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Das Revier lebt nach harten Gesetzen. Die Sonderheiten des Ruhrgebietes | APuZ 5/1954 | bpb.de

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APuZ 5/1954 Das Revier lebt nach harten Gesetzen. Die Sonderheiten des Ruhrgebietes

Das Revier lebt nach harten Gesetzen. Die Sonderheiten des Ruhrgebietes

Sturm Kegel Gerhard Steinhauer

von Reg. -Baurat a. D. Sturm Kegel, Verbandsdirektor des SiedlungsVerbandes Ruhrkohlenbezirk. (S. V. R.) unter Mitarbeit von GERHARD STEINHAUER, Leiter des Informationsdienstes Ruhr Die Daten nadistehender Schilderung entstammen dem Arbeitsfeld des S. V. R. Für das Bildmaterial gebührt den Kommunen, den Organisationen und Verbänden, den Werken und Einzelpersonen herzlicher Dank.

Signaturen der Kohlechemie: Apparate ohne Dach und Haus.

Das Ruhrrevier, dieses Herzstück des Landes Nordrhein-Westfalen, aus dem 93 v. H.der westdeutschen Steinkohlenförderung, 75 v. H.der Produktion an Eisen und Stahl kommen, und das gewaltige Über-schüsse an Energie hinausschickt, um auch in entlegenen Räumen den Gewerbedrang zu entbinden — was ist das für ein Land? Dieser winzige Fleck auf der Landkarte, nur 2 v. H.der Bundesfläche, auf dem aber 10 v. H.der westdeutschen Bevölkerung eng zusammengedrängt leben — ist es wirklich eine Sphinx, voll von hintergründigen und ein wenig gefährlichen Rätseln? Das mag meinen, wer das Revier nur in dem schwankenden Licht sieht, das durch die Dunstschleier der Kühltürme und Konverter dringt. Wer hier zuhause ist, sieht in allem Mühen und Streben einen sehr fasslichen und klaren Sinn: den Menschen Heimat zu geben, einen gesicherten und liebenswerten Lebensraum. Ungewöhnlich ist nur, daß diese Heimat, anderwärts jedem als Geschenk in die Wiege gelegt, hier erst geschaffen werden muß, unter vielerlei Erschwernissen, die aus den Sonderheiten des Ruhrgebietes herrühren. Um diese Sonderheiten eben muß wissen, wer das Revier verstehen, seine Leistung richtig einschätzen, seine Probleme erkennen will. Die folgenden Darstellungen beschränken sich darum im wesentlichen auf die Merkwürdigkeiten des Ruhrgebiets, auf die eigenartigen Bedingungen, unter denen es seinen Platz an der Sonne suchen muß.

Stärker als andere Wirtschaftszweige war immer die im Ruhrgebiet vorherrschende Grundstoffindustrie Konjunkturschwankungen ausgesetzt.

Fließende Grenzen Mit der Frage „Wo sind wir?" beginnen schon die Verlegenheiten. Daß das Ruhrrevier am Nordhang des Bergischen Landes über Ruhr und Emscher hinweg bis ins Lippegebiet reicht und den Rheinstrom überquert. ist nur eine ungefähre Umschreibung —eine eindeutige, allgemeinverbindliche Grenzziehung gibt es nicht. Daß hier nur eine Eisenbahndirektion domiziliert, bildet die Ausnahme von der Regel vielfältiger Zertrennungen durch Verwaltungsgrenzen: zwei Landschaftsverbände, drei Regierungsbezirke, ebensoviel Oberpostdirektionen und Schiffahrtsverwaltungen partizipieren an diesem Raum, um nur einiges zu nennen. Eben aus dieser Not der verzwickten Zuständigkeiten heraus schuf sich das Revier im Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk eine eigene kommunale Körperschaft, die seit 1920 alle Städte und Gemeinden umklammert, welche unter dem Gesetz von Kohle und Stahl stehen und aus dieser Gemeinsamkeit heraus so vieles gemeinsam zu regeln haben. Der Bereich des Siedlungsverbandes erstreckt sich von Hamm bis zur holländischen Grenze, vom Ennepe-Ruhr-Kreis bis zum Landkreis Recklinghausen, 4 600 qkm mit 5 Millionen Menschen, die in elf Großstädten, sieben Mittelstädten, sieben vollen und zwei Teil-Landkreisen leben. In der Kernzone 2 500 Einwohner je qkm, in einer Siedlungsdichte also, die dreizehnmal so groß ist wie die des Bundesgebietes.

Wo der Bergbau umgeht, sinkt das Land. Weite Flächen würden sich in Sümpfe verwandeln, wenn nicht darüber ein engmaschiges Netz von Pumpwerken und künstlichen Vorflutern ausgespannt wäre. Die Aufnahme zeigt eine vom Wasser hart bedrängte Zeche vor dem Ausbau der Lippe.

Keine monströse „Ruhrstadt“

Die Reliefikarte macht anschaulich, wie sich die Oberflächenstruktur der Stadt Essen im Laufe weniger Jahrzehnte völlig verändert hat. Unberührt blieben nur die Flächen, unter denen keine Kohle anstand.

Der Fremde, der über den Ruhrschnellweg oder auf den großen Bahnen diese Kernzone durchquert, gewinnt aus der Reihung der Städte den Eindruck, als handele es sich hier um eine einzige monströse Stadt. Monströs nicht so sehr aus großstädtischen Akzenten, als vielmehr aus der bestürzenden, scheinbaren Inkonsequenz, mit der die Bebauung über das Land südlich und nördlich vom Hellweg, der Alten Handelsstraße, hingebreitet ist. Normalerweise ist jede Stadt eine Kulmination ihrer Landschaft, auf der Reise ein Ereignis, das am Horizont einer Ebene, an der Krümmung eines Flusses, aus einem Tal aufsteigt und an der Natur Maß nimmt. Zwar liegen auch hier Strecken freien Landes zwischen den Städten, aber sie sind schnell durchfahren und lassen, weil immer Zechentürme, Fabrik-silhouetten, Kirchen oder das blaugraue Gewölk der Kühltürme im Blick-seid bleiben, schon am Rande der einen Stadt die Nähe der anderen spürbar werden.

Der Baldeneysee, einer der künstlichen Stauseen im Ruhrtal, die die Funktion riesiger Klärbecken haben, darüber hinaus aber wegen ihrer land-schaltlichen Schönheit zu bevorzugten Erholungsgebieten geworden sind.

Jedoch der Augenschein von der monströsen „Ruhrstadt" trügt. Bei aller wirtschaftlichen und technischen Verflechtung haben auch diese Städte ihre ausgeprägte Eigenart. Jede hat ihr Rathaus, und der Eigenwille wie die Mentalität derer, die dort regieren und beraten, werden in der Stadtgestalt, im kulturellen, gesellschaftlichen Leben und in vielerlei anderem sichtbar. Diese Eigenständigkeit, in der kommunalen Selbstverwaltung verwurzelt, wird sorgsam gehütet. Das ist gut so, denn mit ihrer schöpferischen Fülle bildet sie den Damm gegen die nivellierende Flut der Vermassung. Aus der räumlichen Nähe aber, aus dem einzigartigen Beieinander tüchtiger Stadtgemeinschaften ergibt sich die Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme wie die Chance zu nachbarlicher Bereicherung. Das Ruhrgebiet ist eine föderalistische Stadt-landschaft. Das sei als Sonderheit Nr. 1 festgehalten.

Hier geht der ganze Emscheriluß durchs Bad, um seine Senkstoiie abzusetzen. Diese Kläranlage, die größte in der Alten Welt, mußte nach zwanzigjährigem Betrieb völlig neu gebaut werden, weil sie um 3 m abgesunken war.

Sog der Kohle und des Eisens Aber das Gebiet ist eine sehr junge Stadtlandschaft. Seit 1871 ist die Bevölkerungszahl gut um das Fünffache gewachsen. Von Kohle und Eisen ging der gewaltige Sog aus. Am Südrand des Reviers, im Bergischen Land, war die Eisenindustrie schon seit Jahrhunderten heimisch. Roteisenerz, Wasserkraft und Holzreichtum der umliegenden Wälder hatten sie entstehen lassen Am Unterlauf der Emscher bot seit 1750 Rasen-eisenerz eine Grundlage für Verhüttung. Steinkohle aber wurde in bescheidenen Mengen schon im Mittelalter geschürft, dort, wo die Flöze zu Tage ausstreichen, an den Hängen des Ruhrtals und manchmal als dunkle Streifen mitten in einem Fruchtacker. Dann begann der Siegeszug der Dampfmaschine. Der . Mechanikus" Dinnendahl, ein Bauernsohn von der Ruhr, führte sie im Bergbau ein. Mit ihrer Hilfe konnte man nun das Wasser bewältigen, das im Kohlengebirge in größeren Tiefen den Bergmann bedrängt. 1838 wurde zum ersten Mal die Deckschicht des Karbons durchstoßen, es entwickelte sich der Tiefbau. Die hohen Anlage-kosten dieser Zechen konnten nur herausgewirtschaftet werden, wenn viel Kohle gefördert wurde. Die Ruhrkohle begann, sich ihren Markt weithin zu suchen. Die Zechen im Emscherbecken fördern beste Koks-kohle: sie wurde der Magnet für die Großeisenindustrie.

Nur selten unterbrochen, zieht ein Strom von Gütern über den Rhein-Herne-Kanal. Vor allem werden Kohle, Erz, Grubenholz und Baustoffe auf dieser bedeutenden Binnenschiffahrtsstraße transportiert.

Es entstanden die vielen Hochöfen und mit ihnen die Verfeinerungsbetriebe. Aus den Martinsöfen und den „Birnen“, den großen Töpfen des Bessemer-und Thomasverfahrens fließt das Eisen in die Gießereien und Walzwerke, es wird in den großen und kleinen Schmieden gereckt und in den Stahlbaufirmen zu kühnen Konstruktionen verarbeitet. Ganz verschieden sind diese Werke an Gestalt und Größe, sie geben auch charakteristische Bilder im Revier, und doch sind sie nicht spezielle Sonderheit. Am ehesten noch kann die aus der Häufung der Anlagen entstehende große Menge an Abfall als Sonderproblem bezeichnet werden, während die Verflechtung ihres Beschäftigungsgrades mit Koksbedarf, Gasanfall und Kohleförderung nur dem Grad nach stärker ist als die Wirkung aus den übrigen Metallwerkstätten des deutschen Lebensraumes.

An der Mündung der Ruhr in den Rhein entwickelte sich, vom Gewerbefleiß des Reviers befruchtet, der größte Binnenhaien Europas {Duisburg)

An der Steinkohlenförderung der Montanunion ist das Revier zu 56 v. H. beteiligt, an der Kokserzeugung zu 57 v. H., zur Produktion von Roheisen steuert es 43 v. H. bei, und an den 39 v. H„ die das Bundesgebiet zur Gesamtproduktion der Europäischen Gemeinschaft an Walz-Werkserzeugnissen beiträgt, hat das Ruhrgebiet gleichfalls den weitaus größten Anteil.

Beispiel einer Siedlungszelle im Ruhrgebiet, durch Grünzüge und landwirtschaitliche Flächen abgeschirmt, der bewegten Tektonik des Ruhrlandes angepaßt. Die Auflockerung der Siedlungsstruktur ist eines der wesentlichen Anliegen des Siedlungsverbandes.

Die neue Kraft: Kohlechemie Aus den Kokereien kam die Kohlechemie. Sie zauberte aus Abfallstoffen die Wertstoffe wie Ammoniak, Benzol, Teere, Oele, Fette, Buna; und jene Phenole, die früher für die Fischerei ein schweres Ärgernis waren, heute aber die Grundlage einer Kunststoffindustrie sind, die sich ständig erweitert. In der jüngeren Schachtzone, vor allem zwischen Emscher und Lippe, wächst die Kohlechemie zu einer neuen Wirtschaftskraft heran. Ihre großartigen Apparaturen, hochgetürmt, ohne Dach und Haus frei in die Landschaft gestellt, sind die markanten Signaturen der Chemiezone.

Ein so spannungsreicher Raum wie das Revier ist auch ein fruchtbarer Boden für neues Bauschaffen. Viel Beachtung fand neuerdings dieses Junggesellenhaus, im Volksmund . Die Säge'genannt.

Ein anderes Geschöpf der Kohle, das Gas, bisher noch am Schürzen-bändel der Mutter Kokerei, beginnt mündig zu werden. Die Ruhrgas baut zur Zeit für 45 Millionen DM ein erstes Gaswerk, das sich vom. marktempfindlichen Hüttenkoks frei macht und Kohle voll vergast, Gas nur um seiner selbst willen erzeugt, 1 Mill, cbm täglich, soviel wie der Gesamtbedarf der Bevölkerung von Berlin. Irrtum zu glauben, Gas sei im Vergleich zum Strom altväterlich; der Bedarf an beiden Edel-energien ist ständig gestiegen und steigt weiterhin. Nach dem Gehalt an Wärmewerten ist die Gasproduktion ungefähr gleichgroß wie die Stromerzeugung.

Die weißen Baumsignaturen zeigen den Baumwuchs im Rauchschatten industrieller Großwerke des Reviers im Vergleich zu dem ungehemmten Baum-wuchs in einem rauchfreien Gebiet.

Den Konjunkturschwankungen ausgeliefert * Das Ruhrgebiet ist ein Land der Gegensätze: dem dröhnenden Arbeitslärm der Schwerindustrie eng benachbart die stille Geschäftigkeit der Landwirtschaft. Sie nimmt 52 v. H.der Fläche des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk in Anspruch; das ist gar nicht so viel weniger als im Bundesgebiet, wo 56 v. H.der Gesamtfläche landwirtschaftlich genutzt werden. Aber nur knapp 4 v. H.der Erwerbstätigen des Reviers arbeiten in der Forst-und Landwirtschaft (gegen 23 v. H. im Bundesgebiet) Ein Viertel der Ruhrgebietsbevölkerung lebt vom Bergbau, ein Fünftel vom Metallgewerbe. Manche Städte haben vor allem nach dem Kriege versucht, ihr Wirtschaftsgefüge aufzulockern, Konsumgüterindustrien, Handel, Wirtschaftsverwaltungen anzusiedeln. Essen hat darin Bemerkenswertes erreicht, auch Gelsenkirchen konnte noch zusätzliche Arbeitsplätze für Frauen schaffen. Aber im Ganzen genommen bleibt die Wirtschaftsstruktur des Ruhrgebiets unausgeglichen. Auch die Familie ist weniger krisenfest, weil sie meist auf nur einen Hauptverdiener angewiesen ist. Es gibt hier für Frauen viel weniger Erwerbsmöglichkeiten. Während im Bundesdurchschnitt von hundert Arbeitsplätzen 36 durch Frauen besetzt sind, beträgt die Vergleichszahl für das Ruhrgebiet nur 24; in den reinen Kohlenstädten wie Herne und Bottrop sind unter hundert Erwerbstätigen nur 18 bis 19 Frauen.

Das Schaubild veranschaulicht die Finanzkraft der Ruhrgebietsstädte nach dem Stand des Rechnungsjahres 1952 im Vergleich zu den übrigen Städten in Nordrhein-Westfalen und im Bundesgebiet.

Die Fieberkurve der Grundstoffindustrie ist auch die Fieberkurve des Reviers. Die Konjunkturschwankungen, denen sie immer schon stärker unterworfen war als andere Wirtschaftszweige und auch künftig sein wird, sind das Wohl und Wehe für alle. Sie wirken sich unmittelbar in den Haushaltskassen fast jeder Familie wie in den Gemeindekassen aus. Das ist die zweite Sonderheit des Ruhrgebietes.

KOHLEVEREDELUNG UND EISENINDUSTRIE IM RUHRKOHLENBEZIRK

Dynamisches Element: Die Ausbreitung des Bergbaues

Über den Bergbau muß noch einiges gesagt werden, was ihn von jeder anderen Art industrieller Tätigkeit unterscheidet. Er ist nämlich das dynamische Element des Ruhrgebietes, das sich selbst ständig wandelt und alles, was mit ihm zu tun hat — die Bevölkerung, die öffentlichen Einrichtungen etc. — zwingt, sich seinen Bewegungen anzupassen. Der Bergbau greift weiter um sich. Er folgt dem Zug der Kohlenflöze nach Norden, Nordosten und Westen. Erst war das Ruhrtal Mittelachse des Bergbaues, heute ist es das Emscherbecken, aber längst schon hat der Bergbau starke Vorausabteilungen in den Lipperaum und zum linken Niederrhein entsandt. Manche Zeche in der südlichen Schachtzone hat bereits die Tore dicht gemacht oder sieht den Tag nahen, da sie es tun muß. In den ausgekohlten Raum aber schiebt sich die Eisenindustrie.

Zwar gibt es auch unter der untersten Sohle noch Flöze, und förderungstechnisch wäre es kein Problem, an sie heranzukommen und damit die Lebensdauer der Anlagen zu verlängern. Das Problem ist die mit der Tiefe zunehmende Wärme, die sich mit jeden 30 Metern um ein Grad steigert und unterhalb der heutigen Abbaugrenze von 1200 m Grade erreicht, bei denen der Bergmann nicht mehr arbeiten kann. Der Wetter-strom, der unausgesetzt durch die Grubenbaue gejagt wird, damit der Bergmann atmen kann und vor gefährlichen Gasen bewahrt bleibt, würde künstlich tiefgekühlt werden müssen; ein wirtschaftlich tragbares Verfahren steht dafür heute noch nicht zur Verfügung.

Die Flöze fallen nach Norden zu stark ein, nicht regelmäßig, sondern mit vielen Wellen, so daß sie hier fast waagerecht, dort fast senkrecht liegen und mit ständig wechselnden Methoden und Hilfsmitteln abgebaut werden müssen. Mit der zunehmenden Tiefe der Schächte änderten sich auch die Maßstäbe über Tage. Die frühen Zechen waren kleinere Anlagen, sie lagen kaum 1, 5 km auseinander, die modernen Großzechen halten einen Abstand von durchschnittlich 6 km. Danach muß sich selbstverständlich auch die ganze Organisation des Lebens an der Oberfläche richten, die Anordnung der Siedlungen, Verkehrswege, Schulen . Verwaltungsstellen, ärztliche Versorgung und dergleichen mehr.

Sortenfülle der Ruhrkohle: Reichtum und Sorge Nehmen wir das Ausgreifen des Bergbaues und das Nachrücken des Eisens als eine dritte, die sich immer mehr ausprägende Streulage der Zechen als vierte Sonderheit des Reviers, so wäre als fünfte die Verschiedenartigkeit der Kohle zu nennen, die gleichfalls dazu beiträgt, daß sich das Ruhrgebiet bei seiner Fortentwicklung auf kein Schema verlassen kann, sondern immer hellwach den wechselnden Möglichkeiten folgen muß. Während beispielsweise in Amerika bei vielen Zechen nur eine einzige Kohlensorte in riesigen Mengen ansteht, gibt es im Ruhrgebiet die verschiedensten Sorten: Magerkohle, Gasflammkohle, Fettkohle, um nur die wesentlichen zu nennen. 27 Flöze gibt es hier insgesamt, und jedes hat eine andere Variante Kohle, taugt nicht für alle Zwecke; die eine beispielsweise läßt sich nicht verkoken, die andere nicht als Schmiede-kohle verwenden. Daraus entsteht das Sortenproblem.

Der Ruhrbergbau hat es in der Vergangenheit durch Verbundwirtschaft und Kohlensyndikat zu bewältigen gesucht. Das war eine Schutzmaßnahme, die auch zum Nutzen der Bevölkerung einschlug. Geriet eine Scachtanlage in Schwierigkeiten, weil ihre Kohlensorte gerade einmal einen schlechten Markt hatte, oder weil sie unter besonders ungünstigen geologischen Bedingungen gewonnen werden mußte, so sprangen ihr die Schwesterzechen bei und hielten sie am Leben, bis die Verhältnisse für sie wieder günstiger wurden. Man kann nämlich eine Zeche nicht vorübergehend stilllegen wie eine Fabrik, sie würde versaufen und wäre endgültig verloren. Die erzwungene Neuordnung der letzten Jahre hat dieses Schutzsystem leider empfindlich gestört.

Eine besondere Rechtsform hat sich für die Kapitalanteile der Zechen, der bergbaulichen „Gewerkschaften" entwickelt, es sind dies die Kuxe, welche nicht nur Gewinnverteilung erwarten ließen, sondern bei schlechten Ergebnissen, um der Erhaltung der volkswirtschaftlichen Kraft willen, den Kuxeninhaber zu geldlichen Zuschüssen verpflichteten. Diese Notwendigkeit, die volkswirtschaftliche Kraft der Urproduktion Kohle zu erhalten, wird über kurz oder lang zwangsweise zu einer ganz andersartigen Gesetzgebung über den Schutz der Kohle führen müssen. Das ist auch aus den folgenden Darlegungen spürbar.

Wachsende Bergschäden auf sinkendem Land Wo der Bergmann die Kohle baut, entstehen Hohlräume, das Gebirge bricht nach, und die Bewegung setzt sich bis zur Erdoberfläche fort. Das gesamte Flözpaket des Reviers ist bis zu 30, stellenweise bis zu 40 m dick. Zwar werden die ausgekohlten Räume weitgehend mit Abraum-material und Waschbergen verfüllt, „versetzt", wie es in der Bergmannssprache heißt. Aber der Gebirgsdruck preßte auch den dichtesten Versatz — den mit Preßluft eingeblasenen — noch um rund 40 v. H. zusammen. Wo der Bergbau umgeht, sinkt unweigerlich das Land. Ein unfaßbarer Tatbestand für den revierfernen Städtebauer und Architekten: daß der Grund, auf dem er für Jahrhunderte zu bauen wähnt, in einem Jahr um 30 bis 35 cm absinkt — in zwanzig Jahren vielleicht um 6 oder 7 m —, daß sich das Gefälle der Straßen oder eines Abwasserkanals im Laufe der Zeit völlig umkehrt, Versorgungsleitungen auseinanderreißen. Für den Kollegen im Revier sind diese Schwierigkeiten das tägliche Brot. Sie seien hier als sechste Sonderheit registriert.

Einstehen dafür muß der Bergbau. Seit der Vorkriegszeit hat sich seine Belastung durch Bergschädenregulierung mehr als verdreifacht. 1 DM im Durchschnitt muß vom Erlös jeder Tonne Ruhrkohle dafür hergegeben werden, 115 Mill. DM im Jahre, ungerechnet die Kosten für senkungshemmende Maßnahmen unter Tage. Es sind auch die besonders empfindlichen Eisenbahnanlagen und Kanäle immer wieder in Ordnung zu bringen, Brücken zu heben, Schleusen umzubauen, Verschiebebahnhöfe aufzuhöhen und wieder in die Waage zu bringen.

Die Last wächst ständig. Sie muß heute jeweils von jener Zeche getragen werden, die die Schäden verursacht. Wo sich die störempfindlichen, teuren Anlagen über Tage massieren, kann dadurch die Existenz einer Zeche gefährdet werden. Man wird bald Wege finden müssen, um diese Last auf breitere Schultern zu verteilen, ohne dabei die Verantwortung des Betriebes und sein Interesse zu schmälern, das Mögliche zu tun, um die Schäden klein zu halten. Unbekümmert darum, daß heute viele Rechtsanwälte im Ruhrgebiet von Bergschädenstreitigkeiten leben, erscheint es unerläßlich, das alte Bergschädenrecht unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen, ob es den Erfordernissen der Zeit noch gerecht wird.

Unersetzbares geht verloren Man sollte den Bergbau nicht nur als irgendeine Form privater Wirtschaftstätigkeit ansehen, bei der sich alles nach den Gesetzen der Rentabilität von selbst regelt. Die Kohle als wichtigster Grundstoff eines Industrievolkes ist ein unersetzliches Gut, mit dem so gewirtschaftet werden muß, daß noch möglichst viele Geschlechter nach uns etwas da-von haben. Als Wärmequelle mag ihre Bedeutung durch Erdöl und Atom-kraft im Laufe der Zeit vielleicht gemindert werden, als chemischer Rohstoff wächst sie ständig.

Bisher ist man mit der Kohle aber keineswegs so haushälterisch umgegangen, wie es volkswirtschaftlich vernünftig wäre. In der Schachtzone standen etwa 40 Milliarden t Kohle an. Davon sind inzwischen 11 Mrd. t abgeschrieben, aber nur 4, 5 Mrd. herausgeholt worden. Die übrigen 6, 5

Mrd t wurden nicht abgebaut, weil ihre Gewinnung unrentabel gewesen wäre! Man kann niemals mehr an sie heran, sie sind endgültig verloren. Audi für diese nicht marktfähige Kohle — nicht marktfähig vor allem wegen ihres hohen Aschegehaits — gibt es heute technische Verfahren, sie nutzbar zu machen, insbesondere zur Stromerzeugung in zechennahen Kraftwerken. Der Bergbau selbst drängt darauf, daß künftig keine Kohle mehr anstehen bleibt und abgeschrieben werden muß, nur weil sie unverkäuflich ist.

Kunstvolle Wasserwirtschaft stillt Riesendurst des Revier

Arbeit und Brot. Immer wieder überrascht den Fremden, der ins Revier kommt, die Nachbarschait von Bauernland und Schwerindustrie

Wasser ist der Lebenserhalter, kein organisches Leben kann ohne es bestehen. Aber auch die Industrie hat einen Riesendurst, viel größer noch als der der fast 5 Millionen Einwohner des Ruhrgebiets. Für die Gewinnung einer Tonne Kohle werden im Durchschnitt 2, 5 cbm, einer Tonne Koks 5 cbm, einer Tonne Stahl 10— 12 cbm, einer Tonne Synthesetreibstoff oder Buna 60 bis 90 cbm Wasser gebraucht. Vier Fünftel der gesamten Wasserförderung des Reviers beansprucht die Industrie.

Woher kommen diese gewaltigen Mengen? Was der Himmel als Regen spendet, fließt zum großen Teil, mit Staub und Schmutz vermischt, durch die Kanalröhren ab. Von 100 ha sind im Revier fast 20 ha bebaut oder gepflastert. Die Emscher, einst ein mäanderndes Flüßchen, gibt kein Wasser her. Sie ist ein hochtechni-

sierter Vorfluter geworden, die Cloaca maxima des Ruhrgebiets. Die Lippe, ohnehin durch die laufende Abgabe bedeutender Wassermengen zur Speisung der benachbarten Schifffahrtskanäle strapaziert, taugt wenig zur Versorgung mit Trink-und Brauchwasser, weil sie schon im Mittellauf versalzen ist.

Viel bewundert: kleiner Fluß mit großer Leistung Die Hauptlast hat also die Ruhr zu tragen. Über 1 Milliarde cbm qualifiziertes Wasser gibt sie jährlich her. Daß diesem kleinen Fluß eine so gewaltige Leistung abgewonnen wird, erweckt immer wieder die Bewunderung des Fachmanns aus aller Welt. Das wird durch ein äußerst kunstvolles System von Talsperren und Stauseen erreicht, wobei die einen für die Quantität, die anderen — als große Klärbecken, in denen sich die Selbstreinigungskräfte des Flusses entfalten können — für die Qualität sorgen. Ein Netz von örtlichen Kläranlagen für die Abwässer der Städte und Siedlungen die zur Ruhr entwässern, ist vorgeschaltet. Es bedarf noch der Ergänzung ebenso wie das Gefüge der Talsperren, der Wassersparkassen des Ruhrgebiets; sie reichen noch nicht aus, um wachsende Bevölkerung und Wirtschaft vor Wassermangel zu schützen, wenn einmal mehrere Trockenjahre aufeinander folgen. Eine jetzt fertiggcstellte Rückpumpanlage vom Rhein bis in den Essener Raum stellt eine Vorsorge dar, die bei solchem Notstand nicht mehr als das Leben erhalten, nicht aber die Räder der Wirtschaft in Betrieb halten könnte.

Nirgendwo geschieht soviel für die Reinhaltung Während Ruhrtalsperrenverein und Ruhrverband hier ihre Aufgaben fanden, haben es die Emschergenossenschaft ausschließlich und der Lippe-verband vorwiegend mit dem Abwasser zu tun. In zahlreichen Klärbecken werden ihm die Schmutzstoffe abgetrieben, und schließlich muß der ganze Emscherfluß noch einmal durchs Bad, in einer Kläranlage, die wohl die größte in der alten Welt ist. Sie ist übrigens soeben völlig neu aufgebaut worden, weil sie durch Bergsenkungen 3 m in die Tiefe gerutscht war und außer Funktion zu geraten drohte. In anderen Anlagen, deren jede rund 1 Million DM kostet, werden die Phenole aus den Kokereiabwassern herausgewaschen, und die Verbände wachen darüber, daß die Industrie auch ihrerseits alles tut, was getan werden kann, um ihr eigenes * Brauchwasser von schädlichen Stoffen zu reinigen, bevor es in die Abwässergräben gelangt.

Daß auch die Bemühungen um das Wasser eine Sonderheit des Ruhrgebiets darstellen, — in unserer Aufzählung also die sechste — erhellt schon aus der Tatsache, daß beispielsweise die Industrien und Städte am Rhein nur einen Bruchteil der Kosten für die Abwasserwirtschaft aufwenden wie die des Reviers. Allerdings wird die Selbstreinigungskraft des Rheins heute schon überfordert.

Große Gebietsteile würden versumpfen, wenn . . .

Wasser fließt zu Tal, das ist sein Gesetz. Im Ruhrgebiet aber wird der natürliche Lauf der Bäche und sogar des Hauptvorfluters, der Emscher, immer wieder durch Bergsenkungen gestört. Sie müssen ständig repariert, vertieft oder durch Aufhöhung der Deiche gesichert werden. Die Emscher-mündung ist nach dem Kriege mit einem Aufwand von 17 Mill. Mark zum dritten Mal um viele km nach Norden verlegt worden, damit sie wieder Vorflut zum Rhein erhielt. In anderen Fällen ist mit solchen Manipulationen aber nichts mehr auszurichten, weil die Zuläufe, die das Schmutzwasser heranbringen, inzwischen unter den Wasserstand der Emscher abgesackt sind. Da Wasser nun einmal nicht dazu zu bringen ist, den Berg hinauf zu laufen, muß es an diesen Stellen gesammelt und durch Pumpen gehoben werden. 54 Pumpwerke laufen heute im Emschergebiet Tag und Nacht. Täten sie es nicht, so würden weite Landstrecken samt Siedlungen und Industrieanlagen versaufen.

Diese „Polder" machen zur Zeit 17 v. H.der Gesamtfläsche des Emscherbeckens aus; 1970 werden es 30 v. H.sein. Sie müssen auch dann noch künstlich trocken gehalten werden, wenn der Bergbau hier abgewandert ist. Wer soll dann diese Last tragen, die viele Mill. DM jährlich ausmacht? Es wird notwendig werden, neue Poldergebiete künftig von Bebauung frei zu halten und sie mit Abfallmaterial, das heute auf Halden geschüttet wird, aufzufüllen. Der Braunkohlentagebau zeigt im Beispiel, wie die Schäden des Abbaues sofort wieder reguliert werden können. Im dichter bebauten Emschergebiet ist die Aufgabe viel schwieriger. Sie darf aber, nachdem sie klar erkannt ist, nicht auf günstigere Zeiten verschoben werden. Hier könnten auch die riesigen Mengen Müll untergebracht werden, die im Ruhrgebiet anfallen, und von denen die Städte bald nicht mehr wissen, wohin damit. Und die Flugasche, die nicht erst über Stadt und Land niederzuregnen brauchte, die vielmehr vorher abgefangen werden könnte, ehe sie in die Atmosphäre gelangt; die Technik hat die Mittel dazu in der Hand. Das Problem sind die; Transportkosten für diese Abfallmassen. Man wird, wie das beispielhaft bei der Wasser-wirtschaft des Reviers geschehen ist, Wege finden müssen, um an Lasten, die für einen einzelnen zu schwer sind, andere mittragen zu lassen, deren Interessen auf der gleichen Linie liegen, wenn nötig, alle Nutznießer der Energie, die über die Kohle der gesamten deutschen Volkswirtschaft zufließt.

Mit solchem absonderlichen Problem, daß sich große und wichtige Gebietsteile in Polder verwandeln, hat auch keine andere Landschaft zu tun. Halten wir das als die siebte Sonderheit des Ruhrgebietes fest.

In eigener Verantwortung

Die außerordentlich komplizierte Wasserwirtschaft des Reviers, die übrigens das Vorbild für wasserwirtschaftliche Maßnahmen in vielen zivilisierten Ländern hergegeben hat, wird in voller Selbstverwaltung von Wirtschaft und Gemeinden auf genossenschaftlicher Grundlage betrieben. Und das ist eine weitere, die achte Sonderheit: Das Ruhrgebiet hat immer zunächst bei sich selbst Hilfe gesucht und der eigenverantwortlichen Regelung schwieriger Aufgaben gegenüber der behördlichen Zwangs-regelung den Vorzug gegeben. Es hat auch die gewaltigen Kosten selbst getragen. Die Organe, die es sich dafür schuf, blieben auf diese Weise stets in engster Fühlung mit der Praxis. Mehr, als es eine Behörde sein könnte, waren sie der Unterstützung der Beteiligten sicher, weil die Genossen damit ja ihr eigenes Werk förderten. Und sie konnten erfinderischer, erfolgreicher, zweifellos auch viel billiger arbeiten, als es im Rahmen behördlicher Regelungen möglich wäre. Ähnliche Lösungen fand man für andere Gemeinschaftsaufgaben. Der Siedlungsverband ist ein weiteres Beispiel dafür. Auch der Bergbauverein und die großen interkommunalen und gemischtwirtschaftlichen Energieunternehmen sind hier zu nennen. Nach dem Kriege entstand die Gemeinschaft Nahverkehr, die alle Nahverkehrsbetriebe im Raume Ruhr, Wupper, Niederrhein umklammert und schon viel dazu beigetragen hat, das Reisen von Stadt zu Stadt bequemer und billiger zu machen.

Die Lastträger: Eisenbahn und Kanäle Eisenbahnen und Kanäle, die beiden großen Lastträger des Reviers, entwickelten sich vorwiegend in der Ost-West-Richtung. Das ergab sich schon aus seiner Lage in der Bruchfalte zwischen Gebirge und Ebene. Das Eisenbahnnetz ist hier, Zechen-und Werksbahnen eingerechnet, fast viermal so dicht wie im Bundesdurchschnitt. Zu einer befriedigenden Bewältigung des Personenverkehrs reichte es schon vor fünfundzwanzig Jahren nicht mehr aus. Damals entstand das Projekt einer elektrischen Städteschnellbahn auf eigenem Bahnkörper. Die landespolizeiliche Genehmigung lag schon vor. Das Projekt wurde aufgegeben, als die Eisenbahn einen großzügigen Ausbau des Revierverkehrs versprach. Eine entscheidende Verbesserung bahnt sich aber erst jetzt durch die Elektrifizierung an. Die räumlich'kleinste Eisenbahndirektion hat hier den stärksten Verkehrsanteil der gesamten Bundesbahn.

Die Nahverkehrsbetriebe haben sich neben der Befriedigung der rein örtlichen Bedürfnisse vor allem der Nord-Süd-Verbindungen angenommen, die von der Eisenbahn bisher nur wenig entwickelt worden sind. Die Kanäle des Ruhrgebiets zählen zu den wenigen Binnenschiffahrtsstraßen, die sich rentieren. Sie haben vor allem für den Transport von Kohle, Erz, Grubenholz und Baustoffen Bedeutung und sind für die Standortwahl der Hüttenindustrie mitbestimmend gewesen. Nadelöhre des Straßenverkehrs Die Straßen des Reviers sind zunächst vorwiegend nach den Bedürfnissen der einzelnen Gemeinden entstanden. Gemeinsam mit den Mitgliedsstädten und -kreisen hat der Siedlungsverband inzwischen 250 km leistungsfähige Durchgangsstraßen ausgebaut. Die wichtigste Verbands-straße, der Ruhrschnellweg, wurde — gleichfalls als Gemeinschaftsleistung des Reviers — Ende der zwanziger Jahre in Angriff genommen. Diese Hauptschlagader des Ruhrgebiets, die einzige zügige Verbindung der Städte miteinander und mit den Nadibarräumen, galt damals mit einer Fahrbahnbreite von 9 m als vorbildlich. Heute entstehen aus ihrer Enge gefährliche Kreislaufstörungen. Endlich, nach langem Drängen, ist der Ausbau dieses Teils der Bundesstraße 1 mit vier Fahrbahnen im Richtungsverkehr beschlossen worden.

Autobahnwünsche Es hätte nahegelegen, die Autobahn seinerzeit mitten durchs Ruhrgebiet im Zuge des alten Hellwegs zu bauen. Dann gäbe es heute kein Ruhrschnellwegproblem, und die Gemeinden wären von den großen Lasten befreit, die auch ihnen der Ausbau dieser Hauptschlagader aufzwingt. Man ging aber den Weg des geringsten Widerstandes und rückte die Autobahn an den Nordrand des Emscherbeckens, wo es ungleich weniger komplizierte Übergänge und keine störende Bebauung gab. Man kann dieses Ausweichen aber auch als kluge Vorleistung für das nördliche Industriegebiet ansehen, das sich hier immer kräftiger entfalten wird. Zu den ersten Ergänzungen der Autobahnstrecken sollten nun aber zwei Teilstücke gehören, die für das Revier bedeutungsvoll und zugleich wichtige Bestandteile eines künftigen europäischen Autostraßennetzes sein würden. Die Hollandlinie, die bei Oberhausen von der nördlichen Autobahn abzweigt und teilweise schon im Rohbau besteht, würde die niederländischen Häfen gut an die Richtungen Berlin und Süddeutschland anschließen. Die Linie Köln—Wuppertal—Kamen, bei der nur noch die Fertigstellung der steckengebliebenen Teilstücke zwischen Remscheid und Kamen fehlt, verkürzt die Verbindung von Köln an die Nordsee und nach Berlin wesentlich. Diese Südlinie brächte überdies eine wesentliche Entlastung für den Ruhrschnellweg und die Fernstraßen im Ennepe-Ruhr-Kreis und Hagener Raum, die heute einen sehr starken Verkehr durch die Nadelöhre alter Städte mit Straßenbreiten bis zu weniger als 5 m(!) pressen müssen. Diese Autobahn bringt aber erst dann eine wirkliche Entlastung, wenn die Zubringerstraßen aus den dichtbebauten Zentren gleichzeitig mit ausgebaut werden.

Wie sehr das Ruhrgebiet Grund hat zu fordern, daß mehr für den Ausbau seiner Durchgangsstraßen getan werde, erhellt schon aus der ungewöhnlichen Verkehrsbelastung. Hier massiert er sich mit der mehrfachen Dichte wie im Bundesdurchschnitt: Während im Bund auf einen Quadratkilometer 13 Kraftfahrzeuge kommen, sind es im Revier 43, in der Kernzone sogar 97! Und noch ärger sieht es mit der Unfallhäufig-keit aus; sie ist im Ruhrgebiet achtmal und in der Kernzone 21 mal so groß wie im Bundesdurchschnitt!

Wobei noch darauf hinzuweisen ist, daß Bund und Land hier viel weniger für den Straßenbau tun als anderwärts. Während nämlich in Nordrhein-Westfalen von 1 km klassifizierter Straßen 880 m und im Bundesdurchschnitt noch mehr als freie Strecke gelten, für deren Ausbau und Unterhaltung Bund und Land einstehen, sind in der Kernzone des Reviers von 1 km nur 290 m als freie Strecken deklariert; die Städte und Gemeinden haben hier also für 71 v. H.der Gesamtstrecke aller Bundesstraßen sowie Landstraßen 1. und 2. Ordnung die Straßenbaulast zu tragen! Das muß als neunte Sonderheit des Ruhrgebiets vermerkt werden.

Täglich zehnmal um die Erde Über den Umfang des Personenverkehrs geben neben der Bundesbahn die Leistungszahlen der Nahverkehrsbetriebe des Reviers Auskunft. Allein bei ihnen gab es im letzten Jahr 680 Millionen Beförderungsfälle. Jeder Bewohner des Ruhrgebiets hatte also im Durchschnitt 136 Fahrten mit der Straßenbahn oder dem Autobus gemacht. Die tägliche Leistung an gefahrenen Wagenkilometern entspricht dem zehnfachen Erdumfang!

Diese abnorme Ballung des Verkehrs auf engem Raum sei als zehnte Sonderheit des Reviers vermerkt.

Glücklicherweise nicht massiert: Das Wohnen

Moderne Großschachtanlage. Aus technischen Elementen hat sich eine neue architektonische Formensprache entwickelt iArch. Schupp)

Etwas ist im Ruhrgebiet glücklicherweise nicht massiert: das Wohnen. In Berlin z. B. kamen vor dem Kriege auf ein Wohngebäude im Durch-schnitt 29, in Breslau sogar 3 8 Einwohner, im Ruhrgebiet nur gut 10. Die Streulage der Zechen, das besondere Verlangen des Bergmanns nach dem Haus mit Garten als Ausgleich für seine vom Tageslicht abgeschlossene Arbeit, die traditionellen Wohngewohnheiten der einheimischen wie der aus ländlichen Gegenden zugewanderten Bevölkerung, schließlich auch Rücksicht auf die Bergsenkungen haben dazu geführt, daß die Bebauung niedrig blieb. Es sind hier nur wenig Mietskasernen im krassesten Sinne zu finden. Zwar herrscht das Etagenmiethaus mit 55 v. H. aller Wohngebäude vor, aber der Anteil des Einfamilienhauses darf mit 38 v. H. doch als überraschend hoch betrachtet werden, wenn man andere großstädtische Verhältnisse vergleicht. Der Bergmann wünscht auch heute, wie eine Umfrage der Sozialforschungsstelle Dortmund ergeben hat, fast ausnahmslos einen Garten zum Haus. Das Wunschbild der anderen Industrie-arbeiterschaft ist ähnlich. Darum herrscht nach wie vor im Wohnungsbau des Ruhrgebiets das zweigeschossige Wohnhaus vor; aus Gründen der besseren Wirtschaftlichkeit wie des Mangels an Bauland allerdings heute meist zu Zeilen oder Reihen zusammengefaßt.

Gesunder Drang zum Eigenheim Ein Zeichen für gesundes Denken ist auch der starke Drang zum Eigenheim. Dafür sprachen sich bei der erwähnten Erkundung gut 50 v. H.der befragten Bergmannsehepaare aus. Aber nur 11, 4 v. H.der Arbeiter-bevölkerung des Reviers — gegen 15, 6 v. H. im übrigen Nordrhein-Westfalen — haben Hausbesitz. Der Anteil erscheint besonders gering, wenn man bedenkt, daß hier 66 v. H.der Erwerbstätigen manuelle Arbeiter sind.

Im Ruhrgebiet sind 15, 6 v. H.des Gesamtbestandes an Wohnungen gemeinnütziges Eigentum, viermal so viel wie im Landesdurchschnitt. Die Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften haben entscheidend dazu beigetragen, daß gesund gebaut wurde. Aber auch das gemeinnützige Eigentum kann keine Bindungen schaffen, die denen des persönlichen Besitzes vergleichbar wären. Hier liegt eine große Aufgabe vor uns. Die Schaffung von viel kleinem Eigentum in Form von Eigenheimen und Wohnungseigentum ist nicht nur für die Entfaltung der Familie bedeutungsvoll, sie stellt im Ruhrgebiet auch einen politischen Faktor ersten Grades dar.

Daran muß beim künftigen Wohnungsbau gedacht werden, und zwar nicht nur in Bezug auf den Bergmann. Noch fehlen im Revier 320 000 Wohnungen. Und die Zunahme der Bevölkerung, die in den letzten Jahren durchschnittlich 3 v. H. betrug, bringt einen zusätzlichen Bedarf von rd. 30 000 Wohnungen im Jahr. Es sind also noch kräftige Korrekturen am Besitzstand der Bevölkerung möglich.

Die Wiege der Landesplanung Alle diese Kräfte nun, von denen hier gesprochen wurde: der Bergbau, die übrige Industrie, die Wasserwirtschaft, die großen Versorgungsunternehmungen, die Siedlungen und vieles mehr wollen sich im Raum entfalten. Aber hart im Raume stoßen sich die Dinge. Die Interessen überschneiden sich vielfach, oft stehen sie im Widerstreit mit einander. Ein paar Beispiele: Eine Zeche will eine Siedlung bauen, auf einem Gelände, das ihr gehört. Der Wasserwirtschaftsverband, der über die Kontaktstelle des Siedlungsverbandcs davon frühzeitig verständigt worden ist, stellt fest, daß die Fläche schon heute und bei künftigen Berg-senkungen später erst recht nicht ordnungsgemäß zu entwässern ist. Der Siedlungsverband vermittelt eine Geländeaustausch, und alles kommt zum guten Ende. Am Lippe-Seiten-Kanal planen fünf Zechen Hafenanlagen, jede eine für sich mit gesonderten Anschlußbahnen, die das Gelände zerschneiden würden. Nicht nur in der Pfalz kauft ein Bauer nicht gern vom Nachbarn eine Kuh, erst wenn ein Dritter das Geschäft vermittelt, macht er mit. Der Siedlungsverband schaltete sich ein, er überzeugte die Bergwerksunternehmungen, daß es viel vernünftiger und billiger ist, sich zusammen zu tun. In einer Stadt soll im Zuge einer Fabrikerweiterung eine neue Siedlung gebaut werden. Die Stadt ist eingepreßt zwischen Höhenzügen und Ruhrfluß. Siedlungsgelände gibt es innerhalb ihrer politischen Grenzen nur noch 4 km weit weg. Der Sied-lungsverband veranlaßt die Nachbargemeinde auf der anderen Flußseite, Gelände für die Siedlung bereitzustellen, wenige Minuten von der Fabrik entfernt.

Im Ruhrgebiet ist der erste Wirtschaftsplan geboren worden. Hier wurde also unter dem Zwang der Verhältnisse, aus dem Aufgabenbereich des Siedlungsverbandes heraus der Gedanke der Landesplanung entwickelt und erstmals praktiziert. Auf weite Sicht vorausdenken vie unerläßlich gerade hier die Planung auf weite Sicht und aus gründ-Jeher Kenntnis der Entwicklungstendenzen ist, läßt sich wiederum am Bergbau am besten dartun. Es wurde schon davon gesprochen, daß der Bergbau nach Norden drängt. Das geschieht nicht mit Siebenmeilenstiefeln, nicht von heute auf morgen. Solche moderne Schachtanlage, die eine Lebensdauer von 100 bis 150 Jahren haben mag, kostet rund 150 Mill. DM. Weitere 450 Mill. DM beanspruchen die Ausrüstung unter Tage, die Verkehrsanlagen über Tage, der Zubehör an Wohnungen etc. Man muß sich vor Augen halten, daß ein Großschacht etwa 5000 Bergleute bindet, mit Familienangehörigen und der sogenannten „Mantelbevölkerung" 20 000 Menschen! Schon der gewaltige Kapitalbedarf läßt hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Überdies dauert es mindestens 10 Jahre, bis eine neue Schachtanlage unter Tage soweit vorgerichtet ist, daß sie auf volle Touren gehen kann.

Man weiß heute also in vielen Fällen noch nicht, wann neu abgeteuft wird. Aber man weiß, wo und wie es geschehen wird. Es ist nicht mehr so wie in der Frühzeit des Tiefbaues, als man noch blind und nur von Hoffnungen getrieben in der Erdrinde herumstocherte. An jene Tage erinnert ein Kaminstumpf in der Nähe des Essen—Mühlheimer Flughafens. Hier hatten gutgläubige Leute 2 Mill. Goldmark für den Bau eines Schachtes hergegeben. Es wurde kein Krümel Kohle gefunden. Die schlauen Unternehmer ließen schließlich einige Karren Kohle von der Ruhr heranbringen, zeigten sie ihren Geldgebern als ersten Ertrag „ihres" Schachtes und lodeten mit diesem Trick noch soviel Geld aus ihnen heraus, daß sie sich eine Schiffskarte nach Amerika kaufen und sich auf diese Weise der tragischen Verantwortung entziehen konnten. Heute ist das Karbon durch Tausende von Bohrlöchern so gründlich durchforscht, daß man ohne dieses Risiko planen kann.

Nur aus intimster Kenntnis Aber man hat nicht nur an die Schachtanlage zu denken, sondern auch daran, daß dann eines vielleicht noch fernen, vielleicht schon nahen Tages neue Anschlußbahnen, Kanalhäfen, Siedlungen, Straßen, Versorgungsleitungen, Abwasserkanäle, Kläranlagen gebaut werden müssen. Wehe, wenn dann das Gelände vertan ist! Hier liegt eine der wichtigsten Aufgaben des Siedlungsverbandes als Planungsgemeinschaft. In ständiger Fühlung mit Wirtschaft und Gemeinden und allen Stellen, die daran Anteil haben, werden schon auf weite Sicht Verkehrsbänder festgelegt, die einer Bausperre gleichkommen. Es werden Siedlungsflächen, Industrie-gelände, Flächen für den öffentlichen Bedarf gesichert. Natürlich muß diese Planung beweglich bleiben, sie muß immer wieder den Verhältnissen angepaßt werden, die in ständiger Entwicklung sind.

Dafür ist die Kohlechemie ein Beispiel. Was sie heute ist, konnte vor 25 Jahren niemand mit Sicherheit voraussagen, und heute weiß niemand, welche Rolle sie nach weiteren 25 Jahren spielen wird. Eben diese Unwägbarkeiten, die zur Eigenart einer von Erfindungen, Forschungen und technischen Entwicklungen bestimmten Industriewirtschaft gehören, widerstreben allen bürokratischen Reglementierungen. Sie verlangen eine Raumordnung auf der Grundlage ständigen Gedankenaustauschs und intimer Kenntnis aller hier wirkenden Kräfte. Der Zwang zu vorausschauender, dabei aber elastischer Planung ist sicherlich in keinem anderen Raum so stark wie im Ruhrgebiet. Halten wir das als Sonderheit Nr. 11 fest.

Schutzwürdiges Grün Zum Lebensbedarf der Bevölkerung gehört auch die Erholungsfläche. In der Kernzone des Reviers war schon, ehe ordnende Kräfte eingriffen,, der Wald weitgehend verdrängt worden. Hier kommen heute 30 qm Wald auf den Einwohner, im ganzen Ruhrkohlenbezirk sind es 170 qm, in Nordrhein-Westfalen dagegen 600 und imBundesdurchschnitt 1400qm. Es galt also zunächst zu bewahren, was noch erhalten geblieben war. Die Handhabe dazu wurde dem Siedlungsverband durch ein Sondergesetz gegeben: Was er zur Verbandsgrünfläche erklärt, darf nicht ohne sein Einverständnis angetastet, in seiner Nutzung verändert werden. Weil in manchen Städten Waldbesitz kaum in nennenswertem Umfang vorhanden ist, werden neuerdings auch Teile der landwirtschaftlichen Flächen unter Schutz genommen, damit der Bevölkerung diese einzige Möglichkeit erhalten bleibt, in der offenen Landschaft Erholung zu suchen. Darüber hinaus sind jetzt Anfänge gemacht worden, durch Aufforstung von Ödland, Begrünung von Halden, Kanalufem und dergleichen das Revier freundlicher zu machen. Hier muß und kann noch viel getan werden. Die Mühen zahlen sich noch in anderer Weise aus: Baum und Strauch sind Luftfilter, sie können mithelfen, die Industrieluft zu verbessern. Mehr Aufgaben — aber weniger Geld als in anderen Gemeinden Riesenaufgaben, wohin man blickt. Aufgaben, die entweder nur hier entstehen, oder die doch nirgendwo sonst solche Ausmaße haben. Das gilt beispielsweise auch für das Schulwesen, die Jugendpflege, das Gesundheitswesen. Im Ruhrgebiet gibt es mehr Jugend als anderwärts. Das war schon immer so. Es hat nicht nur Ströme von Zuwanderern ausgenommen, sondern ständig von seinem natürlichen Bevölkerungsgewinn auch abgegeben. Auch heute stehen im Ruhrgebiet mehr Wiegen als im Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen. In den reinen Bergbaustädten liegt der Geburtenüberschuß bis zu einem Drittel höher! Hier werden also mehr Kindergärten, Schulen, Sportplätze, Turnhallen, Schwimmbäder, Krankenbetten gebraucht. Mit alledem sind die meisten dieser Städte aber schlechter versorgt als andere, die weniger Jugend haben. So fehlen im Ruhrgebiet noch rd. 2000 Klassenräume; 120 000 Kinder müssen noch in Wechselschicht unterrichtet werden, mit all den Nachteilen für die Gesundheit und den Ertrag der schulischen Arbeit!

An diesen Mängeln ist nicht nur der Krieg schuld, in den Ruhrgebiets-städten hat sich seit Generationen ein gewaltiger Rüdestand an Gemeinde-einrichtungen aufgestaut. Denn der besonderen Aufgabenfülle steht eine steuerliche Situation gegenüber, die sich umgekehrt verhält: Zwar liefert das Revier dem Bund und dem Land riesige Summen an Umsatz-Einkommen-und Körperschaftssteuer, aber die Revierstädte selbst sind relativ steuerschwach. Sie waren es immer und sind es heute noch. Im letzten Rechnungsjahr betrugen die Kasseneinnahmen aus Gemeindesteuern z. B. in Düsseldorf 167, 54 DM je Kopf der Bevölkerung, in Essen 119, 37 DM, in Gladbeck 73, 65 DM. Weil im Ruhrgebiet der Großteil der Grundstoffindustrien zuhause ist, wirkt sich hier in den Gemeindekassen auch die verstärkte Abschreibung nach dem Investitionshilfegesetz am empfindlichsten aus; viele Millionen DM fallen aus, die sonst als Gewerbeertrag in Erscheinung getreten und in der Steuerbilanz der Gemeinden sichtbar geworden wären.

Daß diese zwölfte Sonderheit des Reviers: das Mißverständnis zwischen Aufgabcnlast und Finanzkraft, in seiner Wirtschaftsstruktur begründet ist und ganz gewiß nicht in seinem Gewerbefleiß, das läßt sich an einem Beispiel anschaulich machen. Konstruieren wir einmal einen extremen Fall: Ein Großhändler in einer Handelsstadt, mit vielleicht 6 Angestellten und 5 Telefonen, möge im Jahr 20 Mill. DM umsetzen. Eine Produktionsstätte der Grundstoffindustrie würde etwa 200 Mitarbeiter brauchen, um den gleichen Umsatz zu erzielen. Diese 200 haben hier normalerweise 500 Kinder. Den 6 Mitarbeitern des Großhändlers seien 12 zugestanden. Das ist der Unterschied. Der gleiche Steuereffekt bedeutet für die Ruhrgebiets-stadt, daß eine große Schule, Straßen, eine Kläranlage und manches mehr gebaut werden muß, während sich die Handelsstadt darüber keine Gedanken zu machen braucht. Vielleicht hat sie überdies noch mehrere staatliche Schulen, während es in den Revierstädten nur relativ sehr wenig Schulen gibt, deren Kostenträger der Staat ist. Das junge Revier hat also auch keine Erbmasse aus historischen Zeiten, die die Sorgen lindern könnte, wie auch in der Vergangenheit nur wenige neue Zentral-behörden die Lust verspürten, in dieses von schwerer Arbeit dröhnende Land zu kommen.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein Das Ruhrgebiet muß aber über das Elementare hinaus etwas für die Bedürfnisse der Bevölkerung tun. Es hat auch kulturelle Verpflichtungen wie jedes Gemeinwesen. Als ein Zeichen für den regen Willen zur Lebens-erhöhung, der hier am Werke ist, mag der Theaterbau gelten, den sich die junge Stadt Marl mit schweren Opfern mitten auf der „grünen Wiese“ erbaut hat. Aus der Spannkraft und Vielschichtigkeit der Bevölkerung gewinnt die Bühnenkunst im Revier den Mut, auch neue Wege zu suchen. Das Bochumer Schauspiel ist ein Beispiel dafür. Viele junge Autoren haben ihre erste Förderung durch Ruhrgebietsbühnen erfahren. Die bildenden Künste haben in allen größeren Städten Pflegestätten, das Folkwangmuseum z. B. erwarb weit über die deutschen Grenzen hinaus Ruf. Fs gibt vortreffliche Orchester, und das aktive Musizieren steht in hoher Blüte. Die Zahl der Chorgemeinschaften wird vielleicht nur noch übertroffen durch die solcher Vereinigungen, die sich dem Kleingarten oder dem Brieftaubensport verschrieben haben.

Der große Schmelztiegel Und damit kommen wir zur eigentlichen Hauptsache: zum Menschen im Ruhrgebiet. Die Bevölkerung setzt sich ganz merkwürdig zusammen. Unter 100 sind nur 25, deren Urgroßväter schon hier beheimatet waren. Die meisten wanderten zu, aus allen deutschen Gauen, auch aus Polen kamen sie. In seinem Buch „Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung“ hat Dr. Brepohl-Dortmund darüber interessante Forschungsergebnisse mitgeteilt. Diese volkstumsmäßige Mischung ist die dreizehnte Sonderheit des Reviers. Und das Erstaunliche dabei ist, daß das Ruhrgebiet die Zugewanderten immer wieder in verhältnismäßig kurzer Frist — meist schon in der zweiten oder dritten Generation — eingeschmolzen hat, sprachlich wie in den Gewohnheiten und in der menschlichen Haltung gegenüber den Forderungen des täglichen Lebens.

In diesem großen Schmelztiegel wurde aus der Vielheit der Landsmannschaften tatsächlich so etwas wie ein „Ruhrvolk", ein Menschenschlag, der manche ausgeprägten Eigenschaften gemeinsam hat, vor allem aber die beiden Grundwerte der „Urbevölkerung“ übernahm: die Behendigkeit des Rheinländers und die Zuverlässigkeit des Westfalen. Nach dem letzten Krieg sind abermals 750 000 von draußen eingeströmt, Heimatvertriebene, Zugewanderte aus Berlin und der Sowjetzone. Offensichtlich sind auch sie schon dabei, „eingeschmolzen“ zu werden; als Zeichen dafür könnte man beispielsweise deuten, daß sie bei der Kommunalwahl fast nirgendwo einen eigenen Kandidaten auf den Schild gehoben haben. Wer mit gutem Willen hierher kommt, findet sich bald zurecht und hat es nicht sehr schwer, Freunde und gute Nachbarn zu finden.

Es lohnt, für die Menschen im Ruhrgebiet zu arbeiten. Sie verdienen, daß alles getan wird, um das Revier, das einst nur als Kolonialland angesehen wurde, zu einer liebenswerten Heimat zu machen. Sie schaffen in harter Arbeit Werte, die für die gesamte Volkswirtschaft und nun auch für die europäische Gemeinschaft Grundlagen der Wohlfahrt bilden. Daß sie es unter würdigeren Verhältnissen tun können, als vielfach heute noch, daß sie für ihre Leistung den gerechten Lohn anständiger Lebensbedingungen erhalten — das muß darum auch der Gesamtheit am Herzen liegen. Daran, daß die Menschen hier den gleichen Anspruch auf ein gesichertes und frohes Leben haben wie anderwärts, wird niemand zweifeln. Die Stadtgemeinschaften, in denen sie leben, würden diesen Anspruch auch ganz aus eigener Kraft erfüllen können, wenn es möglich wäre, diese selbstverständlichen „Nebenkosten" auf das Sozialprodukt Kohle, Stahl, Energie umzulegen. Das geht aber nicht, weil dann all die Wirtschaftszweige im Lande, die auf diesen Grundstoffen aufbauen, in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdet wären. Es ist darum kein unbilliges Verlangen, daß durch einen besseren Finanzausgleich den Ruhrgebietsstädten dort Hilfe zuteil wird, wo ihre eigenen Kräfte nicht ausreichen.

Es sollte auch bei jeder Regierungsmaßnahme wie bei jedem neuen Gesetz mit besonderer Sorgfalt geprüft werden, was damit im Ruhrgebiet bewirkt wird. Denn die Sonderheiten, die hier aufgeführt worden sind, haben in diesem Raum der geballten Kräfte und Zustände meist die Wirkung, daß sich alles vervielfacht: die Bürde wie der Nutzen.

Wir wollen im Ruhrgebiet nicht nur verdienen, wir wollen ihm, seinen Menschen dienen. Das ist ein beglückender Auftrag. Aber auch ein schwerer. Dazu tun uns verständnisvolle Freunde not. Wenn diese Darlegungen dazu beitragen, alte Freundschaften zu festigen und neue zu gewinnen, so haben sie ihren Zweck erfüllt. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Clement R. Attlee „England und Amerika: Gemeinsame Ziele, verschiedene Wege"

Bernhard Brodie „Atomwaffen: Strategie oder Taktik?"

General Francisco Franco „Spanien und USA"

Fritz von Globig „Der verhinderte Pazifikpakt"

Kurt Georg Kiesinger „Haben wir noch den Bürger? Die Problematik des Parteienstaates".

Bernard Lewis „Kommunismus und Islam"

Dr. Gerhard Lütkens „Die geistige und soziale Entfremdung zwischen Ost und West"

P .... „Zwischen Amerika und Rußland — aus indischer Sicht"

Prof.

Dr. Gerhard Ritter „Das Problem des Militarismus in Deutschland"

Dr.

von Thadden-Trieglaff „Der politische Auftrag der Protestanten in Europa"

Bertram D. Wolfe „Der Kampf um die Nachfolge in der Sowjetunion"

Eine Zusammenstellung der aktuellen politischen Literatur „Im Brennpunkt Zeitgeschichte"

Fussnoten

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