostmitteleuropäischen Völker waren die Träger und Gestalter der Zivilisation, der gesellschaftlihen und geistigen Kultur ihrer Heimat. Da sie daraus vertrieben sind, kann dort nah ihrer Auffassung nur Verfall und Rückgang eintreten, Verödung, Versteppung und — mit der Ansiedlung asiatisher Völkershaften — Barbarei und Primitivismus. Tatsählih treffen jeden Tag Nachrichten ein, die diese vorauszusehende und logishe Entwicklung beweisen. Alles was uns dort an Zivilisation und Kultur, an Volkstum und an persönliher Freiheit teuer war, ist einem unheimlich raschen Verfall preisgegeben. Mehr vielleicht noh als der persönliche Verlust an Besitz und Heimat alarmiert uns die Beobachtung von dem Untergang eines Kulturkreises, wie er sih hinter dem Eisernen Vorhang vollzieht.

Tausend Jahre europäisher Geschichte werden, so sheint es, in Ostmitteleuropa ungeshehen gemäht.

Allein nihts ist gefährliher, als wenn wir nur diese eine Linie der Entwicklung sehen. Nihts kann die vertriebenen oder emigrierten Gruppen schneller aus der Entwicklung ihrer Heimat ausshalten, als wenn sie ihr Augenmerk nur auf diese eine, ihr Gerechtigkeitsgefühl so sehr befriedigende und von einer allzu billigen antisowjetishen Propa-ganda allein hervorgehobene Seite des tiefgreifenden Wandels in ihrer verlorenen Heimat richten.

Zunächst muß die Versuchung überwunden werden, alles was im Osten geschieht, mit unseren eigenen Wertmaßstäben zu messen. Da sind etwa die ständig wiederholten Säuberungen, die uns wie eine unerträgliche Bedrohung der persönlichen Sicherheit und wie eine dauernde und unverständliche Selbstschwächung des Regimes erscheinen. Für die östliche Herrschaftsstruktur aber bedeuten sie das normale Mittel, sich eine ständig erneuerte, unbedingt ergebene und auf den immer wiederholten Beweis ihrer Leistung und Hingabe angewiesene Gefolgschaft zu sichern. Diese Verbreitung von Furcht und Unfreiheit ist also keine Schwächung, sondern eine Stärkung und das eigentliche Lebensprinzip einer solchen, darauf ja beruhenden Herrschaftsform, wie sie schon Montesquieu an dem Bilde der orientalischen Despotie gekennzeichnet hat. Sie würde sich selbst aufgeben, wollte sie zu humaneren Formen übergehen. Für jahrhundertelang dazu erzogene Menschen ist eine solche Herrschaftsstruktur selbstverständlich, und nur die ebenfalls jahrhundertelang abendländisch erzogenen Völker Ostmitteleuropas reagieren darauf mit Selbstmord oder Massenflucht. Es ist sehr ungewiß, ob nicht auch in diesem Raum eine Umerziehung zu jener, auf Furcht und Austauschbarkeit der Funktionäre beruhenden Herrschaftsform erfolgt.

Wenn wir uns unserer Werteordnung gewiß sind — sind wir das wirklich? —, so ist damit immer noch nicht gesagt, daß diese Werteordnung eine inzwischen zu einer anderen Werteordnung umerzogene Völker-gruppe in Ostmitteleuropa überzeugen wird. Mit Sowjetzonenflüchtlingen, die doch als Flüchtlinge, also in jene Werteordnung nicht passend, herüberkommen, sind nachdenklich machende Aussprachen über dieses Thema möglich. Von ihnen schon wird unsere Werteordnung einer scharfen und nüchternen Prüfung unterzogen. Wie erst von den Völkern, die durch Jahre und vielleicht Jahrzehnte unvermerkt verwandelt worden sind.

Die Auseinandersetzung mit ihnen wird auf einer genauen Kenntnis und auf einem Verständnis dessen beruhen müssen, was sich inzwischen hinter dem Eisernen Vorhang in Ostmitteleuropa wirklich vollzieht. Das ist aber nicht nur jener Untergang eines Kulturkreises mit allem, was uns darin teuer war, sondern auch der Aufbau einer anders entworfenen und auf anderen Wertmaßstäben beruhenden Welt.

Da werden etwa die wirtschaftlichen Verbindungen und Strukturen nach einem auf Jahre hinaus berechneten Plan nach dem Osten um-orientiert; es gibt darüber eingehende Untersuchungen. Da wird etwa ein Land wie die Slowakei mit gewaltiger Anstrengung industrialisiert; mag sein, unorganisch, überstürzt, unter Opferung von Hekatomben an menschlichem Leben und Glück: aber das Land ist nicht wiederzuerkennen, die Menschen werden anders und beginnen anders zu denken, soweit sie noch da sind. Eine Zurücknahme dieser Entwicklung ist nicht mehr möglich. Die Slowakei — wenigstens ihr industrialisierter Teil — wird nie mehr ein Land der Romantik, der Hirten und Bauern, des unverfälschten Volkstums werden. Ähnliches gilt von anderen neuindustrialisierten Gebieten. Der Westeuropäer, an eine organische, auf allen Gebieten gleichmäßig fortschreitende Industrialisierung und Technisierung gewöhnt, wird das Nebeneinander von primitivster Zurückgebliebenheit und gewaltsam vorwärtsgetriebener Technisierung als barbarisch empfinden. Er wird von der mit dieser gewaltsamen Industrialisierung verbundenen neuen Art von Leibeigenschaft und Sklaverei entsetzt sein, wie es menschlich fühlende Gesellschaftskritiker angesichts der Lage des Proletariats im Anfangsstadium der kapitalistischen Industrialisierung auch waren. Aber er wird mit den Ergebnissen dieser Industrialisierung in Ostmitteleuropa rechnen müssen.

Wenn sich der Eiserne Vorhang öffnet und neue Beziehungen und Umsiedlungen von Menschen möglich werden, dann darf in Ostmitteleuropa nicht eine Wiederherstellung alles dessen einsetzen, was vorher da war, und sei es noch so romantisch und liebenswert. Eine Restauration wird nicht überzeugen, sondern nur eine wirkliche Antwort auf die inzwischen in Ostmitteleuropa gestellte These.

Wie sieht es mit den Voraussetzungen zu dieser Antwort aus? Vorläufig geschieht entmutigend wenig. Der deutsche und europäische Westen hat dem Osten seinen Rücken zugekehrt. Ganz abgesehen davon, daß die Gewinnung von Nachrichten und wirklichem Einblick unendlich erschwert ist: man bemüht sich auch kaum darum. Die Emigranten der nichtdeutschen Völker Ostmitteleuropas sind schon in ihrer Eigenschaft als Emigranten lebhaft daran interessiert, die Entwicklung in ihrer Heimat zu verfolgen. Es fragt sich nur, durch welche und durch wie verschiedene Brillen sie sie sehen. Die ostdeutschen Vertriebenen, in denen noch die Kenntnis der Völker, des Raumes und seiner Gesetze lebt, suchen Genugtuung in den Berichten von dem Verfall und der Krise, die ihre Austreibung in der alten Heimat hervorgerufen hat. Oder sie wollen wie die aus der Front in die Etappe zurückgezogenen Krieger von Front und Feindlage nichts mehr wissen: sie sind froh, nicht mehr polnisch oder tschechisch sprechen zu müssen, sie beginnen in westdeutschen und westeuropäischen Problemstellungen zu denken und suchen sich gerade darin anzupassen, worin sie es am wenigsten sollten: nämlich in der Ahnungslosigkeit über die Völker und Probleme Ostmitteleuropas.

Wacherhaltung der Kenntnis Ostmitteleuropas Wenn es in irgend einer Hinsicht gilt, ostdeutsches Erbe zu bewahren und zu retten, so weniger in der stolz betonten Leistung der ostdeutschen Vergangenheit, als gerade in der Wacherhaltung der Kenntnisse von den Völkern und Sprachen des Ostens.

Hier liegt eine Aufgabe für die junge Generation der Vertriebenen:

aus ihr muß der Nachwuchs an modern eingestellten Forschern und Kennern des Ostens kommen. Sie muß die Vorurteile mancher ihrer Väter überwinden, die es als ehrenrührig ansahen, mit den Völkern des Ostens in deren Sprache zu sprechen. Sie muß die nun endlich mit Mühe aufgebauten Einrichtungen zum Studium des Ostens und seiner gegenwärtigen Entwicklung benützen, betreuen, ausbauen und fruchtbar machen. Das ist viel wichtiger als die von den Vertriebenenorganisationen zwar verdienstvoll und mit Recht, aber doch einseitig betriebene Pflege der Vergangenheit. Schließlich noch eines: in ihrem Bereich geht die Sowjetunion daran — mit Methoden allerdings, die nur ihr möglich sind —, das Nationalitäten-problem zu lösen. Sie schreibt den Völkern ihrer Satellitenstaaten vor, mit wem sie Freundschaft zu pflegen und wen sie zu hassen haben.

Erbfeindschaften scheinen begraben. Volksgruppen-und Volksinselprobleme werden gelöst, indem solche Volksgruppen oder-inseln verschwinden. Die neue Werteordnung drängt das Nationalitätenproblem auf eine andere Ebene zurück. Es wiederholt sich die erste Phase der sowjetischen Nationalitätenpolitik, wie sie in Rußland die zwanziger Jahre kennzeichnete: Mensch und Gruppe werden nur nach ihrer Stellung zum Marx-Leninismus, oder besser, nach ihrer Funktion im Sowjetsystem gewertet. Ihre Sprache und Nationalität ist eine Frage zweiter Ordnung.

Sie kann gepflegt und gefördert werden, wie sich das ein Nationalstaat niemals erlauben könnte, ohne seinen inneren Zusammenhalt zu gefährden.

Daß diese Lösung der Nationalitätenfrage keine dauernde ist, daß in Rußland schon heute angesichts des großrussischen Nationalismus eine neue Epoche der Nationalitätenkämpfe begonnen hat, mag zunächst außer acht bleiben: Ostmitteleuropa hat eine neue Phase seiner Nationalitätengeschichte eröffnet, schon dadurch, daß das Nationalitäten-problem unter den anderen Problemen an eine andere und weniger zentrale Stelle gerückt ist als in der bürgerlichen Zeit. Die Gefahr zeichnet sich ab, daß, wenn der Eiserne Vorhang aufgeht, die westliche Welt mit einer in Ostmitteleuropa schon überholten Phase des Nationalitätenproblems wiederkommt, in Problemstellungen und Denkgeleisen zu arbeiten beginnt, die dort schon überwunden sind. Denn nur in einer bürgerlichen Epoche und in der Zeit der nationalen Wiedergeburten konnte das Nebeneinander der Völker solche Formen annehmen, wie es das im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert getan hat.

Von hier aus erhält die in diesen Überlegungen des öfteren aufgestellte Forderung nach einer neuen und konstruktiven Lösung des Nationatilätenproblems besondere Bedeutung. Auf der Ebene der nationalen Geschichtsideologien des 19. Jahrhunderts, in den Denkgewohnheiten einer bürgerlich-nationalen Gesellschaft ist eine solche Lösung nicht möglich. Dagegen sind gerade in den Nationalitätenkämpfen der ersten Jahrhunderthälfte, in den Versuchen territorialer und kultureller Autonomien, einer Einstufung des Nationalen in eine Ordnung auch anderer politischer Werte, Ansätze zu einer Völkerordnung gegeben, die Freiheit und Würde des Einzelnen wie der nationalen, religiösen oder sonstwie gekennzeichneten Gruppe mit den Erfordernissen großräumiger, politischer oder wirtschaftlicher Gebilde vereinigen kann.

Die Arbeit an der Vorbereitung einer soldien Völkerordnung aber wird zum besonderen Auftrag an die vertriebenen emigrierten damit und Gruppen aus diesem, von Nationalitätenkämpfen so sehr zerrissenen und an den Rand des Abgrunds gebrachten Raum. Sie ist die Vorbedingung für die Rückkehr der Vertriebenen in die Heimat: denn ohne das Angebot einer neuen und über die vergangene Epoche des bürgerlichen Nationalitätenhaders wie über die sowjetische Lösungsmethode hinausweisenden Lösung des Nationalitätenproblems, ohne das Bild einer Ordnung, in der die Völker ohne Furcht vor Entnationalisierung als gleichwertige und gleichberechtigte Partner einer Völkergemeinschaft leben können, wäre eine Wiederkehr der Vertriebenen und Exilierten in ihre Heimat nicht überzeugend und nicht von Dauer.

Schlußwort

Dies sind nur einige Hinweise auf das, was die Vertriebenen Volks-gruppen innerlich leisten müssen, wenn sie sich die Voraussetzung für eine sinnvolle Rückkehr in die verlorene Heimat schaffen wollen. Sie umfassen nicht alles, was dazu notwendig ist. Was hier also nicht steht, ist damit nicht schon als unwesentlich oder überflüssig gekennzeichnet: etwa Organisation, politische Willensbildung, Propaganda, Diplomatie, Taktik und politische Strategie. Aber es geht — das ist die Absicht dieser Ausführungen — nicht nur um die Gewinnung einer für die Rückerstattung der geraubten Rechte und Territorien ausreichenden politischen Macht oder um die Entfaltung einer die Inhaber dieser Macht hinreichend beeindruckenden Propaganda. Es gehe um eine geistige und sittliche Leistung.

Es ist im Leben der Völker wie im Leben der einzelnen Menschen: der direkt angestrebte und vielleicht auch wirklich erreichte Zweck erweist sich nicht selten im Augenblick der Erfüllung als nichtig, als sinnlos und unhaltbar, als Eintritt in eine ausweglose Bahn des Verfalls oder Untergangs. War aber das Streben auf ein Ziel aus einer höheren Ebene gerichtet, in Selbstlosigkeit oder wenigstens frei von dem Kampf der ausschließlich darauf konzentrierten Energien, dann ist die Erfüllung plötzlich da, gleichsam als Nebenerfolg und als Mitgift jenes höheren Zweckes. Nicht nur im inneren Leben der Seele, auch im großen Leben der Völker gilt ein Gesetz wie jenes Bibelwort: „Suchet zuerst das Reich Gottes! Das übrige wird euch dareingegeben werden“.

Ein so ungeheurer Zusammenbruch wie der des deutschen Ostens und der ostmitteleuropäischen Ordnung ist nicht ohne jahrzehntelange Vorgeschichte, nicht ohne einen schon vorher erfolgten geistigen Verlust dieses Ostens vor sich gegangen. Etwas so Gewaltiges wie eine Wieder-gewinnung und Neugestaltung der verlorenen Heimat kann nicht ohne eine wirkliche und tiefe, bis ins Religiöse hinabreichende geistige Erneuerung der betroffenen Volksgruppen erfolgen. Man könnte fast zweifeln, ob das im Krampf der defensiven Nationalitätenkämpfe der letzten Jahrzehnte vor der Austreibung eng und einseitig gewordene Geschlecht zu so etwas in der Lage ist. Vielleicht hat die Langfristigkeit des über uns verhängten Exils darin ihren Sinn. Wie dem auch sei: die Wieder-gewinnung der verlorenen Heimat ist nicht eine Sache des Wartens auf eine günstige weltpolitische Situation und des Zusammenhaltens vertriebener Volksgruppen in marschfertigen Organisationen, sondern sie ist Sache einer intensiven, auf Generationen hinaus berechneten, auf die Zukunft gerichteten, geistigen, sittlichen, erzieherischen Arbeit, eines tiefen inneren Wandels der betroffenen Völker und Volksgruppen. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Mohammed Ali „An die Nation" Radioansprache des pakistanischen Ministerpräsidenten vom 1. März 1954

Bernhard Brodie „Atomwaffen: Strategie oder Taktik?"

Prof. Dr. Theodor Eschenburg „Kurze Geschichte der Weimarer Republik"

Prof. Dr. Freiherr von der Heydte „Freiheit und Sicherheit in der modernen Demokratie"

Kurt Georg Kiesinger „Haben wir noch den Bürger? Die Problematik des Parteienstaates"

Jawaharlal Nehru „Ansprache des Indischen Ministerpräsidenten vom 23. Februr 1954 vor dem indischen Parlament"

P.... „Zwischen Amerika und Rußland — aus indischer Sicht"

Marques de Valdeiglesias „Spanien in Europa"

Adelbert Weinstein „Die WeltVerteidigung ist unteilbar" + + + „Atombilanz 1953 — Wirkung, Transport und Abwehr atomarer Waffen"

Englisches Weißbuch „Statement of Defense“

Eine Zusammenstellung der aktuellen politischen Literatur „Im Brennpunkt Zeitgeschichte"

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung Prof. Dr. Eugen Lemberg, 1903 in Pilsen geboren, war Dozent für Soziologie an der deutschen Karl-Ferdinand-Universität in Prag. Er ist Kenner der westslawischen Völker und Historiker. Neben seinen Schriften zur Soziolo-logie der Vertriebenen ist er durch seine „Geschichte des Nationalismus in Europa“ weiten Kreisen bekannt geworden. 1952 wurde er zum Hochschulprofessor ernannt. Z. Zt. ist Prof. Lemberg Kulturreferent im Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.